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Prolog
ОглавлениеAugust 2015
Das Mädchen hatte Angst.
Angst vor der Dunkelheit.
Angst vor dem Sterben.
Ein vertrautes Gefühl. Kaum sechs Monate waren vergangen seit jener ersten Begegnung mit dem Tod. Auch damals war es dunkel gewesen. Auch damals hatte ihr die Hitze den Atem genommen. Dann waren die Stimmen gekommen. Ihnen waren Gesichter gefolgt und Hände, die sie aus den Trümmern ihres Elternhauses gezogen hatten.
Jetzt lauschte sie wieder in die Dunkelheit, suchte nach Stimmen. Doch sie kamen nicht. Nur das beständige Rauschen vorbeifahrender Autos drang in ihr Gefängnis. Alle anderen Geräusche waren verstummt. Das Schluchzen der Erwachsenen, das Weinen der Kinder, das Röcheln nach Luft. All das war immer leiser, immer weniger geworden, je öfter der Tod jemanden geholt hatte.
Ja, sie waren alle tot! Sie wusste, dass es viele waren. Nach und nach waren sie gestorben. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Manche erlagen der Hitze, manche ihrem schwachen Herzen. Die meisten aber waren erstickt.
Ein gnädiger Tod, verglichen mit Khasibs Schicksal. Er war ihr Bruder gewesen. Er wurde nur drei Jahre alt.
Das Mädchen erinnerte sich an das große Fest, das ihr Vater gegeben hatte, als ihre Mutter Zwillinge geboren hatte. Jungen! Das nächste Fest zu Ehren der beiden würde eine Beerdigung sein.
Khasib und Alim. Verbrannt und erdrückt!
Sie wusste nicht, wie es passiert war. Als die Lichter der Handys langsam erloschen waren, hatte jemand versucht, mit einem Feuerzeug die Dunkelheit zu vertreiben. In der drückenden Enge des Wagens griff die Flamme nach dem kleinen Jungen. Eine Gefahr, die unter normalen Umständen leicht zu bannen gewesen wäre. Im Chaos der Todgeweihten war es jedoch niemandem gelungen, das Baumwollshirt des Kindes schnell genug zu löschen. Alle versuchten nur, Abstand zwischen sich und den Flammen zu halten. Und dabei hatten sie auch Alim getötet.
Alim! Auch er ihr Bruder, auch er drei Jahre alt. Zerquetscht zwischen sterbenden Leibern und der Wand des Wagens.
Vielleicht hatten sie ihn nicht einmal bemerkt. Vielleicht hatte die Angst sie gleichgültig gemacht gegenüber einem kleinen Jungen, der einer von ihnen und doch ein Fremder für sie war.
Die beiden Zwillinge waren fast zeitgleich zur Welt gekommen und fast zeitgleich waren sie gestorben. Und doch so unterschiedlich. Während Alim lautlos und still gegangen war, hallten Khasibs gellende Schreie noch immer in ihrem Kopf.
Es waren diese Schreie, die ihr Tränen in die Augen trieben. Nicht ihr eigenes Schicksal, nicht ihr naher Tod. Sie wusste, ihre beiden Brüder wären nicht auf diese Weise gestorben, wäre Bassam noch am Leben gewesen. Schließlich war er als Ältester ihrer Familie für seine Geschwister verantwortlich gewesen. Eine Verantwortung, die den 15-Jährigen dazu getrieben hatte, mit einigen anderen der Eingeschlossenen zu versuchen, die Hecktüren des Wagens aufzubrechen. Ein vergebliches Unterfangen, das er mit einem gebrochenen Taschenmesser und einer von der abspringenden Klinge aufgeschlitzten Schlagader bezahlt hatte.
Und wieder war es keinem der eng beieinander stehenden Gefangenen gelungen, einem der ihren zu helfen. Sie alle hatten zugesehen, wie Bassam mitten unter ihnen verblutete.
Irgendwann hatten sie alle Fluchtversuche aufgegeben. Sie hatten aufgegeben, mit ihren Handys jemanden zu erreichen, sie hatten aufgegeben zu beten, aufgegeben zu leben. Sie starben im Dunkeln, während draußen die Sonne auf ihr Gefängnis herabbrannte.
Hitze und der Gestank nach Urin, Schweiß und Verwesung raubten dem Mädchen das Bewusstsein.
Nur sie war noch am Leben. Noch einmal hörte sie die Stimmen. Die Stimmen, wie jene, die sie damals gerettet hatten und die jetzt nicht kamen. Noch einmal zog der lange Weg ihrer Reise an ihr vorbei. Länder und Städte, deren Namen in ihrem Leben aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Die Zeit des Schreckens auf dem kleinen Boot, die Nächte im Freien und die Tage auf der Straße. Noch einmal erinnerte sie sich an ihren letzten Geburtstag. Ein paar Tage waren seitdem erst vergangen. Die Menschen, die sie an diesem Tag in ihr Haus aufnahmen, hatten ihr einen Kuchen gebacken. Fünf Kerzen hatte sie ausgeblasen. Das Mädchen wusste, dass es keine sechste mehr geben würde. Sie wusste, dass sie jetzt sterben würde.
Langsam wich die Angst. Die Schreie ihres brennenden Bruders blieben hinter einer Wand aus Watte zurück. Das Schwarz, das sie seit Stunden umgab, drang langsam in sie ein. Sie war bereit, in die Dunkelheit zu gehen.
Und die Dunkelheit kam!