Читать книгу Wer die Ruhe hat, hört die Stille - Manuela Nemes - Страница 7

2. ENDLICH BEI MIR

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Der 25. Dezember fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Während der Fahrt hörte ich natürlich wieder alle Hits im Weihnachtsradio und sang den einen oder anderen Refrain lautstark mit – gut, ich sang alle mit und genoss es, meine eigenen Texte an Stellen zu singen, an denen zum Beispiel nur ein Gitarrensolo zu hören war. Die Zeit verging dadurch relativ schnell und ich dachte daran, mir in meinem Wohnort bei der Tankstelle, die als einzige offen hatte, eine Tafel Schokolade zu kaufen. Schließlich war Weihnachten und den restlichen Tag wollte ich damit verbringen, vor dem Fernseher zu liegen und mir eine Episode nach der anderen meiner Lieblingsserie reinzuziehen.

Da ich eher der süße als salzige Typ bin was Essen anbelangt, kamen gesalzenen Kartoffelchips oder dergleichen für mich nicht infrage. Ich überlegte auch noch, mir eine Flasche Prosecco zu kaufen, denn schließlich gehört Essen, egal welches, auch runtergespült. Ich hielt also an der Tankstelle, wo Sascha, ein ehemaliger Schulkollege meines Bruders seit zwei Monaten arbeitete, an. Sascha war früher oft bei uns daheim gewesen.

Er und Theo fanden früher in mir das perfekte und eigentlich auch das einzig mögliche Opfer für ihre Versuchsreihe „Brudertoleranz“, in der es, wie der Name schon sagt, darum ging auszutesten, wie tolerant ich meinem Bruder gegenüber sein konnte. Mit ihren nachmittäglichen privaten Rockparties in Theos Zimmer konnte diese Toleranzgrenze ziemlich niedrig sein. Nichts konnte ich aufgrund des Lärms mehr tun: Weder lernen, oder lesen, noch Hausaufgaben machen. Je mehr ich mich wegen der Lautstärke beschwerte, desto lauter wurde die Musik und die beiden genossen meinen Ärger. Meine Frustgrenzen zeichneten die beiden in ihrem eigens angefertigten Statistikpapier ein.

Diese Aufzeichnung schenkte mir Theo zu meinem dreißigsten Geburtstag zusammen mit Lautsprecherboxen, die ich mir für meinen Standcomputer gewünscht hatte. Die Boxen hatte ich freudig an den Computer angeschlossen und die Statistik ebenso genüsslich verbrannt. Schließlich hab ich im Jänner Geburtstag und da muss man einheizen und mein schwedischer Ofen verträgt nun mal nur Holz und Papier. Und dieses Stück Papier brannte ziemlich gut. Sascha und Theo waren eben pubertäre Jungs, die sich damals nicht bewusst gewesen waren, und vermutlich bis heute auch noch nicht sind, dass das Karma sie irgendwann einholen würde, was es mittlerweile anscheinend auch schon getan hatte: Der eine wurde mit der Sekretärin erwischt und der andere arbeitete trotz eines Studienabschlusses an der Tankstelle.

Ich stellte den Wagen neben einer Zapfsäule ab, stieg aus und betrat den Tankstellenshop. Sascha begrüßte mich freundlich und ich ihn ebenfalls. Ich ging durch die Regalreihen und als ich mir gerade eine Tafel Schokolade aus dem Regal nehmen wollte, lachte mich eine Packung mit gesalzenen schokoüberzogenen Erdnüssen an. Die hatte ich echt lange nicht mehr gegessen, also entschied ich mich für diese. Ich mag zwar nichts Salziges an und für sich, aber die Kombination aus Schokolade und Salz fand ich irgendwie immer schon besonders interessant. Ich nenne das immer „Junkfood süß-sauer“. Ich entschied mich also für die Nusspackung, denn schließlich würden die Erdnüsse ohnehin besser zum Prosecco passen. Ich nahm auch eine kleine Flasche Sprudelwein und nicht eine große, denn ich musste es ja nicht übertreiben. Mit den beiden Nahrungsergänzungsmitteln ging ich zur Kasse.

Da im Moment niemand in dem Shop war außer uns beiden, redeten wir kurz miteinander. Das war das erste Gespräch seit langem zwischen uns, denn wir hatten uns Jahre nicht gesehen und an der Tankstelle hatten wir bisher nie die Gelegenheit für ein paar Worte gehabt.

Sascha fragte mich, wie es mir ginge und ich meinte kurz und knapp: „Gut!“

Der Höflichkeit wegen stellte ich die Frage zurück und er antwortete: „Danke, auch wieder gut!“

„Was meinst du mit ‚Auch wieder gut’?“, fragte ich verwundert.

Er erzählte mir, dass er nach seinem Studienabschluss in Betriebswirtschaftslehre einen sehr guten Job erhalten hatte, den er ein Jahr lang ausübte. Durch seine Verlässlichkeit und Fähigkeiten schaffte er es nach diesem Jahr, dass ihm eine noch bessere, aber verantwortungsvollere Arbeit innerhalb desselben Betriebes angeboten wurde, die er weitere vier Jahre ausübte. Die Verantwortung wurde also größer, die Arbeit und der Druck mehr, die Zeit für ordentliche Mahlzeiten und Privates weniger und so schlitterte er in ein Burn-Out. Volles Programm: Dauermüdigkeit, Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeit …, alles, was es quasi mit -keit gibt, außer Fröhlichkeit. Nachdem er selbst realisiert hatte, in welchem Zustand er sich befunden hatte, entschloss er sich, einen radikalen Schnitt zu machen. Er kündigte seinen Job, denn Geld hatte er zur Überbrückung für seine Auszeit genug, und gewann seine Gesundheit durch regelmäßige und ausgewogene Mahlzeiten, viel Bewegung und Ausübung seiner Hobbys wieder zurück.

An diesem 25. Dezember wusste er noch nicht, was er zukünftig machen würde, aber die Arbeit an der Tankstelle passte zurzeit ganz gut für ihn.

„Wie gesagt: Mit geht es wieder gut!“, meinte er mit einem sympathischen Lächeln in seinen Mundwinkeln. „Hier habe ich keinen Stress, also nicht, was ich unter Stress verstehe, und bin mehr oder weniger mein eigener Herr in diesem Laden. Ewig mache ich das natürlich nicht, aber ich lasse alles auf mich zukommen.“

Wow! Nach seinen Erzählungen fühlte ich mich irgendwie innerlich schlecht. Anscheinend hatte ihn das Karma schlimmer getroffen, als ich es ihm je gegönnt hätte, aber er schien, so wie er redete und vor mir stand, zufrieden und glücklich zu sein.

„Und was geht bei dir so?“, wollte er von mir wissen.

„Du, das Übliche“, erwiderte ich. „Arbeit, Weihnachten bei meinen Eltern mit der gesamten Familie. Theo und Isi waren auch da mit ihren beiden Jungs – also nicht viel Neues. Du kennst ja meine Familie: Alles wie immer.“

Von Theos Karma erzählte ich natürlich nichts, aber vielleicht wusste er es ja auch schon, denn er und mein Bruder waren nach wie vor in engem Kontakt, obwohl Sascha seit acht Wochen schon in dieser Gegend wohnte. Er war hierher an die Grenze zu Deutschland gezogen, weil er ursprünglich aus Bayern kam. Seine Eltern hatten Österreich wieder verlassen und gingen zurück in ihre alte Heimat. Hier am Grenzgebiet konnte er sie öfter besuchen. Ich bezahlte meine Notfallration Nüsse und Prosecco, verabschiedete mich und er sich. Im Auto sitzend ging ich Saschas Erlebnisse nochmal im Kopf durch. Um vollkommen entspannt zu Hause anzukommen, atmete ich tief ein und aus und fuhr los.

In meiner Wohnung packte ich als erstes meine Tasche mit den Kleidungsstücken aus, die ich für die Übernachtung bei meinen Eltern gebraucht hatte. Die Schmutzwäsche landete zusammen mit anderen dreckigen Klamotten von der Vorwoche in der Waschmaschine. Ich duschte mich, zog mir eine bequeme Kleidung an, richtete mit ein Sektglas her, öffnete die kleine Proseccoflasche und füllte das Glas an. Ich schnitt die Packung mit den Schokoerdnüssen mit einer Schere auf. Das machte ich immer, denn beim Aufreißen einer derartigen Packung passierte es mir stets, dass mindestens zehn Nüsse auf den Boden kullerten, weil es für mich unmöglich war, die Verpackung so aufzureißen, dass der gesamte Inhalt in der Packung bleiben konnte. Ich schaltete den Fernseher ein und startete die letzte Folge meiner Lieblingssoap, die ich noch nicht gesehen hatte, schmiss mich auf die Couch und stieß auf Weihnachten und mich selbst an.

Der Vorspann der Fernsehserie war kaum fertig, als ich mich heftig an einer Nuss verschluckte. Ich musste so stark husten, dass ich in meiner Hilflosigkeit und in meiner Überlebenspanik das Glas und die Flasche, die hinter dem Sektglas stand, umstieß. Mit Tränen in den Augen, weil ich so fest husten musste, wischte ich den Prosecco-See mit einem Lappen zusammen. Einige Tränen vergoss ich aber auch des Sprudelweins wegen, aber Hauptsache, ich hatte überlebt. Anstelle des Proseccos wollte ich die restliche Rotweinflasche, die ich eine Woche zuvor geöffnet hatte, austrinken. Allerdings glich der Wein geschmacklich eher einem abgestandenen Sherry, der schon durch Großmutters dritte Zähne gegangen sein musste. Also kippte ich den roten Wein in die Spüle. So blieben mir nur noch die Nüsse, die Fernsehserie und Apfelsaft.

Den Nachmittag verbrachte ich also vollkommen alkoholfrei, aber entspannt, am Sofa. Nur dreimal musste ich aufstehen: Einmal, weil die Waschmaschine fertig war und ich die Wäsche zum Trocknen aufhängte und zweimal, weil ich auf die Toilette musste. Abends bestellte ich mir noch eine Pizza und eine Cola beim Lieferservice.

Irgendwann schlief ich vor dem Fernseher ein.

Wer die Ruhe hat, hört die Stille

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