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Der Ausbruch der Seuche
ОглавлениеDer bedingungslose U-Boot-Krieg, den das Deutsche Reich führte, war völkerrechtswidrig. Die Oberste Heeresleitung setzte 1917 alles auf diese eine Karte, in der Hoffnung, sie könne im Falle eines Kriegseintritts der USA deren Truppentransporte über den Atlantik empfindlich stören – ein verhängnisvoller Irrtum.
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren zu jener Zeit die größte Wirtschaftsmacht der Erde, weit mehr als ein Drittel der Weltproduktion wurde hier erzeugt. Die Westmächte, Großbritannien und Frankreich, frohlockten, als dieser Wirtschaftsriese auf ihrer Seite in den Krieg trat. Die Überlegenheit der Alliierten wuchs mit ihrem Kriegseintritt gewaltig. Allerdings waren die USA 1917 nur höchst ungenügend auf einen Krieg vorbereitet.
Die Amerikaner mussten ihre Wirtschaft zunächst auf die Produktion von Rüstungsgütern umstellen und Rekruten ausbilden. Die ersten amerikanischen Soldaten trafen 1917 in Frankreich ein, weitere Millionen wurden in ihrer Heimat auf den Einsatz vorbereitet.
Im März 1918 brach im Mittleren Westen, im Camp Funston in Kansas, eine schwere Seuche aus. Man muss annehmen, dass sich das Virus in dieser landwirtschaftlich geprägten Region entwickelt hatte, zumindest lassen sich von hier aus das erste Auftreten und die Ausbreitung verfolgen. Es herrscht heute weitgehende Übereinstimmung, dass dieses Virus in den USA seinen Ursprung hatte, bevor es nach Europa gelangte und von den Armeen rund um den Globus verbreitet wurde.
Der Winter 1917/18 war überall in den Vereinigten Staaten sehr kalt. In den Kasernen drängten sich die Rekruten, einige hunderttausend mussten in eilig aufgestellten Zelten kampieren. An der Wende vom Februar zum März 1918 scheint der Grippeerreger ins Camp Funston gebracht worden zu sein. In diesem Camp waren damals 56 000 Soldaten zur Grundausbildung untergebracht, entstanden war das Camp binnen einiger Wochen. Am 4. März 1918 meldeten sich die ersten Soldaten krank. Innerhalb weniger Tage traten die ersten Fälle von Lungenentzündung auf.
Der Erreger
Die schwere Grippe-Pandemie von 1918/19 wurde vermutlich von Schweine-Influenzaviren verursacht. Das Grippevirus kann neben dem Menschen eine Reihe von Säugetieren und mehrere Vogelarten befallen. Zwischen Mensch, Schwein und einigen Vogelarten besteht ein reger Austausch dieses Erregers. Die Grippe hat ihren Ursprung meist dort, wo Mensch und Tier eng beieinander hausen. Das Haskell County im US-Bundesstaat Kansas war eine landwirtschaftliche Region; dort soll sich früh im Jahr 1918 das neuartige Influenzavirus gebildet haben und dann in Windeseile das Armeelager, etwas östlich davon, infiziert haben. Sehr früh waren auch die Bergarbeiter in Kansas betroffen, sie waren oft Opfer von Erkältungskrankheiten und Grippe.
Der natürliche Lebensraum des Grippevirus ist eigentlich die Vogelzelle, bei diesen Tieren infiziert es den Darmkanal, daher sind dann die Vogelexkremente verseucht. Der Influenzaerreger braucht kein menschliches Reservoir, um weiterbestehen zu könne, er kann sich in Vögeln gut vermehren. Um von Mensch zu Mensch zu gelangen, muss dieses Virus sich verändern oder ein anderes Säugetier passieren, zum Beispiel ein Schwein.
Die Grippe, eine hoch ansteckende Infektionskrankheit, kann also den Menschen und einige andere Wirbeltiere epidemisch heimsuchen. Mensch und Tier – man sollte den biologischen Unterschied nicht unnötig hochspielen. Menschen sind hoch entwickelte Säugetiere, die Verwandtschaft zu anderen Tieren, beispielsweise zu Schweinen, ist eng. 1918 erkrankten im Mittleren Westen auch Millionen von Schweinen an einer schweren Atemwegsinfektion.
Die Seuche zeigte von Anfang an ein erschreckendes Krankheitsbild. Obwohl ihr Verlauf bei den allermeisten Erkrankten ohne große Komplikationen verlief, kam es doch auch vor, dass die Krankheit gerade bei jungen Menschen dramatisch einsetzte und rasch zum Tod führte, weil eine massive Invasion von Viren einen größeren Teil des Lungengewebes zerstört hatte. So arbeitete beispielsweise eine Schwesternschülerin am Mount Sinai Hospital in der Morgenschicht. Sie fühlte sich plötzlich nicht wohl – zwölf Stunden später war sie tot. Anderswo bestieg ein Mann eine Straßenbahn, und im Verlauf der kurzen Fahrt starben nicht weniger als sechs Personen.
Die Amerikaner machten von Beginn an sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dieser Grippe. Einige Erkrankte starben gleich am ersten oder zweiten Tag der Erkrankung, aber das war die Ausnahme. Bei den meisten Kranken, die der Grippe letzten Endes erlagen, dauerte es mehrere Tage, bis die Grippeviren den Organismus so weit geschädigt hatten, dass eine Superinfektion durch Bakterien – zumeist bösartige Streptokokken oder Staphylokokken – eintreten und dann zum Tode führen konnte. Häufig gesellte sich zur Grippe eine Lungenentzündung, daher wurde als Todesursache oft „Pneumonie“ angegeben. Die Kranken waren zunächst an Grippe erkrankt, es schien schon wieder besser zu werden, dann wurde es schlechter – schließlich Exitus. Erst hatten die Grippeviren die Lungen geschwächt und das Immunsystem schwer geschädigt, dann schlugen die eingedrungenen Bakterien zu.
Die Ausbreitung des Virus
Zwischen den Heereslagern der amerikanischen Armee bestand seit 1917 ein reger Verkehr. Rekruten und Ausrüstung mussten von hier nach dort gebracht werden, mit ihnen Uniformen, Waffen, Nahrungsmittel. Damit wurde zwangsläufig auch der Erreger verbreitet.
Am Rock River im Bundesstaat Illinois befand sich ein weiteres großes Armeelager. Die Männer hausten dort zu einem Großteil in Zelten, die Kaserne war überfüllt. Hier brach die Grippe explosionsartig aus. An einem Tag wurden 194 Soldaten ins Spital geschafft, am nächsten Tag waren es schon fast doppelt so viele: 371, tags darauf 492. Die sanitären Kapazitäten waren schnell überschritten. Es fehlte an allem, an den einfachsten Dingen, selbst an Bettlaken und Thermometern. Die Sanitäter waren überarbeitet und erschöpft, bald erkrankten auch Ärzte und Pfleger an der Grippe.
In den USA war Grippe damals keine meldepflichtige Krankheit, und dies hatte zur Folge, dass die Seuche lange Zeit verborgen blieb. Wie die Dinge standen, breitete sie sich rasch aus, geographisch wie auch sozial: über das ganze Land und zugleich vom Militär in die Zivilbevölkerung. In den Ford-Werken waren im Nu mehr als tausend Arbeiter krankgemeldet. Im Gefängnis von San Quentin, in Kalifornien, erkrankten im April und Mai von 1900 Insassen an die 500. Zur selben Zeit wütete die Seuche bereits an der amerikanischen Ostküste, in den großen Städten am Atlantik. Von hier gelangte sie im April 1918 nach Frankreich.
In Europa waren die Zeitungen seit 1914 einer Zensur unterworfen. In Nordamerika war die Presse freier; aber erstaunlicherweise waren hier die Zeitungen sehr zurückhaltend, wo es um die Erwähnung der Grippe ging. Die Presse spielte die Sache herunter – das sei doch nichts weiter als die altbekannte Grippe, schrieb eine Zeitung. Eine Zeitung in Arizona warnte ihre Leser, nicht in die „spanische Hysterie“ zu verfallen. „Don’t worry!“, war die Devise.
Nach dem ersten Auftreten der Grippe in Nordamerika tauchten sogleich Gerüchte auf, die Deutschen hätten sie irgendwie eingeschleppt. Gerüchte liefen um, es handele sich um eine „German plague“; angeblich enthielt das von der Firma Bayer erzeugte Aspirin den auslösenden Giftstoff. Deutsche Gefangene wurden daraufhin peinlich befragt, ob die Seuche von ihnen ausgehe.
Es war erschreckend: Da trat plötzlich eine tödliche Krankheit wie aus dem Nichts auf. Als die Todesfälle sich zu häufen begannen, überfiel eine Hysterie das ganze Land: eine antideutsche Hysterie. Die Deutschen waren schuld. Man traute ihnen alles zu. In Philadelphia – dieser griechische Name bedeutet wörtlich: Stadt der Bruderliebe – wurde ein Mann namens H. M. Thomas unter dem Verdacht verhaftet, ein deutscher Spion zu sein und den Erreger in der Stadt verbreitet zu haben. Es war ihm nichts nachzuweisen, und er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. Als die Grippe in Philadelphia ihren Höhepunkt erreichte, wurde dieser Mann tot in einem Hotelzimmer aufgefunden, die Pulsadern und die Kehle durchgeschnitten – die Polizei registrierte seinen Tod als Selbstmord.
Über den Atlantik
Vom Ausbruch der Grippe in Kansas bis Kriegsende trafen aus den USA mehr als anderthalb Millionen Soldaten in Europa ein. Zwischen März und August 1918 segelten weit mehr als eine Million amerikanischer Soldaten über den Nordatlantik nach Europa, einen regeren Verkehr hatte es zwischen Neuer und Alter Welt niemals zuvor gegeben.
Die Zahl der in Frankreich stationierten amerikanischen Soldaten stieg von 284 000 Ende März auf weit über eine Million Ende Juli und auf fast zwei Millionen bei Kriegsende im November 1918. Viele Soldaten gingen in Brest an Land, einer Hafenstadt am Atlantik. Von hier breitete sich die Seuche in Windeseile in der Alten Welt aus.
In Paris war dieser Frühling ungewöhnlich mild. Die ersten französischen Soldaten in Paris erkrankten am 10. April, etwa zur gleichen Zeit gab es auch schon Grippefälle in Italien. Die Briten klagten seit Mitte April gleichfalls über eine neuartige Seuche. Im Mai hatte die British First Army in ihren Hospitälern 36 473 Neuzugänge. Die britische Flotte konnte drei Wochen lang nicht auslaufen, weil mehr als 10 000 Seeleute oder Soldaten krank waren. Die Grippe zeigte sich in England und Wales Mitte Mai, die Sterblichkeit stieg an, ein weiterer deutlicher Anstieg erfolgte Ende Juni. Am stärksten litten die englischen Städte.
Dabei begünstigte das Wetter diese erste Grippewelle keineswegs: Das Frühjahr 1918 war westlich der Weichsel ungewöhnlich warm, das Thermometer stieg in Norddeutschland bald auf über 30 Grad. In Zentraleuropa stand bereits Mitte Mai der Weißdorn in schönster Blüte. Auch der Frühsommer war warm. Für die Grippe war das gar nicht günstig, denn sie wütet in der Regel stärker bei niedrigen Temperaturen und bei Trockenheit, wie sie in Mitteleuropa häufiger im Spätherbst anzutreffen sind.
Die „Spanische Grippe“ in Spanien
Im Mai zeigte sich diese Seuche in vielen Teilen Westeuropas. Viele glaubten, sie habe schon davor in Spanien gewütet, vielleicht weil die Erkrankung des spanischen Königs Alfons XIII. so rasch bekannt wurde. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am 27. Mai 1918, dass der spanische König an der Grippe erkrankt sei. Einen Monat später nannte man die Krankheit ganz allgemein „Spanische Grippe“.
Die Iberische Halbinsel wurde früh und heftig von der ersten Welle erfasst, noch im Mai 1918. Am Krieg nahm das Königreich Spanien nicht teil, es war neutral. Innerhalb Europas war Spanien ein unterentwickeltes Land, geprägt von einer rückständigen Landwirtschaft, beherrscht von Kirche, Adel und Großgrundbesitz. Mit 22 Millionen Einwohnern, die sich über eine halbe Million Quadratkilometer verteilten, war dieses trockene Land ziemlich dünn besiedelt, was die Ausbreitung von Seuchen eher behindert. Trotzdem erkrankten etwa acht Millionen Spanier.
Zeitgenössische spanische Beobachter nahmen an, der Erreger sei aus Frankreich eingeschleppt worden; von den Ursprüngen in Nordamerika konnten sie nichts wissen. Im Winter 1917/18 zogen nämlich 24 000 spanische Arbeiter nach Frankreich, um dort Arbeit anzunehmen, und etwas mehr als 9000 kehrten von dort zurück, dieses Kommen und Gehen in beide Richtungen setzte sich das ganze Jahr über fort.
In dem alten Messestandort Medina del Campo, jetzt ein wichtiger Eisenbahnknoten, liefen Linien von und nach Madrid und Lissabon zusammen. Hier zeigte die Grippe bald Wirkung. Ein Anstieg an Kranken erfolgte auch in der spanischen Hauptstadt Madrid, dann in Cuenca, Toledo und Salamanca. Die Grippe tangierte zuerst die Städte mit einem Bahnanschluss, erst später das platte Land. Die Presse und aufmerksame Beobachter berichteten immer wieder von Soldaten, die den Erreger weitertrugen. Im Sommer 1918 stieg die Grippesterblichkeit stark an, und zwar in fast allen Teilen des Landes, nicht jedoch auf den Balearen und den Kanarischen Inseln.
Die Influenza war in Spanien nicht meldepflichtig, und als die Meldepflicht eingeführt wurde, war es zu spät. Die – wenigen – Ärzte waren überlastet, sie schafften es nicht, die entsprechenden Unterlagen einzureichen. Einer der ersten Schritte der Gesundheitsbehörden bestand darin, einen Cordon sanitaire um die Eisenbahnknoten zu legen. Die Reisenden stiegen also aus, sie wurden untersucht, und wer Symptome der Grippe zeigte, wurde in Quarantäne gestellt. Wer weiterreisen durfte, wurde mit einem übelriechenden Desinfektionsmittel besprüht. In Medina del Campo wurden unter den Augen der Guardia Civil die Reisenden in Wagen mehrere Stunden lang festgehalten. Die Grenzen nach Portugal und Frankreich wurden mehrmals geschlossen – ein verzweifelter Versuch, einen Feind abzuwehren, der sich bereits im Land befand.
Nach dem ersten Ausbruch, im Mai und Juni, wurden in der spanischen Hauptstadt Madrid der Grippe wegen Theater und Postdienste geschlossen. Der König, der Premierminister und Kabinettsmitglieder lagen mit Grippe im Bett. Die Berichterstattung in der Presse erfolgte in Spanien ausführlicher als in den meisten europäischen Staaten. Am 29. Juni berichtete eine hohe Amtsperson der spanischen Gesundheitsbehörde, Dr. Martin Salazar, der königlichen Akademie der Medizin in Madrid, es lägen ihm keine Informationen über eine Grippepandemie im restlichen Europa vor.1
Rasch breitete sich die Seuche von West nach Ost aus. Sie traf Portugal, das aufseiten der Alliierten kämpfte, bevor sie Griechenland erreichte. Zur Jahresmitte 1918 stieg in Deutschland, Dänemark und Norwegen die Sterblichkeit jäh an, im August in Holland und Schweden. Weiter östlich, in Shanghai, brach die Seuche Ende Mai aus. In Algerien und anderen Teilen Nordafrikas wie auch in China und Indien gab es neben den schweren auch milde Verlaufsformen. Ärzte bezweifelten, dass es tatsächlich die Spanische Grippe war.