Читать книгу Die Chroniken von 4 City - Band 4 - Manuel Neff - Страница 4

Erinnerungen

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Das Frühstück bestand aus Astronautennahrung: roter Saft im Plastikschlauch und zwei komische, grüne Tabletten.

Stiff hat erzählt, dass es in der Sektion der Menschen besseres Essen geben würde. Frisches Essen. Da bin ich mal gespannt. Und leider hat sich schon nach kurzer Zeit erwiesen, dass Stiff doch nicht so gut darin ist, Motorräder zu reparieren. Deshalb gehen wir nun zu Fuß weiter.

Wir laufen schon seit Stunden durch 4-City. Meine Begeisterung darüber, frei zu sein und Neues zu entdecken, ebbt so langsam ab. Hier gibt es nur Häuserblocks, Straßenschluchten und der alles durchdringende Smog, der dichter und dichter wird, je näher wir dem Zentrum der Metropole kommen.

»Kennst du dich hier wirklich aus?«, fragt Reico.

»Besser als du«, schnauzt Stiff die kleine Synth an.

»Oh mein Gott, ist der vielleicht gut gelaunt.«

»Was kann denn Gott dafür?«

»Das sagt man nur so, wenn man erstaunt ist. Oder etwas ziemlich Heftiges passiert«, erläutert mir Reico. Die Synth ist so etwas wie mein persönlicher Sprachtrainer geworden. Das mit der Ironie habe ich mittlerweile verstanden, aber es gibt noch so viel mehr, das ich noch lernen muss.

Gut, dass Reico nicht nachtragend ist. Stiff scheint wirklich schlecht gelaunt zu sein und ich frage mich wieso. Hat er auch keine Lust mehr auf die Eintönigkeit?

»Bist du wütend?«, frage ich ihn. »Die Mikroexpressionen in deinem Gesicht und die Schwingungen deiner Stimme deuten darauf hin.«

Stiff bleibt stehen, wendet sich um und blickt mich seltsam an. Sein linkes Auge zuckt leicht. Selbst seine Nasenspitze sieht wütend aus. Diese gereizte Seite von ihm kenne ich ja noch gar nicht. Er sagt gar nichts und ringt mit irgendetwas in seinem Kopf. Ohne jeden Übergang entspannen sich seine Gesichtszüge plötzlich und er lässt resigniert den Kopf leicht nach vorne sinken. Ich deute das als ein gutes Zeichen. Er entspannt sich.

»Wir müssen einen Umweg gehen. Wegen dem Motorrad. Es war doch nicht die Zündkerze und der Luftfilter. Ich habe mir den Tank nochmal angesehen, bevor wir losgefahren sind. Irgendjemand hat da ein winziges Loch in den Tank gebohrt.«

»Ein Loch? Ach du meine Güte, aber dann läuft doch das Benzin aus. Wer tut denn so etwas?«, fragt Reico empört und stemmt dabei ihre Hände in die Hüften.

Stiff verdreht die Augen.

»Jemand der wollte, dass wir uns verspäten und es nicht in der geplanten Zeit bis ins Zentrum von 4-City schaffen. Wir müssen mindestens noch eine, vielleicht auch zwei Nächte hier draußen verbringen. Hängt davon ab, ob wir unterwegs Schrottsammlern begegnen und uns verstecken müssen. Wenn alles gut geht, erreichen wir am Abend ein geschütztes Versorgungslager. Es ist eines von vielen, das wir Soldaten nutzen, falls wir länger außerhalb der Mauern unterwegs sind. Ich führe uns hin. Dort können wir uns ausruhen, etwas essen und die Nacht verbringen.«

»Verstehe. Du bist ein guter Anführer«, ermutige ich Stiff und tatsächlich hellt sich sein Blick dadurch etwas auf. »Sag mal, weißt du, wer das mit dem Benzin getan hat? War es Absicht?«

»Ja, davon ist auszugehen. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum die Flucht aus der Sektion der Steamborgs so einfach war. Ich habe mit viel mehr Widerstand gerechnet.«

»Du meinst, sie haben uns absichtlich entkommen lassen?«

»Kann gut sein. Vieles deutet darauf hin.«

»Aber warum?«

»Das ist eine gute Frage. Ich weiß leider keine Antwort darauf.«

»Du hast einmal gesagt, dass Myo mit den Steamborgs unter einer Decke steckt. Vielleicht war sie es.«

»Myo? Um Himmels willen!«, raunt Reico, die sich auch wieder in das Gespräch einbringt. Das war aber auch schon alles, was sie beizutragen hat, denn nun steht sie wie angewurzelt vor einem gewaltigen Gebäude und starrt sprachlos nach oben. Manchmal verhält sie sich sehr weise und intelligent. Meist aber auch einfach nur wie ein kleines Kind. Ihre ungezähmten Emotionsausbrüche miteingeschlossen.

»Dann geht es also da lang zu dem geschützten Lager?«, frage ich und strecke meine Hand in die Richtung aus, in die wir bereits seit einer Ewigkeit laufen. Stiff schaut auf den Weg, der vor uns liegt. Anschließend nickt er.

»Wie lange sagtest du, brauchen wir?«

»Gegen Abend sind wir im Lager.«

»Wird unterwegs etwas Aufregendes passieren?«

Er reißt die Augen auf.

»Das will ich nicht hoffen.«

Die meiste Zeit sind wir leise und sprechen kaum. Wir passen die Lautstärke offensichtlich der Reisegeschwindigkeit an. Wenn man schnell unterwegs ist, darf man jede Menge Krach veranstalten. Wenn es langsam vorwärtsgeht, sollte man zusehen, nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Klingt logisch in Anbetracht dessen, dass wir uns in feindlichem Terrain befinden.

Gegen Abend, also viele Stunden später, die sich wie ein halbes Jahrhundert anfühlen, erreichen wir den Ort, den Stiff gemeint hat. Es lohnt nicht, zu erzählen, was auf dem Weg hierher passiert ist. Die dunkelgraue Färbung des niedrigen Nebels, der durch die Häuserschluchten zieht, lässt uns erahnen, dass die Dämmerung wieder eingesetzt hat. Sie breitet sich über der Stadt aus, wie schwarze Tinte im Wasser. Wir betreten das Gebäude, das einmal eine Schule oder eine Universität gewesen sein könnte. Stiff führt uns durch Korridore, von denen viele Türen abgehen. Am Ende erreichen wir eine steile Treppe, die nach oben und unten führt. Wir folgen Stiff in den Keller, laufen erneut einen langen, langweiligen Gang entlang und kommen in einer trostlosen Sporthalle heraus, die jedoch erstaunlich gut erhalten ist. Der Zahn der Zeit hat hier bedeutend weniger Schaden angerichtet als an den Orten und Plätzen, wo der feuchte Nebel direkt Einfluss nimmt.

»Eine Turnhalle«, jubelt Reico, schießt los, schlägt ein Rad, gefolgt von einem Flickflack und landet perfekt auf beiden Beinen. Ihre weichen Haare wippen über ihren Schultern nach und sie strahlt uns mit einem breiten Grinsen an.

»Und das sind dann bestimmt die Schlafplätze«, stelle ich fest und deute auf ein Matratzenlager unter dem Basketballkorb am anderen Ende der Halle.

»Es gibt frisches Wasser, Lebensmittelkonserven, eine Dusche und neue Kleidung, die angemessen ist für die Sektion der Menschen«, erklärt Stiff lächelnd und fährt sich verlegen über den Kopf. Er verhält sich wie jemand, der seinen Job gut gemacht hat.

»Essen? Trinken? Duschen? Was anderes zum Anziehen? Du bist genial!«, freue ich mich über die perfekten Neuigkeiten. Meine Emotionen bereiten mir, in Momenten wie diesen, immer viel Freude. »Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen?«

»Wo sind die Anziehsachen?«, fragt Reico.

»Erst duschen, dann umziehen. Anschließend Nahrungsaufnahme«, befiehlt Stiff.

»Könntest du mal den Besenstiel aus dem Popo nehmen«, meint Reico.

»Was bedeutet das?«, frage ich.

»Dass er sich total steif benimmt.« Ich finde das lustig, sage es aber nicht. Stiff hat uns gerade die Entscheidung abgenommen. Er ist schließlich der Anführer. Eigentlich hätte ich mich lieber zuerst fürs Essen entschieden, weil ich schon wieder ein riesiges Loch im Bauch verspüre, aber wenn man uns so anschaut und an uns riecht, dann wäre ein bisschen Körperpflege vor dem Essen durchaus sinnvoll.

Ein paar Minuten später wissen wir auch, wo sich der Mädchenwaschraum befindet und laufen mit den neuen Kleidern unter dem Arm los. Zu Reicos und meiner Enttäuschung handelt es sich um so etwas wie eine graue, fantasielose Uniform.

Der Waschraum ist eine Ansammlung von Spinden und Waschbecken. Dahinter befindet sich ein weiß gekachelter Raum mit sieben durchnummerierten Duschen. Reico und ich ziehen uns aus und stellen uns unter die Duschköpfe Nummer drei und vier.

»Jetzt müsste es funktionieren«, hören wir Stiff von draußen rufen und wir drehen die Duschhähne gleichzeitig auf.

»OH MEIN GOTT!«, kreische ich und mache einen Satz nach vorne. Das Wasser ist so kalt.

Schlagartig sehe ich Bilder vor meinem inneren Auge aufsteigen. Wasser, das wütend auf mich niederprasselt. Es ist Regen. Echter, eiskalter Regen. Blitze durchzucken den Himmel. Windstöße peitschen mir ins Gesicht. Ein Gewitterspektakel. Es fühlt sich an, als wäre ich an einem anderen Ort. Ich sehe riesige Bäume und weit entfernt im Hintergrund schwarze, in den Himmel gepinselte Wolken, noch mehr Regen und eine grüne, weitläufige Landschaft. Dahinter schneebedeckte Berge. Ich laufe auf die Bäume zu und spüre das nasse Gras unter meinen nackten Füßen. Alles ist so realistisch. Das muss eine Erinnerung sein, kommt es mir in den Sinn. Plötzlich reißt der Himmel auf und die Strahlen der Sonne zeichnen wandelnde Schatten auf den Boden. Hinter den Bäumen sehe ich etwas glitzern und als ich näher komme, entpuppt es sich als riesige Glasfronten eines futuristischen Gebäudes. Es ist kaum zu erkennen, so gut passt es sich in die Umgebung ein. Hinter der Glasfront steht eine Frau. Was ist das für ein Ort? Wer ist sie?

»Es ist eine Forschungseinrichtung. Deine Geburtsstätte und die Frau ist Aurora«, sagt die Stimme der Erinnerung in meinem Kopf. Ich laufe weiter darauf zu. Bin neugierig, was ich noch zu sehen bekomme und über mich erfahren werde, doch mit jedem Schritt verblasst die Erinnerung mehr und mehr und die Welt um mich herum nimmt wieder ganz andere Formen und Farben an. Statt Grün sehe ich nun Grau. Statt der unbestimmten, fließenden Formen der Blätter, Gräser und Bäume ist nun alles kantig.

Ich befinde mich wieder im Hier und Jetzt und blicke in ein perplexes Gesicht.

Stiff steht direkt vor mir. Er schaut mich mit unglaublich großen Augen und offen stehendem Mund an, so als wäre neben ihm gerade ein Kugelblitz eingeschlagen. Ich muss während meiner Erinnerungserfahrung wirklich einige Schritte gegangen sein. Ich stehe in dem Gang vor der Mädchenumkleide und höre weiter hinten Reico duschen.

»Was ist mit dir los? Warum starrst du mich so an?«

»Du bist nackt.«

»Na und?«

»Hat dir denn noch niemand gesagt, dass man sich nicht nackt zeigt? Fühlt es sich denn nicht unrecht an?«, fragt Stiff und dreht sich weg, um meiner Nacktheit auszuweichen.

»Ich habe einmal darüber gelesen. Es nennt sich Schamgefühl«, gestehe ich und diese ganz neue Emotion steigt langsam in mir auf. Ich kreuze meine Beine und nehme langsam die Arme vor meine nackten Brüste. Scham fühlt sich seltsam an.

»Stiff scheint die Begegnung mindestens genauso unangenehm zu sein wie mir.

»Ich ... ich ... ich habe Seife gefunden«, höre ich ihn stottern und er reicht mir welche hinter seinem Rücken. Ich nehme sie und flüchte zurück zu Reico.

»Wo warst du denn?«, fragt sie, der das kalte Wasser nichts auszumachen scheint.

»Kurz weg. Seife holen«, piepse ich verdruckst. Nach ein paar Versuchen schaffe ich es schließlich doch noch, mich mit dem kalten Wasser anzufreunden. Eine weitere Erinnerung an mein früheres Leben, ein längst vergessen geglaubter Moment an meine Geburtsstätte, bleibt dieses Mal jedoch aus. Die Bäume, die Natur und die Forschungseinrichtung sind noch immer in meinem Kopf und ich kann sie abrufen, wenn mir danach ist. Es verhält sich so, wie Myo es gesagt hat. Zuerst kommen die Emotionen und dann die Erinnerungen.

Myo?

Meine Gedanken kreisen einige Zeit um sie. Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass sie mit den Steamborgs unter einer Decke stecken soll. Ich vermisse sie sogar ein bisschen.

»Sauber«, flötet Reico mit einem Mal, hüpft unter der Dusche hervor und schwebt wie eine Tänzerin mit einem Lächeln vorüber.

Ich lasse das Wasser noch ein wenig über meinen Körper rinnen und sehe dem Schaum dabei zu, wie er von dem Abfluss verschluckt wird. Eine schwere Müdigkeit befällt meinen Körper. Ich muss kurz in die Knie gehen und mich dort unten in der Hocke erholen. Ich schaffe es, meine Augen offen zu halten und die auf mich einstürzende Schwindelattacke abzuwehren. Nach und nach erhole ich mich wieder, aber der Energieverlust ist dennoch deutlich spürbar.

»Ich glaube, ich habe Frostbeulen«, sage ich zu Reico, die ich ein paar Minuten später bei den Spinden wiederfinde.

»Das ist eine Gänsehaut und nicht Frostbeulen. Ich kann so etwas zum Glück nicht bekommen. Temperaturen nehme ich zwar wahr, aber eine Körperreaktion bleibt bei mir aus. War ziemlich kalt, oder?«

»Saukalt, um genau zu sein.« Wir schauen uns an und müssen beide kichern.

»Sieh mal, das müsste deine Größe sein«, freut sie sich. »Und es ist viel schöner als das, was Stiff für uns ausgesucht hat.« Reico hält mir frische Unterwäsche und etwas Rosarotes unter die Nase. Beim Entfalten entpuppt es sich als ein Kleid.

Wir machen uns hübsch. Reico hat ein schwarzes Kleid angezogen, das ihr bis zu den Knien reicht und die Gesamtheit ihrer Zierlichkeit gut zur Geltung bringt. Sie ist wirklich attraktiv mit ihren blauen Haaren und den riesigen, veilchenblauen Augen. Und in dem schwarzen Kleid und der weißen Schürze sieht sie aus wie frisch aus dem Ei gepellt.

Allerdings fühlt sie sich auch sichtlich unwohl. Denn ihre Beine verschlagen sich unter dem knielangen Kleid krampfhaft zu einem X. Sie ähnelt mehr denn je einem kleinen Mädchen, das sich eben verlaufen hat. Ich lächle und sie entspannt sich etwas. Ihre runden, großen Augen blinzeln unschuldig und leicht zu mir herauf. Meine Lippen verformen sich zu einem unverblümten Lächeln. Sie beginnt sich mit ihrem neuen Outfit zu arrangieren.

Ich hingegen habe mich in das altrosa Tüll-Kleid gezwängt, das bis zu meinen Brüsten von einem weinroten, üppig verzierten Stahl-Korsett gehalten wird. Es glänzt matt in dem milden Licht des Umkleideraums. Reico sieht mich an und grinst.

»Sieht wunderschön aus. Es betont perfekt die geschmeidigen Kurven deines Körpers, ist aber auch bestimmt sehr unbequem.«

»Du sagst es!«

»Wo hast du die Kleider denn gefunden?«, frage ich.

»In den Spinden. Da gibt es auch noch andere Sachen.«

Wir treffen Stiff wenig später. Er hat die Verkleidung zu einem Steamborg abgelegt und gegen eine graue Uniform eingetauscht. Jetzt sieht er wirklich wie ein Soldat oder Wachmann aus.

Stiff staunt nicht schlecht, als wir in blauen Trainingsanzügen aus dem Umkleideraum kommen.

»Dachtest wohl, wir verkleiden uns als Menschen?«, frage ich und grinse ihn an. »Wir wollen vor dem Abendessen noch ein bisschen Sport machen. Das ganze Herumlaufen in der Stadt hat die Beine müde gemacht. Ich muss mich ein bisschen bewegen.«

»Aha, warum habt ihr dann schon geduscht?«, ist das Einzige, was er über die Lippen bringt.

»Hey, immer schön cool bleiben.« Ich schaue Reico ratlos an. »Er soll die Nerven behalten«, erklärt sie mir und ich bin froh darüber, nach und nach meinen Wortschatz zu erweitern. Ich stelle fest, dass sich nicht alles aus Büchern erlernen lässt.

»Du hast es uns befohlen. Schon vergessen? Egal, dann duschen wir eben noch einmal. Auf zum Kampftraining«, posaunt Reico, rennt los und zerrt eine Kiste mit Kunststoffkegeln aus dem Geräteraum. Die Kegel funktioniert sie kurzerhand in Wurfgeschosse um.

»Für deine zierliche Gestalt kriegen die Dinger ein ganz schönes Tempo drauf«, meint Stiff, der es sich auf den Matratzen bequem gemacht hat und uns beobachtet. Ich weiche den Kegeln mit Leichtigkeit aus. Einmal kurz ducken, mal ein Schritt nach links oder rechts oder den Kopf zur Seite bewegen. Viel mehr ist nicht nötig.

»Hey du da?«, wendet sich Reico an Stiff. »Hilf mir mal!« Mit einer zusätzlichen Kiste voller Baseballs bemühen sie sich nun zu zweit, mich zu treffen. Sie haben sich entgegengesetzt voneinander positioniert, um es mir schwerer zu machen, und tatsächlich fordert mich das Geschicklichkeitstraining nun doch schon mehr heraus. Meine Ausweichmanöver scheinen instinktiv zu erfolgen. Ich muss nicht überlegen, was ich tue. Es passiert einfach. In einem Augenblick, in welchem zwei Bälle und ein Kegel in kurzem Abstand auf mich zufliegen, geschieht es jedoch schon wieder.

Ich finde mich wie aus heiterem Himmel in einem quadratischen Raum wieder und sehe mich zwei metallenen Klingen gegenüber, die sich wie Rotorblätter durch den Raum auf mich zu fräsen. Eine Erinnerung, die sich anders anfühlt als die unter der Dusche. Während sich das Erlebnis von den Bäumen und der Forschungseinrichtung Äonen weit entfernt angefühlt hat, ist es jetzt so, als wäre diese erst kürzlich passiert. Es muss sich um eine Erinnerung aus einem der jüngst zurückliegenden Zyklen handeln.

BAM!!

Ein Baseball trifft mich mitten auf die Stirn. Verdammt, sind die Dinger hart. Ich torkel einen Schritt rückwärts und werde mir der Sporthalle wieder bewusst. Reico wirft weiter mit Kegeln nach mir, die mich allesamt verfehlen. Stiff hat aufgehört mich zu beschießen. Statt sich zu freuen, getroffen zu haben, sieht er besorgt aus.

»Hör doch mal auf!«, schreit er Reico an. »Siehst du denn nicht, dass sie verletzt ist?«

»Was ist los?«, fragt sie.

»Mit Karma stimmt etwas nicht.« Er kommt auf mich zu. »Alles okay bei dir?«, fragt er sachte und als er direkt vor mir steht, berührt er meine Stirn dort, wo mich der Baseball getroffen hat. »Das gibt eine dicke Beule. Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin selbst schuld.« Ich setze mich auf den Boden und umklammere mit beiden Armen meine Beine.

»Was ist passiert?«, fragt Reico.

»Stiff hat mich mit einem harten Ball am Kopf getroffen. Das ist los.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich frage mich, wie das passieren konnte? Du scheinst abwesend gewesen zu sein. So als ob dein Körper hier war, aber du selbst warst ganz wo anders«, meint Reico nachdenklich.

»Das ist aber philosophisch«, meint Stiff, der sich jetzt zu mir auf den Boden gesetzt hat.

»Oh, es wird schon ganz dick«, ergänzt Reico mit einem amüsierten Blick auf die pochende Stelle. »Du siehst aus wie ein Einhorn.«

»Geht es einigermaßen?«, fragt Stiff und schaut mir in die Augen. Die Farbe seiner Iris ist grün hinter einem grauen Vorhang. So wie der Nebel von 4-City, der sich im Wind kräuselt, denke ich. Er hat sehr schöne Augen und so wie er mich jetzt gerade ansieht, so besorgt und irgendwie liebevoll, fühlt sich das richtig gut an.

»Ich habe Erinnerungen. Und wenn ich die habe, dann passieren unkontrollierbare Dinge. Entweder laufe ich nackt durch die Gänge oder bewege mich gar nicht mehr, wie gerade eben«, versuche ich, Reicos Frage beflissentlich zu beantworten. Was ich ihnen nicht sage, ist, dass mir schon wieder schwindlig ist. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen diesen Erlebnissen und den Schwächeanfällen?

»Scheiße!«, stoßen Reico und Stiff gleichzeitig hervor.

Die beiden schauen sich verwundert an.

»Scheiße?«, frage ich.

»Bald ist es soweit«, flüstert Reico geheimnisvoll.

»Was ist bald soweit?«, fragen Stiff und ich nun unsererseits gleichzeitig und jetzt sind wir beide es, die sich verdutzt ansehen.

»Dass ich dir erklären soll, was die Arche ist. Sie hat prophezeit, wenn du dich erinnerst, dann ist es soweit.«

»Die Arche?«, wiederholt Stiff.

»Sie? Wen meinst du mit sie?«, frage ich, wobei mich mindestens genauso sehr wie Stiff interessiert, was die Arche sein soll. Reico kann ja wohl unmöglich DIE ARCHE meinen.

»Ich meinte bald und nicht jetzt. So, und warum hast du scheiße gesagt?«, wendet sich Reico an Stiff.

»Ach nichts«, murmelt er nur und schickt sich an, aufzustehen.

»Was ist denn hier los? Habt ihr jetzt etwa Geheimnisse? Stiff, bleib gefälligst hier und erklär mir, was daran so blöd ist, dass ich mich wieder erinnern kann?«

»Nicht die Erinnerungen sind es, sondern die Nebenwirkungen! Was nützt uns eine biologische Waffe, die Funktionsstörungen hat?«

»Funktionsstörungen? Du sprichst von mir, als wäre ich irgendein Ding. So wie dieser Kegel hier.«

»Das bist du ja auch«, blökt er gereizt und tritt nun gegen einen der besagten Kegel, der daraufhin quer durch die Turnhalle kullert, bis er am anderen Ende liegen bleibt. Stiff marschiert davon.

»Er ist sauer«, kommentiert Reico die Aktion.

»Er hat mich verletzt«, sage ich.

»Das heilt schon wieder«, meint Reico und betrachtet meine Beule.

»Ich meine doch nicht diese Art von Verletzung.« Reicos Augen werden nochmal viel größer, als sie eh schon sind.

Etwas später sitze ich in den Umkleideräumen, das zerrissene Tagebuch von Aurora auf den Knien und Stiffs Nachtsichtbrille über den Augen. Jetzt bin ich nicht nur ihren Worten, sondern Aurora auch leibhaftig begegnet. Es besteht nun Gewissheit, dass die Karma in Auroras Tagebuch und ich die gleiche Person sind. Ich lese ihre Einträge und versuche mich in ihren, teilweise recht wissenschaftlichen Ergüssen, zurechtzufinden.

Kim und ich sind dem Geheimnis der Tattoos einen großen Schritt nähergekommen. Es handelt sich nicht nur um Kreise und Linien, also geometrische Formen, die der Unendlichkeit und Linearität entsprechen. Mit einer entsprechenden Auflösung und Vergrößerung entpuppen sich die Tattoos als Sprache. Es handelt sich um eine sehr alte Schrift, die sich Sanskrit nennt und mysteriöserweise der Sprache meines eigenen Tattoos entspricht. Kim und ich haben Millionen und Abermillionen von Zeichen entdeckt und es ist noch kein Ende in Sicht. Es wäre ein hoffnungsloser Fall, es lesen zu wollen, wäre da nicht die Logik, die wir hinter der scheinbar chaotischen Reihenfolge der Zeichen gefunden hätten. Alles was wir jetzt benötigen, ist ein Schlüssel, um den Code zu knacken. Dann, so bin ich überzeugt, könnten wir nicht nur ein Heilmittel finden, sondern alle Geheimnisse dieser Welt lösen.

Ich betrachte meine Unterarme und starre auf die Linien und Kreise. Als Reico das Bannlevel Ebene drei aufgelöst hat, haben wirklich kleine Schriftzeichen aufgeleuchtet. Ich lese weiter und bin gespannt darauf, was Aurora und diese Kim noch über meine Tattoos herausgefunden haben. Haben sie den Schlüssel entdeckt, um den Code zu knacken?

Karma und ich haben uns heute berührt und es ist etwas ganz Erstaunliches passiert. Mein eigenes und ein Teil ihrer Tattoos haben angefangen zu leuchten. Die Messungen des Energielevels lassen darauf schließen, dass sich eine Blockade aufgelöst hat. Kim nennt es das Stirnchakra, das für die Intuition steht. Es scheint, es gibt Menschen wie mich, die etwas in Karma auslösen, wenn sie mit ihr in Kontakt kommen. Die Krankheit hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Mein Tattoo bedeutet auf Sanskrit Ajna, was für Intuition steht. Jemand mit besonderen Fähigkeiten. Vielleicht gehören wir alle irgendwie zusammen. Sind alle Teil von etwas Größerem. Es wäre einen Versuch wert, das herauszufinden. Kim nennt es die Eternityschlüssel. Es existieren sieben Hauptchakren. Kim meint, es wären sechs Schlüssel erforderlich. Die ersten fünf stehen für die Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, der sechste für Intuition und dann würde sich das siebte Energiezentrum öffnen und das Tor zur Ewigkeit, zur Unendlichkeit, zum Einssein mit Gott aufstoßen.

Wenn ich den Schlüssel für das sechste Chakra in mir trage und über eine besondere Fähigkeit verfüge, nämlich in die Zukunft zu blicken, dann würde es bedeuten, wir müssen Menschen suchen, die mir ähneln. Sie würden Fähigkeiten haben, die den anderen Elementen entsprechen. Die Suche nach ihnen könnte sich als schwieriger erweisen, als die Zahl Pi zu entschlüsseln. Eventuell sind diese Menschen auch noch gar nicht geboren. Oder anders ausgedrückt, die Krankheit hat sie noch nicht erschaffen.

Wir haben viel über die Krankheit herausgefunden. Sie verändert das Energiefeld des Menschen. Für die meisten endet dies tödlich. Ein Kollaps, ein völliges Ungleichgewicht entsteht und löst Infektionen aus oder führt in vielen Fällen sogar unmittelbar zum Tod. Kim meint, dass der Faden, der Seele und Körper zusammenhält, nichts weiter ist als Energie und dieses empfindliche System durch die Krankheit massiv gestört wird. Wird der Faden durchtrennt, dann löst sich die Seele vom Körper und lässt ihn zurück. Wir bezeichnen das als Tod. Eine schöne Vorstellung, dass man nicht der Körper ist, sondern ihn lediglich zurücklässt.

Ich versinke in Auroras Aufzeichnungen und auch wenn ich nicht alles verstehe, bin ich ihren Erkenntnissen doch auf der Spur.

»Was tust du da?«, fragt Reico, die plötzlich neben mir steht. Ihre künstlichen Augen leuchten in der Dunkelheit auf.

»Das ist Auroras Tagebuch. Es ist nicht sonderlich dick und ich habe nur noch die Hälfte, aber es ist sehr interessant.«

»Erzähl!«

Ich berichte über die sieben Energiezentren und ihre Eigenschaften. Reico nickt, als würde sie wissen, wovon ich spreche.

»Kannst du mir mehr darüber sagen?«

»Alles zu seiner Zeit.«

»Hast du schon mal etwas von den Eternityschlüsseln gehört?«, frage ich sie und versuche in ihrer Mimik zu lesen. Leider gelingt es mir nicht annähernd so gut wie bei Stiff. Er ist wie ein offenes Buch für mich. Ich kann die Emotionen aus den Mikroexpressionen in seinem Gesicht, seiner Körperhaltung, seiner Gestik und der Tonlage seiner Stimme entnehmen. Ich entschlüssle ihn sozusagen. Bei Reico kann ich überhaupt nichts lesen, obwohl sie diejenige von uns ist, welche über die meisten Emotionen zu verfügen scheint.

Die Chroniken von 4 City - Band 4

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