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3.3„Tierwerden“ als Aufgabe

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Zu Beginn dieses Kapitels habe ich gesagt, der Mensch sei ein Tier und zugleich noch nie richtig Tier gewesen. Insofern der Mensch als Sozialwesen im Sinne einer Anthropologie über sich selbst kommuniziert und damit normativ auf seine Lebensform zurückwirkt, ist das Projekt einer Bestimmung im Sinne einer Fest-Stellung der menschlichen Natur unmöglich. Die lange und traditionsreiche Geschichte dieser menschlichen Reflexionsform sowie der faktische, interkulturell und historisch vergleichend feststellbare Pluralismus dürften dafür sprechen, dass Menschen so lange über sich selbst reden werden, wie es Menschen in der bekannten sozial organisierten und kommunikativ veranlagten Form gibt. Interessant ist nun im Weiteren, wie die Redeweise vom Menschen als einem Tier, die eine Verwandtschaft von Menschen und anderen Tieren betont, dazu führen könnte, dass Menschen normativ nicht nur auf den Umgang untereinander, sondern auch auf den mit anderen Tieren einwirken können. Weil sich in den bisherigen, auch emotionalen Reaktionen auf diese Redeweise gezeigt hat, dass der genannte kulturgeschichtliche Dualismus, der mit einer Abwertung von Tieren einhergeht, sehr wirkmächtig ist, gilt es zuallererst, diesen zu überwinden. Midgleys Weg einschlagend, kann das über eine ethologisch informierte Anerkennung unserer eigenen Tierlichkeit und eine Offenheit ihr gegenüber funktionieren. Dadurch lässt sich vor allem der „Mythos des Tierischen“ dekonstruieren, der sowohl die Interpretation anderer Tiere als auch diejenige der eigenen Tierlichkeit beeinflusst. In konstruktiver Hinsicht geht es dann zunächst darum, das, was uns als sozial organisierte Säugetiere ausweist, daraufhin zu prüfen, wie es sich im Miteinander von Menschen und Tieren bewährt. Damit werden Emotionen in Politik und Moral berührt. Bevor ich mich im nächsten Kapitel der Frage widme, warum man diese für die, auch politische, Verbesserung von Mensch-Tier-Beziehungen nutzen sollte, erwähne ich hier zunächst drei pragmatische Tugenden, die zur optimistischen Grundausstattung gehören, ohne welche die Aufgabe, Tier zu werden, nicht zu bewältigen ist.

Als Mensch Tier zu werden beinhaltet nun gerade nicht das derzeit schick gewordene Hineinschlüpfen in andere Arten, indem man sich in Tierbauten zwängt, versucht, wie sie zu jagen, und sich Wind, Wetter und Gefahren auszusetzen. Wie schon Thomas Nagel feststellte, erfahren wir bei diesen Experimenten im Zweifelsfall primär, wie es für uns als Menschen ist, ein bestimmtes Tier zu sein (oder zu spielen), aber das ist hier nicht der Punkt.26 Das Problem ist, dass damit wieder im „Tier“ die Kulturferne und der Abstand zum Menschen betont werden. Das kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass „Tier“ hier im Sinne von „Biest“ gemeint ist, im Sinne des Wilden, des ganz Anderen.27

Diesem Konzept des „Tiers“ bzw. des „Tierischen“ hat sich Midgley ausführlich gewidmet und zwar primär nicht in tierethischer Absicht, sondern um aufzuweisen, wie die Missverständnisse und Verwirrungen rund um den Begriff der menschlichen Natur ihren Ursprung in dieser mythischen Abgrenzung haben. Mit einem entsprechend verzerrten Blick auf die menschliche Natur wird es ihr zufolge unmöglich, ethische Theorien zu entwickeln, welche die Vielfalt des menschlichen Lebens würdigen und moralische Ernsthaftigkeit und lebensweltliche Relevanz aufweisen.

Das generische Tier fungiert typischerweise als Inbegriff des kultur-, moral- und gesetzlosen Wesens, das es gerade auch im Menschen mit dem „inneren Tier“ (Schweinehund, Wolf usw.) zu unterdrücken gilt; just diese Tiere aber gibt es gar nicht, und in diesem Sinne versteht der Mensch nicht nur andere Tiere falsch, sondern sich selbst auch in dem, was ihm als Tier jedenfalls teilweise eine Ordnung vorgeben kann. Wölfe interessieren Midgley an dieser Stelle besonders. Aber was sie sagt, trifft auch auf die meisten anderen verkannten Tiere zu:

Wirkliche Wölfe ähneln der Märchenfigur des Wolfes also wenig, und das Gleiche gilt für Menschenaffen und andere Lebewesen. Aber eben diese Märchenfigur ist bei Philosophen besonders beliebt gewesen. Sie haben üblicherweise die populäre Vorstellung regelloser Grausamkeit übernommen, die solchen Begriffe wie ‚brutal‘‚ ‚tierisch‘, ‚bestialisch‘, ‚animalische Begierden‘ usw. zugrunde liegt, und sie haben sie ohne weitere Unterscheidungen als Kontrastfolie für die Bestimmung der menschlichen Natur genommen. Der Mensch ist vermessen worden mit Bezug auf einen Orientierungspunkt, der weitgehend fiktiv ist.28

Dass der Mensch – und nachgerade einzig der Mensch – die Anlage zu extremer Brutalität und Gesetzlosigkeit hat, verschweigt Midgley eben nicht, und in diesem Sinne ist der Mythos, der besagt, dass es im Menschen etwas Derartiges gibt, wieder nicht ganz falsch.29 Das hat nur laut Midgley nichts mit dem inneren Tier zu tun, sondern vielfach gerade mit der Unterdrückung sozialer Instinkte, aber auch mit suboptimalen Umweltbedingungen. Mit der Subsumption all dessen, was in der Geschichte des Menschen zweifellos beklagenswert ist, unter den Begriff des Tierischen gerät aber just das aus dem Blick, was Ordnung und ein gedeihliches Miteinander möglich macht. Übersehen wird dann auch, dass der Kontext zumindest mitbestimmt, wie menschliche Verhaltensformen im konkreten Fall zu bewerten sind. Aggression und die Bereitschaft, sich auf eine Auseinandersetzung über Güter, materielle oder immaterielle, einzulassen, ist mit einer Vielzahl an Praxisformen verbunden, die nicht einfach als schlecht zu bezeichnen sind – von der Kritik über Sport bis hin zu politischen Auseinandersetzungen (auf das Thema Wut gehe ich in Kapitel 7 ein).

Die Aufgabe, anzuerkennen, dass der Mensch auch ein Tier ist, muss aber mehr beinhalten als kontextspezifisch oder kulturrelativ Ausprägungen menschlichen Sozialverhaltens zu loben oder zu verurteilen, wenn daraus eine hilfreiche Form der normativen Anthropologie werden soll. Tatsächlich meint Midgley ja, dass uns unsere Tierlichkeit eine Ordnung jedenfalls zu einem Teil vorgibt.30 Was kann das heißen?

Midgleys Gedanken berühren sich insofern mit dem Ansatz der quietistischen Essenzialist*innen, als sie die Eigenschaft, sozial organisiertes Säugetier zu sein, für Menschen für nicht verhandelbar hält.31 Sie geht darüber aber pragmatisch hinaus, weil sie sich nicht nur für die Begrenzungen, sondern auch für die Möglichkeiten der menschlichen Natur interessiert und weil sie, statt von Aristoteles und Thomas von Aquin herkommend, von Darwin und Aristoteles ausgeht. Darüber hinaus nimmt sie, insbesondere in Bezug auf das tierethische und -politische Feld, eine interessante Sonderstellung ein, da bei ihr die natürliche Tendenz des Menschen, das Eigene und mithin die für die eigene gehaltene Art zu bevorzugen, in einem produktiven Wechselverhältnis zu dem als ebenso natürlich begriffenen Interesse für das Fremde und mithin auch für nicht menschliche Arten steht.32 Dass die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren ethisch und politisch relevant sind, begründet sie weniger mit dem Rückgriff auf biologische Verwandtschaft, sondern mit dem Blick auf Sozialität und geteilte Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften umfassen nicht nur die intendierten Hausgemeinschaften von Menschen und Hunden, sondern auch die Gemeinschaften, die wir unbeabsichtigt mit anderen Arten und auf ganz unterschiedliche Weisen pflegen. Dabei geht es Midgley nicht um die Einteilung von Tieren in „wilde“ und domestizierte. Auch mit nicht domestizierten Tieren sind sozial wichtige und sogar ökonomisch zentrale Beziehungen möglich.33 Ich widme mich später der Frage, wie wir als gemeinschaftsbildende, politische Tiere auch andere Tiere nicht nur moralisch, sondern ebenso politisch anerkennen können.

Um aber die Aufgabe, richtig Tier zu werden, zu konkretisieren, lässt sich hier abschließend eine Formel ergänzen, auf die Richard Rorty durch Deweys Spätwerk gebracht wurde. Rorty spricht davon, dass der Mensch in Deweys Werk als eine weitere Art sichtbar wird, die eben genau das tut, was sie am besten kann.34 Die Bezeichnung: „Nur eine weitere Spezies, die ihr Bestes gibt“, wählt er, weil bei Dewey der Mensch als spezifisches Tier verstanden wird, das heißt als Organismus Mensch, der in einer sozialen und natürlichen Umwelt Probleme meistern muss. Dafür muss er seine tierliche Ausstattung zur Anwendung bringen, und Dewey spricht hier von der lebendigen Kreatur („live creature“), aus deren Perspektive sich erst erschließt, um welche Erfahrung es pragmatisch geht.

Zu dieser Ausstattung zählen qua Sozialwesen erstens soziale Institutionen wie Kultur, Moral und Politik. Hier wird Wissen generiert, und zwar auf soziale Weise, nicht von erkennenden Monaden. Zweitens zeichnen sich Sozialwesen wie der Mensch dadurch aus, dass die Individuen Probleme nicht schon und nicht ausschließlich sprachlich vermittelt begreifen, sondern dass sie vorbegrifflich affiziert werden, wenn es ein Problem gibt. Es gibt eine qualitative Dimension des Denkens. Menschen können beispielsweise wissen, dass es ein Problem gibt, weil sie den realen Zweifel spüren. Midgley würde vielleicht sagen, dass man buchstäblich riechen kann, wenn etwas stinkt. Dabei muss der Zweifel noch nicht einmal kulturell, moralisch oder politisch anerkannt und artikuliert sein – das ist kein Ausweis nutzlosen Querulantentums, sondern zu erwarten, wenn es darum geht, etwas zu klären, was noch nicht gewusst wird.

Diese Klärungen vollziehen sich dann aber in einer Gemeinschaft. Ein Zweifel ist nicht dann schon legitim, wenn ein Individuum ihn sich in den Kopf gesetzt hat. Menschen haben in der Geschichte der Menschheit auch davon profitiert, dass sie bestimmten Zweiflern und Mahnern gerade nicht gefolgt sind. Bei der von validierten Problemwahrnehmungen ausgehenden gemeinschaftlichen Suche nach Lösungen spielen dann weitere Aspekte eine Rolle, die den Menschen als ein besonderes Tier ausweisen. Diese Aspekte sind gewisse zu Tugenden gewordene Leidenschaften; Peirce nennt sie „logische Sentimente“ und ich erkläre sie in Kapitel 6 genauer. Sie können aber hier schon einmal einen Optimismus konkret machen, den es pragmatisch braucht: Menschen müssen der jeweiligen Erkenntnisgemeinschaft verpflichtet sein, sprich: Sie müssen an das Projekt gemeinschaftlicher Problemlösung und wechselseitiger Kritik glauben, sie müssen einander als Gleiche begegnen und das Problemlösen mit einer gewissen Selbstlosigkeit betreiben, und sie müssen dabei hoffen, dass es letztlich wirklich etwas zu erkennen gibt.

Diese Tugenden sind in der Erforschung von Problemen wirkmächtig und sollen in den Wirrnissen, die das moralische Leben auch emotional mit sich bringt, Orientierung verschaffen, und zwar, weil diese Art von Erkenntnis, auch in Form von Ethik und Politik, für den Menschen ein Erfolgsprojekt gewesen ist. Da aber andere Tiere die längste Zeit nicht von diesen menschlichen Institutionen und der Art und Weise, wie Menschen in ihnen ihre Emotionen prozessieren und kultivieren, profitiert haben, geht es im nächsten Kapitel zunächst darum zu zeigen, warum Ethik ein mehr als nur menschliches Projekt sein sollte.

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