Читать книгу Schreckensgletscher - Thriller - Manfred Kohler - Страница 7
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ОглавлениеDie Jungs im Schlepptau marschierte Nelli mit großen Schritten zurück zum Haus. Die Familie, die sich den Weg hatte erklären lassen, stieg gerade in ihren Kombi. Das Auto war beladen bis unters Dach und mit den fünf Personen voll besetzt.
Nelli ließ die Jungs an sich vorbei ins Haus und in die Gaststube, folgte ihnen und schloss die Tür. Am Tresen hantierte eine stämmige Frau.
»Entschuldigung.«
»Bittschön?«
Die Frau füllte Apfelschorle in Cola-Gläser, die auf einem runden roten Tablett angeordnet waren.
»Da hat doch vorhin ein Mann bedient, so ein langhaariger ...«
»Der Chef? Der ist in der Küche und macht die Brotzeit für die Klasse.«
»Könnten Sie ihn bitte mal schnell holen?«
»Das ist jetzt grad ganz schlecht. Worum gehts denn?«
»Die Garage nebenan, gehört die zum Wirtshaus?«
»Schon.«
»Und das Motorrad und das Fahrrad darin.«
»Das müsstens den Chef fragen. Nehmens doch so lang Platz.«
Sie hob das Tablett und balancierte damit hinter den Tresen hervor in die Gaststube.
Nelli blieb stehen, wo sie war, und versuchte einen Blick in die Küche zu erhaschen. Die Tür war angelehnt. Die Bedienung stellte Gläser von ihrem Tablett auf die Tische und stand mit dem Rücken zum Tresen.
Kurz entschlossen ging Nelli nach hinten zu der Tür, stieß sie auf und drückte sich in die Küche. Sie sah Tabletts mit Wurst- und Käsebroten, drei Teller mit unbelegten Broten, leere Wurst- und Käseverpackungen – aber keinen Andi.
»Hehehe!«, brüllte die Bedienung unmittelbar hinter ihr. Nelli wurde am Arm gepackt und herumgerissen.
»Also wie hammers denn, sofort raus da!«
Nelli wollte sich aus dem Griff befreien, aber die stämmige Person hielt sie eisern fest und zog sie mit Gewalt durch die Tür zurück in die Wirtsstube.
Auf einmal war es ruhig, alle Kinder und der Lehrer starrten in ihre Richtung, und Nelli stieg Schamesröte ins Gesicht.
»Ich hatte nicht die Absicht«, setzte sie an.
»Sie haben gar nix außer Hausverbot, schauns, dass hier rauskommen, Sie abgerissenes Luder!«
Ihr Arm steckte wie in einem Schraubstock. Nelli stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Griff, aber das führte nur dazu, dass ihr die Bedienung den Arm auf den Rücken drehte und sie brutal zum Ausgang stieß.
»Die wollte vorhin in die Werkstatt einbrechen und die Harley klauen!«, rief einer der Jungs aus der Anonymität der Klasse heraus. Nelli erkannte ihn an der Stimme als den kleineren der beiden Neugierigen.
»Ah, so ist das!«
»Ich will sofort mit Andi sprechen!«
»Sie plaudern höchstens mit der Gendarmerie.«
Die Bedienung schaffte es spielend, mit der einen Hand die Tür zu öffnen, während sie mit der anderen Nelli unvermindert brutal im Polizeigriff hielt. Das wars dann mit der Mitfahrgelegenheit im Bus, dachte Nelli lakonisch, während sie kurz Augenkontakt mit dem Lehrer hatte. Sein Blick verriet, wie die Gesichter der Kinder, gleichermaßen Abscheu und Faszination.
»Sie wollen doch nicht wirklich die Polizei rufen«, spielte Nelli die Entsetzte, während sie auf die Haustür zugestoßen wurde.
»Und ob!«
»Haben Sie also ... Aua, nicht so brutal, verdammt noch mal! Haben Sie etwa ...«
Ein heftiger Stoß, ihr Arm war frei, Nelli taumelte ins Freie und wäre fast gestürzt. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie die Bedienung die Tür hinter ihr schloss.
»Haben Sie etwa doch ein Telefon hier oben?«, schrie sie ihr hinterher.
Aber die Tür war schon zu. An den Fenstern hing die halbe Schulklasse. Nelli sah erstaunte, fassungslose und auch schadenfrohe und belustigte Gesichter. Also wirklich, das war mit Abstand der beschissenste Tag der ganzen siebenjährigen Reise.
Wenn sie nur gekonnt hätte, Nelli wäre auf ihr Fahrrad gestiegen und hätte die Räder laufen lassen. Aber sie saß fest. Sie stand auf der Freifläche zwischen Busparkplatz und Haus und wusste nicht, was sie tun sollte.
Inzwischen musste es auf Mittag zugehen. Ihre Tagesetappe konnte sie endgültig abschreiben. Wut auf den Dieb kam in ihr hoch, eine Scheißwut auf die gemeine Hinterhältigkeit, eine bewusstlose, verletzte Frau zu bestehlen, rasende Wut auf den völlig unnötigen Sturz, diese Verkettung von Zufällen, die sich nun zum größten Hindernis der ganzen Reise auswuchsen.
Löse das Problem, sagte sie sich, um zur Ruhe zu kommen, aber verflucht noch mal, Ruhe war jetzt fehl am Platz! Jetzt kam es darauf an zu handeln.
Wo war Andi wohl, wenn nicht in der Küche?
Der Brotbelag schien ausgegangen zu sein. Und woher kam der Nachschub?
Über den Lift!
Nelli stürmte los und umrundete das Haus. Der Hinterausgang war angelehnt, und an der Liftstation 20 Meter gegenüber tat sich etwas, sie hörte Rumoren, und die Doppelsessel schaukelten leicht. Volltreffer!
Als sie kurz vor der Station angelangt war, kam Andi mit einer Holzkiste in den Händen heraus. Als er Nelli sah, lächelte er, und ihre Wut löste sich in Luft auf.
»Tut mir leid, du wartest auf dein Essen«, rief er ihr entgegen, »aber mir ist diese Schulklasse dazwischengekommen, und dann sind mir auch noch Wurst und Käse ausgegangen.«
»Und da hast du schnell mal im Tal angerufen und nachbestellt.«
Sein Lächeln gefror.
»Nein. Die Lieferung wird immer in der Früh hochgeschickt. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Kiste in die Küche rüberzuholen.«
Nebeneinander gingen sie vom Lift zur Hinterseite des Gasthauses.
»Funktioniert der Lift von hier aus?«
»Nein, der Antrieb ist im Tal. Hier oben ist nur eine Umlaufrolle ohne Motor.«
»Aha. Übrigens, deine Schlammcatcherin von Thekenkraft hat mich aus dem Haus geworfen und mir dabei fast den Arm ausgekugelt.«
»Was?«
»Ja, weil ich in der Küche nach dir schauen wollte. Und dabei hat sie gedroht, die Polizei zu rufen.«
»Ich rede gleich mal mit ihr.«
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr keinerlei Verbindung ins Tal habt. Und zweitens ...«
Sie erreichten den Hintereingang.
»Würdest du bitte mal ...«
Sie hielt ihm die Tür auf.
»Und zweitens habe ich in der Garage oder Werkstatt oder was das ist ein Fahrrad gesehen. Es sieht aus wie meines.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
Durch einen kreuz und quer mit Kartons, Flaschen, Kästen und Dosen voll gestellten Gang erreichten sie die Küche. Nelli hielt wieder die Tür auf.
»Ich dachte«, keuchte er, »du hattest einen Unfall.«
»Ja, einen Fahrradunfall.«
»Da legst dich nieder!«
In der Tür zur Gaststube stand die Bedienung und starrte Nelli und Andi mit einer Mischung aus Empörung und Verständnislosigkeit an.
»Schon gut, Gerda, die ist in Ordnung.«
Die Thekenkraft glotzte weiterhin böse und hielt Nelli mit ihrem Blick in Schach.
»Wir kennen uns von früher, alles klar?«
»Ah, so ist das.«
Nicht gerade weniger finster dreinschauend, aber offenbar beruhigt, trollte sich Gerda nach vorne in die Wirtsstube.
»Wir kennen uns von früher?«, fragte Nelli.
»Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben. Du musst ja ganz schön mit ihr aneinander geraten sein ...«
Er grinste, und Nelli konnte nicht anders als zu lächeln. »Weißt du, das Ordnungsamt schaut zwar eher selten hier oben bei uns vorbei, aber du solltest wirklich nicht in der Küche sein.«
»Schon klar. Aber ...«
»Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Den ersten Brotzeitteller bekommst du, und sobald die Klasse draußen ist, schauen wir nach deinem Fahrrad. Ist das ein Wort?«
Nelli nickte lächelnd.
»Alles klar.«
Sie ging zur Schwenktür und bekam sie fast auf die Nase, als Gerda hereinstürmte.
»Noch vier Kästeller mehr, der Bautrupp ist da.«
Nelli schob sich an ihr vorbei zum Thekenbereich und ging in die Gaststube. Sofort zuckten alle Köpfe zu ihr, und das Kindergeschrei verstummte zu einem vielstimmigen Tuscheln.
Sie tat so, als sei nichts gewesen, und suchte sich einen Platz ganz hinten auf der Eckbank. Einige Schüler rückten fluchtartig zusammen, und Nelli sah dem Lehrer an, dass er nicht recht wusste, wie er sich nun verhalten sollte.
Pfeif drauf, sollten sie doch denken, was sie wollten.
Sie hatte einen Bärenhunger, wollte nur essen und dann weiter. Ihr Fahrrad zurückhaben. Nachsehen, ob noch alle ihre Sachen da waren, vor allem ihr Tagebuch. Sie würde eine Menge aufzuschreiben haben, wenn sie es je wiederbekäme.
»Schauen wir nach deinem Fahrrad«, hatte Andi gesagt. War das Fahrrad in der Garage also tatsächlich ihres? Oder hatte er gemeint, er würde ihr bei der Suche behilflich sein?
Nelli fielen die Bilder ein. Vorhin hatte sie die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien hinter der Familie hängen sehen, jetzt saß sie selbst schräg darunter.
Sie stand auf und betrachtete die Bilder.
Es handelte sich um ein- und dasselbe Motiv, vom selben Standort nur zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. 1902 stand unter der linken Fotografie, 2002 unter der rechten. Zu erkennen war ein Gebirgsmassiv, das ihr bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte sie es vom Pass aus in einem anderen Blickwinkel gesehen. Dahinter erstreckte sich auf dem linken Bild ein ungeheurer Gletscher. Schwer zu schätzen, aber er mochte mindestens 100 Meter breit gewesen sein. Auf dem rechten Foto war er zu einem Rinnsaal zusammengeschmolzen, und die ehemalige Ausbreitungszone glich einer trüben Kiesgrube.
»Inzwischen wäre aus diesem Blickwinkel gar nichts mehr zu sehen«, hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie fuhr herum.
»Was?«
Andi stellte einen großen Teller mit Wurst- und Käsebroten auf ihren Platz, daneben eine Apfelschorle in einem Halbliter-Bierglas und deutete mit dem Kopf zu den Fotos.
»Der Gletscherschwund. Es geht von Jahr zu Jahr schneller.«
»Ach so. Dann ist er wohl bald ganz weg?«
»An dieser Stelle schon. Weiter oben, etwa auf unserer Höhe hier und darüber, ist er immer noch ziemlich eindrucksvoll. Solltest du dir mal ansehen.«
»Vielleicht, wenn ich mein Fahrrad wieder habe. Du hast gesagt, du hilfst mir suchen.«
»Später, Nelli, später.«
Er hatte sich schon von ihr abgewandt und stellte kleinere Teller mit belegten Broten vor gerümpften Schülernasen ab.
»Käse, ih«, nörgelte einer, »und nicht mal Brötchen. Warum gibts in dieser blöden Hütte keine Pommes?«
»Weil wir hier keinen Strom haben und deshalb auch keine Fritteuse, klar«, sagte Andi, ohne den Schüler anzuschauen. Und schon war er am nächsten Tisch.
Kein Strom, das kann doch nicht sein, dachte sich Nelli. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es tatsächlich keine Deckenlampen gab. Auf den Tischen standen in altertümlichen Haltern weiße Wachskerzen, daneben lagen Streichhölzer.
Nelli machte sich über die Brote her. Sie zwang sich, den Aufenthalt hier als eine Station von vielen zu betrachten. Sie würde ihre Sachen wiederbekommen. Warum sich also aufregen und damit diesen Reisemoment verderben und sich entgehen lassen? In ihrem geplanten Buch und in dem Vortrag über die Reise, mit dem sie einmal durch die Lande ziehen würde, bekäme dieser Ort seine Erwähnung. Gut möglich, dass es der Höhepunkt wäre. Vielleicht würde sie noch froh sein, dass ihr der Unfall passiert war, wenn sie nach überstandener Ungewissheit und aus der Distanz heraus davon berichten und ihre Leser und Zuhörer damit in Atem halten würde: wie es war, im Polizeigriff dieser Gerda gefangen zu sein und wie eine Verbrecherin angestarrt zu werden; die Ungewissheit, wo ihr Fahrrad sein mochte und ob sie es je wiederbekäme; und dann, hoffentlich, die Erleichterung, es tatsächlich zu finden und die Tour fortzusetzen.
Nelli schluckte den letzten Bissen hinunter, trank ihr Glas leer und fühlte sich startbereit. Sie wartete ein paar Minuten und noch ein paar. Andi steckte in der Küche.
»Zahlen, bitte.«
Na endlich, die Klasse war im Aufbruch. Doch es kam nicht Andi zum Kassieren, sondern Gerda.
Nelli wurde es zu dumm. Sie stand auf, stellte sich demonstrativ an die Theke und sah von dort aus zu, wie die Schüler sich trollten. Zuletzt verließ der Lehrer den Raum und bemühte sich krampfhaft, nicht noch einmal zu Nelli hinzusehen. Gerda räumte ab und säuberte die Tische.
»Würden Sie Andi bitte sagen, dass ich auch zahlen möchte«, sagte Nelli bemüht freundlich, als sie mit einem Stapel Teller und Besteck an ihr vorbeiwatschelte.
»Ich komm gleich.«
»Nicht Sie, ich brauche Andi.«
Gerda verschwand in der Küche. Nelli spürte ihre Ungeduld in Zorn umschlagen. Sie war allein mit vier jungen Kerlen, die Bier zu ihren Broten tranken, derbe Witze rissen und von ihrer Kluft her Straßenbauarbeiter sein mochten. Von denen wollte sie sich nicht unbedingt mitnehmen lassen. Nelli sah von der Theke durchs Fenster aus zu, wie die Schulklasse vom Bus aufgesogen wurde, zuletzt der Lehrer einstieg, ein Zittern durch den Bus ging, als der Motor ansprang, während die Tür noch offen stand, der Auspuff eine schwarze Qualmwolke ausstieß.
Die offene Tür. Gleich wird sie geschlossen sein.
Nelli hatte den Impuls, hinauszuspurten und in den Bus zu springen. Ihre letzte Chance!
Unfug!
»Zahlen«, brüllte einer der Arbeiter. Es dauerte keine zehn Sekunden, da tauchte Gerda auf.
Die Bustür schloss sich.
Gerda kam hinter der Theke vor und zückte den Geldbeutel.
Der Bus bog auf die Straße ein und verschwand aus Nellis Blickfeld.
Die Männer bezahlten reihum, zeigten sich großzügig mit dem Trinkgeld und standen unter mächtigem Stühle- und Tischerücken, Grölen und Lachen auf. Einer rülpste demonstrativ laut.
Gerda steckte den Geldbeutel ein und schaute Nelli dabei mit einem Blick an, der sagte: An unser Geld kommst du nicht ran.
»Was ist denn nun?«, fragte Nelli, als sie an ihr vorbei hinter die Theke ging.
»Was denn?«
»Na, haben Sie Ihrem Chef gesagt, dass ich auf ihn warte?«
»Schon.«
»Und, wo ist er?«
»Der kann grad nicht.«
»Also, das ist doch.«
Nelli schüttelte den Kopf und wollte hinter die Theke und in die Küche gehen.
Mit einem Schritt versperrte Gerda ihr den Weg.
»Ich kann wirklich nicht länger warten.«
»Dann gehen Sie halt.«
»Ich brauche aber mein Fahrrad!«
»Ich weiß nichts von einem Fahrrad.«
»Andi!«, schrie Nelli so laut sie konnte aus unmittelbarer Nähe in Gerdas Gesicht. »Kommst du bitte mal, ich muss weiter.«
Gerda blieb ungerührt.
Nelli wartete.
Keine Antwort.
»Ach, verdammt.«
Sie machte kehrt, ging an den Bauarbeitern vorbei zur Tür und verließ die Gaststube.
Wahrscheinlich war Andi wieder hinten beim Lift.
»He, Fräulein!«
Nelli fühlte sich nicht angesprochen, aber drehte sich trotzdem um.
Die vier Männer kamen hinter ihr aus der Gaststube.
»Haben Sie Ärger?«
Der gesprochen hatte war ein großer Kerl mit Baseballkappe, die er auch beim Essen aufbehalten hatte, und weit aufgeknöpftem Hemd. Er sah eigentlich ganz nett aus. Trotzdem, was die da drin vom Stapel gelassen hatten, machte die vier auch bei ernster Miene und scheinbar unvoreingenommenem Interesse nicht vertrauenerweckend. Nelli ließ sich von ihnen einholen und umringen.
»Können wir helfen, Fräulein, äh ...?«, fragte der Große noch einmal.
»Nelli. Ich weiß nicht, vielleicht.«
»Probleme mit Gerda?«
»Eigentlich nicht, nicht direkt. Ich bin vom Fahrrad gestürzt, oben am Pass.«
Die Haustür ging auf, und ein älterer Mann mit Wanderhut, Kniebundhosen und plakettenverziertem Stock kam herein, gefolgt von einem weiteren Wanderfreund und noch einem. Nelli und die vier Arbeiter wichen in Richtung Toiletten aus, um Platz zu machen. Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, wurde sie wieder aufgestoßen und weitere Männer mit Wanderhüten und karierten Hemden und Rucksäcken drängten herein. Schon wieder ein Bus, offenbar.
»Und, was haben die Hüttenleute mit dem Unfall zu tun?«, fragte ein anderer Arbeiter, der ein ausgeleiertes blassgraues T-Shirt zur geflickten Jeans trug.
»Nichts. Ich weiß nicht, ich hab sie ja erst vorhin kennengelernt. Mein Fahrrad ist verschwunden, das ist das Problem.«
»Und was sollte das eben mit Gerda?«
»Die kann mich bloß nicht leiden. Ich hab da ein Fahrrad nebenan in den Garagen gesehen, das aussieht wie meines, und dieser Andi ...«
Abrupt ging eine Tür hinter Nelli auf. Sie sah aus wie eine der Klotüren, aber statt der Buchstaben H und D trug sie die Aufschrift ›Privat‹. Andi steckte den Kopf heraus.
»He, Leute, was gibts?«
»Nelli vermisst ihr Fahrrad«, antwortete der Große mit der Baseballkappe.
»Hat sie mir auch erzählt.«
»Und?«
»Könnte schon ihres sein, das in der Garage. Ich habs heute früh herrenlos auf der Straße liegen sehen und wollte es aufbewahren.«
Nelli spürte den Impuls, ihm eine zu kleben.
»Hier liegen wohl ständig herrenlose Fahrräder auf der Straße?«, fragte sie stattdessen. »Außerdem lag ich gleich daneben.«
»Ich habe nur das Fahrrad gesehen. Tut mir leid, ich wollte bloß helfen.«
»Schon gut Andi, dann kannst du es ihr ja jetzt geben.«
»Klar. Ich hol bloß schnell den Garagenschlüssel.«
Andi warf dem großen Kerl einen scheuen Blick zu und zog sich zurück.
Nelli atmete auf. Sie packte die Hand des Arbeiters.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ...«
»Schon gut, schon gut. Der Andi ist in Ordnung, der stiehlt bestimmt keine Fahrräder.«
Den drei anderen wurde es sichtlich langweilig, und sie trollten sich zur Tür.
»Wir müssen weiter, Nelli.«
»Alles klar, ich komm mit raus.«
Er hielt ihr die Tür auf.
»Wie spät ist es eigentlich«, fragte Nelli, als sie draußen waren.
»He, weiß jemand, wie spät?«, gab er die Frage weiter.
»Fast eins«, rief einer der Kollegen zurück. Sie waren dabei, sich in einen grauen VW-Transporter zu quetschen.
»Na, dann.«
Der Große mit der Baseballkappe gab Nelli die Hand. Sie ergriff sie mit beiden Händen, drückte und schüttelte sie herzlich. Selten bei ihrer Reise war sie so erleichtert gewesen.
»Noch mal danke.«
Er nickte, stieg auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Nelli sah ihnen nach und winkte, bis der Transporter hinter der ersten Spitzkehre Richtung Pass verschwand.
Lieber wäre es ihr gewesen, die Männer hätten gewartet, bis sie ihr Fahrrad tatsächlich hatte, aber offenbar kannten sie diesen Andi gut und hatten keinerlei Zweifel. »Du spinnst«, sagte sie leise zu sich selbst. Warum sollte ich mein Rad nicht zurückbekommen? Ich hätte es so oder so gekriegt. Die sind eben etwas langsamer hier oben und misstrauischer, aber doch keine Fahrraddiebe. Was sollte dieser Mensch auch damit anfangen? Ihr unersetzlicher Reisebegleiter war für andere nichts als ein zerschrammter Schrotthaufen mit geflickten Taschen, beladen mit alten Klamotten, billigen Vorräten und einem Notizbuch voller Gekritzel.
Sie ließ den Blick über die kahlen Bergrücken und die Geröllfelder schweifen. Kein Strauch, kein Grashalm, nur Steine. Und immer nur eisige Winde, selbst jetzt im Sommer. Hier muss man ja seltsam werden. Nelli fand das Panorama grandios, mochte aber die Kargheit und Kälte nicht. Es zog sie Richtung Tal, ins Grüne, in die Wärme.
Wo er nur schon wieder so lange blieb?
Nelli ging an eines der Fenster zur Gaststube.
»Das gibts doch nicht!«
Sie sah Andi ein Tablett an einem der Tische des Wandervereins abstellen und seelenruhig mit den Gästen plaudern. Auf einmal waren Ungewissheit und leise Angst wieder zurück. Ihre Hände wurden feucht. Verflucht, hätte sie die Arbeiter doch gebeten, auf die Übergabe des Fahrrades zu warten!
Sie schnaufte tief ein, um sich zu beruhigen.
»Okay, ich kann mir selbst helfen.«
Entschlossen ging sie in die Gaststube. Andi war gerade dabei, hinter dem Tresen in die Küche zu verschwinden.
»He, Andi«, rief sie laut, aber sie bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. »Hast du vergessen, dass ich draußen warte?«
»Ich komme gleich«, erwiderte er genauso freundlich und verdrückte sich in die Küche.
Zurück blieb Gerda, Biergläser am Zapfhahn füllend und grimmig zu ihr herüberstarrend.
Nelli behielt ihr freundliches Gesicht bei, ging zur Theke und beugte sich über den Tresen.
»Jetzt hören Sie mal zu, ich habe das Theater endgültig satt. Wenn Sie ihn nicht auf der Stelle aus der Küche holen, dann ist was los! Ich will endlich mein Fahrrad haben!«
Gerda zapfte seelenruhig zu Ende, stellte das volle Glas auf das Tablett zu den anderen vollen Gläsern, drehte sich um und verschwand in der Küche.
Nelli hasste sich selbst für ihren rüden Ton. Aber sie war auf sich allein gestellt und mittlerweile sicher, dass sie es nicht mit normalen Leuten zu tun hatte. Sie hatte das Gefühl, in Gefahr zu sein, spürte sogar einen Anflug von Panik.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, da steckte Andi den Kopf aus der Küche. Er nickte in Richtung der Wanderfreunde und zog ein gestresstes Gesicht.
»Nelli, du siehst doch. Bisschen Geduld bitte noch.«
»Ich will nur mein Fahrrad.«
»Gleich.«
»Nein, sofort!«
»Die Wanderer sind in Eile, okay!«
»Ich bin auch in Eile!«
»Die sind aber zu Fuß. Die wollen heute noch runter bis ins andere Tal. Und es ist schon nach eins.«
Er deutete kurz auf seine Uhr und machte Anstalten, sich wieder in die Küche zurückzuziehen.
Nelli umrundete so schnell es ging die Theke und erwischte ihn am Hemdsärmel.
»Hiergeblieben, Freundchen, du gibst mir jetzt den Schlüssel!«
»Was?!«
»Den Schlüssel für die Garage.«
Sie zog mit der linken Hand ihren Umhängegeldbeutel unter dem T-Shirt hervor, während sie mit der rechten fest seinen Hemdsärmel umklammert hielt.
»Hier, mein ganzes Geld und meine Papiere als Pfand. Ich bin in einer Minute wieder da.«
Andi spähte nervös zu den Wanderern, die herübersahen und tuschelten.
»Na los!«
Widerwillig kramte er aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund hervor und gab ihn ihr. Nelli legte ihr Mäppchen auf die Theke, ließ seinen Ärmel los und drehte sich wortlos zur Tür.
Sie hatte gesiegt. Ein unnötiger Kampf war das gewesen, und sie verstand die Motive für Andis Verzögerungstaktik nicht, aber das war jetzt egal. Schnellstmöglich weg von hier, das war jetzt das Wichtigste. Bloß nicht bis zum Abend hier herumhängen und womöglich bei diesem bekloppten Pärchen übernachten müssen.
Sie riss die Tür der Gaststube auf, war mit drei Schritten durch den Flur an der Haustür und rannte über den leeren Parkplatz zu den Garagen. Hoffentlich war das Fahrrad nicht beschädigt!