Читать книгу Sommer ohne Horst - Manfred Rebhandl - Страница 4

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Über den Azoren hatte sich ein stabiles Hoch gebildet, und ein stabiles Hoch über den Azoren war das mindeste, was ich mir von einem gelungenen Sommer erwartete. Da wollte ich meine Ruhe haben und eben mein Azorenhoch, denn mit diesem Hoch über den Azoren stand oder fiel jedes Jahr mein Glück.

Ein Hoch über den Azoren bedeutete Sonne, Hitze, kühle Drinks und heiße Mädchen, und es war das genaue Gegenteil eines Tiefdruckwirbels über dem Atlantik, den ich hasste. Da schwappte das Wasser hinunter in den Keller meines Kumpels Lemmy, aus dem heraus er traditionell sein Gras verkaufte; und es schwappte Wasser von der Alten Donau hinein in den Garten meines Kumpels Dirty Willi drüben in Neu-Brasilien, der dort traditionell seine Tage mit einer fröhlichen Kartenrunde verbrachte; und das Ottakringer Bad, in dem mein Kumpel Horst Bademeister war und auf der Liegewiese, auf der ich traditionell meine Beine hochlegte, für Anstand und Ordnung sorgte, hatte bei einem Tiefdruckwirbel über dem Atlantik geschlossen, weil Bäder bei Starkregen einfach nicht öffnen. Und wenn es ganz schlimm herging, dann stand bei einem Tiefdruckwirbel über dem Atlantik mein Freund Kubelka, der Psychofuzzi, in seinem Regenmantel der Marke Derrick vor meiner Bude und wollte mit mir über Ladys reden, die er gerne flachlegen würde, die sich von einem Krummrücken wie ihm aber natürlich nie im Leben flachlegen lassen, weil er einfach überhaupt nichts Geiles an sich hatte.

Daher hasste ich diese Sommer mit ihren Tiefdruckwirbeln über dem Atlantik, und ich liebte die wenigen mit ihrem Hoch über den Azoren. Ich stand dann immer eine gute Stunde nach Mittag auf, hüpfte in die enge Badehose der Marke Fila und zog darüber die grüne Rapid-Hose der Marke Adidas aus den Achtzigerjahren an, die meine strammen, gut gebräunten und ausreichend behaarten Schenkel gut zur Geltung brachten. Anschließend bedeckte ich die behaarte Brust mit einem weißen Unterhemd, hängte mir ein löwenzahngelbes Hawaiihemd mit grün-weißen Einsprengseln über die Schultern, schlüpfte in die Adiletten, schob mir die Siebzigerjahre-Sonnenbrille der Marke Carrera auf die Nase und setzte mir am Ende noch einen kleinen Trilby-Strohhut aus dem Ein-Euro-Shop auf den Scheitel, der meinen Kopf gegen die Sonne schützen sollte.

So fuhr ich hinaus ins Bad zu Horst, der dort an jedem verdammten Tag, an dem die Sonne schien, kurz nach Mittag in der Kantine auf mich wartete, um mit mir zusammen ein erstes Herrengedeck einzunehmen und über die Frauchens zu reden, die ihm ihre Nummer gegeben hatten, damit er sie eincremte und anschließend flachlegte. Danach leerte er die Mülltonnen aus und wies ein paar zugewanderte Rotzlöffel darauf hin, dass sie keinesfalls seitlich ins Becken springen durften, damit ich wieder in Ruhe die Beine hochlegen und gar nichts machen konnte.

Es hätte also einer dieser herrlichen Sommer werden können, in denen wirklich alles passte. Aber natürlich kam wieder einmal alles ganz anders.

***

Die Sonne stand noch lange nicht im Zenit, da lenkte ich meinen mintgrünen Datsun 280ZX schon in Richtung Busbahnhof draußen in St. Marx. Mein Freund Guttmann, der Bulle beim Wiener Kommissariat Mord-West war, saß neben mir und hatte eine alte Ledertasche zwischen seine fleischigen Waden geklemmt, die ihrerseits in schwarzen Stutzen steckten, welche er wiederum samt seinen riesigen Füßen in alte Sandalen gespannt hatte. Und dann trug dieser Fleischberg seit ein paar Tagen auch noch eine gelbe Warnweste der Größe XXL über seinem kurzärmeligen, beigen Hemd, weil ihm plötzlich irgendetwas mit „der Welt“ und „dem Klima“ wichtiger war als die Filme mit Big Mama Joy. Manchmal glaubte ich selbst nicht, dass ich mit dem befreundet war!

Gutti war nämlich das genaue Gegenteil von einem gelungenen Sommer, er war tiefster Winter. Seine hundertfünfzig Kilo wuchtete er am liebsten auf seinen Massivstahlsessel in seinem stickigen, fensterlosen Büro in der Mordkommission, wo er seit dreißig Jahren arbeitete. Oder waren es fünfzig Jahre? Was weiß ich! In diesem Loch hatten sie ihn untergebracht, seit der neue Innenminister nur noch welche in schlanken Anzügen haben wollte. Gutti hatte sich dort für die Tage des Azorenhochs, das er hasste, einen Ventilator auf den Schreibtisch gestellt, der ihm verlässlich gegen die riesigen Schweißflecken an seinem Hemd blies. Ohne diesen Ventilator klebte sein Hemd an ihm wie eine Tapete an einer sehr dicken Wand in den Tropen.

Ich kannte ihn aus Dirty Willis Swedish Pornhouse, wo er immer in der letzten Reihe Mitte saß und sich jeden Mittwoch Big-Mama-, Biggest-Mama- oder Bigger-than-Big-Mama-Filme anschaute, eben mit Big Mama Joy in der Hauptrolle. Die längste Zeit gefielen ihm nur Filme mit Ladys, an denen richtig viel Fleisch dran war. Das hatte etwas mit seiner Mutter zu tun, hatte mir Kubelka einmal erzählt, entweder war Gutti zu lange gestillt worden oder eben zu kurz. Keine Ahnung! Aber gegen die wirklich sehr heiße, sehr gut gebräunte und von oben bis unten sehr gut eingeölte Bunny Beach hatte er am Ende auch nichts einzuwenden. Nur, dass er halt seit ein paar Wochen diese Warnweste trug und immer wieder sagte: „Ihr mit euren Scheißpornos! Ist das wirklich alles, was euch interessiert?“ Und ich ihm dann immer sagen musste: „Das ist natürlich nicht alles, was uns interessiert, Gutti. Aber das ist doch schon mal etwas!“

Es musste also dringend etwas passieren in seinem Leben, denn diese Weste war der letzte Hinweis darauf, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Kubelka, Lemmy, Willi und ich setzten uns also bei Jolanda im Hard & Heavy zusammen, bestellten feurige Gulaschsuppe und warfen zehn Euro in die Mitte, jeder zwei Euro fünfzig. Dann überlegten wir, wie wir Gutti damit eine Freude machen könnten, aber mit zehn Euro ging sich keine Freude aus! Gott sei Dank hatte Lemmy immer die neueste Ausgabe der Gosse mit dabei, weil er das Papier brauchte, um darin sein Gras zu portionieren. In diesem Drecksblatt fanden wir schließlich ein Gewinnspiel, mit dem man ein Wochenende inkl. zwei Übernachtungen beim Beachvolleyballturnier unten in Podersdorf am Neusiedlersee gewinnen konnte, und Glückskinder, die wir nun mal waren, gewannen wir zwei Wochen später auch!

Die heißen Girls dort unten sollten Guttis Hose wieder unter Spannung setzen, wenn er im Sommer schon nicht ins Bad ging, um sich dort die heißen Ladys anzuschauen und sie zu einer Eincremesession zu überreden. Anfangs hatte er noch gezögert, unser Geschenk auch anzunehmen, aber dann überraschte er mich mit der Frage: „Kommen dort auch viele reiche Säcke mit ihren vollkommen überdimensionierten, viel zu teuren Autos hin?“ Und ich antwortete ebenso überrascht: „Natürlich, Gutti! Aber das ist doch hoffentlich nicht das Einzige, das dich daran interessiert? Beim Beachvolleyball geht es um die Girls, und nicht um teure Autos!“

Ich sparte dann auch nicht mit Glitter und Girlanden, als ich versuchte, ihm diese Girls beim Beachvolleyball schmackhaft zu machen: „Die tragen dort wirklich sehr kurze Höschen. Und die Tops sind wirklich sehr eng.“

Aber er fragte nur: „Was sind Tops?“

Wie alle Männer in seinem Alter kriegte er nicht mehr viel mit von der Welt. Und in seinen beigen, gebügelten Khakihosen stand er schon ein wenig verloren in den neuen Zeiten.

Nachdem ich es ihm erklärt hatte, wollte er es noch einmal ganz genau wissen: „Da stecken also ihre Titten drin?“

„Und wenn du Glück hast, dann rutschen sie sogar raus! Und weil immer die Sonne scheint, wenn sie spielen, cremen sie sich am ganzen Körper ein, und dann glänzen sie! Und weißt du was? Der feine Sand bleibt auf ihrer Haut kleben, wenn sie sich darin wälzen!“

„Sie wälzen sich im Sand?“

„Na, was denkst du denn?“

„Aber warum?“

„Weil es geil aussieht, verdammt! Kannst du dich denn nicht mehr an die Beachbunny-I–IV-Filme erinnern, mit Bunny Beach in der Hauptrolle? Wo sie auch immer voll mit Sand ist, bevor sie der Rettungsschwimmer ins Hotel trägt?“

Natürlich konnte er sich erinnern! Aber jetzt, da wir uns dem Busbahnhof näherten, fragte er mich nur, wie er dieses Hotel in Podersdorf finden solle. Ich sagte: „Herrgott, dieser Neusiedlersee kann doch nicht so groß sein, dass du dort dieses Scheißhotel nicht findest! Wie heißt es denn?“

Er sagte: „Zur Braunen Sau.“

Das war ein typisch österreichischer Hotelname, also sagte ich: „Das findest du!“

„Und glaubst du, dass es eine Tiefgarage hat?“

„Ganz sicher hat es eine Tiefgarage! Aber warum zum Teufel brauchst du denn eine Tiefgarage? Du fährst doch mit dem Zug!“

Dann schwieg er zufrieden, als hätte er plötzlich einen Plan. Eine genaue Vorstellung von etwas, was mit einer Tiefgarage zu tun hatte und mit überdimensionierten, teuren Autos. Bevor er dann doch noch fragte: „Und wo genau spielen sie Beachvolleyball?“

„He! Am Beach vielleicht?“

„Gibt es dort einen Parkplatz?“

Darauf wusste ich dann wirklich keine Antwort mehr, und es war mir auch scheißegal. Wenn die Worte nicht mehr purzelten, dann drehte man einfach das Radio lauter. Wir waren ja keine Hausfrauen, die Rezepte austauschten, wir waren Männer, die auch mal den Mund halten konnten. Aus den Lautsprechern hörten wir dann Summertime, das er leiser haben wollte und ich lauter. Darüber gerieten wir noch nicht in Streit, erst über Summer in the City, das er lauter haben wollte und ich ganz abgedreht.

„Lauter!“

„Leiser!“

„Lauter!“

„Leck mich!“

Erschöpft lenkte ich den Datsun zum Parkplatz vor dem Busbahnhof, wo er endlich ausstieg. Dann klemmte sich seine alte Ledertasche unter den Arm und schaute sich um. Die Tasche war so gut gefüllt, dass ich ihn das fragen musste: „Gutti, du hast doch nicht wieder Würfelzucker da drin?“

Würfelzucker war nämlich seine Leibspeise. Aber seit der Doktor ihm Zucker verboten hatte, tat ich mein Möglichstes, damit er die Finger davon ließ. Als er mir versicherte, dass er nur Wurst mithatte, bohrte ich nicht weiter, auch wenn ich ihm nicht glaubte.

Er sagte: „Diese verdammten SUVs! Und ist dir überhaupt schon aufgefallen, dass diese Idioten mit ihren Schwanzproblemen jetzt alle Pick-ups fahren? Als wären wir in Kansas und müssten den Mais in den Stall bringen! Greta hat recht! So kann das einfach nicht weitergehen.“

Während er ebenso wütend wie verloren dastand und nicht recht wusste, ob er diese abenteuerliche Reise zum Neusiedlersee jetzt auch wirklich antreten sollte oder nicht, hörten wir aus dem Radio die Nachrichten: Wahnsinn hier und Wahnsinn da. Wir hörten uns den täglichen Schwachsinn von diesem amerikanischen Idioten an und auch den täglichen Schwachsinn von unserem heimischen Schmalanzugträger, der wieder irgendeine Route schließen wollte. Was für ein Schließmuskel! Bis die sexy Nachrichtensprecherinnenstimme plötzlich meinte: „Während der letzten drei Nächte kam es in Wien-Meidling im Bereich der Schönbrunner Allee zu zahlreichen Angriffen auf sogenannte SUVs der Marken Porsche, BMW und Audi. Die Kraftfahrzeuge wurden mit Nägeln aus einem Druckluftnagler durchlöchert. Der Sachschaden ist enorm.“

Ich nickte zufrieden und sagte: „Bravo!“

Während ich mir einen Joint der Marke Vaya Con Dios aus der Produktion des Hauses Lemmy drehte, fragte ich Gutti beiläufig: „Wo wohnst du noch mal genau?“

Er wohnte im 12. Bezirk in der Gegend um die Schönbrunner Allee. Von dort hatte ich ihn nämlich vor einer Stunde abgeholt.

Plötzlich wirkte er müde und antwortete nicht mehr auf meine Frage. Stattdessen drückte er seine Tasche fester an sich und watschelte zwischen den Autos davon wie Homer Simpson, der eine gelbe Warnweste trug und dringend scheißen musste.

Ich rief ihm nach: „Wer ist eigentlich Greta?“

***

Meinem alten Kumpel Lemmy gehörte am Wiener Brunnenmarkt ein altes Haus, das er dort vor dreißig Jahren gekauft hatte, als die Häuser noch billig waren und die Gegend versaut und verdreckt. Im Souterrain dieses Hauses war früher eine Pizzeria untergebracht, aus der heraus er heute sein Gras verkaufte, das er weiter hinten im Keller anbaute. Im Hochparterre dieses Hauses hatte er mir eine kleine Wohnung samt Büro überlassen, für die ich nur unregelmäßig Miete zahlen musste. Dort hatte ich in den Staub einer Fensterscheibe, durch die ich auf den Brunnenmarkt hinausblicken konnte, mit dem Finger geschrieben:

Superschnüffler Rock Rockenschaub Löst auf alle Fälle alle Fälle 0–24 Uhr

Sobald die Sonne richtig am Himmel stand, konnte man das sogar von draußen lesen, wenn auch natürlich verkehrt herum. Und seit ein paar Tagen stand dort noch:

Im Urlaub!

Ich hüpfte hinunter zu Lemmy, der sich für die Freuden des Sommers noch weniger interessierte als Janis Joplin für ein gesundes und langes Leben. Bei Sonnenschein saß er am liebsten in seinem stinkenden, finsteren Loch auf seiner versauten Couch herum und portionierte sein Gras. Trotzdem versuchte ich ihn immer wieder mal für einen Badeausflug zu begeistern oder jedenfalls dafür, mit mir an die frische Luft zu gehen. Ich fragte: „Möchtest du mitkommen?“

„Wohin?“

„Zu Horst hinaus ins Bad, Lemmy! Ins Bad zu Horst! Weißt du denn nicht, dass sich endlich ein stabiles Azorenhoch gebildet hat?“

„Aber ich habe doch erst zu Weihnachten gebadet!“

Es war nicht einfach mit Leuten, die seit vierzig Jahren regelmäßig Gras rauchten, und das nicht täglich, sondern stündlich.

Trotzdem schaffte ich es nun, ihn hinauf in die Hitze der Stadt zu schleppen, ich sperrte den Laden hinter uns zu und setzte ihn in meinen Wagen. Wir drehten eine Runde entlang der Höhenstraße, wobei ich darüber redete, wie glücklich Horst im Vergleich zu ihm war und wie unglücklich er im Vergleich zu Horst. Aber er hielt nur seinen Schädel hinaus beim Fenster, und seine langen Haare der Marke Willie Nelson flatterten dabei ebenso im Fahrtwind wie seine Ohren der Marke Windhund. Immer wieder mal schaute ich zu ihm hinüber, und dabei merkte ich, was für eine alte Oma er geworden war. Ihm fehlten einfach die sinnlichen Erfahrungen, die einen jung hielten, die geilen Eindrücke, die einen im Leben ein bisschen anschoben. Die Karotte vor der Nase. Er war schon zufrieden, wenn er nur den Zungenlappen in den Wind hängen konnte, aber schon das Grün der Straßenbegrenzung, an dem wir vorbeirasten, interessierte ihn nicht mehr. Ich dachte: Der alte Lemmy braucht ganz dringend eine Beschäftigung! Eine andere jedenfalls, als Joints zu rauchen und Gras zu verkaufen. Aber welche? Wenn er so weitermachte, dann würde er im Alter zum Problemfall werden, und ich würde ihn pflegen müssen. Ich hatte aber genug andere Probleme am Arsch. Darum hätte ich es gerne gesehen, wenn er noch ein paar Jahre ohne Rollstuhl auskommen würde.

Ich fragte: „Lemmy, was interessiert dich eigentlich im Leben? Möchtest du noch irgendetwas tun? Eine Ausbildung machen?“

Aber er war Ende fünfzig, da war es schwierig mit Ausbildung. Und sein Hirn war nicht mehr ganz fabriksneu, er schien nicht einmal meine Frage zu verstehen. Also suchte ich den Zugang über sein Herz: „Hast du noch irgendwelche Träume?“

Aber auch hier: keine Antwort.

Ich drehte Suicide mit Dream Baby Dream auf, von dem ich dachte, dass es in ihm vielleicht irgendetwas auslösen würde, aber es kam einfach nichts. Bis er, und da waren wir schon richtig weit draußen in der Natur, plötzlich heftig anfing zu niesen und ihm die Augen tränten, als wäre gerade Neil Young gestorben. Es fehlte nicht viel, und es hätte ihn zerrissen. Besorgt fragte ich: „Verdammt, was ist denn mit dir los?“ Und er antwortete: „Das fragst du mich? Ich hab keine Ahnung! Vielleicht bin ich algerisch auf irgendetwas. Also bring mich endlich zurück!“

„Algerisch?“

Erst als ich den Datsun wieder in der Stadt vor dem Quattro Stazzione einparkte, war es vorbei mit Niesen. Und da war ich auch richtig froh darüber, weil er mein Wageninneres schon ganz schön vollgesaut hatte. Soll der doch in seinem Loch unten verfaulen, dachte ich, als wir ausstiegen. Ich fahre mit dem jedenfalls nicht mehr in die Natur.

Unten im Keller setzte ich ihn zurück auf die Couch. Ich stellte ihm den Trinknapf daneben, damit er nicht dehydrierte, während ich weg war, und zündete ihm einen Joint an, der so fett war, dass er den ganzen Tag lang daran nuckeln konnte. Den steckte ich ihm in den Kaubereich, und dann legte ich noch Made in Japan von Deep Purple aufs Vinylgetriebe, damit wenigstens seine Ohren ein paar Minuten lang etwas zu tun hatten, während ich weg war. Ich selbst nahm mir ein paar Tüten Gras aus seiner Verkaufslade, die ich für einen langen, gemütlichen Tag draußen im Bad bei Horst benötigen würde, und verabschiedete mich mit herzlichem Gruß. Er aber grüßte nicht zurück, sondern sagte nur: „No pasarán!“

Alter Kämpfer.

***

Vor drei Tagen hatte ich auf der Wiese im Bad eine angefilmt, die keine Kinder bei sich am Badetuch sitzen hatte – ein seltenes Glück in diesen Tagen! –, und verdammt noch mal: Sie hatte sogar zurückgefilmt. Aber dann war ich eingeschlafen, bevor ich sie eincremen konnte, vielleicht wegen des dritten Bieres, das ich in der heißen Sonne getrunken hatte, vielleicht aber auch einfach, weil ich die Nacht davor wegen der stehenden Hitze nicht schlafen konnte. Und die Tage darauf war ich nicht da, um mit ihr etwas ins Laufen zu bringen, weil ich Willi, das Schwein, in seine Datscha draußen an der Alten Donau bringen musste.

Nun aber lenkte ich den Datsun endlich wieder beschwingt hinaus zum Bad, das an den Ausläufern des Wienerwaldes lag und von dem aus man einen schönen Blick auf die Stadt hinunter hatte. Ich parkte in einer engen Lücke vor dem Eingang, die dort immer für mich freigehalten wurde, drehte den Motor ab und stieg aus. Die Schlüssel klirrten in meiner Hand, als sie gegen das falsche Gold meiner Armbanduhr schlugen. Vor dem Kassenhäuschen blieb ich stehen, schob meine Brille hinauf und sagte freundlich: „Guten Morgen, Friederike, wie geht’s denn heute so?“ Wer wie ich mit Friederike eng befreundet war, der musste im Bad keinen Eintritt zahlen, jedenfalls nicht in diesem. Darüber war ich ganz froh, denn die verdammten Schnüfflergeschäfte liefen schlecht in diesen Tagen. Und mein Kumpel Willi zögerte, mir sein Pornhouse-Imperium zu überschreiben, was mir ein Überleben auf immerhin niedrigem Niveau gesichert hätte. Mit anderen Worten: Ich war pleite. Und so eine Saisonkarte hätte unnötig auf die Ausgabenseite gedrückt.

Friederike arbeitete hier seit über zwanzig Jahren, vielleicht auch seit über dreißig. Was weiß ich! Und früher … naja. Früher war sie ein echtes Rennpferd gewesen, aber heute war natürlich auch sie weitgehend verwelkt. Ihr Dekolleté zog sich zwischen ihren fleischigen Oberarmen zusammen wie ein Zigeunerakkordeon, und ihr Arsch glich einer zweihundert Euro teuren Wurstsemmel. Alles, was sie zu bieten hatte, steckte in einem viel zu engen, viel zu blauen Badeanzug, über den sie immerhin ein weites Tuch warf. Mit anderen Worten: Das Rennpferd lahmte schon gewaltig. Aber die Erinnerungen an sie waren immer noch süß. Meinen freundlichen Guten-Morgen-Gruß erwiderte sie stets mit einem neckischen „Aber Rocky! Es ist doch schon nach vierzehn Uhr!“ Und ich antwortete dann jedes Mal: „Aber Friederike! Sag doch bitte nicht Rocky zu mir. Ich heiße Rock wie der Felsen und nicht Rocky wie das Felschen. Aber das weißt du doch, nicht wahr?“

Und natürlich wusste sie es.

Außerdem sagten mir ihre Augen, dass ihr der Felsen immer noch gut gefiel. Ihre lüsternen Blicke landeten auf meinen Brusthaaren ebenso wie auf meinen Schenkeln, und irgendwann natürlich auch an der Stelle dazwischen. Ich musste dann immer wieder mal streng mit ihr sein und sie an den Zahn der Zeit erinnern: „Wie alt bist du eigentlich, Friederike? Ha?“

„Bald fünfzig …“

„Friederike!“

„Zweiundfünfzig … Also gut, vierundfünfzig.“

„Friederike!“

„Okay, achtundfünzig.“

„Und wie heißt es weltweit zum Thema?“

„Fick nicht deinen Offizier?“

„So ungefähr.“

Dann bat ich sie, mir endlich mein gelbes Casali-Badetuch sowie meine Eincremehilfe der Marke Tiroler Nussöl zu geben – beides hatte ich bei ihr im Spind deponiert –, bevor ich mich mit den immer gleichen Worten von ihr verabschiedete: „Ich geh dann mal hinüber zu Horst.“ Zu meinem Freund Horst nämlich, dem Bademeister, der um diese Zeit des Tages immer schon drüben in der Kantine saß, wo wir bei Kantinenwirt Erwin ein Herrengedeck als spätes Frühstück zu uns nahmen. Aber Friederike schaute mich plötzlich mit besorgtem Augenaufschlag an und sagte: „Horst ist doch heute gar nicht da!“

Und ich sagte, als es mir den Sack in der Hose zusammenzog: „Machst du Witze? Horst ist doch immer da!“

***

Es war, als wäre die Sonne in ein tiefes Loch gefallen! Weder hatte Horst Friederike angerufen, dass er nicht kommen würde, noch war er drangegangen, als Friederike ihn anrief, um zu fragen, wann er denn kommen würde.

Dabei stand Horst seit gut dreißig Jahren verlässlich jeden Tag hier als Bademeister in der Wiese herum, vielleicht sogar seit vierzig Jahren. Was weiß ich! Mit einem Körper, der ein streng nach der Form eines Cornettos gemeißelter Stein war. An seinem mächtigen Schädel hingen bis halb zum Arsch lange blonde Haare, die er sich freilich mittlerweile nachfärben lassen musste. Unter seiner mächtigen Nase trug er einen blonden, festen, unfassbar männlichen Schnauzer. Die in Bademeisterkreisen vorgeschriebene braune Lederhaut bildete die Grundlage für die in Bademeisterkreisen ebenfalls vorgeschriebenen Goldkettchen über den wiederum dazu passenden Brusthaaren und die das Gesamtbild perfektionierende weiße, enge Badehose, in der sich sein mächtiges Teil deutlich abzeichnete. Horst sah aus wie der große Bruder von Hulk. Mit der kleinen Einschränkung vielleicht, dass an der Rückseite dieses gewaltigen Körpers die Haut auch schon ein wenig faltig geworden war und dass aus dem engen Bademeistertanga heraushing, was früher mal an seinem steinharten Arschmuskel klebte. Aber eben jetzt nicht mehr, wo auch er schon Mitte fünfzig war. Und okay, das ehemals steinharte Brustfleisch bewegte sich auch schon ein wenig in Richtung Süden. Aber insgesamt war er natürlich immer noch eine Toperscheinung, die von allen im Bad „Blondie“ genannt wurde. Und jeder konnte sich vielleicht denken, warum. Die schlanken, braungebrannten Ladys der Bauart Bunny Beach klebten jedenfalls an ihm und wollten nichts anderes, als von ihm eingecremt zu werden und dann …

Ich hatte auch Blondie in Dirty Willis Swedish Pornhouse kennengelernt, wo ich für Willi im Nebenjob das Mädchen für alles spielte: die Filme einlegen, die Plakate aufhängen, die Sportgummis verkaufen und die verdreckten Taschentücher wegräumen, sobald die letzten Kunden das Kino irgendwann nach Mitternacht verlassen hatten. Horst war dort regelmäßiger Gast während der ausgedehnten Swimmingpool-, Summersplash- oder Wet-T-Shirt-Sommerfestwochen. Alles mit Wasser gefiel ihm halt. Aber vor allem gefielen ihm die Frauchens, und er liebte es, sie einzucremen, er liebte es wirklich.

Da war ich mir sicher.

Eincremen war vielleicht das, was er in seinem Leben am liebsten tat und am besten konnte, besser sogar noch als Schwimmen. Und natürlich hatte auch ich von Horst gelernt, wie man die Ladys fachmännisch eincremte: Man fing immer unten bei den süßen Zehen an und arbeitete sich dann langsam nach oben bis hin zum ebenso süßen Arsch. Bevor man aber dort in der Mitte angekommen war, verlegte man seine Finger hinauf zu den süßen Ohrläppchen und arbeitete sich von dort wieder nach unten, abermals bis zum süßen Arsch. Erst dann schob man die Hand dorthin, wo die Freude wohnte, und fragte mit säuselnder Stimme: „Na?“ So jedenfalls hatte er mir erklärt, dass man es machen müsse. Zuschauen ließ er mich dabei aber natürlich nie, Betriebsgeheimnis.

Leider hatte sich das Publikum im Bad in den letzten Jahren ganz schön verändert, und Sätze wie „Am Abend schon was vor, Beste?“ fielen heute deutlich seltener als früher. Das lag aber nicht an Horst oder an mir oder gar an unserem langsamen Verwelken. Das lag an einer Entwicklung, die ganz und gar unerfreulich war: Früher kamen nämlich hauptsächlich Frauchens zu Horst ins Bad und wollten ihren Spaß haben. Nun aber waren es hauptsächlich Mütter, die noch nie etwas von Spaß gehört hatten und schon gar nichts von Spaß verstanden. Sätze wie „Böser, böser Onkel, weg, weg, weg!“ hörte man heute deutlich häufiger als „Zu dir oder zu mir?“, knapp gefolgt von „Lass dir von dem Onkel ja kein Eis schenken!“ in Richtung der Kinder.

Und dann gab es auch noch diesen neuen Trend, dass sich alle sofort sexuell belästigt fühlten, sobald man sie auch nur ein wenig länger und ein kleines bisschen geiler anschaute, als die Ladys es von ihren Milchshaketrinkern zu Hause gewohnt waren. Immer öfter gab es daher auch für Horst einfach mal ein paar Stunden lang überhaupt nichts zu tun – weder etwas zu schauen, weil man sofort schroff angegangen wurde, noch etwas zum Eincremen, weil sich diese Mütter nicht von uns eincremen lassen wollten, während sie ihre Rotznasen stillten. Was früher der Name einer leidlich guten Band war, das war heute angeblich ein Statement in die Richtung, dass eine Lady noch lange keinen Sex mit einem haben wollte, nur weil alle Signale genau darauf hindeuteten: „No means no!“ Es wurde eben nie etwas einfacher im Leben, sondern eher im Gegenteil immer alles noch schwieriger.

Daher kam es immer öfter vor, dass ich abends ganz ohne Lady an meiner Seite nach Hause fahren musste und mir dann einredete, dass der Tag trotzdem schön gewesen war; dass der Duft nach Sonnencreme, nach Wassereis am Stiel und nach Schweiß, der die weiblichen Körper ja immer noch bedeckte, mir genügte und ich auch einfach so glücklich sein konnte. (Oder ich nahm Friederike mit nach Hause, was aber wirklich die allerletzte Option war, während Horst immer irgendeine andere Option hatte, und immer war sie schlank.) Glücklich war ich dann aber natürlich nur im Vergleich zum ganzen Rest des beschissenen Jahres, in dem dann wieder Dauerwinter herrschte, und das dann immer mit diesem elenden Weihnachten ausklang und mit dem noch viel elenderen Silvester endete, bevor sich dann im Jahr darauf vielleicht wieder ein Azorenhoch bildete, aber viel öfter natürlich nicht.

Zufriedenheit war eben eine Frage der Perspektive.

In letzter Zeit kam es aber vor, dass ich Horst mitten auf der Liegewiese hocken sah, wo er kleine Blümchen auszupfte, an ihnen roch, als wäre er der Vollromantiker, und sie dann nachdenklich in den Wind warf. Sehnsuchtsvolle Gedanken schienen ihn dann zu quälen. Und er wirkte wie dieser Typ, der die ganze Welt auf seinen Schultern tragen musste und dem dabei die Knie schlotterig wurden. Oder wie eine Schlange, die dabei war, ihre alte Haut abzustreifen, sie aber nicht herunterkriegte. Oder was weiß ich, wie er wirkte!

Deswegen fragte ich ihn dann sogar einmal beim Herrengedeck in der Kantine, während Erwin uns noch ein Bier brachte: „Was denkst du eigentlich, wenn du so in der Wiese hockst und Blümchen zupfst?“

Diese eine Frage ließ normalerweise jeden Mann durchdrehen, sobald sie ihm gestellt wurde. Aber Horst erschrak nur kurz, als wäre es ihm unangenehm, dabei beobachtet zu werden, wie er Blümchen zupfte und nachdachte. Und wie auch nicht? Er war doch Horst, das Tier! Und Tiere denken nicht nach, Tiere erlegen ihre Beute.

Seufzend sagte er: „Ach, weißt du, Rock. Ich habe manchmal tief in mir drinnen das Gefühl, dass …“

„… du nicht alleine bist?“

Das hatte mir nämlich Kubelka mal über ihn gesagt, als er Horst in Willis Pornhouse sitzen sah, wo er lieber nachdenklich in seinen Popcornsack hineinschaute und die Körner zählte als auf die Leinwand, wo sich Bunny Beach gerade mit ihrem Rettungsschwimmer vergnügte. Als würde es ihn überhaupt nicht interessieren! „Der ist auch nicht alleine“, hatte Ku mir damals zugeflüstert, als er ihn so sah. Aber Horst schüttelte nur den Kopf über meine Frage: „Was? Warum soll ich denn so einen Scheiß denken? Und was soll das überhaupt heißen?“

„Keine Ahnung!“

„Also, wenn du wissen willst, was ich denke, dann sage ich es dir.“

„Sag!“

„Ich denke, dass ich … nicht bin, der ich wirklich bin.“

„Dass du nicht bist, wer du wirklich bist? Was denkst du denn für einen Scheiß? Wenn wir mal davon absehen, dass du Pamela Anderson noch nicht gehabt hast, dann bist du doch der, der sie alle gehabt hat. Du hast doch ein echt geiles Leben!“

Da schaute er nachdenklich in sein Bierglas hinein, umfasste es wie ein Bär sein Honigglas und meinte irgendwie resigniert: „Wenn du es so siehst, dann Ja. Dann allerdings Ja.“

Und er schaute mich an, als würde ich rein gar nichts verstehen von der Welt, in der er lebte, und von dem, wonach er sich sehnte. Und als ich ihm dann die nächste heiße, braungebrannte und durchtrainierte Lady auf der Wiese zeigte und „Los, los!“ sagte, erhob er sich nur müde und ohne wirklichen Antrieb, und er näherte sich ihr nicht wie der hungrige Löwe, den ich in ihm sah, sondern wie der alte Wolf, der nur noch schlafen wollte. Natürlich dauerte es trotzdem keine zwei Minuten, bis sie ihm mit Sonnencreme ihre Telefonnummer an die Innenseite seiner gewaltigen Schenkel malte und er ihr dabei tief in die Augen schaute. Auf einen Anruf von ihm musste sie dann wie so oft lange warten, denn Horst musste ja vorher noch ein paar andere glücklich machen.

Das war mein Horst. Und das waren die Zeiten.

***

Aber wo verdammt noch mal war Horst?

Ich betrat die Wiese und merkte sofort, dass ohne ihn jede Ordnung verloren gegangen war. Dabei hasste ich nichts mehr, als wenn die Jugendlichen seitlich ins Becken sprangen, was selten vorkam, wenn er hier war. Horst wusste nämlich von uns allen am besten, wie man den Bauch richtig einzog und dadurch den Brustkorb möglichst noch mächtiger erscheinen ließ. So war er im Bad auch für die vorstädtische, männliche Jugend zu einem freilich unerreichten Vorbild geworden, das ihnen zu Hause fehlte. Wie er immer dastand am Rand des Beckens: stoisch und unangreifbar; die langen, blonden Haare im Nacken; die Hände gegen die Hüften gestemmt; das Kinn gerade nach vorne. So konnte jeder lernen, wie man stehen musste, wenn man ein richtiger Mann sein wollte. Diese Ruhe in Kombination mit den zusammengekniffenen Augen (weil die Sehkraft natürlich auch bei ihm langsam nachließ) verschaffte ihm eine Autorität, die alle Rotzlöffel, die noch nie etwas von Benimm gehört hatten, davon abhalten sollte, seitlich ins Becken zu springen. Und sein wütendes Schreien, mit dem er sie vom Beckenrand vertrieb, wenn sie seiner Autorität nicht Folge leisteten, schaffte es dann tatsächlich. Horst konnte richtig unangenehm werden, wenn einer nicht tat, was er wollte. Dann pfiff er wie ein Kochtopf, und das Gesicht um seinen Schnauzer herum wurde ganz rot. Manchmal hatte selbst ich Angst vor ihm, und ich fragte mich, woher diese Wut bei ihm kam, aber ich hatte keine Antwort darauf. Und die von Kubelka, dass er „nicht alleine“ war, genügte mir nicht. Es war dann nur so, dass ich manchmal auch bei Horst nicht glaubte, dass ich mit ihm befreundet war.

Die meisten der Jugendlichen waren aber mittlerweile ohnehin so fett, dass sie gar nicht mehr ins Becken springen konnten. Sie lagen daher einfach nur mitten am Weg zur Wiese irgendwo auf dem Beton herum, hatten die Lautsprecher ihrer Scheißphones voll aufgedreht, und hörten sich darauf ihre Scheißmusik an: „Yo!“ und „Ey!“ und irgendwas mit „Ficken!“ war dann zu hören von irgendwelchen Scheißtypen, die von Muschis, Fotzen, Sahne und Autos sangen. Und von allerlei Müttern, die sie ebenfalls ficken wollten, und zwar bevorzugt in den Arsch. Man wollte zwar schon möglichst lange jung bleiben, aber irgendwie nicht zu lange so jung. Dieses ständige „Yo!“ und „Ey!“ machte einen richtig fertig. Ich sagte also zum Nachwuchs: „Habt ihr noch nie von Creedence Clearwater Revival gehört?“ Das war nämlich richtig gute Musik! Aber sie lachten nur über mich und drehten den Scheiß wegen mir nicht leiser, sondern im Gegenteil noch lauter: „Ey! Yo!“

Ich verzichtete auf das Herrengedeck in der Kantine bei Erwin und kaufte mir stattdessen eine Semmel mit Leberkäse drin, der vor drei Tagen noch unter einem Sattel stand. Dann biss ich hinein und überlegte, wo Horst sein könnte: auf einer Lady? Unter einem Auto? Ich fragte Erwin, der auch ganz schön blond war an seinem Vokuhila, ob er eine Ahnung hätte. Aber der stützte nur die linke Hand in die Hüfte und verscheuchte mit einem Geschirrtuch in der rechten eine Fliege, bevor er säuselte: „Nein! Und ich mache mir wirklich Sorgen um ihn!“ Mit Betonung auf wirklich.

„Und ich vielleicht nicht?“

Nachdem also auch er keine Antwort hatte auf die Frage, wo Horst sein könnte, suchte ich vorläufig das Positive im Leben und dachte: Wenn Blondie heute nicht eincremte, dann war vielleicht ich es, der es tun würde?

Ich verließ die Kantine und latschte zurück zur Wiese, und auf dem Weg dorthin legte ich mir sogar schon einen guten Anmachspruch zurecht, der in etwa lautete: „Na?“

Vielleicht würde ich heute sogar eine mit nach Hause nehmen? Ich musste dann nur damit leben, dass ich nicht die erste Wahl für die Mädels hier war. Die erste Wahl war nämlich Horst, und zwar immer. Allerdings war die zweite Wahl in diesen schwierigen Zeiten auch nicht ganz schlecht. Ich musste dann nur ruhig bleiben, wenn eine „Horst? Bist du es?“ zu mir sagte, sobald sie morgen früh neben mir aufwachte. Und wenn sie dann enttäuscht wäre, dann wäre es egal, weil wir den guten Teil der Übung ja längst hinter uns gebracht hätten.

Ich checkte die Lage auf der Wiese und sah – nichts. Enttäuscht legte ich mein Tuch neben einen Scheißbaum, der da irgendwo in der Mitte der Wiese herumstand und in einem Umkreis von zwanzig Metern unnötigen Schatten warf, und legte mich hin, um eine Mütze Schlaf zu nehmen.

Da sah ich plötzlich etwas Porzellanweißes auf mich zukommen, etwas, das sich orientierungslos herumtrieb. Wie viele Krebse ging es seitwärts, also im Krebsgang. Wenn es nicht aufpasste, dann würde es gleich ins Wasser fallen, was aber auf dieser Seite des Beckens verboten war.

Dieses Etwas fiel dann aber doch nicht hinein, sondern taumelte immer weiter auf mich zu. Und da hatte ich schon diese Befürchtung: Immer wieder kam es nämlich vor, dass ich irgendwo alleine herumsaß, und dann setzte sich jemand, den ich genau in diesem Moment nicht sehen wollte, genau neben mich. Der taumelnde Wackelpudding war nun schon so nahe an mir dran, dass er mich mit seiner Weißheit blendete. Dann hob er plötzlich die Arme und legte sich ungefragt neben mich – aber nicht so, als wollte er von mir eingecremt werden!

Ich sagte: „Verdammt, Ku! Was soll der Scheiß? Dich kann ich hier wirklich nicht brauchen!“

Es war nämlich mein Freund Kubelka, der normalerweise um diese Zeit des Tages in seiner Praxis herumsaß und dort irgendwelche Psychos hinter zugezogenen Vorhängen therapierte. Mit bis oben hin zugeknöpftem Hemd, den Ärmeln immer unten und die Hose auch nicht ganz selten.

Ich kannte auch ihn aus Dirty Willis Swedish Pornhouse, wo er sich am liebsten Filme mit Immanuela Cunt in der weiblichen Hauptrolle anschaute und mit Ziggy Joy in der männlichen. So einer kam selten in die Sonne. Und wenn ich mir anschaute, wie seine Kugelwampe den Krummrücken belastete, dann auch nicht zum Sport. Es sah wirklich abstoßend aus, wie er sich da neben mich fallen ließ, und das sagte ich ihm auch: „Dein Körper bedeutet dir wohl gar nichts?“

Er meinte: „Ihutinrnvrze.“

„Was?“

„Ic pnkte mt andrn Vrzügn.“

„Du punktest mit anderen Vorzügen? Im Ernst?“

„Ja.“

„Aber nicht mit deinem Gesicht, oder?“

Sein Gesicht war nämlich gerade der schwächste Teil an ihm. Das linke Auge war blau und grün und vollkommen geschlossen, das rechte nur blau und sogar noch ein wenig geöffnet, sodass er sich halbwegs orientieren konnte. Und die Nase war ganz sicher nicht mehr so gerade wie früher. Ich erkannte ihn eigentlich nur an seinem Herrenhandtäschchen, ohne das er nie außer Haus ging, weil da seine Visitenkarten drin steckten, die er ständig verteilte. Und an seiner linken Hand, an der er über die fünf Finger hinweg F-R-E-U-D tätowiert hatte.

Manchmal glaubte ich auch bei dem nicht, dass ich mit ihm befreundet war!

Mein Tag war jedenfalls ganz schön versaut, seit ich erfahren hatte, dass Horst nicht hier war. Aber jetzt lief er völlig aus dem Ruder, seit der neben mir saß und versuchte, sich hinter mir zu verstecken. Er wirkte nervös und fahrig. Die lockere Sommerstimmung war verflogen, und die Ladys, die nun langsam auftauchten und sich in die Nachmittagssonne legten, nachdem sie den Friseurbesuch und die Maniküre hinter sich gebracht hatten, machten einen weiten Bogen um mich. Aber nicht wegen mir, sondern wegen des weißen Monsters, das ich nun schon länger nicht mehr gesehen hatte.

Ku war letztes Jahr fünfzig geworden, was er nicht leugnen konnte. Seine Erfolgsgeschichten mit den Ladys waren zum Fünfziger hin immer weniger geworden, sodass er bei denen vorstellig werden musste, die wegen ihrer Probleme mit der Menopause oder dem ganzen frustrierenden Kram mit Mann und Kindern zu Hause bei ihm auftauchten. Oder er musste sich überhaupt um orangefarbene Hosen tragende, rothaarige Kindergärtnerinnen kümmern. Also echt nichts, womit man bei seinen Freunden angeben konnte. Vielmehr war es so, dass wir ihn wegen dieser Ladys immer auslachten.

Vor ein paar Wochen aber sagte er überraschend, er hätte „etwas Regelmäßiges“ mit einer „Perfekten“ laufen. Hörte sich an wie ein verdammter Angeber, der auch mal einen offenstehenden Mund bei seinen Kumpels sehen und ein „Respekt, Oida!“ hören wollte. Aber eine „Perfekte“ verziehen wir kaum mal einem unserer Kumpels, denn warum sollte man einem auch „etwas Regelmäßiges“ mit einer solchen gönnen, wenn es bei einem selbst immer holpriger lief?

Außerdem: Anders, als das die Hausfrauen untereinander machten, hatte uns Ku auch nie etwas Genaueres über seine neue Flamme erzählt, weswegen wir auch begründete Zweifel hatten, ob es diese „Perfekte“ überhaupt gab. Wenn er tatsächlich diesen dicken Fisch an der Angel hatte, warum erzählte er uns dann nicht, ob dieser Fisch schluckte oder spuckte? Er wollte schließlich nicht mehr verraten, als dass sie irgendwo „unterrichtete“.

Seither nannte ich sie: die Lehrerin.

Nachdem er sich halbwegs beruhigt hatte, fing er genau von der an zu reden: „Ich hab dir doch mal von Ludmilla erzählt.“

„Von der Lehrerin?“

„Sie ist doch keine Lehrerin, Herrgott! Sie kommt aus bestem Wiener Bürgerhaus und ist Professorin für Neurologie an der Universität Wien mit Gastprofessuren in Berkeley und Uppsala. Insgesamt ist sie weltweit führend auf ihrem Gebiet!“

Ich blieb dabei: „Als Lehrerin?“

„Verdammt, nein! Als Professorin!

„Als Lehrerin!“

„Professorin!“

„Lehrerin!“

Ich konnte da ziemlich stur sein, fast ein wenig kindisch. Dabei war „Lehrerin“ von mir gar nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Meistens sahen Lehrerinnen ja fantastisch aus. Jedenfalls auf der Leinwand im Pornhouse. Wie sie in Wirklichkeit aussahen, das wusste keiner von uns so recht, denn Lehrerinnen waren nicht die Sorte Mensch, mit der wir viel zu tun haben wollten. Hingegen liebten wir Lehrerinnenfilme, sie waren die Meisterschaft des Pornofilms. Jeder Heranwachsende fing mit Lehrerinnenfilmen an und schaute sich dann hoch bis zu den MILFs und später vielleicht sogar bis zu den Grannys, die aber natürlich nur etwas für Spezialisten waren. Also verdammt, ich liebte Lehrerinnen!

Darum blieb ich dabei: „Sie ist Lehrerin! Und überhaupt – idealisierst du sie nicht ein wenig? Sie muss doch auch Fehler haben!“

Mit „idealisiert“ wollte ich ihn an seinen eigenen Eiern packen, denn das war eines seiner verdammten Lieblingswörter: „idealisieren“. Immer wieder sagte er zu mir, dass ich Horst „idealisieren“ würde, was natürlich lächerlich war. Horst war schließlich so perfekt, dass er es nicht nötig hatte, sich von mir idealisieren zu lassen!

„Hat sie aber nicht!“, sagte er, ohne auch nur einen Augenblick lang zu überlegen. „Ludmilla ist und bleibt perfekt.“

Da war einer ganz schön verblendet, was diese Lady anging, jedenfalls, wenn man sich sein Gesicht anschaute. Denn ohne Zweifel musste das etwas mit dieser Lehrerin zu tun haben. Die Farben Blau, Gelb und Grün im Gesicht eines Mannes waren im besten Fall so etwas wie sein Ritterschlag: Wer wegen einer Lady so eine Visage hatte, der musste wirklich für Gefühle in ihrem Umfeld sorgen. Und Eifersucht war ein sehr starkes Gefühl.

Ich deutete also auf seine Nase und fragte: „Hat sie dich mit dem Lehrerinnenrohrstab so hergerichtet? Oder war es ihr Typ?“

Er drehte fast durch: „Es waren natürlich die Schläger von ihrem durch und durch eifersüchtigen Mann! Und sie ist keine Lehrerin!“

Und ich sagte: „Ist sie doch!“

***

Plötzlich hörten wir eine von unter dem Baum, neben dem wir saßen, „Ähem“ sagen. Und dann: „Es ist doch nichts schlecht daran, wenn man Lehrerin ist. Kerstin Block, die Lehrerin mit dem Blog, ist auch Lehrerin.“

Ich weiß auch nicht, wieso, aber ich sagte plötzlich: „Wer?“

„Kerstin Block, nie gehört? Die Lehrerin mit dem Blog. Sie ist ziemlich berühmt, also echt. Sie bloggt für Frauen mit Größe XL aufwärts, da geht es viel um Selbstbewusstsein und Selbstannahme: Wie steh ich zu mir? Sag ich Ja zu mir? Sag ich Nein? Das ist jeden Tag eine Entscheidung, verlangt jeden Tag eine Antwort …“

Heilige Scheiße. Da sprach uns also eine an, die mir überhaupt nicht aufgefallen war, als ich Ausschau nach einer gehalten hatte, die ich eincremen könnte, obwohl sie sich keine fünf Meter neben mir befand. Aber wie auch? Sie lag ja unter einem Baum! Und dort trug sie sogar noch einen Sonnenhut, der so groß war, dass man darauf einen Kreisverkehr hätte einrichten können, sodass man von ihrem Gesicht fast nichts sehen konnte. Außerdem: Was sollte man mit einer auch machen, die im Sommer unter einem Baum lag und Chips futterte? Über Bäume reden vielleicht? Sie war weiß wie ein Eisbär und schwer wie Blei, also nicht ganz mein Typ. Okay, wer es darauf anlegte, der konnte mit der einen schönen Tag hier verbringen und sie eincremen. Er brauchte dann nur genug Creme!

Sie kicherte zu uns herüber und meinte: „Ich weiß, ich bin euch wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, no problem, das passiert mir öfter. Und Kerstin Block, die Lehrerin mit dem Blog, kennt das Problem auch. Aber, he! Wir nehmen das locker.“

Sie wurde nicht einmal rot, als sie hysterisch lachte, und auch nicht, als sie weiterredete: „Ich habe halt irgendwie das Talent, dass man durch mich hindurchschaut, aber das passiert Kerstin Block auch …“ Sie kicherte weiter wie eine Dreijährige, die gerade einen hat fahren lassen, zuckte dabei mit den Schultern und meinte wieder: „Kerstin Block? Die Lehrerin mit dem Blog? Noch nie gehört? Sie postet auf Youtube und auf Insta über die Themenbereiche Resilienz, Achtsamkeit und …“

Ich unterbrach sie und fragte: „Was war das Zweite?“

„Achtsamkeit.“

Dann herrschte Schweigen, bis sie „… gesunde Ernährung“ sagte.

Kubelka und ich schauten uns an, aber es fiel uns beiden nichts ein, was wir darauf hätten sagen können, außer vielleicht: „Gesunde Ernährung für Dicke?“

Auch diesen Treffer steckte sie weg, klang aber schon ein wenig verzweifelt, als sie weiterredete: „WWW – Punkt – kerstinblock – klein und zusammengeschrieben – Punkt – com. Nie gehört?“

Da wollte es eine unbedingt wissen, aber wir wussten es halt nicht. Und uns fiel auch nichts ein, was wir darauf hätten antworten können, also redete wieder sie: „Manchmal kommt sie sogar hierher. Ich kann euch ihre Nummer geben, wenn ihr mit ihr reden wollt. Ich habe euch vorhin ein wenig zugehört, und ich denke, ihr habt ein paar echte Probleme.“

Endlich stieß ich Ku ins schwabbelige Bauchfleisch, weil er ja auf solche mit Dachschaden spezialisiert war und uns jetzt aus dieser Scheiße herausboxen musste: „Sag doch du mal was!“

Und er sagte: „Ich hab von ihr gehört.“

Das war wie ein Schlag in mein Gesicht: „Was!?“

Aber der Plus-Size-Lady ging ein breites Grinsen über die Lippen: „Echt? Von Kerstin Block, der Lehrerin mit dem Blog?“

Schon filmte sie Ku an, als wäre er der Letzte mit einem Schwanz auf einer Insel und sie die Letzte mit dem dazu passenden Gegenstück. Dass er ein Psychofuzzi war („Gestatten, Dr. Kubelka, Psychotherapeut mit Schwerpunkt Systemische Analyse“), schien sie obendrein schwer zu beeindrucken. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur Mitleid mit seinem Gesicht. Diese Dicken haben ja häufig Mitleid und sind auf Kümmern aus, damit sie selbst etwas zurückkriegten.

Ku hätte jetzt Schluss machen müssen, den Pflock einschlagen, der das Ende des Gespräches bedeutet hätte. Stattdessen legte er noch eins drauf und sagte: „Tut mir übrigens wirklich leid, dass ich sie nicht richtig sehen kann …“

Da hatte eine doppeltes Pech: Alle schauten ohnehin schon durch sie hindurch. Und dann konnte einer nicht einmal das richtig, weil er auf einem Auge gar nichts mehr sah!

Ich wollte weg von hier, aber zwischen Ku und der Achtsamen schien es zu knistern. Dabei war er doch gerade erst wegen einer anderen, die er „Traumfrau“ nannte, verprügelt worden. Er tastete sich von meinem Tuch weg hinein in die Wiese halbwegs in ihre Richtung, verlor aber bald die Orientierung. Also stand sie auf – versuchte es, scheiterte, versuchte es wieder, schaffte es endlich –, holte ein Taschentuch aus ihrer riesigen Tasche, führte es zum Mund und machte es nass. Es war also höchste Zeit davonzulaufen, bevor sie ihm das getrocknete Blut mit ihrer Spucke aus seinem Gesicht wischen konnte. Ich sagte, und ich sagte es deutlich: „Was ist jetzt eigentlich mit dir und dieser Lehrerin? Wolltest du auch sie nur ficken? Ganz ohne Gefühle, wie du das mit allen machst? Du mit deiner Sucht nach gefühllosem Ficken!“

Dieser Treffer zeigte Wirkung. Die Achtsame verlor das Gleichgewicht und fiel mit ihren zwei gewaltigen Milchdrüsen voran auf sein Gesicht. Das konnte geil sein, man konnte aber auch daran ersticken.

Als die Zugewanderten mit ihren eigenen Fettbrüstchen das sahen, lachten sie nicht nur über uns, sondern hielten auch längst ihre Scheißphones in unsere Richtung und filmten den Ringkampf, der sich da unter dem Baum abspielte. Da lagen zweihundert Kilo Schwabbelmasse auf einem Haufen zusammen, und der weibliche Teil davon schnaubte den männlichen wütend an: „Ohne Gefühle also?“

Sie versuchte aufzustehen, was ihr nach einigen Anläufen auch gelang, und verpasste ihm eine dorthin, wo er ohnehin schon nichts mehr sehen konnte. Wütend stapfte sie zurück zu ihrer Decke, schnappte sie samt mitgebrachter Futterboxen, packte alles zusammen und marschierte davon. Schneller war sie in den letzten Jahren nicht gewesen, und wütender hatte sie noch nie geschrien: „Ich werde mich beschweren!“

„Am besten bei Horst!“, rief ich ihr nach.

Als sie „Horst“ hörte, stolperte sie und kam dann fast nicht mehr auf die Beine.

„Der weiß am besten, wie man mit solchen wie dir umgeht!“

***

Als die Dicke endlich weg war, wollte ich hier nicht länger gesehen werden, jedenfalls nicht zusammen mit Ku. Daher warf ich aus Gründen des Anstandes und des Restes an Ansehen, das ich hier vielleicht noch genoss, mein Casali-Badetuch über ihn, schaute ihn streng an und sagte: „Du weißt also, was Youtube ist?“

„Naja. Dort höre ich mir die alten Beatles-Nummern an von den Platten, die ich mir jetzt nicht mehr kaufen möchte, nachdem ich die Erstpressungen auf Vinyl alle weggeschmissen habe, ich Volldepp.“

„Und Kerstin Block, die Lehrerin mit dem Blog, von der hast du auch schon gehört?“

„Natürlich nicht! Aber sie schien mir ein wenig Aufmerksamkeit zu brauchen, darum gab ich sie ihr, ist doch nichts dabei. Außerdem beschäftige ich mich nun mal selbst mit den Themenbereichen Resilienz und Achtsamkeit, ich habe sogar Horst schon mal Tipps gegeben, wie er resilienter werden kann.“

„Horst?“

„Ja, Horst, den du ständig nur idealisierst.“

„Tu ich nicht!“

„Tust du doch!“

„Nein!“

„Vor einem Monat“, erzählte er mir, als ich die Faust auf seine Eier sacken ließ, „saß Horst in einem dieser Summersplash-Filme und war echt durch den Wind, schaute in seinen Popcornsack und wirkte, als würde er unter einem nicht näher definierten Druck bald zusammenbrechen. Hat er dir nie von seinen Versagensängsten erzählt? Herrgott, wo ist er denn überhaupt?“

Ich lachte ein wenig unsicher, dann sagte ich: „Naja, er ist … nicht da.“

Während ich noch überlegte, ob Horsts Verschwinden etwas damit zu tun haben könnte, dass er „den Druck“ spürte (oder vielleicht noch schlimmer: dass er „Versagensängste“ hatte?), nutzten die zugewanderten Jugendlichen seine Abwesenheit, um mit uns Streit anzufangen. Sie riefen „Spasti!“ und „Opfer!“ in unsere Richtung, und manche von denen nannten uns sogar „Schwulis!“.

Da fiel natürlich auch mir auf, dass Kubelka und ich die ganze Zeit wie zwei Hausfrauen, die ihre Häkelarbeiten austauschten, miteinander redeten, und ich überlegte, wie das wohl auf andere wirkte: Ein bisschen peinlich vermutlich schon!

Ku war mittlerweile von deren Scheißmusik so genervt, dass er nun zurückschrie: „Hallo! Habt ihr noch nie etwas von dem Philosophen Pfaller gehört?“

Das war die Frage des Tages: Hast du noch nie von dem gehört, schon mal von der?

Die Fetten lachten so sehr über ihn, dass ihre Brüstchen auf und ab hüpften, und dann zeigten sie uns den Finger. Aber nicht den Daumen als Zeichen dafür, dass sie von dem Typen schon einmal gehört hatten, sondern den mittleren als Zeichen dafür, dass Ku ihn sich in den Arsch schieben konnte.

Der aber redete unverdrossen weiter: „Pfaller sagt, dass man den anderen nicht mit seinem eigenen Selbst belasten soll, kapiert? Also dreht endlich diese schreckliche Musik ab!“ Um dann die Frage des Tages zu stellen: „Herrgott im Himmel, habt ihr noch nie von Schostakowitsch gehört?“

Sogar ich kratzte mich hinterm Ohr: „Von wem?“

***

Dieser Tag war im Arsch. Ich brauchte dringend ein paar Quadratmeter Ruhe um mich herum, bevor mich am Ende doch noch ein paar heiße Ladys zusammen mit dem Krummrücken hier sehen konnten, und wollte zum Auto. Das konnte man nämlich auch von innen her abschließen, und dort konnte man seine eigene Musik hören.

Aber sicher nicht Schostakowitsch!

Auf dem Weg dorthin kriegte sich Ku noch immer nicht ein wegen der Rotzlöffel im Bad: „Frage mich bitte nicht, wie groß deren Angst vor den Frauen ist, dass sie immer alle gleich in den Anus penetrieren müssen, wenn ich kurz auf die eben gehörte Musik Bezug nehmen darf, traurig, traurig, traurig. Ihnen fehlt einfach die reife Sexualität des aufgeklärten europäischen Mannes.“

Mir zog es beinahe die Adiletten aus: „Ihnen fehlt was?“

„Auch mal akzeptieren können, dass es nicht immer so läuft, wie man es selbst gerade gerne hätte …“

„Dann akzeptier mal, dass ich meine Ruhe will!“

Wir stiegen ein. Ich startete den Datsun, parkte aus, und dann ging es zurück in die Stadt. Dass ich meine Ruhe haben wollte, interessierte ihn nicht, denn er wollte wissen, ob es mich gar nicht interessierte, was mit seinem Gesicht passiert war.

„Eigentlich nicht.“

„Also hör zu: Vor zwei Monaten kam Ludmilla zu mir in die Praxis, weil sie in dieser frustrierenden Beziehung mit einem unfassbar dominanten, sie in jeder Phase ihres Lebens einengenden Chirurgen migrantischen Hintergrundes namens Dr. Hassan feststeckte.“

„Dazu von mir zwei Fragen: Warum sagst du nicht einfach Ausländer zum Chirurgen? Und warum ließ sie sich mit dem Hassan ein, wenn er sie so einengt?“

Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort einmal in den Mund nehmen würde: „einengt“.

Ku schien zu überlegen, bevor er richtig dick auftrug: „Muss ich dir genau erklären, was der schier unlösbare Konflikt für eine Frau im gerade noch gebärfähigen Alter ist? Einerseits sucht sie das Breitschultrige, das Virile, also die beste DNA für ihr noch ungeborenes Kind, das sie dringend möchte, Stichwort biologische Uhr. Andererseits will sie das Abgesicherte, das Nest für ihr noch ungeborenes Kind, den goldenen Käfig, die Kuschelecke mit Plüschsofa zum Füßehochlegen.“

Schon kriegte ich Kopfschmerzen von dem ganzen Scheiß. Ich bat ihn, mir aus dem Handschuhfach einen Flachmann zu reichen, nahm einen kräftigen Schluck daraus und fragte: „Okay. Aber als was kommst du in dieser Seifenoper vor? Als der Breitschultrige wohl eher nicht?“

Ich gab ihm den Flachmann, damit er trank und nicht redete, aber Trinken machte ihm lange nicht so viel Spaß wie Reden: „Jedenfalls konnte Ludmilla nicht benennen, was wichtig ist in einer reifen Beziehung und was nicht.“

Ich dachte: Wenn ich jetzt die richtige Frage stelle, dann werde ich es vielleicht endlich erfahren. „Und was ist wichtig in einer reifen Beziehung?“

„Jedenfalls nicht etwas zusammen unternehmen, wie die meisten irrtümlich glauben!“, schrie er beinahe. „Nicht Aktion und Vollstopfen des Tages mit sinnlosem Tun, Stichwörter Camping, Rafting, Mountainbiking! Sondern Verständnis füreinander und dem anderen zuhören können. Dazu Zärtlichkeit und Geborgenheit.“

Mehr denn je vermisste ich die raue Männlichkeit meines Freundes Horst! Ich fragte: „Machst du Witze?“

Wir hatten die Fenster hinuntergedreht und ich die Sonnenbrille auf meiner Nase, während er die seine hielt. Ich rauchte gemütlich und dachte an Horst, ja, ich dachte wirklich an ihn. Nicht so, aber schon intensiv.

Ku holte mich aus meinen Träumen: „Willst du gar nicht wissen, wie es weiterging?“

„Nein.“

„Also hör zu. Ihr Typ heißt … äh … Dr. Hassan. Gestern musste dieser Dickeiertyp zu irgendeinem Kongress irgendwohin, und Ludmilla war alleine zu Hause. Natürlich war sie einsam und kam zu mir.“

Ich warf ein: „Was glaubst du, wie es Anita Pallenberg ging, wenn Mick und Keith zu einer Tour aufbrachen? Damit muss man halt umgehen können!“

„Nachdem er sie mehrmals in der Doppelstunde, während der sie bei mir auf der Couch lag, angerufen hatte, musste ihm geschossen sein, dass sie ihn während dieser Zeit betrog. Und voilà! Kaum ging sie bei der Türe hinaus, kamen drei aus seinem Araberclan zu mir und zack. Dabei überspielte dieser Hassan mit seiner ausgestellten Männlichkeit nur seine latente Homosexualität!“

„Im Ernst? Das geht?“

„Ja klar geht das. Im Bett lief bei dem nämlich überhaupt nichts mehr. Ständig hatte er Kopfschmerzen oder ging noch schnell ins Gym nach der Arbeit. Darum war er ständig müde!“

„Hört sich an, als wäre er nicht heimlich schwul, sondern heimlich eine Frau.“

„Nein! Er war einfach nur ständig müde und hatte Kopfschmerzen!“

„Wie eine Frau!“

„Nein!“

„Doch.“

„Nein!“

„Ach, leck mich!

***

Wir waren am Brunnenmarkt angekommen, wo ich einen Parkplatz in der Nähe meines Büros suchte, aber die längste Zeit keinen fand. Während dem Sinnlosherumkurven erzählte Ku mir noch, dass Ludmilla zu ihrer Mutter gezogen war – „Keine Ahnung, wohin genau!“ – und dass er es nach diesem Zwischenfall vermied, sie anzurufen. Es herrschte also Funkstille zwischen den beiden, denn er hatte gestrichen die Hosen voll von den Arabern. Und wenn man sich das eine verschwollene Auge anschaute, dann musste man sagen: zu Recht! Irgendwann musste sich auch der stärkste Krieger zurückziehen und seine Wunden lecken. Erst recht einer wie Ku, der rein gar nichts von einem starken Krieger hatte.

Eine Sache war mir aber trotz vieler blumiger Worte nicht ganz klar: „Stehst du jetzt zu dieser Lehrerin oder nicht? Denn wäre es nicht so geschwollen, dann hättest du vorhin ein Auge auf die Dicke geworfen, ich hab es genau gesehen!“

„Das ist doch ein natürlicher Reflex …“

Diese Psychofuzzis hatten einfach auf alles eine Antwort. Darum war ich zur Psychologie so distanziert wie zu Gurken in der Küche: Wenn eine da war, dann schälte ich sie, schnitt sie in kleine Stücke und warf sie beim Fenster hinaus, weil ich sie nicht brauchte.

„Wenn ein Mann in der Krise ist“, hörte er nicht auf, Scheiße zu reden, „dann sucht er Zuflucht in der Geborgenheit. Und Dicke strahlen nun mal Geborgenheit aus.“

Ich sagte: „Du nicht!“

Ihm aber war egal, was er ausstrahlte, er schien von der Dicken geblendet. Hatte gerade wegen einer anderen (einer „Perfekten“) die Visage poliert bekommen und schwenkte schon auf die nächste (eine „Dicke“) ein: „Sie scheint jedenfalls eine faszinierende Persönlichkeit zu sein“, sagte er. „Sie schämt sich einerseits, dass sie dick ist, hat aber andererseits keinen Grund, sich zu schämen.“

„Nein?“

„Nein. Sie ist ganz Frau. Frau durch und durch. Sehr, sehr fraulich. Hat alles, was man an einer Frau liebt. Sie …“

„Ich glaube, ich habe verstanden, was du meinst. Du findest eben, dass sie sehr fraulich ist.“

„Ja, sehr. Alles bei ihr ist am richtigen Platz …“

„Und nicht zu wenig davon!“

„Ich meine … wie sie sich bewegt …“

„Und man hätte nicht gedacht, dass sie sich bewegen kann!“

„Wie eine Feder.“

„Naja“, sagte ich. „Nicht gerade wie eine Feder. Aber wie eine … große Feder.“

Hier in der Gegend lebten viele Zugezogene, und, weiß der Teufel, auch die mussten irgendwie immer zeigen, dass sie den größten hatten: den größten verdammten Geländewagen! Ich kurvte also noch ein paar Mal sinnlos um die Häuser, bis ich den Datsun endlich zwischen zwei dieser Monster hineindrückte. Dabei bremste ich sehr hart, sodass sich Ku leicht die Nase anschlug, was bei diesem Gesicht aber wirklich schon egal war.

Dann stiegen wir aus wie ein sehr schräges Paar aus der Abteilung Mischehe. Ku mit meinem Badetuch über dem Kopf sah aus wie eine Türkin, aber ich natürlich nicht wie ein Türke. Ich schob ihn in Richtung einer Kebabbude, wo ich zum Chef sagte: „Darf ich vorstellen? Meine Alte.“ Anschließend bestellte ich eine Dose Bier sowie einen „Döner für die da, denn Döner macht schöner“. Ich gab das Futter an Ku weiter, der es sich unter seinen Umhang schob, und bestellte für mich noch ein zweites Bier. Der Abdullah sagte: „Musst du nicht trinken übermäßig! Was sagen deine Frau dazu?“ Ich sagte: „Was geht’s dich an? Meine Frau hat gar nichts zu reden. Das ist bei mir nicht anders als bei euch!“

Er aber wollte mich irgendwo hinkriegen, wo ich nicht hinwollte: „Du nicht trinken so viel!“

Ich versuchte es damit: „Glaubst du vielleicht, meine Alte hier schaffe ich ohne Alk?“

Dabei deutete ich auf Ku, der sich unter meinem Badetuch den Döner hineinschob wie vorher die Dicke ihre Chips. Um seine ekelhaften Kaugeräusche nicht hören zu müssen, suchte ich ein Thema, über das ich mit ihm reden konnte, und endlich fand ich eines: „Warum hast du überhaupt angefangen, Ludmilla zu ficken? War es ein Trostfick? Trost dafür, dass ihr Hassan schwul ist?“

Der Abdullah in seinem Dönerstand zuckte unmerklich zusammen, als er „Trostfick“, „Hassan“ und „schwul“ hörte. Und überhaupt kannte er sich nicht mehr aus: Bei ihm war Ficken sicher nie Trost, sondern immer nur harte Arbeit. Und einer, der Hassan hieß, konnte in seinen Augen einfach nicht schwul sein. Und wieso fickte meine Alte eine mit Namen Ludmilla?

Fragen über Fragen, die sich da unter seinem Käppchen auftürmten. Ku beantwortete die erste: „Eigentlich war sie es, die mir die Hose geöffnet hat.“

Da zuckte der Kebabwirt noch deutlicher zusammen, und ich konnte sehen, wie er sich fragte: Hat die Alte etwa einen Schwanz?

Seine Abscheu vor Ku stieg mit jedem Wort, das wir wechselten, und er wollte nur noch möglichst rasch und möglichst genau seine acht Euro vierzig von mir, damit wir endlich von seinem Stand verschwinden würden.

Aber ich hatte gerade kein Cash bei mir, weil ich ja pleite war. Also fragte ich Ku, ob er welches hätte, und der sagte, er würde mich bezahlen, wenn ich für seine Sicherheit sorgte und ihn irgendwo unterbrachte, wo die Araber ihn nicht finden konnten.

Das hörte sich nach einem Auftrag an, also sagte ich: „Nichts leichter als das! Macht sechshundert Euro am Tag, plus Spesen.“

„Ist das letzte Preis?“, mischte sich der Abdullah ein, der das von seinem Basar zu Hause so gewohnt war.

„Lass mich in Ruhe mit letzte Preis, okay?“

Als Seelenspengler hatte Ku seine Säcke immer voll mit Zweihundertern, er hatte gar nichts Kleineres bei sich, weil er seine Löhnung immer bar auf die Pianistenfinger kriegte, und dazu noch Extras wie geöffnete Hosen! Er gab mir sechs von den Scheinen, womit er sich meinen Schutz für heute und morgen kaufte, und ich reichte einen davon an den Abdullah weiter. Der hielt ihn gegen das Licht, als suchte er darin eine Sure seines Korans. Als er keine fand, kramte er nach dem Wechselgeld, was ihm einige Mühe bereitete. Er betete in einem fort Zahlen herunter, als würde er gerade rechnen lernen, was mich nervte, weil ich mich selbst konzentrieren musste. Ich sagte: „Zähl leise!“ Und arbeitete im Kopf ein Sicherheitskonzept für Ku aus, das im Wesentlichen so aussah: „Du musst dich halt irgendwo verstecken!“

Er sah das genauso, hakte aber nach: „Wo?“

„Gute Frage.“

Da spürte ich nämlich schon ganz leicht die Sonne und auch das zweite Bier, das ich nun gegen die Hitze genossen hatte. Ich überlegte: „In deiner Praxis?“

„Dort haben wir es doch die ganze Zeit getrieben!“, sagte er. „Und dort haben mich die Schläger von dem Hassan aufgesucht.“

„Dann ist es besser, wir stecken dich woandershin.“

„Dafür zahle ich dir sechshundert Eier am Tag? Fällt dir nichts anderes ein?“

„Im Moment nicht.“

Immerhin hatte es fünfunddreißig Grad im Schatten. Da fiel einem nicht so schnell etwas anderes ein.

***

Ich fasste an mein klatschnasses Shirt und überlegte, was mich die letzte Nacht so nass hatte werden lassen: Waren es Sorgen, die ich mir um meinen Kumpel Horst machte? Oder waren es feuchte Träume, die ich von der im schwarzen Badeanzug unter dem Baum hatte (was mich selbst am meisten überrascht hätte!). Oder von einer der schlanken Ladys, die sich von Horst eincremen lassen wollten, aber dann bei mir im Bett gelandet waren?

Oder war es am Ende der neben mir?

Als ich mich nämlich zur Seite drehte, sah ich dort Kubelka liegen. Irgendwann gestern Abend musste ich zu ihm gesagt haben: „Na gut, dann leg dich halt einfach bei mir auf den Boden, bis mir etwas Besseres einfällt!“ Da war er mich beinahe angesprungen vor Freude, es fehlte nicht viel, und er hätte mich wie ein Hund abgeleckt. Irgendwann während der Nacht musste er dann zu mir in die Kiste gekrochen sein. Und da lag er nun friedlich und schnarchte. Solch unbedachte Entscheidungen traf ich selten ohne Alkohol, und richtig: Mein Blick auf die leere Flasche Russenschnaps neben dem Bett bestätigte diese schlechte Angewohnheit. Ich stöhnte: „Oh mein Gott!“ Gerade, als ich mir den Kopf abreißen wollte, weil er mir so verdammt weh tat, läutete die Schelle. Ich hoffte, dass es Horst war, der irgendeine heiße Blonde im linken Arm hatte, während er mit dem rechten telefonierte. Hoffnungsvoll drückte ich auf Grün und sagte: „Superschnüffler Rock Rockenschaub löst auf alle Fälle alle Fälle, was kann ich für Sie … ach scheiß drauf! Horst? Bist du es?“

„Leck mich am Arsch mit Superschnüffler! Ich bin’s. Willi!“

„Aber …“

Wo war Horst?

Willi, dem Schwein, gehörte das Swedish Pornhouse oben am Gürtel, wo er Pornofilmklassiker mit Jack Schleck in der Hauptrolle abspulte oder mit Titt Eklund. Von der hatten wir für die Sommermonate ein Special ins Programm gehoben, eine wirklich sehr schöne Auswahl ihrer besten Filme, von denen man sich Titt and Butt, Die zwei Superbomben von Tittfield oder Tittanin der Großstadt, wo sie als Landpomeranze in eine Großstadt zieht und sich dort in Grund und Boden pimpern lässt, unbedingt und gerne auch zweimal anschauen konnte. Aber mir fehlte noch ein richtig guter Text für die Plakate, einer, der mehr ausdrückte als „Geil!“. Ich dachte, dass Willi mich vielleicht deswegen anrief, also schaute ich Ku neben mir erwartungsvoll an, der aber mit seinem zerstörten Gesicht gerade nicht so aussah, als würde ihm etwas Geiles zu Titt Eklund einfallen. Außerdem schlief er.

Ich fragte: „Willi, was ist?“

Traditionell zum 1. Juni jeden Jahres zog Willi sich für zwei Monate aus dem Tagesgeschäft seines Pornhouses zurück und übergab mir die Schlüssel dafür, weil verdammt noch mal die ganzen Lehrer, die den Frühling über zu ihm kamen, um sich Verzückte Schulmädchen oder Director’s Slut anzuschauen, mit ihren Familien im Sommer „etwas unternehmen“ mussten, sprich: nach Kroatien fahren oder ins Waldviertel zum Camping oder Rafting. Beziehungsweise gab es auch die, die „mal überhaupt nichts machen“ wollten, was natürlich lächerlich klang, wenn man Lehrer war und das ganze Jahr lang ohnehin nichts machte.

Es war aber einfach im Sommer nicht viel los im Pornhouse, jedenfalls nicht so viel, dass Willi persönlich dort anwesend sein musste. Also hatte er mich wie jedes Jahr gefragt, ob ich Zeit hätte, ihn in sein Sommerhäuschen zu bringen, und verdammt: Ich hatte Zeit! Allerdings wusste ich langsam nicht mehr so recht, ob es gut oder schlecht war, wenn man als Mann so viel Zeit hatte. Man war heute irgendwie schnell ein Außenseiter, wenn man immer ein bisschen Zeit übrig hatte für seine Freunde, und man musste sich irgendwie rechtfertigen, wenn es nichts zum Aufschieben gab. Letztlich musste man aber einfach dazu stehen, dass man Zeit hatte, wenn man sie hatte.

Willis Datscha lag draußen an der Alten Donau in einer Gartensiedlung namens Neu-Brasilien. „Brasilien“ machte Willi irgendwie geil, obwohl man mit sechsundsiebzig die richtig geilen Jahre bereits hinter sich hatte. Daher bedeutete Gartensiedlung in seinem Fall: weiße Brusthaare auf braun gegerbten Männertittchen; ledrige Haut an klapprigen Kartenspielern; Duft nach Grill und Bier; enge, vielleicht zu enge Badehosen; und gequetschte Brüste in spitzen BHs. Alles war da draußen irgendwie ganz James Bond, aber halt James Bond 1954.

Ich hatte Willi also dorthin gebracht und ihm den Griller geputzt, bis ich aussah wie der eine von den Heiligen Drei Königen. Dann hatte ich noch den Schlauch an die Freilanddusche angehängt, weil Willi dazu neigte, in seinem Garten auch mal ganz nackt herumzulaufen, sich x-mal am Tag in der prallen Sonne zu duschen und dabei seinem weißbehaarten Glockenspiel alle Freiheiten zu gönnen. Als ich auch damit fertig war, hatte er noch meine Eselsgeduld getestet und gesagt: „Bringst du mir den Gelsenspray? Bringst du mir das Handtuch? Schraubst du mir die Birne rein? Und vergiss nicht die Grillkohle, wir haben keine Grillkohle!“ Und als ich dann endlich gehen wollte und schon beim Ausgang stand, machte er einen auf Pornokino-Vollchef und rief mir nach: „Weißt du überhaupt, wo der Schlüssel für den Vorführraum ist?“

„Natürlich.“

„Und weißt du auch, wohin du die Tageslosung geben musst?“

„Aber ja.“

„Und weißt du vielleicht auch, wie sehr mir der Arsch weh tut, wenn ich noch länger hier herumstehen muss? Also hol endlich die Polster für die Gartenmöbel!“

Während der letzten Jahre war es immer schwieriger geworden mit ihm, und ich musste mir einen immer strengeren Ton gefallen lassen, was nicht nach meinem Geschmack war.

Darum machte ich den Job bei ihm im Pornhouse eigentlich nur noch aus zwei Gründen:

– Die Superschnüfflergeschäfte liefen schlecht und immer schlechter.

– Irgendwann würde ich alles erben, was Willi sich aufgebaut hatte, und ich würde halbwegs davon leben können. (Wobei das eine gewagte Prognose war, wenn man bedachte, wie viele Leute mittlerweile Pornos lieber auf ihrem Scheißphone schauten als in Willis Pornokino!)

Seit gestern Mittag jedenfalls spielte er dort draußen Karten mit seinen drei Kumpels Fritz „Bauchstich“ Hawelka, Freddy „Benz“ Friedl und dem „Schlauch“, einem nigerianischen Pfarrer (oder was weiß ich, was er war!), der von dort, wo er herkam, flüchten musste und – vorübergehend!, wie er sagte – als gern gesehener Gast in irgendeiner Immobilie der Brüder vom Heiligsten Herzen Jesu untergekommen war. So lange, bis er halt wieder nach Nigeria zurückdurfte, was – wie er auch sagte – sein dringendster Wunsch war.

Mein Brotha Lovegod, der zwar nicht mein Bruder war, aber eben mein Brotha und der ebenfalls aus Nigeria stammte und drüben in Bratislava den Crystal-Meth-Markt beherrschte, hatte ihn letzten Sommer mal mit zu uns ins Kino genommen, wo wir extra für ihn Kerzen & Schmerzen auf den Spielplan setzten. Und als der Film dann vorbei war, hatte Willi ihn gefragt, ob er Tarock spielen könne.

Erwin „Fleischhaube“ Schnöll, der bis dahin zu Willis Kartenrunde gehörte wie der Senf zur Wurst, hatte nämlich im Winter davor einen Herzinfarkt erlitten, und zwar in Thailand. Und zwar auf einer Thailänderin, die einen Schwanz hatte! „Das ist so verdammt traurig“, hatte Willi in der Folge immer wieder gesagt. „Man fährt mit so viel Hoffnung dorthin, und kehrt ohne jede Hoffnung im Sarg wieder zurück. Und das Letzte, was man in seinem Leben sieht, ist eine Frau, die einen Schwanz hat!“ Und wirklich: Trauriger, als mit dem Blick auf eine Frau, die einen Schwanz hat, konnte das Leben eines Mannes nicht enden. Und hoffnungsloser als in einem Sarg konnte man danach nicht reisen. („Vielleicht hat sich die Fleischhaube ja einfach übernommen?“, hatte ich in einem Anflug von Vernunft und Wirklichkeitssinn, der mich nun immer öfter ereilte, je älter ich wurde, gefragt. Die thailändischen Bullen hatten die Fleischhaube nämlich im Hotelzimmer mit gleich drei Thailänderinnen gefunden, von denen eben zwei gleichzeitig auch Thailänder waren und sich über die Hosentaschen von Erwin hermachten, um dort nach Verwertbarem zu suchen, während die dritte Thailänderin ohne Schwanz ihn am Schwanz massierte. Nicht bis zum Happy End, sondern bis zum bitteren Ende.)

Der Pfarrer war gerne eingesprungen, und ich hatte dann wirklich gehofft, dass mit ihm am Kartentisch für die nächsten Jahre Ruhe einkehren würde, weil John James, wie er mit vollem Namen hieß, erst Anfang fünfzig war und somit noch ein paar Jährchen vor sich haben sollte.

Aber jetzt?

Es war wie im verdammten Kindergarten! Denn Willi sagte mir nun, dass ihn vorhin Trudi, die Gattin von Bauchstich-Fritz, angerufen und ihm mitgeteilt hätte, dass dieser während der letzten Nacht, als er wieder einmal pissen gehen musste, einfach umgefallen und gestorben war.

Ich fragte müde: „Ganz ohne Bauchstich?“

„Ganz ohne Bauchstich.“

Da baute man sich sein Leben lang einen entsprechenden Ruf auf, steckte zehn Bauchstiche weg wie nichts, und dann fiel man einfach beim Pissen um!

Müde fragte ich: „Und jetzt?“

„Jetzt musst du für Fritz einspringen!“

Sonst würde das bei ihm nämlich mit dem gelungenen Sommer draußen im Gartenhäuschen nichts werden, trotz Azorenhochs. Und mit sechsundsiebzig war natürlich immer die Frage, wie viele gelungene Sommer es insgesamt noch werden würden.

Ich kam für diesen Job aber nicht infrage, denn Kartenspielen interessierte mich einfach nicht, es interessierte mich noch weniger als Golfspielen. Ich hatte es letztes Jahr einmal versucht, als der Pfarrer irgendwo ganz dringend eine Messe lesen musste. Aber schon nach zehn Minuten hatte ich gesagt: „Pass mal auf, Willi, so geht das nicht. Ich bin zu jung für diesen Scheiß, ich muss noch etwas anderes erleben als hier mit dir im Gartenmobiliar herumzusitzen und Karten zu spielen. Ich fahre jetzt zu Horst hinaus ins Bad!“

Zwar hatte ich nichts gegen ein gutes Stück Steak am Abend, das auf dem Griller brutzelte, und ich schaute auch gerne mal zu den Sternen hinauf, wo ich diesen Großen Wagen suchte und dabei ein paar Gelsen killte, die ungefragt auf mir Platz nahmen. Aber ich wollte nicht Karten spielen untertags, wenn ich gleichzeitig bei Horst draußen sein und mit ihm zusammen die Frauchens in ihren knappen Bikinis anschauen oder sie vielleicht sogar zu einer Eincremesession nach dem Verzehr eines Eislutschers überreden konnte.

Ich hätte nun also meinen Kumpel Lemmy fragen können, ob er mit Willi und dem verbliebenen elenden Rest da draußen ein paar Runden Karten spielen wollte. Und Lemmy wäre im Prinzip sogar ideal dafür gewesen, da er den ganzen Tag lang nur auf seiner Couch herumsaß. Aber oft genug war er dabei so zugedröhnt, dass er alleine fürs Mischen der Karten drei Tage gebraucht hätte. Wenn er nämlich falsch dosiert war, dann bewegte er sich manchmal stundenlang überhaupt nicht. Und auch wenn Sitzen-bleiben-bis-die-Blase-Reißt beim Kartenspielen oberstes Gebot war, so musste man doch mit den Händen flink sein und im Köpfchen erst recht.

Daher kam Lemmy trotz aller Vorteile einfach nicht infrage.

Also drehte ich mich zu Kubelka, der gerade neben mir aufwachte, und fragte: „Kannst du eigentlich nur Scheiße reden und zuhören? Oder kannst du auch Tarock spielen?“

Er sagte begeistert: „Mit Willi, dem Schwein? Natürlich kann ich Tarock spielen! Es muss mich nur jemand fragen!“

***

„Glaubst du, er wird mich als vollwertiges Mitglied seiner Kartenrunde akzeptieren? Tarock spielen auf Augenhöhe? Von Mann zu Mann?“ Ku schien überglücklich, dass er mit Willi Tarock spielen durfte, war sich aber nicht ganz sicher, ob Willi das auch war. Der hatte nämlich seit jeher seine Vorbehalte gegen ihn, weil er ihm nicht männlich genug war und weil ihn die Weibergeschichten, die er immer erzählte, nicht interessierten.

Mir aber war scheißegal, ob Willi ihn akzeptierte. Mir war nur wichtig, dass er Ku im Geräteschuppen schlafen ließ, wo er vor den Schlägern dieses eifersüchtigen Chirurgen, der seine Lehrerin einengte, sicher sein würde. Das war mein Plan, aber von dem sagte ich den beiden nichts.

Weil sein Hemd seit gestern voll mit Blut war, borgte ich Kubelka eines meiner weißen Unterhemden, damit er oben nicht nackt herumlaufen musste. Und für untenherum borgte ich ihm meine Rapid-Hose Auswärtsdress 1984 in Weiß mit grünen Streifen. Ich schaute ihn an und fragte mich, wie weiß ein Mensch eigentlich sein konnte. Um ein wenig Farbe in sein Leben zu bringen, warf ich ihm ein Hawaiihemd mit roten Einsprengseln über, während ich wieder das grüne mit gelben Einsprengseln anzog, und fertig war der Partnerlook.

Beschwingt hüpften wir hinunter ins Quattro Stazzione, wo ich Lemmy den Fressnapf hinstellte und mir die Brusttaschen meines Hemdes mit Vaya Con Dios vollstopfte, Lemmys Gras, das auch an Regentagen die Sonne scheinen ließ. Dann verabschiedeten wir uns und stiegen in den Datsun.

Schon fuhr ich wieder in Richtung Transdanubia im Norden der Stadt, querte die Brücke und cruiste entlang des Flusses nach Neu-Brasilien, wo ich überall diese Schilder sah, die irgendwelche scheiß Investorenprojekte feierten: drei mal vier Meter große Werbetafeln, auf denen Hauspläne zu sehen waren samt der Telefonnummer, die man anrufen konnte, wenn man ab zehntausend Euronen mit dabei sein wollte. Pro Quadratmeter!

Um Willi herum wurde verkauft und gekauft, dass die Notare in der Stadt nicht mehr nachkamen mit dem Schreiben der Verträge. Das gute alte Wien hatte sich ganz schön verändert, und das Geld rückte langsam sogar an Willis Kugelgrill heran. Wo früher kleine Häuschen standen, da standen jetzt fette Einfamilienhäuser. Und wenn früher nur die Armseligsten hier am Wasser wohnten (die sich keinen Urlaub leisten konnten – und zwar ein Leben lang keinen leisten konnten!), so wollten das jetzt die Scheißreichen auch, obwohl die sich sowieso jeden Urlaub leisten konnten. Anders als Guttmann musste ich mir zum Thema „die Scheißreichen“ erst noch eine endgültige Meinung bilden, jedoch neigte ich mittlerweile dazu, ihm in der Sache recht zu geben: Dieses Dreckspack konnte einem ganz schön die Laune vermiesen. Wenn man also den Typen, der in Guttmanns Gegend mit dem Luftdrucknagler auf tonnenschwere SUVs und Pick-ups schoss, mal hierherlocken könnte, dann wäre das gewiss ein feine Sache. Peng! Peng! Peng!

Weil die enge Straße auch vor Willis Datscha mit diesen Monstern, neben denen mein Datsun aussah wie eine japanische Geisha neben einem japanischen Sumoringer, zugeparkt war, musste ich ihn schließlich ein paar Hundert Meter entfernt in Alt-Brasilien abstellen. Von dort aus latschten wir die Strecke zurück – einmal nach links, dann nach rechts, dann geradeaus, noch mal links, noch mal geradeaus, noch mal rechts, geradeaus, links, und da waren wir. (Note to myself: Wenn du deinen Wagen wiederfinden willst, dann musst du nur alles in umgekehrter Reihenfolge zurückgehen!)

Als wir endlich vor Willis Grundstück standen, versperrte uns auch dort eines dieser Straßenschiffe beinahe den Eingang: ein roter VW Amarok mit einem „Baby an Bord“-Kleber hinten auf der Scheibe, einem Babysitz am Echtlederrücksitz und jeder Menge Energydrinkdosen auf der Beifahrerseite. Ich trat gegen den hinteren dicken Reifen, sodass ich mir fast die Zehen brach und Kubelka mich fragte: „Fühlst du dich etwa unterlegen?“ Und ich ihm sagen musste: „Leck mich am Arsch mit unterlegen, okay? Wie soll ich mich denn einem Scheißautoreifen unterlegen fühlen? Ich meine … Es ist ein Autoreifen!“

Kaum öffnete ich die Türe zu Willis Grundstück, spürte ich schon die Gelsen, die jedes Jahr hier ihren Kongress abhielten, und Willi kam uns auf seinen O-Beinen und mit den Badelatschen unten dran entgegen. Gerne hätte ich ihm gesagt, dass seine rote Badehose ein wenig locker saß um den Sack herum, sodass die stark behaarten Eier immer wieder mal heraushingen, während er ging. Aber wer lässt sich schon etwas sagen, wenn es Sommer war und man auf seinem eigenen Grundstück tun und lassen konnte, was man wollte?

Als Kubelka ihn aber so halbnackt sah, fragte er mich: „Wer bitte ist der denn?“ Und das, obwohl er Willi natürlich seit Jahren gut kannte, weil ja auch er Stammgast bei ihm im Pornhouse war. Dort war Willi aber auch immer vorschriftsmäßig in rosa oder gelbe Sakkos gehüllt, und wenn ihm dort die Eier bis zu den Knien hingen, dann taten sie das unter notdürftig gebügelten Hosen.

Ich sagte also: „Das ist Willi, du Idiot!“

Und als Willi Kubelka mit seinem zerstörten Gesicht und in einem meiner Hawaiihemden sah, fragte er mich das Gleiche: „Wer bitte ist der?“

Ich sagte: „Der vierte Mann.“

Wie befürchtet, war er skeptisch, ob dieser geprügelte Hund neben mir seine Kartenrunde komplettieren konnte, denn jede Veränderung in seinem Leben war ihm eigentlich eine zu viel. Andererseits häuften sich in seinem Alter Veränderungen nun mal, und nicht selten waren es endgültige.

Ich versuchte ihm Ku schmackhaft zu machen, ihn in seinem Ansehen zu heben, indem ich Willi die Lage erklärte, in die er durch die Schläge im Auftrag des eifersüchtigen Hassan geraten war – „Same old Eifersuchtsstory“!

Aber Willi wollte die Geschichte nicht glauben: „Der soll wegen einer Lady verprügelt worden sein? Red keinen Scheiß. Der lügt doch!“

Ich musste ihn aber hier unterbringen, damit ich mich endlich um Horst kümmern konnte. Also drückte ich noch eins drauf: „Sogar wegen einer verdammt heißen Lady, die Lehrerin ist.“

Ku schnappatmete kurz, als ich „Lehrerin“ sagte, beruhigte sich dann aber schnell wieder, während er langsam bis zehn zählte. Das, hatte er mir einmal erklärt, war ein alter, aber bewährter Trick, den man anwenden sollte, wenn man gerade am Explodieren war. Ich kam dabei aber nie weiter als bis drei – dann explodierte ich.

„Das kann ich mir bei dem ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass der wegen einer Lady verprügelt worden ist!“, ließ Willi nicht locker. „Und glaube mir, ich täusche mich da eigentlich selten.“

Ku wurde ein wenig rot im Gesicht, als Willi das sagte, und es war ein anderes Rot als das, welches ihm die Visage versaute. Natürlich konnte sich niemand vorstellen, dass Kubelka wegen einer heißen Lady verprügelt worden war, schon gar nicht, wenn man ihn so schneeweiß im Bad gesehen hatte wie ich, mit den hängenden Schultern und der hängenden Wampe. Und am allerwenigsten konnte sich das natürlich der braungebrannte, immer noch drahtige Willi vorstellen, der früher oft selbst wegen irgendwelcher heißer Ladys verprügelt worden war. Er glaubte daher immer noch, die Wunden dieser Schlachten exklusiv an seinem Körper zu tragen: zwei ausgeschlagene Schneidezähne; eine mehrfach verbeulte Nase samt gebrochener Wangenknochen; einen Unterarm, den er kaum mehr bewegen konnte, weil ein Nerv durchtrennt worden war; ein halb abgerissenes Ohr; eine notdürftig zusammengeflickte Hauptschlagader an der Innenseite des rechten Schenkels … All das zeugte von seinen Heldenjahren, und die zertrümmerten Kniescheiben rechts und links rechnete er da noch gar nicht mit dazu!

Aber die Zeiten änderten sich nun mal, und es gab heute immer mehr Frauchens, die darauf standen, dass ihnen ein Mann einfach nur „zuhörte“. Mehr als darauf, dass ihm die Eier links und rechts aus der Badehose hingen. Und verdammt, Ku konnte zuhören!

Das sagte ich auch Willi, um endlich den Deal zwischen den beiden klarzumachen: „Wenn er als Kartenspieler nichts taugt, dann kannst du ja mit ihm reden.“

Aber Willi hielt nichts von reden: „Da scheiß ich drauf!“

Trotzdem willigte er schließlich ein, ihn zur Probe zu nehmen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Ich musste nur noch die winzige Klausel im Vertrag unterbringen, die mir die sechshundert Eier am Tag sicherte und ein nettes Auskommen draußen bei Horst im Bad, sobald er wieder auftauchte: „Ku wird im Geräteschuppen schlafen, weil die Schläger vom Hassan noch immer hinter ihm her sind.“

Ku schaute mich überrascht an, und Willi sagte rundheraus: „Nein!“

„Doch!“

„Vergiss es!“

„Ku, wir fahren!“

„Warte!“

Freddy „Benz“ Friedl, dem man vor ein paar Wochen seinen schönen Mercedes /8er gestohlen hatte, kam gerade mit dem Fahrrad angefahren, und Willi schaute ein wenig verzweifelt auf seine Armbanduhr, die gleichzeitig seine tickende Lebensuhr war. Sie zeigte bald zwölf Uhr mittags, und um diese Zeit herum wollte er immer mit dem Kartenspielen beginnen. Resigniert sagte er: „Dafür räumst du jetzt noch das tote Holz in die Ecke und mähst mir den Rasen!“

Dann war es still. Nur ein paar Vögel zwitscherten, und ein paar Babys in der Gegend schrien, während alle auf den Schlauch warteten.

***

Ich hatte letzten Sommer sofort die Gefahr gespürt, die für mich vom Schlauch ausging, denn Willi war natürlich beleidigt gewesen, als ich seine Kartenrunde verließ. Es ärgerte ihn einfach, dass ich mit Anfang fünfzig noch andere Pläne in meinem Leben hatte, als beim Kartenspielen rechts von ihm zu sitzen und so zu tun, als würde ich nicht merken, dass er ständig in mein Blatt schaute. Darum ließ er damals auch beiläufig fallen: „Wenn das so ist, dass dir meine Kartenrunde zu langweilig ist, dann habe ich ja noch genug Zeit mir zu überlegen, wer das Pornhouse einmal in meinem Sinne weiterführen soll.“ Nachsatz: „Vielleicht macht es ja der Schlauch!“

Der war mal nur eine Überweisung davon entfernt gewesen, Willis Imperium frühzeitig zu übernehmen, und hatte ihm die Übernahme mit zwanzig Mille schmackhaft machen wollen, die er, wie er sagte, irgendwo in Nigeria als Handkasse für karitative Zwecke gebunkert hatte. Die er aber leider nur außer Landes bringen konnte, wenn ihm Willi vorher die zwei Mille überwies, mit denen er ihm dann das Pornhouse abkaufen wollte, plus zwei Mille obendrauf.

Sommer ohne Horst

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