Читать книгу Ehrenmord ist kein Aprilscherz - Manfred Eisner - Страница 8
2. Amina
Оглавление»Besna, wo ist Amina?«, ruft die Mutter Akila ihrer Tochter aus der Küche zu. »In eurem Zimmer ist sie jedenfalls nicht!«
»Ich weiß nicht, Umm Walid4. Sie ist noch nicht von der Schule zurückgekommen.«
»Wieso, seid ihr nicht zusammen nach Hause gegangen?«
»Nein, Umm Walid. Ich ging früher, weil wir die letzten beiden Stunden Sport hatten und ich daran ja nicht teilnehmen soll!«
»Hat sie sich vielleicht wieder mit diesem Kafir5 getroffen?«
»Das weiß ich nicht, Umm Walid. Aber ich glaube kaum, dass sie es noch einmal wagt, sich dem strikten Befehl unseres Vaters zu widersetzen. Der Krach von gestern ist ihr ganz schön an die Nieren gegangen. Sie hat die ganze Nacht im Bett geweint. Sogar ich konnte deswegen kaum schlafen. Es hat mich übrigens sehr aufgeregt, dass Vater so aufgebracht war und so furchtbar mit ihr geschimpft hat.«
»Ja, mein Kind, auch ich war tieftraurig, dass unsere liebe Amina sich von unserem Glauben derart entfernt und damit den Zorn Allahs und die Verachtung der ganzen Familie auf sich zieht. Du weißt ja, sie ist Vaters jüngerem Vetter Hamid in Marrakesch versprochen und soll ihn dort sofort heiraten, nachdem sie hier mit der Schule fertig ist. Ich verstehe sowieso nicht, wozu sie eigentlich Abitur machen will und Abu Jalil ihr das überhaupt erlaubt hat. Das ist doch für unsereins nicht nötig, denn eine Frau gehört zu ihrem Mann und ihren Kinder ins Haus und braucht hierzu weder Chemie noch Physik. Eine bessere Partie als Hamid könnte sie niemals machen, denn dieser ist, ebenso wie sein älterer Bruder Hassan in Brüssel, ein schwerreicher Kaufmann. Sie besitzen mehrere Schmuckgeschäfte sowohl in der Medina von Marrakesch als auch in Belgien und Holland. Stattdessen treibt sie sich mit diesem Ungläubigen herum! Was für eine Schande für unsere Familie!«
»Aber Mutter, es ist ja nicht so, wie du sagst!«, protestiert Besna. »Amina treibt sich doch nicht herum! Ja, es ist wahr, dass Amina und Jörg sich angefreundet haben, schließlich gehen sie in dieselbe Klasse. Ich habe ihn auch kenngelernt. Er ist ein sehr netter Junge, respektiert Amina und tritt ihr niemals zu nahe. Er hilft ihr vor allem in Mathe. Soweit ich weiß, ist Hamid ein bereits fast fünfzig Jahre alter Witwer, der schon vier Söhne hat. Unsere Amina ist doch gerade erst siebzehn geworden und damit so alt wie Hamids jüngster Sohn! Was soll sie mit einem so alten Mann? Warum versteht ihr nicht, dass es hier in Deutschland nicht so ist wie bei uns und es auch nicht sein kann, denn hier leben und denken die Leute ganz anders als in Marokko. Glaubst du wirklich, dass – obwohl alle deine Kinder in diesem Land geboren wurden – man hier auch weiterhin so tun kann und muss, wie es dort für alle Menschen üblich ist? Kommt es denn wirklich einer Todsünde gleich, wenn man auch ein bisschen mit unseren neuen westlich gesinnten Nachbarn kommuniziert und mit ihnen Freundschaften schließt? Glaub mir, Mutter, in vielen Aspekten beneide ich die christlichen Deutschen, weil sie viel ungezwungener leben dürfen als unsereins. Ich fühle mich eingeengt von unseren strengen Vorschriften. Wir werden doch schon wegen des leidigen Kopftuchs auf der Straße blöd angegafft und von so manchem als Schleiereulen bezeichnet. Als wir vor zwei Jahren in Marrakesch zu Besuch waren, habe ich auf den Straßen viele Frauen und Mädchen ohne Kopftuch und in westlichen Kleidern gesehen. Wie gern würde ich am Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen! Wäre ich deswegen gleich eine schlechte Muslima?«
»Versündige dich nicht mit diesen abwegigen Gedanken gegen Allahs Gesetze und deines Vaters Willen, Kind! Es steht uns, liebe Besna, nicht zu, dies zu beurteilen. Das müssen wir schon unserem Imam in der Moschee und deinem Vater überlassen. Wenn diese bestimmen, dass es ist, wie es ist, und weiterhin so sein soll, haben wir nicht das Recht, uns dem zu widersetzen. Der Koran lehrt uns, wie wir uns zu verhalten haben, alles andere ist Sünde. Damit musst auch du dich abfinden. Und jetzt hilf mir bitte, das Abendessen vorzubereiten.«
»Was soll ich tun, Mutter?« Besna ist keineswegs überzeugt, gibt jedoch um des lieben Hausfriedens willen der steten Demut und Unterwürfigkeit ihrer Mutter klein bei.
»Du kannst diese marinierten Zitronenschalen für die Garnitur in gezackte Streifen schneiden.« Akila hebt den farbenfroh dekorierten Deckel des traditionellen marokkanischen Tajine-Kochgefäßes ab, um nach dem darin garenden Gericht zu sehen.
»Es ist bald fertig. Ich muss jetzt nur noch die gekochte Leber in Würfeln schneiden und damit die Sauce zubereiten. Wenn du mit den Zitronenschalen fertig bist, kannst du schon mal den Tisch decken. Leg auch sechs Fladenbrote zum Aufwärmen in den Backofen. Abu El-Karim und deine Brüder werden bald vom Abendgebet zurück sein. Hoffentlich ist Amina inzwischen auch wieder da!«
»Was gibt es denn heute Gutes zu essen?«, fragt Besna, die neugierig geworden ist.
»Vorweg eine Harira und anschließend diese Hühner-Tajine6.«
»Da wird sich Amina aber freuen, die mag sie besonders!«
*
»Jörg, sag mir, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr, ich halte es zu Hause nicht länger aus! Ich liebe und achte meinen Vater und meine Mutter sehr, aber ich kann beim bestem Willen nicht an all das glauben, was sie und meine Brüder tagein, tagaus bei jeder Gelegenheit mit dem Namen und Willen Allahs predigen und mir ewig vorhalten! Ständig werfen sie mir ›Harâm, harâm!‹7 vor, egal was ich tue oder meine. Es reicht sogar, wenn ich nur anderer Meinung bin. Nur meine kleinere Schwester Besna hält zu mir und versteht mich. Aber wir beide kommen einfach nicht gegen die anderen an! Und dann auch noch gestern dieser Riesenkrach, weil mein Vater mir strengstens verboten hat, mich mit dir weiter zu treffen! Er hat fürchterlich geschimpft, ich sei eine Abtrünnige, weil ich mich mit einem Ungläubigen versündige. Allah, so sagte er, würde mich dafür bestrafen. Und das alles nur, weil du mir mit der blöden Mathe hilfst, die einfach nicht in meinen Kopf hineinwill! Was das wohl für eine Sünde gegen den Koran sein soll! Ich sei doch seinem Vetter Hamid in Marokko versprochen, hat er mir gesagt, und müsse ihn heiraten. Was soll ich mit diesem alten Mann überhaupt? Ich hab ihn nur auf einem Foto gesehen, persönlich kenne ich ihn gar nicht! Er sieht hässlich und ekelhaft aus! Und nach Marokko will ich schon gar nicht! Was soll ich da? Ich bin hier geboren und fühle mich als Deutsche! Ich spreche nicht einmal gut Arabisch. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen!« Die hübsche junge Frau ist total aufgelöst und ihr Gesicht tränenüberströmt. Vor Wut hat sie ihren Hijab8 heruntergerissen. Ihre dicke Mähne aus wunderschönen schwarzen Haaren weht mit jeder ihrer verzweifelten Kopfbewegungen hin und her.
Total hilflos und erschüttert von diesem heftigen Gefühlsausbruch weiß der junge Mann nicht, was er tun kann, um der Schulfreundin zu helfen. Einerseits wirkt sie stets durchaus apart und attraktiv auf ihn, andererseits ist sie ihm doch irgendwie fremd. Jetzt sieht er sie zum ersten Mal ohne dieses Kopftuch, das sie in der Schule stets um ihre Haare gewickelt trägt.
Jörg Ewers ist mit achtzehn Jahren kaum ein Jahr älter als Amina und ein sportlicher und gut aussehender, blonder junger Mann. Seit er sie gegen zwei seiner Schulkameraden, die ihr das Kopftuch gewaltsam entreißen wollten, tatkräftig verteidigt hat und diese endlich davon abbringen konnte, sind sie sich freundschaftlich nähergekommen.
Mit den anderen Mädchen ihrer Klasse hat Amina dagegen kaum engeren Kontakt, nicht nur, weil sie ihnen absonderlich erscheint, sondern wohl eher wegen des elterlichen Verbots, am Sportunterricht und an anderen Schulveranstaltungen wie beispielsweise an Klassenfahrten teilzunehmen. An Amina selbst liegt es nicht. Des Öfteren versucht sie, sich der einen oder anderen Klassenkameradin anzunähern. Das Gelingen scheitert jedoch spätestens an den strikten Halal-Speisevorschriften des Islam, wenn sie zum Beispiel in das Haus der einen oder anderen zu einem Grillfest eingeladen wird. Auch hier muss sie absagen, haben ihr doch die Eltern eine Teilnahme strikt untersagt. Zu Gegenbesuchen kommt es ebenfalls nicht, da Nicht-Muslime in ihrem Elternhaus nicht gerade willkommen sind.
Ganz anders verhalten sich allerdings der Vater und die Brüder Walid und Osman im Verkehr mit der Außenwelt. Dort geben sie sich weltlich, zeigen sich offen und höflich und behandeln ihr Gegenüber auf Augenhöhe, da möchten sie unbedingt Gleiche unter Gleichen sein. Beim zwanzigjährigen Walid reichte der Lerneifer nicht bis zum Abitur, er brach deswegen das Gymnasium ab und hilft seitdem dem Vater im Geschäft. Der jüngere Osman ist fünfzehn und hat gerade seine Lehre als Kfz-Mechatroniker bei einer KIA-Vertragswerkstatt begonnen, die einem entfernten Verwandten gehört. Hadshi Jalil El-Karim ist erfolgreicher Gemüsehändler im Stadtzentrum und ein von seiner Kundschaft hoch angesehener Kaufmann. Bereits mehrmals hat er den anfänglich kleinen Laden, mit dem sein Vater vor mehr als zwanzig Jahren anfing, vergrößert und zu dem gemacht, was er heute ist: ein kleiner Supermarkt, in dem man so ziemlich alles erstehen kann, was Muslime, aber auch alle anderen, die die orientalische und arabische Küche lieben, für die Zubereitung dieser Speisen benötigen. Frische Gemüse- und Obstsorten aus Ägypten, Tunesien, Marokko und der Türkei alternieren mit Regalen voller Halal-Konserven; Kühlvitrinen beherbergen allerlei – selbstverständlich halal-konforme – Frischfleischarten sowie typische Oliven- und Käsesorten; dazu in mannigfaltiger Auswahl getrocknete Früchte, Samenkörner und traditionelle Gewürze. Betritt man den Laden, betören einen die Düfte und Aromen des Orients. Schließt man die Augen, hat man sofort das Gefühl, im Grand Basar eines der arabischen oder türkischen Metropolen zu sein. Penibel hält sich der Kaufmann an die gesetzlichen Bestimmungen des Landes und achtet vor allem auf die vorgeschriebenen öffentlichen Abgaben. Pünktlich zahlt er seine Steuern, und nichts darf dabei unter dem Ladentisch verschwinden. Jalil El-Karim spricht fließend Deutsch, ist stadtbekannt und wird deswegen oft von lokalen Politikern und Medien als ›Musterbeispiel erfolgreicher Integration‹ dargestellt, ahnt man doch nicht, wie rückständig und islamisch-konservativ es im eigenen Haushalt zugeht. Höflich hat er bereits mehrfach die Einladung einer örtlichen Partei abgelehnt, für ein Amt im Stadtrat zu kandidieren. Er sehe sich als Geschäftsmann vor allem seiner werten Kundschaft verpflichtet und möchte bei niemandem anecken, was wohl im Amt als Stadtabgeordneter gelegentlich unvermeidbar wäre.
»Was kann ich tun, um dir zu helfen, Amina? Du kannst doch nicht einfach von zu Hause weglaufen! Wo willst du denn hin? Zudem bist du noch nicht achtzehn, also laut unserem Gesetz auch nicht volljährig. Das bedeutet doch, dass deine Eltern immer noch das Bestimmungsrecht über dich haben. Ich möchte dir so gern unter die Arme greifen, aber ich kann leider nicht! Sieh doch, ich wohne noch bei meinen Eltern in dieser Vierzimmerwohnung. Wie und wo solltest du da unterkommen? Abgesehen davon, meine Eltern sind zwar sehr verständnisvoll und liberal, würden aber nie zulassen, dass du bei uns bleibst. Wir wären schließlich nicht sicher vor dem Zorn deiner Familie, sollten sie denn von diesem Bleibeort erfahren, oder?«
»Aber das hab ich auch gar nicht von dir erwartet, Jörg! Ich meinte vielmehr, ob du eine Idee hast, wo ich mich fürs Erste verstecken könnte, damit ich vor Verfolgung geschützt bin. Ich möchte ganz bestimmt nicht wieder nach Hause, wo mein Vater und mein älterer Bruder mich tyrannisieren und meine Oma und meine Mutter nur wohlgefällig und untertänig zuschauen! Ich hab solche Angst vor ihrer wütigen Vergeltung, aber ich kann nicht anders! Wüsstest du nicht einen Ausweg oder irgendjemanden, an ich mich schutzsuchend wenden könnte?«
»Warte mal, Amina, da fällt mir etwas ein!« Jörg öffnet sein Tablet und geht ins Internet.
»Ich hab’s!«, vermeldet er kurz darauf.
»Was denn?«
»Das Frauenhaus in Itzehoe! Das ist eine gemeinnützige Organisation für Frauen, die bedroht werden und sich in Not befinden. Notiere dir die Telefonnummer. Hier findest du sie auf der Homepage, wenn du diesen Notbutton anklickst. Da steht auch, du brauchst dich nur dort zu melden, denen sagen, wo du bist, dann holen sie dich ab! Die Adresse des Frauenhauses ist geheim, also wird man dich dort nicht so schnell finden!«
»Oh Jörg, ich danke dir, du hast mir wirklich geholfen! Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen!«
»Ich wünsch dir viel Glück, Amina, alles Gute! Wir werden uns dann wohl für längere Zeit nicht mehr sehen!«, sagt er mit Bedauern in der Stimme, während er sie bis zur Wohnungstür begleitet. Schließlich setzt er hinzu: »Sei vorsichtig, wenn du dort anrufst. Am besten benutzt du ein öffentliches Telefon, damit niemand das Gespräch bis zu dir zurückverfolgen kann. Schalte auch dein Smartphone aus, sodass man dich nicht orten kann, und kauf dir eine dieser anonymen Prepaid-Karten. Sei versichert, von mir erfährt niemand etwas!«
Amina hat Tränen in den Augen, als sie sich Jörg zuwendet und ihm als Dankeschön einen Kuss auf die Lippen drückt. Dann dreht sie sich rasch um und entschwindet die Treppe abwärts.
Als Jörg die Tür geschlossen hat und in das Wohnzimmer zurückkehrt, sieht er Aminas schwarzen Hijab, den sie auf dem Sofa liegen gelassen hat. Rasch nimmt er das Tuch und eilt damit auf den Balkon. Gerade sieht er Amina noch unten an der Straßenecke. Er ruft ihr laut hinterher und wedelt aufgeregt mit dem Tuch. Amina blickt hoch, sieht ihn und schüttelt – ein Lächeln auf den Lippen – verneinend den Kopf. Dann winkt sie ihm kurz zu und huscht geschwind um die Ecke.
Bewegt führt Jörg das Tuch an sein Gesicht, atmet begierig Aminas Duft ein und wischt sich die Träne ab, die ihm über die Wange kullert.
*
Rasend vor Wut verflucht Vater Jalil El-Karim die Tochter. Fürchterliche Beschimpfungen und Verwünschungen auf Arabisch ertönen im sonst friedlichen Haus am Eschenweg. Es ist bereits nach zehn Uhr und die renitente junge Frau ist weder zum Abendessen erschienen noch bisher nach Hause gekommen. Die Großmutter und Mutter Akila sitzen im Wohnzimmer auf runden marokkanischen Bodenkissen aus bunt verziertem Ziegenleder und weinen. Walid und Osman sind in der Stadt unterwegs, um Amina zu suchen, während Besna bereits mehrfach auf die Mailbox von Aminas Handy gesprochen und sie angefleht hat, zurückzukommen. Auch alle Bekannten und Freunde wurden bereits angerufen und nach Aminas Verbleib befragt, doch niemand konnte Auskunft geben. Dann kommt Osman ganz aufgelöst nach Hause und berichtet, die Polizei habe soeben Walid verhaftet, weil dieser in der Wohnung der Familie Ewers deren Sohn Jörg tätlich angegriffen habe, um von ihm gewaltsam zu erfahren, wo dieser seine Schwester versteckt halte. Jörg habe gesagt, er wisse von nichts, und sich tatkräftig verteidigt, indem er Walid geschickt mit einem Karateschlag abgewehrt und schließlich die Wohnungstür vor dessen Nase geschlossen habe. Darauf hätte Walid furchtbar randaliert und versucht, die Tür mit rabiaten Tritten aufzubrechen. Der Nachbar von gegenüber alarmierte die Polizei, die Walid überwältigte und in Handschellen abführte.
Wortlos lauscht der Familienvater den Ausführungen seines Sohnes. »Wo ist der Kombi?«, fragt er nach einer längeren Pause, in der er sich sichtlich bemüht, die Fassung wiederzugewinnen.
»Vor dem Wohnhaus der Familie Ewers«, antwortet Osman kleinlaut.
Jalil El-Karim steht auf und zieht sich Schuhe an. Dann holt er seinen Führerschein und den Zweitschlüssel des Mercedes. »Komm, wir gehen!«, sagt er zu Osman. Zeig mir, wo das ist!«
*
Vater und Sohn El-Karim klingeln wenig später an der arg lädierten Wohnungstür der Familie Ewers.
»Guten Abend, ich bin der Vater von Walid, der heute bei Ihnen bedauerlicherweise großen Aufruhr verursacht hat. Ich möchte mich im Namen meiner ganzen Familie für sein unmögliches Verhalten entschuldigen. Selbstverständlich komme ich für den verursachten Schaden auf und bitte Sie inständig, meinem Sohn zu verzeihen. Meine Tochter Amina ist verschwunden, und da wir wissen, dass Ihr Sohn in dieselbe Klasse geht und ihr ziemlich nahesteht, hat Walid etwas über ihren Verbleib erfahren wollen. Er fühlt sich als ihr älterer Bruder für sie besonders verantwortlich und ist wohl deswegen unnötigerweise ausgerastet, was ich zutiefst bedaure. Darf ich dennoch Ihren Sohn fragen, ob er uns darüber etwas sagen kann?«
»Ich bezweifle, Herr El-Karim, dass Jörg Ihnen nach diesem eklatanten Vorfall überhaupt etwas sagen will!«, antwortet der Vater. »Er ist vollkommen mit den Nerven herunter! Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass Sie bezüglich des Verbleibs Ihrer Tochter besorgt sind, aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir solche wüsten Gebaren in unserer Gesellschaft weder akzeptieren noch dulden! Auch ich bin Vater und nehme deshalb Ihre Entschuldigung hiermit an. Auch werde ich auf eine Anzeige unter dem Vorbehalt verzichten, dass Sie und Ihre Söhne Jörg in Zukunft in keiner Weise mehr mit dieser Sache behelligen. Die Reparaturkosten für die beschädigte Wohnungstür lasse ich Ihnen zusenden und hoffe, dass damit die Angelegenheit erledigt ist. Guten Abend!«
»Wie gesagt, dies alles tut mir sehr leid, aber ich habe volles Verständnis und danke Ihnen, Herr Ewers!« Jalil El-Karim nickt. Er und Osman wenden sich ab, um zu gehen.
Als sie auf halber Treppe auf dem Weg nach unten sind, hören sie plötzlich hinter sich eine jugendliche Stimme – wie sich herausstellt, die von Jörg Ewers: »Und hören Sie doch bitte endlich damit auf, Ihre Tochter mit Ihren mittelalterlichen Ansichten zu schikanieren! Wir sind hier in Deutschland und nicht in Arabien, begreifen Sie das doch bitte, Herr El-Karim! Amina ist eine sehr nette Schulfreundin und hat so etwas wirklich nicht verdient!« »Verfluchter Kafir!«, murmelt Jalil auf Arabisch. »Was verstehst du schon von unserem, dem einzig wahren Glauben und unseren Sitten, du Hundesohn!«
Gerade als sie in seinen Mercedes Kombi einsteigen wollen, begegnet ihnen Achmed Mansour, der den kleinen arabischen Imbiss in der Kirchenstraße betreibt und sich auf dem Nachhauseweg befindet.
»Salam Aleikum, Jalil! Sag mal, was ist bei euch los? Ismail hat mir vorher erzählt, dass dein Sohn Walid von der Polizei verhaftet wurde, weil er hier in der Straße randaliert haben soll! Ich wollte dich sowieso noch anrufen, um dir zu sagen, dass ich heute Abend beobachtet habe, wie deine Tochter Amina an der Telefonzelle am Markt in einen Kleinbus eingestiegen ist.«
Jalil wird blass. Ihn verlassen die Kräfte, der Autoschlüssel fällt ihm aus der Hand und er taumelt. Osman kann seinen Vater gerade noch festhalten und ihn gegen den Wagen lehnen.
»Was sagst du da, Achmed?«, fragt Jalil, nachdem er sich gefangen hat. »Meine Amina soll in einen fremden Wagen gestiegen sein? Das kann doch nicht sein! Du musst dich geirrt haben!«
»Ja, Jalil, das dachte ich im ersten Moment auch, weil das Mädchen kein Kopftuch trug. Als sie aber in den Wagen einstieg, blickte sie mich furchtbar erschrocken an, und da habe ich sie erkannt! Dann schob sie rasch die Tür von diesem Bus zu, und der fuhr sofort ab. Den Wagen habe ich hier in der Stadt noch nie gesehen!«
Osman hebt die Autoschlüssel auf. Geistesgegenwärtig sagt er: »Abu Achmed, begleiten Sie uns doch bitte zur Polizei. Dort werden wir melden, dass meine Schwester entführt worden ist. Und wir müssen uns ja auch um Walid kümmern!«
»Aber mein lieber Osman«, Achmed Mansour schaut auf seine Armbanduhr, »es ist schon halb elf. Glaubst du wirklich, dass wir dort noch jemanden antreffen?«
»Die halten meinen Bruder in der Zelle fest. Schon deshalb wird irgendjemand dort sein, der auf ihn aufpasst!«
»Nun gut, wie du meinst! Lass es uns wenigstens versuchen! Aber gib mir besser die Autoschlüssel. Dein Vater kann ja nicht fahren, so aufgeregt, wie er ist!«
*
Wenig später parkt Achmed Mansour den Kombi der El-Karims vor der Polizeistation in Oldenmoor.
»Da ist noch Licht und ich hab soeben einen Polizisten am Fenster gesehen!«, sagt Osman. Die beiden Männer und der Junge steigen aus. Jalil läutet an der Türklingel. Polizeihauptkommissar Boie Hansen, der Dienststellenleiter, öffnet ihnen.
»Guten Abend, meine Herren, das ging aber schnell! Sie sind meiner Streife zuvorgekommen, die ich zu Ihnen nach Hause geschickt habe. Ich vermute, Sie sind Herr El-Karim, der Vater von Walid, und du bist sein Bruder, nicht wahr? Und Sie sind …?«, fragt er den Begleiter der beiden.
»Ich heiße Mansour, Achmed Mansour. Ich bin ein Freund der Familie El-Karim und möchte eine Zeugenaussage machen.«
»Na, denn kümmt man rin!«, sagt Boie Hansen und tritt zur Seite, um ihnen Einlass zu gewähren.
Als die drei vor seinem Schreibtisch Platz genommen haben, schaut Boie Hansen nacheinander in deren Gesichter. »Also, Herr El-Karim, da hat sich Ihr Herr Sohn ganz schön was geleistet, das muss man schon sagen! Ich weiß, ich weiß«, unterbindet er mit einer Armbewegung Jalil El-Karims Versuch, eine Erklärung abzugeben, »Ihr Sohn Walid hat mir bereits alles über das unerklärliche Ausbleiben Ihrer Tochter – wie hieß sie noch? Also ja, hier hab ich’s: Ihrer Tochter Amina – erzählt. Aber deswegen darf er doch nicht die Wohnungstür eines ihrer Klassenkameraden eintreten und einen solchen Aufstand machen, dass das ganze Haus zusammenläuft! Das bringt ihm mindestens eine Anzeige wegen schweren Hausfriedensbruchs nach Paragraph 123 Strafgesetzbuch ein! Insofern hat er Glück, denn er wird erst in zwei Tagen einundzwanzig, da geht’s gerade noch vor einen Jugendrichter! Es kommt auch darauf an, ob der Geschädigte Strafantrag stellt.«
»Ja, Herr Kommissar«, erwidert Jalil El-Karim, »ist mir bekannt. Aber ich habe soeben mit Herrn Ewers gesprochen und meinen Sohn entschuldigt. Er sagte, er wolle von einer Anzeige absehen. Ich werde den von Walid angerichteten Schaden an der Tür selbstverständlich bezahlen, das habe ich ihm versprochen!«
»Na, dann ist ja für Ihren Sohn alles glimpflich abgegangen! Bläuen Sie ihm aber ein, dass er sich in Zukunft zusammenreißen muss, sonst kriegt er Ärger mit uns! Wenn er diesmal auch straflos ausgeht, ist er immerhin als Wüterich aktenkundig geworden. Dann nehmen Sie also in Gottes Namen Ihren Filius wieder mit!« Boie Hansen will sich gerade mit dem Zellenschlüssel in der Hand erheben, als Polizeiobermeister Willi Seifert und Polizeimeister Dieter Klages eintreffen. Überrascht blicken sie auf das Besuchertrio.
»Na, da pliert ju, wat?«, sagt Boie Hansen. »De Mannslüüt sind jüm al vörafkömmt.9 Dieter, holst du bitte den Jungen raus? Er darf gehen!« Er übergibt dem Polizeimeister den Schlüssel.
»Einen Moment bitte, Herr Kommissar!«, meldet sich Jalil El-Karim zu Wort. Ich muss noch etwas Wichtiges anzeigen! Meine Tochter Amina wurde ganz sicher entführt! Der Herr hier ist Zeuge!«
Die drei Polizisten spitzen die Ohren und hören aufmerksam zu, während Achmed Mansour seine Aussage zu Protokoll gibt und Willi Seifert diese simultan in den PC tippt. Boie Hansen schaltet den Drucker ein und legt wenig später die beiden ausgedruckten Blätter El-Karim und Mansour zur Unterschrift vor.
»Und Sie sind sich absolut sicher, dass es sich dabei um eine Entführung handelt?«, fragt Willi Seifert erneut.
»Absolut sicher, Herr Polizeimeister! Wir haben Amina sehr streng erzogen. Sie würde niemals freiwillig in ein fremdes Auto steigen!« Jalil El-Karim schaut kurz über das Protokoll und unterschreibt schließlich.
»Ich meine ja nur, der Zeuge hier, Herr Mansour, hat doch erzählt, dass Amina beim Einsteigen kein Kopftuch trug, was für sie ungewöhnlich ist. Könnte es deshalb nicht doch sein, dass …?«
»Vollkommen ausgeschlossen, so etwas tut meine Tochter nicht!«, lautet die radikale Erwiderung des empörten Vaters.
Der inzwischen aus der Zelle entlassene Walid will etwas sagen, ein wütender Blick des Vaters gebietet ihm jedoch zu schweigen.
»Und über den schwarzen Bus können Sie wirklich keine näheren Angaben machen, Herr Mansour? Automarke, polizeiliches Kennzeichen, irgendwelche Aufschriften? Haben Sie vielleicht den Fahrer gesehen oder gar erkannt? Denken Sie bitte nach, es ist wichtig!«, insistiert Boie Hansen.
Mansour verneint. Inzwischen hat auch er das Protokoll unterschrieben. »Tut mir wirklich leid, ich habe das wohl wahrgenommen, aber in diesem Moment nicht überlegt, was es bedeuten könnte. Erst später, als ich den Grund für Walids wütendes Verhalten erfuhr, habe ich über die Bedeutung meiner Beobachtung nachgedacht und meinem Freund El-Karim davon erzählt.«
»Gut, dann gebe ich eben die Fahndung nach Amina mit dem wenigen, was wir haben, durch! Hoffen wir, dass all dies nur ein Missverständnis ist und Ihre Tochter bald wieder zu Ihnen zurückkommt, Herr El-Karim! Sollte dies der Fall sein, dann melden Sie es uns bitte sofort!« Boie Hansen steht auf, die Besucher tun es ihm gleich.
»Dann gute Nacht, meine Herren! Wir machen für heute Ladenschluss!«