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Vier Jahre Blutvergießen

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Krieg, seit vier Jahren Krieg in Europa, seit dem Sommer 1914. Der Erste Weltkrieg setzte als bewaffneter Konflikt zwischen hoch organisierten, wirtschaftlich mächtigen und industriell hochgerüsteten Staaten neue Maßstäbe. Hinter den Armeen stand die Produktivkraft moderner Volkswirtschaften. Geführt wurde er mit bislang nie gesehener Zerstörungskraft und bis zur völligen Erschöpfung. Je länger dieser Krieg dauerte, desto höher die Verluste, und je höher die Verluste, desto schwieriger war es, ihn zu beenden.

Deutschland und Österreich-Ungarn, die Mittelmächte, kämpften gegen eine Welt von Feinden. Die materielle Überlegenheit ihrer Gegner, der Entente, lag auf der Hand: Deutschland und Österreich verfügten zusammen mit der Türkei und Bulgarien über 144 Millionen Menschen; die späteren Siegermächte – das Britische Empire zusammen mit Frankreich, Russland, Serbien und Italien – besaßen ein Vielfaches davon, zumal sie sich auch auf ihre Kolonialvölker stützen konnten. Großbritannien war die größte Handelsmacht und der größte Bankier der Welt, es investierte vor 1914 weltweit mehr Kapital als jede andere Nation und besaß obendrein noch die größte Marine. Auf die Mittelmächte entfielen 19 Prozent der Weltindustrieproduktion, auf die Entente 28 Prozent. Die Deutschen glaubten, durch Organisation, Intelligenz und Tapferkeit die materielle Unterlegenheit wettzumachen. Seit 1915 kämpfte Italien aufseiten der Entente; im Jahr darauf trat Rumänien gegen die Mittelmächte in den Krieg, 1917 Griechenland.

In einer Zeit moderner industrieller Kriegführung waren das wichtige Indikatoren, denn die Verbindung zwischen Wirtschaftskraft und Strategie war groß und wurde immer enger. Auch mit Blick auf die Energieversorgung war die Entente weit überlegen.

Der Stellungskrieg im Westen

Die Mittelmächte kämpften an vielen Fronten. Was aus ihrer Sicht als Westfront bezeichnet wird, war das bedeutendste, verlustreichste Schlachtfeld des Weltkriegs, hier fanden die am längsten anhaltenden Kämpfe statt. Im Westen war die deutsche Armee zunächst schnell vorangekommen, Anfang September 1914 standen deutsche Truppen 50 Kilometer vor Paris. Aber die Westmächte hielten die Kanalhäfen und sicherten somit den Zustrom von britischen Truppen nach Frankreich.

Die Militärstrategen hatten vor 1914 mit einem Bewegungskrieg gerechnet; aber es kam zum Stellungskrieg, weil die militärtechnische Entwicklung dem Verteidiger, sofern er über hohe Feuerkraft verfügte, einen Vorteil brachte, und weil zwischen den Kriegsgegnern an der Front fast ein Gleichgewicht der Kräfte bestand. Die feindlichen Armeen hoben ein System von Gräben aus, das über 700 Kilometer hinweg von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze reichte. Die Heere gruben sich ein. Sie errichteten Unterstände, Stützpunkte und Verbindungsgräben, in denen die Soldaten hausten, viele von ihnen jahrelang. Die Unterstände waren gut befestigt, und die Soldaten versuchten es sich hier wohnlich zu machen; doch der Schmutz, die Ratten und feindliche Angriffe machten das Leben in den Gräben zur Hölle. Aus der Luft glich der Frontverlauf einem Zickzack – ein etwa sechs Kilometer breiter Streifen Landes, darin die Erde von Granaten wie umgepflügt war. Hier gab es keinerlei menschliche Siedlungen, jede Vegetation war verschwunden – eine Mondlandschaft.

Obwohl das Deutsche Reich an vielen Fronten kämpfte, konnte es den feindlichen Angriffen im Westen standhalten. Am 20. Dezember 1914 begann die Winterschlacht in der Champagne, diese Gegend östlich von Reims wurde zum Schauplatz von zwei französischen Großoffensiven. Sie zogen sich bis März 1915 hin, dabei verlor Frankreich 90 000 Mann ohne den geringsten Geländegewinn. Im Herbst 1915 kam es hier zu einer zweiten großen Schlacht.

Nach den schweren Kämpfen und hohen Verlusten der ersten Monate war Ende 1914 ein kritischer Punkt erreicht, der deutsche Oberkommandierende Helmuth von Moltke war nervlich am Ende. Erich von Falkenhayn, der preußische Kriegsminister, übernahm seine Stellung als Generalstabschef, fortan hieß diese Position Oberste Heeresleitung (OHL). Falkenhayn war kein Schwarzseher, räumte aber schon Ende 1914 gegenüber dem Reichskanzler ein, das Deutsche Reich könne gegen eine solche Übermacht militärisch nicht gewinnen.

Niemand vermochte zu sehen, wie dieser Krieg ein Ende finden könnte. „Eine Niederlage der Mittelmächte kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, deren stärkstes Kettenglied, Deutschland, zu bezwingen oder zu erschöpfen“, meinte Robertson, ein hoher englischer Militär, am 8. November 1915.1

Im Osten

Die Front im Osten sah ganz anders aus als die im Westen, hier bestand keine durchgehende Frontlinie. Die Front zwischen Deutschland und Russland war ständig in Bewegung. Das Straßen- und Eisenbahnnetz war im Osten viel schlechter ausgebaut als das im Westen. Weniger deutsche Truppen waren hier eingesetzt.

Russland besaß zwar ein gewaltiges Potenzial an Menschen, aber wirtschaftlich war es schwach. Die russische Armee war 1914 kaum größer als die deutsche, aber viel schlechter bewaffnet. Trotzdem gelang es den Russen im Sommer 1914, die Reichsgrenzen zu überschreiten, während die deutschen Armeen im Westen eine rasche Entscheidung suchten. In gewaltigen Schlachten in Ostpreußen wurden die Russen mit ungeheuren Verlusten zurückgeschlagen. Hier entstand der Mythos des Siegers von Tannenberg, Paul von Hindenburg. Schon im folgenden Jahr, 1915, gelang Deutschen und Österreichern im Osten, bei Krakau, ein wichtiger Durchbruch, sie besetzten Galizien, Polen, Litauen und Kurland. Aber recht viel weiter voran kamen sie nicht.

Neben der Front im Osten kämpften die Mittelmächte auch noch im Südosten, auf dem Balkan, und seit 1915 gegen Italien. Diese Front wurde in erster Linie von Österreich gehalten, das von Anfang an große Schwierigkeiten hatte, diese Herausforderungen zu bestehen. 1916 gelang es den Russen, noch einmal ein weites Stück nach Westen vorzustoßen und der österreichischen Armee bedeutende Verluste zuzufügen.2 Erst im folgenden Jahr waren die Mittelmächte im Osten wirklich erfolgreich.

Das Deutsche Reich war in der chemischen Industrie die führende Industriemacht, es stellte auch Giftgas her. Im Januar 1915 setzten die Deutschen erstmals Giftgas ein. Das Chlorgas zerstörte Zellgewebe, es regte die Lungen zur Produktion von Flüssigkeit an, der Tod durch Ersticken war qualvoll. Gasangriffe waren problematisch, wenn der Wind drehte, traf es die eigenen Leute. Außerdem war der Einsatz von Giftgas völkerrechtlich untersagt. Dennoch wurde Gas bald auf beiden Seiten der Front eingesetzt.

1916: Verdun und die Schlacht an der Somme

Verdun war eine alte französische Festung aus dem 17. Jahrhundert. Die neuen Teile waren mit Beton und Panzerung verstärkt worden. Verdun, die Stadt und die Festung, in einer Schleife der Maas gelegen, war mit dem Hinterland nur schlecht verbunden. Rund 3500 Lastkraftwagen karrten täglich an die 2000 Tonnen Material für die Versorgung der französischen Soldaten herbei.

Falkenhayn hatte sich die Eroberung Verduns zum Ziel gesetzt, daher hatte er ein schweres Aufgebot an Artillerie zusammengezogen, außerdem mehrere Divisionen. Die französischen Streitkräfte besaßen hier nur 43 Geschütze. Der Winter 1915/16 war verregnet. Am 19. Februar 1916 hörte der Regen plötzlich auf, die Sonne begann sich zu zeigen. Zwei Tage später griffen die Deutschen an. Acht Stunden lang herrschte Trommelfeuer, Stunde um Stunde, 80 000 Granaten prasselten auf einen halben Quadratkilometer nieder. Dann rückte die deutsche Infanterie unter heftigem Beschuss auf das rechte Maasufer vor. Die Verteidiger erlitten schwere Verluste, hielten aber verbissen aus. Das benachbarte Fort Douaumont fiel nach schweren Kämpfen, der Fall Verduns stand bevor. In den folgenden fünf Monaten wurde erbittert gekämpft. Neue Reserven wurden herangeschafft: Soldaten, Kanonen, Munition. Zur gleichen Zeit griffen die Briten zur Entlastung ihrer Verbündeten an der Somme an. In diesem einen Sommer verloren beide Seiten mehrere hunderttausend Mann.

„Ich bin hier mit 175 Mann angekommen und mit [ 34 zurückgekehrt, von denen einige halb verrückt geworden sind“, sagte ein deutscher Offizier bei seiner Rückkehr.

An der Somme besaßen die Alliierten die absolute Luftüberlegenheit, sie setzten Flugzeuge ein. Gleich am ersten Angriffstag, am 1. Juli 1916, fielen fast 60 000 britische Soldaten vor den deutschen Schützengräben. Auf die deutschen Stellungen regnete es eineinhalb Millionen Granaten hinab, eine ganze Woche lang, Tag und Nacht. Sie rissen tiefe Wunden in die Heere. Bis 31. Juli 1916 hatten die Deutschen 160 000 Mann verloren, die Verluste der Franzosen betrugen fast 200 000 Mann, die der Briten weit mehr als doppelt so viel, für sie war es die größte militärische Tragödie des 20. Jahrhunderts.

Im Oktober 1916 eroberten die Franzosen Verdun zurück, unter ungeheuren Verlusten auf beiden Seiten. Die Überlebenden schilderten die Kämpfe um Verdun als eine „Hölle“.

Politischer Wechsel

Gab es keine neuen Ideen, wie man den Krieg gewinnen könne? Ein Führungswechsel stand bevor. Falkenhayn und der deutsche Reichskanzler waren miteinander verfeindet, der Reichskanzler forderte seine Entlassung. Die politische Führung Deutschlands glaubte, nur durch dramatische Veränderungen könne das Kriegsglück gewendet werden. Jetzt sollten populäre Kriegshelden an seine Stelle treten: Paul v. Hindenburg und Erich Ludendorff. Hindenburg war außerordentlich beliebt, seit er 1914 die Russen aus Ostpreußen vertrieben hatte. Er wurde im Sommer 1916 zum Chef des Generalstabs ernannt, Ludendorff zu seinem Ersten Generalquartiermeister. Ludendorff war der eigentliche Macher, ein glänzender Organisator und rücksichtsloser Militär. Er forderte die Unterordnung der Politiker unter die Militärs. Gestützt auf die Autorität Hindenburgs, regierte er Deutschland fortan diktatorisch. Die neue Oberste Heeresleitung war nun die wichtigste Kraft, kein Politiker konnte sich ihr widersetzen, nicht einmal der Kaiser. Sie setzte 1917 die Entlassung des Reichskanzlers durch. An eine Friedensinitiative, wie sie sich viele Deutsche erhofften und wie sie gerade halbherzig unternommen worden war, war jetzt nicht mehr zu denken.

In Deutschland versuchte die dritte Oberste Heeresleitung, die wirtschaftlichen Kräfte wirksamer einzusetzen. Das Hindenburg-Programm beabsichtigte, die Rüstungsproduktion auf das Zwei- bis Dreifache zu steigern, daher musste das Arbeitskräftepotenzial vollkommen ausgeschöpft werden. Männer, die zwischen 17 und 60 Jahre alt waren, wurden jetzt zur Arbeit zwangsverpflichtet. Die wirtschaftliche Produktion wurde angefacht, sie stieg noch einmal an.

Das Jahr 1917 brachte entscheidende Wendungen. In Russland stürzte Anfang März der Zar, eine provisorische bürgerliche Regierung trat an seine Stelle. Sie setzte den Krieg fort, ja sie eröffnete sogar noch eine Offensive gegen die Mittelmächte. Deutschland kämpfte weiterhin an beiden Fronten, in Ost und West. Aber im Spätherbst 1917 schied Russland aus dem Kampf aus, Deutschland legte Russland im Vertrag von Brest-Litowsk (3. März 1918) einen sehr harten Frieden auf. Auch Rumänien gab bald auf und musste im Frühjahr 1918 einen harten Friedensvertrag unterzeichnen. Deutschland profitierte zunächst von diesen Friedensschlüssen, denn es konnte Truppen nach Westen verlegen. Hier stieg die Zahl der deutschen Divisionen infolge des Rückzugs aus dem Osten von 147 auf 191.

Nach dem Sturz des Zaren erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika dem Deutschen Reich den Krieg. Die Überlegenheit der Alliierten nahm damit gewaltig zu, auch wenn vorläufig nur sehr wenige amerikanische Soldaten auf dem Kriegsschauplatz eintrafen. Jetzt war klar, dass die feindliche Übermacht wachsen und sich vielleicht sogar als kriegsentscheidend erweisen würde.

Die Briten hatten 1916 erstmals eine neue Waffe eingesetzt, den Tank. Diese geländegängigen, gepanzerten Fahrzeuge waren in Frankreich und Großbritannien unabhängig voneinander entwickelt worden. Ihr Erfolg war zunächst bescheiden: Die Panzerketten waren verwundbar, die Panzerung schwerfällig, das Gefährt bewegte sich zu langsam. Ingenieure nahmen daraufhin einige Verbesserungen vor. Bald erwies sich der Tank als eine vorzügliche Waffe, denn er verband den Vorteil des eigenbeweglichen Automobils mit dem des Maschinengewehrs: hohe Mobilität und Feuerkraft. Damit konnte man die Stacheldrahtzäune und Schützengräben des Gegners niederwalzen und selbst feindliche Maschinengewehrnester überwältigen. Im Jahr 1917 verfügten Briten und Franzosen zusammen über 2500 Panzer. Die Deutschen hatten diese Entwicklung versäumt, sie besaßen nur 20 einsatzbereite Tanks.

Die materielle Überlegenheit der Alliierten wurde immer erdrückender. Zwischen dem Canal du Nord und dem St.-Quentin-Canal unternahmen die Briten Ende November 1917 den ersten großen Panzerangriff mit fast 500 Tanks. Die Westfront begann sich wieder zu bewegen.

Bald landeten Monat für Monat an die 300 000 Amerikaner in Frankreich. Bald stand eine Million junger, unverbrauchter Amerikaner in Frankreich im Feld, und weitere Hunderttausende warteten jenseits des Atlantiks auf ihren Einsatz.

Das Deutsche Reich unternahm im Frühjahr 1918 einen letzten, verzweifelten Versuch, den Krieg zu gewinnen. Am frühen Morgen des 21. März 1918 setzte „Michael“ mit gewaltigen Artillerieschlägen ein. Binnen fünf Stunden wurden weit mehr als eine Million Granaten abgeschossen. „Es war so, als würde das Erdinnere explodieren“, sagte ein englischer Soldat. Die Deutschen machten kurzfristig gewaltige Geländegewinne, bei sehr hohen Verlusten auf beiden Seiten.3

Die Härten an der Heimatfront

Der Krieg brachte den Männern an der Front große Härten, doch er lastete kaum minder schwer auf der Heimat. Unzählige Familien wurden bei Kriegsbeginn auseinandergerissen. Viele jungverheiratete Frauen mussten ihre Wohnung aufgeben und wieder ins Elternhaus zurückkehren, weil eine Wohnung für die Frau alleine sich nun nicht mehr lohnte – oder sie es sich nicht leisten konnte –, mit einem Kind in einer eigenen Wohnung zu leben. Viele verheiratete Frauen mussten eine Beschäftigung suchen, weil ihre Einkünfte nicht mehr ausreichten. Immer mehr Frauen traten jetzt in „Männerberufe“ ein, vor allem in die Rüstungsindustrie. In der deutschen Elektroindustrie verdoppelte sich der Frauenanteil.

Großbritannien blockierte seit Kriegsbeginn die Nordsee und verhinderte, dass neutrale Schiffe den Mittelmächten dringend benötigte Güter brachten. Diese Blockade verstieß gegen das Völkerrecht. Deutschland versuchte sich gegen die Blockade zu wehren, indem es mit seinen U-Booten die feindlichen Schiffe angriff. Deutsche U-Boote versenkten bis 1917 weit mehr als 1000 alliierte Schiffe. Aber Unterseeboote durften nicht einfach feindliche Schiffe auf hoher See angreifen, denn auf diesen Schiffen konnten neutrale Bürger reisen. Bei Versenkung des englischen Dampfers „Lusitania“ (1915) fanden unter den Passagieren auch 128 Amerikaner den Tod. Nach etlichen amerikanischen Protesten verzichtete Deutschland wieder auf diese völkerrechstwidrige Kriegführung; aber nach dem schrecklichen Hungerwinter 1916/17 griff es erneut zu dieser Waffe, obwohl es in der politischen Führung des Deutschen Reiches auch Widerstand dagegen gab. Die Folge des neuerlichen U-Boot-Krieges war der amerikanische Kriegseintritt.

Die Hungerblockade

Die Blockade in der Nordsee schnürte Mitteleuropa von der Nahrungsmittelzufuhr ab. Deutschland war darauf angewiesen, ein gutes Fünftel der benötigten Nahrungsmittel war vor 1914 aus dem Ausland bezogen worden. Außerdem ließ die inländische Produktion seit 1914 um etwa ein Drittel nach, denn es fehlte an künstlichen Düngemitteln und an landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Dies hatte zur Folge, dass die verfügbaren Nahrungsmittel pro Kopf fast auf die Hälfte sanken.

Der Krieg brachte schwere Versorgungsprobleme und Nöte mit sich. Jedem Einzelnen standen fortan längerfristig deutlich weniger Kalorien zur Verfügung. Die Ernte von 1916 war schlecht, es wurden nicht einmal halb so viele Kartoffeln eingebracht wie im Jahr davor: 25 gegenüber 54 Millionen Tonnen.4 Inzwischen waren in den privaten Haushalten, im Handel und beim Staat die Lager aufgebraucht.

Bereits 1915 kletterte der Milchpreis von 12 auf über 33 Pfennig je Liter. In Berlin wurde der Milchpreis zwar auf 30 Pfennig begrenzt; aber nun ließen die Lieferungen nach, die Bauern verarbeiteten Milch lieber zu Butter oder Käse, da deren Preise nicht reglementiert waren. Die nach Berlin gelieferten Milchmengen halbierten sich im Verlauf des Krieges.

In der Heimat waren die Lebensmittel knapp, das vermochte auch die von der Regierung verhängte Rationierung nicht zu ändern. Laut Reichsfleischkarte sollte 1916 jeder Deutsche wöchentlich 250 Gramm Fleisch erhalten, tatsächlich gab es aber in vielen Städten weniger als 200 Gramm. Vor dem Krieg verbrauchte jeder Städter täglich rund 200 Gramm Fett und Eiweiß. Während des Krieges wurde der Mindestverbrauch auf 50 Gramm Fett und 80 Gramm Eiweiß festgesetzt; doch im Dezember 1917 konnten nur noch 30 Gramm Fett und 40 Gramm Eiweiß pro Person abgegeben werden. Auf den Märkten war Fleisch seit 1917 kaum noch zu bekommen, in einigen Städten wurden Krähen und Eichhörnchen angeboten.

Im Deutschen Reich fiel die Versorgung mit Brot auf 60 Prozent des Vorkriegsstandes. Im Januar 1915 wurde das sogenannte K-Brot eingeführt. Das K steht für Kartoffelmehl, das dem Teig beigemischt war. Brotmehl wurde jetzt durch die Beimengung von Ersatzstoffen wie Gersten-, Mai- und Kastanienmehl gestreckt. 1917 betrug der Kalorienwert der Zuteilungen rein rechnerisch weniger als 1000 Kilokalorien, und dabei ist zu bedenken, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal diesen Durchschnittswert erhielt. Da man bei leichter Arbeit rund 2300, bei mittelschwerer 3000 und bei sehr schwerer Arbeit täglich rund 4000 Kilokalorien verbraucht, bedeutete dies erhebliche Gewichtsverluste.

Die Grundnahrungsmittel waren seit 1915 rationiert; aber wer genügend Geld besaß, konnte auf dem Schwarzmarkt seine Ernährung aufstocken. Schätzungsweise ein Drittel aller Lebensmittel gelangte auf den Schwarzmarkt. Frauen arbeiteten 56 bis 57 Stunden die Woche, eine Rüstungsarbeiterin verdiente in der Stunde im Durchschnitt 50 Pfennig. Davon konnte sie gerade anderthalb Liter Milch kaufen. Viele Frauen konnten nicht mehr stillen, was die Überlebensaussichten ihrer Säuglinge minderte.

Viele Kinder blieben an kalten Tagen der Schule fern, weil es ihnen an Kleidung oder an Schuhwerk fehlte. Viele kamen ohne Frühstück, immer wieder kam es vor, dass ein Schüler während des Unterrichts ohnmächtig wurde. Die Kinder hörten auf zu wachsen, sie blieben kleinwüchsig ihr Leben lang. Eine Frau schrieb:

[...] immer wieder das gleiche Bild der blassen abgezehrten Frauen, die, mit kleinen Kindern bepackt – die mußten ja überallhin mitgeschleppt werden – im scharfen Ostwind ,nach Kohlen standen‘, unverändert durch die Monate hindurch.5

Es fehlte nicht nur an Essen, es fehlte an allem Nötigen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Solange es ein hohes Maß an Siegeszuversicht gab, wurden die gesellschaftlichen Spannungen und Brüche überdeckt. Aber je länger der Krieg dauerte, desto mürber wurden die Menschen, die zu Hause und die an der Front. Die Bekleidung der allermeisten war schadhaft und unzulänglich, die Behausungen schlecht beheizt. Wo eine Fensterscheibe zu Bruch ging, versuchte man sich mit Pappe zu behelfen. Stefan Zweig schrieb in seinem autobiographischen Werk Die Welt von Gestern:

Das Schlimmste war die Kälte, denn Kohle gab es im weitesten Umkreis keine, das Holz aus dem Garten war zu frisch und zischte wie eine Schlange, statt zu heizen, und spuckte krachend, statt zu brennen […] Drei Monate lang habe ich meine Arbeiten fast nur im Bett mit blaugefrorenen Fingern geschrieben, die ich nach jeder beendeten Seite zur Wärmung immer wieder unter die Decke zog.

Und über die Situation in der österreichischen Eisenbahn 1918:

Die Schaffner, die einem die Plätze anwiesen, schlichen hager, verhungert und halb zerlumpt herum; zerrissen und abgetragen schlotterten ihnen die Uniformen um die eingesunkenen Schultern. An den Fensterscheiben waren die Lederriemen zum Aufziehen und Niederziehen abgeschnitten, denn jedes Stück Leder bedeutete eine Kostbarkeit.

Der Winter 1916/17 blieb als „Kohl-“ oder „Steckrübenwinter“ im Gedächtnis der Deutschen haften. In Berlin gebe es „nur Kohlrübensuppe, Kohlrübenschnitzel, Kohlrübennachspeise“, klagte der Theologe Ernst Troeltsch. Nach der schlechten Ernte von 1916 litten die Deutschen Hunger. Und wie oft kam es vor, dass eine Frau stundenlang in einer Warteschlange angestanden hatte und dann abgewiesen wurde, weil die von ihr gewünschten Lebensmittel gerade ausverkauft waren.

Die Hungrigen verloren an Gewicht und an Leistungsfähigkeit. Einen Berliner Arzt, Professor Dr. Alfred Grotjahn, erinnerten die Berliner seit 1916 im Aussehen immer mehr an Mongolen, weil ihre Backenknochen so weit vorragten und ihre Haut so faltig herabhing. Im Oktober 1916 schrieb Ethel Cooper, eine Australierin, die in Leipzig lebte, sie wiege „kaum noch vierzig Kilo“. Gewichtsverluste von einem Fünftel waren die Norm.6

„Wenn ich auf dem Rathaus die Lebensmittelkarten abholte, stand ich gewöhnlich in der Schlange abgehärmter Frauen im ungelüftet-stickigen Korridor des Rathauses und horchte auf ihre Klagen und Vorwürfe, die von Mal zu Mal bitterer wurden“, schrieb ein Zeitgenosse aus einer Kleinstadt in Württemberg. „Nicht nur die Menschen hungerten, es gab auch nicht mehr genug Futter für die Pferde.“7

Kriegsmüdigkeit

Die Folge dieser schweren Entbehrungen war eine allgemeine Kriegsmüdigkeit. „Die Leute wollen einfach nicht mehr, es sei ihnen alles gleichgültig. [...] Die Leute seien unterernährt, abgearbeitet, verdrießlich. [...] Jene, die scharfe Kriegsziele verfolgten, seien z. Z. in den Städten die Verhaßtesten“, sagte Nürnbergs Oberbürgermeister Otto Geßler auf einer Sitzung des Ernährungsbeirats im August 1917.8

Die Friedensappelle der politischen Linken fielen jetzt in der deutschen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. 1917 verdoppelte sich die Zahl der Hungerkrawalle in Deutschland. Im Januar 1918 fanden in vielen Industriestädten große Streiks statt, diese Januarstreiks gehörten zu den größten politischen Massenkundgebungen im Deutschen Reich. Sie breiteten sich aus wie ein Sturmwind. Rüstungsbetriebe traten in den Ausstand, sie ließen die Arbeit ruhen. In Berlin stieg die Zahl der Streikenden auf über eine halbe Million. In der Woche vom 28. Januar bis 3. Februar 1918 streikten in Deutschland mehr als anderthalb Millionen Arbeiter. Revolutionsgerüchte liefen um. Im vierten Kriegsjahr kamen immer weniger Güter aus dem Ausland. Je mehr Deutschlands Aussichten auf einen Sieg schwanden, desto unerträglicher wurden die Härten des täglichen Lebens empfunden.

Unter den Frauen bildeten die Pazifisten im Verlauf des Krieges in Deutschland eine Minderheit. Viele hätten die Worte von Henriette Fürth unterschrieben: dass „wir nach wie vor den Krieg verabscheuen, dass [...] wir aber trotzdem das Ringen gutheißen, das man uns aufzwang“. Trotzdem waren Frauen in den Streikbewegungen und Lebensmittelkrawallen 1917/18 sehr aktiv, denn sie waren es, die Kartoffeln und Brot herbeischaffen mussten.

Karges Brot

Mitte Oktober 1918 schrieb Mrs. Cooper, eine Australierin, die in Leipzig lebte, es gebe bei ihnen „weder Fleisch noch Fett, Milch, Öl oder Obst. Unser Frühstück besteht aus einem viertel Pfund dunklen Brotes. Mittags und Abends gibt es dasselbe – einen Teller dicker Gerstensuppe, danach Kartoffeln und Gemüse, das es gerade gibt, das andere Viertelpfund Brot für den Nachmittag“.9

In Österreich war es nicht anders. Ein hoher Verwaltungsmann schrieb Ende Oktober 1918 an seine Eltern:

Seit 3 Tagen haben wir nach Wien keinen Waggon Kohle bekommen. Wie lange werden die Leute frieren und hungern wollen? Man bekommt jetzt pro Woche 1/4 kg Mehl, 1/2 kg Kartoffeln, 2 Deka Margarine, 1/2 dkg Fleisch pro Kopf und wird vom nächsten Monate an 3/4 kg Rohzucker pro Monat bekommen. Und dazu die Grippeepidemie, ohne Milch und mit unzureichenden Arzneimitteln! Soviel Elend kann die Welt nicht ertragen.10

Der Anstieg der Sterblichkeit

Eine schlechte Ernährungslage kann die Ausbreitung von Infektionskrankheiten begünstigen. Auch die allgemeinen Lebensumstände – wie die Beheizung einer Wohnung und die persönliche Hygiene – können Einfluss nehmen auf den Verlauf von Krankheiten, vor allem auf Erkältungskrankheiten. Schon 1917 war der Krankenstand in den deutschen Betrieben gegenüber den Vorjahren deutlich erhöht. Infektionskrankheiten, die man jahrelang kaum gesehen hatte, kehrten nun zurück: Gehirnentzündung, Kinderlähmung, Krankheiten des Magen-Darmkanals, Tuberkulose, Ruhr, Keuchhusten, Masern, Scharlach, Diphtherie – sie alle nahmen zu, aber auch Rachitis, Krätze, Kopfläuse, Bettnässen. Im Spätwinter 1917/18 gab es vermehrt Fälle von Fleckfieber, eine durch Kleiderläuse übertragene schwere Krankheit, sie war in Deutschland seit 1880 sehr selten geworden. Das hatte auch damit zu tun, dass man sich weniger

Letalität, Morbidität, Mortalität

Als Sterblichkeit (oder Mortalität) bezeichnet man den Anteil einer gegebenen Bevölkerung, der innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, in der Regel eines Jahres, gestorben ist. Da dieser Anteil heute meist gering ist, gibt man ihn häufig in Promille an. Morbidität bezeichnet den Anteil einer Bevölkerung, der von einer bestimmten Krankheit befallen wird. Mit Letalität bezeichnet man den Anteil der von dieser Krankheit Befallenen, der daran stirbt.

Beispiel: Nehmen wir an, im Verlauf einer Seuche erkrankt jeder zweite aus einer Bevölkerung, dann ergibt sich eine Morbidität von 50 Prozent. Wenn nun jeder 25. Erkrankte (also zwei von 50 Erkrankten) daran stirbt, dann ergibt sich eine Letalität von vier Prozent und eine Mortalität von zwei Prozent.

Zeit nahm für die einfachste persönliche Hygiene. Seife war rationiert, es gab monatlich pro Kopf 50 Gramm, und sie war von schlechter Qualität.

Unterernährung wurde zum gesundheitlichen Problem. 1917 starben in Deutschland fast ein Drittel mehr Menschen als 1913, vor allem Ältere. In Berlin stieg die Erwachsenensterblichkeit in diesem Jahr um 23 Prozent an. Noch gewaltiger nahm die Säuglingssterblichkeit zu, in der Großstadt Berlin mehr als im Reich insgesamt. Tuberkulose forderte ihre Todesopfer. In den Sanatorien verdoppelte sich die Sterblichkeit.

Der vierte Kriegswinter, 1917/18, war ungewöhnlich streng. In breiten Volksschichten herrschten Hunger und Unzufriedenheit, man hatte den Krieg satt.

Nicht anders sah es in Österreich aus. Die Regierung in Wien verkündete im Januar 1918 gewaltige Kürzungen bei Brot- und Mehlrationen.

Sperlingssuppe

Der „Allgemeine Wegweiser für die Familie“, eine

Wochenschrift, empfahl in der Ausgabe vom 22. Dezember 1917 als eine Leckerei für die Weihnachtstage: Sperlingssuppe.

„In mäßigen Grenzen gehalten, darf man sich auch von Zeit zu Zeit eine den Verhältnissen entsprechende Leckerei bieten. Dazu gehört eine Sperlingssuppe, gehören Kartoffelküchlein und Marmeladenudeln. [...]

Die Sperlinge werden sauber wie junge Tauben zugerichtet, in ein wenig Butter gebräunt und mit Suppengrün und Zwiebeln ganz weich gekocht. Salz, ein Lorbeerblatt und Petersilie erhöhen den Wohlgeschmack, wie auch ein Glas Weißwein. Auf einen Sperling für die Person rechnet man Ü Liter Wasser.“11

Die Spanische Grippe

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