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Die andere Welt

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Die Wohnkasernen in Toms neuem Quartier stammten aus den 60er Jahren. Sie schlossen kostengünstig die Lücken in den Straßen mit gutbürgerlichen Wohnhäusern der Gründerzeit, die der Krieg gerissen hatte. Deren Bewohner gehörten zum gehobenen Mittelstand und die heute zum Prekariat, das aus Hartz IV-Empfängern, Geringverdienern und Asylbewerbern besteht..

Toms Wohnung war im 5. Stock. Gardinen waren selten, was Tom die Abwechslung verschaffte, das Leben der anderen zu beobachten. Er kannte die Zeiten, zu denen die Leute aufstanden, duschten, ins Bett gingen, schliefen und ob es Streit gab und das Familienoberhaupt für Ordnung sorgte. Von elf Uhr am Morgen bis zum späten Nachmittag hingen im Treppenhaus die Gerüche von Knoblauch, Kohl, Zwiebel, Koriander, Minze und Kreuzkümmel. Genaueres der griechischen, türkischen und arabischen Küche erfuhr er, wenn er den Frauen beim Kochen zuschaute.

Der Fahrplan der Straßenbahnen, die sein Viertel mit der Innenstadt verbanden, meinte es gut mit den Menschen hier. Wenn sich die Räder der tonnenschweren Bahnen über den Stahl der Geleise durch scharfe Straßenbiegungen schoben und bremsten, produzierten sie ein Inferno, das, abhängig vom Wetter, Schmerzen verursachte. Darum waren Toms Fenster immer geschlossen. Zudem bewirkte ein Lüften lediglich den Austausch der Gerüche des Treppenhauses mit den Autoabgasen der Straße. Frische Luft war somit nur nach 23 Uhr, wenn die Bahnen nicht mehr fuhren, zu bekommen. Auch dann nur bei Temperaturen über Null, da die Heizung nachts zentral zurückgefahren wurde. Im ganzen Haus war Tom, bis auf einen Mann namens Jonny, der einzige Deutsche und wusste daher, wie sich Ausländer unter Deutschen fühlten.

Er vermisste schmerzlich das Haus auf dem Land, die Ruhe, die saubere Luft, das helle Tageslicht, die Sonne aus dem Süden auf der Terrasse, den Garten und den direkten Weg in die freie Natur. Er vermisste, nackt am offenen Badezimmerfenster zu stehen mit dem Blick in die Weite Rheinhessens, auf zugeschneite, weite, unberührte Felder, wo Hasen ihre Haken schlugen. Trotz seiner Sehnsucht nach Weite zog es ihn nicht hinaus aus seiner Enge seiner Wohnung auf die Straßen und Plätze der Stadt, da ihm die Menschen Angst machten. So wurde er schwermütig. Wenn er an seine Kinder dachte, freute er sich, dass sie nicht hier leben mussten.

Die ersten Wochen überstand Tom mit seinen Quittenschnaps. Die schöne Zeit brachte er nicht zurück, jedoch half er, Enge, Geräusche, Gerüche und Einsamkeit zu ertragen. Der Alkohol verdrängte das Bedürfnis nach einer warmen Mahlzeit pro Tag oder nach der täglichen Körperpflege. Erst als er Hautveränderungen und Kreislaufstörungen nicht mehr übersehen konnte, reagierte er mit täglichen Spaziergängen in den Rheinalleen. Auf seiner Lieblingsbank sitzend, sah er Lastschiffen zu, die mit stampfender Monotonie den breiten Fluss, Kilometer für Kilometer, langsam aber stetig in Richtung Basel durchpflügten. Auf seinem Weg musste er an Männern und einer Frau vorbeigehen, die in einer abseits des Hauptweges gelegenen Ecke der Parkanlagen diskutierten, tranken, rauchten, mit und ohne Gepäck für die Nacht, oft mit Hund. Wenn er kam, schauten sie auf und unterbrachen kurz ihre Gespräche. Nach seinem fünften oder sechsten Spaziergang sprach ihn ein älterer Mann an, der ihm durch ein hellgraues Sakko aufgefallen war. Er rief: „Hallo, Junge, komm her zu uns, wir beißen nicht.“

Früher hatte ihn ein banges Gefühl erfasst, wenn er an solchen Leuten vorbeiging und über die Ursachen nachgedacht, die sie ins Abseits gedrängt hatten, und sich gefragt, welche Umstände ihn dorthin führen könnten. Manche der Gestrandeten stufte er als Schiffbrüchige, andere als Aussteiger, wieder andere als Süchtige oder nur Pechvögel ein. Es hatte ihn jedes Mal geschaudert, wenn er daran dachte, ihre Gesellschaft teilen zu müssen.

Aber heute war Tom froh und folgte der Einladung des freundlichen Mannes mit dem teuren Sakko. Als er sich der Gruppe näherte, ließ sie ihn ihr Interesse nicht spüren. Die Gruppe von Jacko, so hieß der Mann, bestand aus zwölf Personen, elf Männern und einer Frau. Ihr Lagerplatz war an einem Geländer, hinter dem, drei Meter tiefer, ein Leinpfad direkt am Ufer entlang führte, der von Radfahrern und Spaziergängern genutzt wurde. Ihr Platz besaß das Privileg, ungestört auf die Bürger herunterschauen zu können.

Jacko nahm ihn bald zur Seite, zeigte in die Runde und erklärte: „Wir haben alle eine Last zu tragen. Verlust der Familie durch Tod oder Scheidung, Krebs, gescheiterte Resozialisierung, Drogenabhängigkeit und so weiter. Manche reden drüber, andere nicht. Aber alle wissen, dass es gemeinsam leichter ist. Manche kommen auch hier nicht zurecht“ und lachte als er sagte: „andere sind auf Teilzeit hier. Die sitzen nachts und bei schlechtem Wetter in ihrem gemütlichen Haus oder ihrer Wohnung.“

Wenn Toms Blick wanderte, sah er ihre Augen auf sich gerichtet, lebendige, neugierige Augen.

Er erkannte seinen Nachbarn in Jackos Gruppe und sagte: „Den großen Hageren mit dem grauen Drei-Tage-Bart kenne ich. Der wohnt direkt unter mir.“

Jacko schaute hin und sagte: „Das ist Jonny, Jonny Heuser. Er war bei der US Air Force in Wiesbaden Zivilangestellter. Kriegt jetzt eine gute Rente. Gibt manchmal eine Runde Bier oder Pizza aus. Bei schlechtem Wetter bleibt er daheim.“

Jacko drehte sich wieder dem Fluss zu und erzählte: „Auch wir haben eine Hierarchie. Die Stellung des Einzelnen ist aber nicht von Leistung, Geld oder Schönheit abhängig.“

Tom fragte nach: „Sondern?“

Jacko sagte lachend: „Die nur bei Schönwetter hier sind, stehen ganz unten“, und zeigte auf zwei Männer, die etwas abseits auf einer Bank saßen und Rotwein aus Gläsern tranken, „sondern die, die Solidarität zeigen, vor allem, wenn sie nicht hier sein müssten.“ Jacko zeigte auf eine blonde, hübsche Frau, die sich angeregt unterhielt. „Sie hat echtes Interesse und sie fühlt sich wohl bei uns. Das freut einen.“

Sie lehnten am Geländer und sahen auf den Strom. Endlich stellte Jacko die von Tom schon erwartete Frage: „Darf man wissen, was dich jeden Tag auf deine Bank treibt?“

„Pleite, Schulden, Trennung.“

„Der alltägliche Wahnsinn also. Aber warum hast du Angst vor uns?“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich habe dich beobachtet.“

„Du hast Recht. Ich hatte schon immer Angst davor, euer Schicksal teilen zu müssen – schon immer“, gab Tom zu.

Jacko nickte. „Du bist wenigstens ehrlich. Woher kam diese Angst, weißt du das?“

„Meine Mutter hat es mir vorausgesagt, schon als ich noch Schüler war.“

„Das Versagen?“

„Ja, dass ich auf der Straße landen würde.“

Jacko schüttelte den Kopf und fragte: „Warum, um Himmels willen, hat sie so etwas getan?“

„Als ich vierzehn war, fand sie in meinen Sachen ein bisschen Shit und bunte Pillen. “

„Wegen dieser Bagatelle? Das ist ziemlich krass.“

„Na ja, jede schlechte Note in der Schule bestätigte ihre Prophezeiung.“

„Eine selbsterfüllende Prophezeiung.“

„Meine Mutter war stolz, als Schöffin bei Gericht sitzen zu dürfen. Ihr Ruf und die Obrigkeit waren ihr heilig.“

Tom sprach jetzt Dinge aus, die bisher tief in ihm vergraben waren.

„Wenn sie über das Gericht sprach, schien sie von einem hellen inneren Licht erleuchtet. Nicht mit den Augen einer Mutter, sondern mit denen einer Schöffin hat sie mich betrachtet. Sie fürchtete wohl, ich könnte ihren guten Ruf zerstören.“

„Respekt vor der Obrigkeit – man fragt sich warum es das gibt, wenn man sich anschaut, was in der Welt so vorgeht. Aber du darfst nicht vergessen, in welcher Zeit deine Mutter aufgewachsen ist und gelebt hat. In den 50er und 60er Jahren wurde ihr Charakter noch geprägt von den damaligen Vorstellungen, in denen die Obrigkeit, also Lehrer, Pfarrer, Richter und Staat, noch eine viel größere Bedeutung besaßen als heute. Damals saßen noch viele Nazis in Amt und Würden, Kritik und Emanzipation waren Fremdworte. Die Kirche tat ihr Übriges, die Strukturen ja nicht in Frage zu stellen und Jacko begann unvermittelt zu rezitieren:

Du stehst am Platz, den Gott dir gab,

dem Platz, den er dir zugedacht;

dort nur bleibt er dein Schild und Stab,

dort gibt er Frucht, dort wirkt er Macht.

Will er dich segnen,

sucht er dich nicht in der ganzen weiten Welt.

Er sucht dich nur an deinem Platz,

dem Platz, wo er dich hingestellt.

So habe ich es noch als Messdiener gesungen“, sagte Jacko.

Tom entgegnete: „Krass der Text, wie aus einer anderen Welt. Ja, meine Mutter hatte keinen Beruf gelernt, Volksschule und danach Haushälterin in einem Arzthaushalt.“

„Was war mit deinem Vater?“ fragte Jacko.

„Der war beruflich oft unterwegs. Hatte keine Zeit für uns. War er mal zuhause, erzählte sie ihm, was wir angestellt hatten. Ich habe drei jüngere Brüder, da kam schon was zusammen. Wahr ist auch, dass meine Mutter es nicht einfach mit uns hatte und mit meinem Vater auch nicht. Als ich zwölf war, ist er einer Partei-Intrige zum Opfer gefallen und wir verloren so ziemlich alles.“

„Partei-Intrige? Das erinnert mich an das Buch von Heinrich Böll. Wie hieß es doch gleich?“

„Keine Ahnung!“

„Ja, Frauen vor Flusslandschaft. In einer Seminararbeit bin ich auf das Zitat gestoßen: „Politik ist hart, ist schmutzig, notwendig – und zum Kotzen.“

Tom war genervt und entgegnete: „Mir hat keiner den Grund genannt, der ihm alle Ämter kostete. Ich habe nur meinen persönlichen Abstieg vom eigenen Haus in eine Sozialwohnung erlebt. Da war ich zwölf, wie gesagt. Die Freunde waren auch weg.“

„Gründe für Angst und Selbstzweifel hast du ja genug, aber die kann man überwinden“, meinte Jacko. “

Tom sagte: „Und was wäre dein Rezept?“

Jacko antwortete: „Man muss der Ursache seiner Angst nachgehen. Man darf sie nicht verdrängen. Ein Mensch kann seine Angst vor seiner Krankheit verringern, und damit seine Heilungschancen verbessern, sofern er sich mit ihr intensiv beschäftigt, den Ursachen, den Heilungschancen und so weiter. Sobald er das verdrängt, frisst ihn die Krankheit auf.“

„Das kann man mit meiner Angst nicht vergleichen“ entgegnete Tom.

Jacko schüttelte den Kopf und sagte: „Doch. Ich erzähle dir dazu mal meine Geschichte. Als ich ein kleiner Junge war, sperrte mich meine Mutter zur Strafe in den Keller, wenn ich was angestellt hatte. Sie kannte meine grenzenlose Angst vor der Dunkelheit. Mein Onkel ärgerte sich über seine Schwester und half mir. Er erklärte mir, warum es die Nacht überhaupt gab, also von der Erdrotation im Sonnensystem, von der dunklen Seite des Mondes und er gab mir den Tipp, herauszubekommen, für wen die Dunkelheit nützlich ist und warum man in der Dunkelheit besser hören kann und so weiter. Ich beherzigte das und dachte an Fledermäuse, die in der Nacht jagten oder an Vampire, Katzen usw. Plötzlich sah ich die Dunkelheit in anderem, größerem Zusammenhang und so verging langsam meine Angst vor der Dunkelheit.“

Als sie sich wieder der Gruppe näherten, hörten sie erregte Stimmen. Es ging um die "Rotwein-Affäre" des ehemaligen Oberbürgermeisters Dr. Beutel. Er hatte bei einer Reise nach Ruanda - dem armen afrikanischen Partnerland von Rheinland-Pfalz – die Zeche für Wein geprellt und war dann, als der Druck der Öffentlichkeit zu groß wurde, von seinem Amt zurückgetreten. „Der Drecksack“ und „die Sau“ hörte Tom die Leute rufen. Jonny Heuser war einer der Wortführer und verwünschte den Bürgermeister, der die Ärmsten der Armen betrog, um sich den Beutel vollzumachen. Der Wortwitz gefiel allgemein, wie das laute Geschrei zeigte. Die blonde Frau in der Gruppe verteilte Joints. Danach verebbte die Wut. Man besprach eher spöttisch ein laufendes Gerichtsverfahren, das die Korruption von Managern der städtischen Wohnbaugesellschaft aufarbeitete, und zuletzt wurden Meinungen über den Arabischen Frühling ausgetauscht.

Dabei bekam man Hunger, legte zusammen und schickte einen Pizza und Bier holen.

Am Ende des Tages stellte Tom fest, dass er mit diesen Leuten besser war, als allein zu sein.



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