Читать книгу Mit Gold gepflastert ... - Marc-Christian Riebe - Страница 8
Ein Blick zurück
ОглавлениеElbing in Westpreussen, am gleichnamigen Fluss gelegen, bezeichnete mein Vater stets als «Schmuckkästchen»: Zahlreiche gotische Kirchen, hübsche Giebelhäuser, ein sehenswertes Markttor, der masurische Oberländische Kanal … Das Haus und Geschäft «Alter Markt 53» gehörte meinem Urgrossvater, dem Goldschmiedemeister Johann Augustin Cyrus Riebe (1863-1945). Er bot unter anderem «Alfenidewaren» an, eine Mischung aus Kupfer, Zinn und Nickel, bei der es sich um eine Art Neusilber handelte. Deshalb stand über dem Laden: «AUGUST RIEBE Gold, Silber & Alfenidewaaren». Waaren mit zwei aa geschrieben. Und unter den Fenstern des zweiten Stocks hiess es noch einmal schlicht: Augustin Riebe. Er war ein Meister seines Fachs und bildete im Laufe der Zeit zahlreiche Goldschmiedegesellen aus, die noch heute in Schriften erwähnt werden.
«Um das Bein nicht amputieren zu müssen, wurde es gekürzt.»
Einer seiner Söhne war Leo Josef Riebe, mein Grossvater. Er arbeitete zunächst als Goldschmiedelehrling und später als Geselle bei seinem Vater. In den 1930er Jahren machte er sich selbstständig und eröffnete sein eigenes Juweliergeschäft in der damals umbenannten Adolf-Hitler-Strasse, zuvor Innerer Mühlendamm. Infolge der Weltwirtschaftskrise musste ein Unternehmer nach dem anderen Insolvenz anmelden, auch mein Urgrossvater wurde zahlungsunfähig, und das schmucke Haus «Alter Markt» musste zwangsversteigert werden.
Leo Riebe, sein Vater beziehungsweise mein Grossvater, war behindert. Das hatte nicht wirklich Auswirkungen auf das Zusammenleben, sollte sich später sogar als hilfreich erweisen. Wie es dazu gekommen war? Leo hatte als elfjähriger Junge mit seinen Freunden auf der Schlittschuhbahn Schabernack getrieben und sich das linke Schienbein angeschlagen. Er verschwieg zunächst das Unglück, bis die Wunde zu eitern begann. Um das Bein nicht amputieren zu müssen, wurde es gekürzt. Die Operation musste fürchterlich gewesen sein, denn sie geschah mangels Narkosemitteln ohne Betäubung. Er wurde kurzerhand auf eine Pritsche geschnallt und konnte nur hoffen, dass der Chirurg schnell und sicher in seinen Handgriffen war. Seither trug er einen Spezialschuh mit Schiene. Das war schon schlimm genug. Doch der Eiter hatte sich bereits durch seinen Körper gefressen. Sein rechtes Auge war angegriffen worden. Es lief aus und musste durch ein Glasauge ersetzt werden.
Juweliergeschäft von Augustin Riebe in Elbing, Westpreussen
Der Zweite Weltkrieg machte auch vor Elbing nicht halt. Die Russen rückten näher und mein Grossvater Leo bereitete im November 1944 die Flucht der Familie vor. Oma Gertrud, im Freundeskreis Lache-Trudchen genannt, weil sie ein sonniges Gemüt hatte und immerzu gute Laune versprühte, brach mit den Kindern Gernot C., dem Zwillingsbruder Manfred sowie Tochter Erdmute mit dem Zug Richtung Westen auf. Die Reise war als «Besuch bei Freunden» getarnt, bei Menschen, die es tatsächlich gab und die Familie erwarteten. Mein Grossvater, der wegen seiner Behinderung als Berufsschullehrer eingesetzt und zwangsverpflichtet worden war, sollte weiterhin die Stellung halten. Er erlebte später das ganze Ausmass einer überstürzten Flucht und brach erst gen Westen auf, als die Russen im Januar 1945 die Stadt mit Kanonen beschossen und die ersten Panzer Kurs auf Rathaus und Innenstadt nahmen.
Über Steglitz, Burg und Magdeburg gelangten sie alle gemeinsam nach Ostberlin. Von dort flohen sie nach dem Krieg in den Westsektor, wo mein Grossvater in Wilmersdorf eine Zweizimmerwohnung organisiert hatte. Ein Glück und eine Rarität. Das Leben, der Stolz, eine Zukunft – alles war unter enormen Trümmerbergen begraben. Zurück blieb nur die Pflicht des unbedingten Weitermachens, und der kamen meine Grosseltern beherzt nach.
«Eines Tages entdeckte Leo ein freies Ladengeschäft direkt am Konstanzer Bahnhof»
Grossvater Leo machte sich keine unnötigen Gedanken. Er vertraute auf sich und sein Können. Von Prophezeiungen oder gar Zukunfts-voraussagen hielt er nicht viel, auch wenn er sich für Astrologie interessierte. Über dieses Interessengebiet kam er mit einer Wahrsagerin in Kontakt, die ihm voraussagte, bald an ein «grosses Wasser» zu gelangen. Nun gut, er war Segler, er konnte schwimmen, so abwegig war das nicht. Eines Tages las er in der Zeitung das Inserat einer Geschäftsfrau, die einen kleinen Uhrenladen in Konstanz am Bodensee abzugeben hatte. Danach ging alles sehr schnell: Ausweispapiere besorgen, Wohnung auflösen, die Kinder aus der Schule nehmen und die Anfahrt organisieren.
Bald standen sie wieder am Bahnhof Friedrichstrasse, diesmal auf der richtigen Seite, nämlich im Westen. Es war der Tag der Abreise. Die Taschenuhr meines Grossvaters tickte. Die Zeiger rückten stetig voran. Alles an ihm war angespannt und freudig erregt. Sie würden in eine neue Zukunft aufbrechen. Wahrscheinlich war er glücklich. Ja, er war glücklich.
Ich weiss nicht, in welcher Form die Familie erstmals in Kontakt mit Einheimischen kam. Doch als der Zug durch den Schwarzwald fuhr, wunderten sie sich, weil sie kein Wort verstanden und dachten, sie seien im «Urwald». Das mag eine seltsame Beschreibung sein für eine Sprache, vo uugfähr zäe Millione Mänsche gredet wird. I de Schwyz kennt mers als Schwyzerdütsch, z Frankriich heissts Elsässerditsch. Aber klar, Alemannisch klang zunächst fremd für eine Familie, die gewohnt war, Hochdeutsch zu sprechen.
Die Sprache stellte womöglich das Hauptproblem und den Grund dar, warum sie sich in Baden-Württemberg fremd fühlten, als Aussiedler eben. Selbst bei der Einschulung war sie ein Hindernis. Den Kindern fehlten Französischkenntnisse, mit Russisch, das sie als erste Fremdsprache gelernt hatten, konnten sie im Westen nichts anfangen. Sie wurden zwei Klassen zurückgestuft – eine herbe Enttäuschung. Aber auch die Bevölkerung ging nicht immer sanft mit den Zuwanderern um. Und wenn es Hart auf Hart kam, war man schnell dabei mit einem: «Dann geht halt dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid!»
Grossvater galt als sympathischer, freundlicher und umtriebiger Mensch. Ein Mann der Tat eben. Er kümmerte sich um eine Unterkunft, brachte den Uhren- und Schmuckladen auf Vordermann und trat dem Verein Bodan-Badenia bei, einem Vorläufer des heutigen «Sinfonischen Chores Konstanz», Er gab als Tenor sein Bestes.
Nun endlich schienen die Riebes in der Konstanzer Gesellschaft angekommen zu sein. Doch sie waren arm. Jedenfalls im Vergleich zu den anderen Familien, die weder Heimat noch Besitz verloren hatten. Die Stadt war von den alliierten Bombenangriffen aufgrund der Nähe zur Schweizer Grenze verschont geblieben.
Mein Grossvater hatte kein Vermögen und auch keine finanziellen Rücklagen, doch er besass ein Ladengeschäft, Schmuck und Wertgegenstände. Trotzdem war Geld immer knapp. Grossvater erhielt keinen Bankkredit, vor allem, weil er schwerbehindert war. Der Einkauf lief Ware gegen Wechsel.
Dem schmalen Budget musste sich so manch notwendige Anschaffung beugen. Und da sich meine Grosseltern keine Sicherheitsgitter vor den Schaufenstern leisten konnten, legten die Kinder abends die wertvolleren Gegenstände in Samtetuis, packten sie in einen Rucksack und brachten das kostbare Gut mit dem Fahrrad nach Hause.
Eines Tages entdeckte Leo während einer seiner Streifzüge durch die Stadt ein freies Ladengeschäft direkt am Konstanzer Bahnhof. Es war sechzig Quadratmeter gross und viel repräsentativer als das alte. Obwohl er über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügte, entschied er, den Laden zu übernehmen und ausbauen zu lassen. Das Geld hierfür beschaffte er, indem er sich seine angesparte Rente auszahlen liess.
Das neue Geschäft war schön, hell und geräumig. Leider fehlten auch hier die Schutzgitter, sodass mein Vater, damals vierzehn Jahre alt, in den Räumen übernachtete. Freiwillig, wie er mir gegenüber immer wieder versichert hat.
Der Schmuckladen lief gut. Grossvater verkaufte viele preiswerte Sachen: Andenken, Silberlöffel mit Wappen und Ähnliches. Obwohl keine Miete gezahlt werden musste (die Deutsche Bundesbahn als Vermieter bekam zehn Prozent vom Umsatz), war Geld im Hause Riebe nach wie vor knapp. Leo arbeitete deshalb zusätzlich als Lehrer an verschiedenen privaten Handelsschulen, während seine Frau sich um den Verkauf kümmerte. Nach der Schule halfen die Kinder mit und später kamen zwei Lehrlinge hinzu.
Zum Dienst fuhr Grossvater wegen seiner Behinderung mit einem Spezialrad. Einmal im Winter rutschte er aus. Oberschenkelhalsbruch. Für das Geschäfts- und Familienleben eine Katastrophe.
Meinem Opa, kein Mann des Stillstands, fiel eines Tages ein stattliches Haus in der Bahnhofstrasse auf, das ihm gut gefiel. Er behielt es im Blick, und als sich die Möglichkeit bot, es anzumieten, griff er zu und liess das Erdgeschoss umbauen. So entstand ein grosses, repräsentatives Ladengeschäft mit rund zweihundert Quadratmetern. Ein enormer Fortschritt gegenüber dem vorherigen, da er jetzt sehr viel mehr Ware präsentieren konnte, was gesteigerten Umsatz und höheren Gewinn versprach.
Und dann verstarb mein Grossvater Leo Josef Riebe mit einundsechzig Jahren an einem Herzinfarkt, möglicherweise auch Hirnschlag. Jedenfalls an einer plötzlichen, lebensbedrohlichen Erkrankung, Vielleicht hätte man ihm helfen können. Doch es hielt sich niemand in der Nähe auf, der einen Krankenwagen hätte rufen können. Und meine Grossmutter war dank des Mütter-Genesungswerks zur Kur. Eine Verstrickung unglücklicher Umstände.
Die Trauer der Hinterbliebenen galt nicht nur einem Mann, der seine Familie über alles geliebt hatte. Sie galt auch einem frechen Kerl, der einst von der Schule geflogen war und es dennoch als Multitalent und Autodidakt zu beträchtlichen beruflichen Erfolgen gebracht hatte. Er war ein Genie, eine Person mit herausragenden Talenten auf vielen Gebieten gewesen, sei es als Gold- und Silberschmied, Lehrherr und Ausbilder, als Pädagoge, Juwelier, Fotograf, Sänger, Klavier-, Bratsche-, Cello- und Orgelspieler, als Dirigent, Organisator, Segler und Schwimmer, Hobbyastrologe, Skat- und Schachspieler, Laienrichter und Schöffe, Mitglied im Bodan-Badenia-Männerchor, Vorsitzender der Heimatvertriebenen Konstanz. Dazu ein begnadeter Redner, Familienmensch und stolzer Vater dreier Kinder. Er besass eine blitzschnelle Auffassungsgabe, viel Idealismus und eine Menge Ideen. Er war allseits bekannt und beliebt. Ein Kerl, von dem mein Vater stets mit Stolz erzählt, und den ich, hätte ich ihn kennengelernt, bestimmt von Herzen gemocht hätte. Eines haben mein Vater und ich jedoch gemeinsam: Respekt für einen Mann, der trotz Invalidität seine Talente genutzt und niemals aufgegeben hat!
Meinem Vater, der eine Banklehre abgeschlossen hatte und in der Schweiz arbeitete, ging der Tod meines Grossvaters sehr nahe. Ich glaube, dass er sich von dem Moment an verantwortlich fühlte. Was würde mit dem Juweliergeschäft geschehen, von dem das Wohlergehen der Familie abhing? Seine Mutter bat ihn, zurückzukommen und den elterlichen Betrieb in Konstanz weiterzuführen. Sicher hatte mein Vater andere Pläne. Vielleicht war ein Nein auch nicht so einfach auszusprechen, wie es geschrieben steht. Und dann sein Pflichtbewusstsein im Andenken an den Vater. Also sagte er Ja, auch wenn das Geschäft hoch verschuldet war und von Gewinn erst einmal keine Rede sein würde.
Er entwickelte sich zu einem arbeitsamen, fortschrittlich denkenden Geschäftsmann, neuen Verkaufsideen gegenüber aufgeschlossen. Sein Engagement endete abrupt, als seine Mutter ihn eines Tages zur Seite nahm und meinte, nun müssten sie daran denken, die beiden Geschwister auszuzahlen. Was hier zunächst logisch klingt, löste bei meinem Vater grosses Unverständnis aus. Er war, wie er mir später erzählte, unter der Bedingung aus der Schweiz zurückgekommen, das Geschäft einmal zu übernehmen! Hätte er seine Geschwister ausbezahlt, wäre seine bisherige Arbeitsleistung umsonst gewesen. Er hätte bei null beginnen müssen, was einem Neuanfang gleichgekommen wäre.
Das frustrierte ihn, anders kann ich es nicht sagen. Acht Jahre lang hatte er alles für das Familienunternehmen gegeben, auch, damit seine beiden Geschwister nach dem Tod des Vaters weiter studieren konnten, und jetzt das! Die ganze Angelegenheit hinterliess bei meinem Vater einen schalen Beigeschmack. Er hielt noch ein weiteres Jahr durch. Danach beschloss er, eigene Wege zu gehen, auch weil seine Geschwister auf einer Auszahlung beharrten.
Für meine Grossmutter war das eine unschöne Situation. Doch sie dachte nicht daran aufzugeben, und führte den Laden mit Hilfe einer Fachkraft weiter, die bereits bei ihr in Ausbildung gewesen war. Sie verlegte die Räumlichkeiten von der Bahnhofstrasse 6 in die Bodanstrasse 32. Und als es schliesslich zum Verkauf kam, übernahm sie die Verhandlungen in eigener Regie. Ob wirklich erfolgreich, bezweifelt mein Vater. Er meint, dass den eigentlichen Reibach der Nachfolger mittels «Totalausverkauf» machte. Er hätte verstanden, die stillen Reserven auszuschöpfen, die meine Grossmutter seiner Meinung nach verspielt hatte.
Mein Vater war enttäuscht, wusste jedoch, dass er letztendlich nichts an der Situation ändern konnte. So beschloss er, im zweiten Bildungsweg zu studieren und seinen Abschluss als staatlich geprüfter Betriebswirt zu machen. Darüber hinaus war er mittlerweile verheiratet und Vater von zwei Kindern. Ich als Erstgeborener und mein jüngerer Bruder Gernot C. waren auf der Welt, drei weitere Geschwister sollten folgen.
Ich war sechs Jahre alt, mein Vater hatte sein Studium abgeschlossen und arbeitete als stellvertretender Leiter der Stadtkasse Meersburg, da sah ich ihn eines Tages Wahlplakate von Dr. Horst Eickmeyer anschleppen. Dieser hatte sich als Oberbürgermeister für Konstanz beworben, und mein Vater unterstützte ihn, zumindest in meiner Erinnerung. Denn ich sehe ihn in Gedanken noch vor mir, wie er an Ständen aktiv Wahlkampf macht. Wenige Jahre später kündigte er seine Festanstellung, gründete City-Immobilien- und Wohnbau GmbH, gefolgt von weiteren Unternehmen. Mut zum Risiko lag in unserer Familie, der Wunsch, eigene Ideen zu verwirklichen, Vermögen zu schaffen und gutes Geld zu verdienen.
Davon war ich allerdings noch weit entfernt. Ich hatte als Junge völlig andere Probleme. Zum Beispiel fand ich meinen kleineren Bruder Gernot C., der eineinhalb Jahre jünger war als ich, ziemlich anstrengend. Während unserer Vorschulzeit hängte er sich wie eine Klette an mich, wollte überallhin mit und mit meinen Freunden spielen. Der Beginn eines Konfliktes, dessen Auswirkungen noch heute zu spüren ist.
Aber auch mit den Lehrern kam ich nicht klar, besonders während der Zeit auf dem Gymnasium. Ich denke hier an Frau Dr. R., bei der wir Latein- und Religionsunterricht hatten. Ethik gab es damals noch nicht als Unterrichtsfach, und ich musste mir anhören, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat, die Geschichte von Adam und Eva, dem Sündenfall, der Erbsünde und dergleichen biblischen Geschichten … Ja, ich dachte: Das ist doch völliger Quatsch. Wobei ich mir durchaus Gedanken machte. Diese Unausweichlichkeit der Sünde beschäftigte mich. Ich wollte darüber diskutieren. Wie war es möglich, dass ich als Mensch unentrinnbar von einer göttlichen Erlösung abhängig sein sollte? Und dann die Sache mit Jesus: Wie konnte ein vermeintlich liebender Gott-Vater seinen eigenen Sohn der Folter ausliefern. War das nicht absurd? Hätte Gott die Menschen nicht grundsätzlich so erschaffen können, dass es einer Sühne erst gar nicht bedurft hätte? Oder sollten wir alle einen Schuldkomplex bekommen?
Fragen über Fragen, die unbeantwortet blieben. Dass ich Thesen infrage stellte und Kontra gab, fand meine Lehrerin respektlos. «Jetzt bist du mal endlich ruhig, du frecher Bub!» Solche Sätze musste ich mir anhören. Und wenn sie gar nicht mehr weiterwusste, schickte sie mich eine Viertelstunde lang vor die Tür.
Im Musikunterricht und in Latein lief es ähnlich. Nicht, dass ich hier kritische Fragen gestellt hätte. Diese Stunden waren einfach nur sterbenslangweilig, und ziemlich oft bekam ich einen mahnenden Eintrag ins Klassenbuch, weil ich herumgekaspert hatte oder unkonzentriert gewesen war.
Ich konnte von zu Hause aus tun und lassen, was ich wollte, und ging lieber morgens zum Billardspielen statt zum Schulunterricht. Das fand ich super. Blieb dann aber zum ersten Mal in der fünften und ein zweites Mal in der siebten Klasse hängen. Unter anderem wegen einer Sechs in Latein.
Danach hätte ich die Schule in jedem Fall verlassen oder in ein Internat gehen müssen. Mein Vater suchte Schloss Gaienhofen am Bodensee für mich aus, eine evangelische Internatsschule. Ich wehrte mich mit Händen und Füssen dagegen, appellierte an das Mitgefühl meines Vaters. Ich wollte unbedingt bei der Familie bleiben, wo ich doch sonst mit jedem und allem haderte und nicht gerade zimperlich mit meinen Geschwistern umging. Ich war sogar entsetzt über eine solche Idee, wäre mir «entsorgt» vorgekommen. Ein Internat war für mich so schlimm wie ein Kinderheim. Ich, Marc-Christian Riebe, ein Heimkind, verlassen von Vater und Mutter und völlig allein! Aber vielleicht war es gut, dass mein Vater nicht versuchte, mich mit allen Mitteln von den positiven Seiten zu überzeugen.
«Rufmord!»
Ich blieb in Konstanz. Tante Erdmute, Vaters Schwester, setzte sich für mich ein und erreichte, dass ich nach einer Aufnahmeprüfung beim damaligen Rektor auf die Realschule und dort in die achte Klasse kam. Ansonsten wäre ich auf der Hauptschule gelandet. Frau Hauer, die mich in Mathematik unterrichtete, fand ich super. Sie war nicht so verbissen wie viele ihrer Kollegen und eher locker in der Art. Mit ihr und ihren drei Söhnen fuhr ich morgens öfter in ihrem VW-Bus mit. Schule begann, mir endlich Spass zu machen. Nach einem halben Jahr jedoch wurden die Schüler getrennt. Wir Jungs hatten zu oft rebelliert und die Schulleitung wollte durch das Herausfiltern der Anführer Ruhe in die Klassen bringen. Mich zu besänftigen, schien aber gar nicht so einfach. Ich war auf Krawall eingestellt und musste pro Woche mindestens einmal beim Direktor vorsprechen. Okay, die Lehrer hatten es wirklich schwer mit mir: «Das ist doch Blödsinn, was Sie da erzählen … Ich kann das nicht nachvollziehen … Beweisen Sie mir das mal …» So ging das.
Und dann kam der Morgen, an dem ich als Junge hautnah mitbekam, was «negative Presse» für einen Unternehmer und seine Familie bedeuten kann. Bereits beim Aufstehen lag etwas in der Luft, eine Katastrophe. Dabei wollten wir Geschwister mit unserem Vater in den Migros Supermarkt nach Kreuzlingen fahren, wie jeden Samstag. Das Wetter an diesem milden Apriltag hätte nicht besser sein können, dazu schulfrei und Wochenende. Am Waschbecken stehend, während des Zähneputzens, hielt ich plötzlich inne. Streit zwischen den Eltern war nichts Besonderes, doch dieser Wortwechsel war heftig. «Das ist Rufmord!», hörte ich Mutter keifen. «Hat der Schmierfink denn nicht bedacht, dass du Vater von fünf Kindern bist?»
Ich spülte den Mund aus, wischte mir mit dem Handtuch übers Gesicht und öffnete die Badezimmertür einen Spalt, um vom ersten Stock nach oben hin besser hören zu können.
«Rufmord! Nun übertreib mal nicht. Ich verdiene mit dem Haus in der Schneckenburgstrasse gutes Geld. Wenn die Mieten wie vereinbart eingegangen wären, wären wir heute …»
«Dort befindet sich ein Puff», fiel ihm Mutter ins Wort, «ein Bordell! Und genau so steht es hier!» Sie klopfte mehrmals auf etwas, wahrscheinlich auf die Tischplatte, und schrie unflätige Worte, die ich akustisch nicht verstand.
Ich war mittlerweile durch das Treppenhaus nach oben gelaufen und stand jetzt im Esszimmer, das gleichzeitig Wohnzimmer war. Meine hkleineren Geschwister, längst wach, spielten Fangen oder kämpften gegen unsichtbare Geister. Gernot C. schlief noch. Die Eltern, einen Moment vorher noch erbost und in Streitigkeiten verwickelt, verstummten, als sie mich sahen.
«Mann, was ist denn hier schon wieder los?» Ich hatte keinen Bock auf ein solches Gezeter. Mutter zögerte, bevor sie eine Antwort gab. Vielleicht überlegte sie, wie sie mich als den Ältesten aus der Sache raushalten könnte. Bei einem Zeitungsartikel mit einem Foto meines Vaters und eindeutiger Überschrift ziemlich hoffnungslos.
«Hier, lies!», sagte sie schliesslich. Und an meinen Vater gewandt: «Marc-Christian ist fünfzehn und kein Kind mehr!» Was so viel hiess wie: Er wird schon verstehen, um was es geht.
«Es geht um sehr viel Geld, um Sex und hohe Mieten»
Streitereien um den «Privat-Club» namens Schneckenhaus – Ein Schweizer will ins Bordellgeschäft
9.4.1988, gro. Der Konstanzer Geschäftsmann Gernot C. Riebe ist in einen gefährlichen Streit um Geld und käuflichen Sex verwickelt worden. Objekt der Auseinandersetzung ist das Haus Schneckenburgstrasse 27. Dort, am Rande des Konstanzer Sperrbezirks, hat sich ein so genannter Privatklub, der Klub Schneckenhaus, etabliert. Ein 33-jähriger Schweizer Handwerksmeister aus Kreuzlingen interessiert sich sehr für das Haus und dessen Frauen. Zusammen mit seinem deutschen Geschäftsführer, einem Dettinger, würde er den Klub ausbauen. Mit von der Partie ist ferner ein Konstanzer Anwalt, der gegen Riebe wegen einer Anzahlung vorgeht. Der Schweizer hatte bei Abschluss des Mietvertrages 20.000 DM hingeblättert.
Mit kleinen Summen hat sich Gernot C. Riebe beruflich zuletzt als stellvertretender Leiter der Stadtkasse Meersburg abgegeben. Aber das ist schon ein paar Jährchen her. Etwa zu der Zeit, da es einen gewissen Dr. Horst Eickmeyer nach Konstanz zog, um dort Oberbürgermeister zu werden, streckte auch Riebe seine Fühler über den See hinaus aus . Zunächst sanierte er das Juweliergeschäft seiner Eltern, dann stieg er ein ins Immobiliengeschäft. Riebe, inzwischen fast 50 Jahre alt, verheiratet und Vater von fünf Kindern, wurde dabei zum Enfant terrible seiner Branche.
Im Vertrauen auf seinen unbändigen Arbeitswillen wagte er sich auch an grosse Brocken – und übernahm sich prompt dabei. Vor knapp vier Jahren ersteigerte er das Haus Schneckenburgstrasse 27. Mit ihm wurde er zu einem Grosskunden des Sozialamts. Fast 20 sonst obdachlose Männer quartierte er bis Juli des vergangenen Jahres dort ein. Einer wohnt immer noch dort. Pro Kopf wurden ihm rund 350 DM bezahlt. Im Erdgeschoss etablierten sich ebenfalls Aussenseiter der Gesellschaft: Frauen, die für Geld zu Liebesdiensten bereit sind. Am wenigsten verdienen dabei die Frauen selbst. Am besten kommt in aller Regel weg, wer die Räumlichkeiten für dieses Gewerbe zur Verfügung stellt. Allerdings hatte Riebe dabei Pech.
Die Geschäftsführerin des Klubs zahlte vergangenes Jahr die vereinbarte Miete nicht. 4.500 DM im Monat für die Klub-Wohnung im Erdgeschoss, und Riebe registrierte schliesslich im Februar dieses Monats einen Einnahmeverlust in Höhe von knapp 30.000 DM. Jene Geschäftsführerin, die Klub-Mutter, die das Haus inzwischen verlassen hat, war von dem Konstanzer Anwalt vertreten worden, der auch jetzt wieder aktiv geworden ist und erneut gegen Riebe vorgeht.
Die 20.000 DM sind nur ein Teil der Summe, um die es wirklich geht. Am 22. Februar war vereinbart worden, dass der Schweizer 200.000 DM als Mietkaution bezahlt. Ausserdem war eine Monatsmiete von 12.000 DM vereinbart worden. Die soll jährlich um 10 Prozent steigen, so dass die Monatsmiete in zehn Jahren sage und schreibe 24.000 DM betragen würde (im Jahr nach Adam Riese rund 290.000 DM). Trotz dieser wirklich grossen Summen waren der Schweizer und sein Dettinger Geschäftsführer seinerzeit mit dem Mietvertrag voll einverstanden. Streit gab es erst Anfang März, weil das Haus nach Auffassung der neuen Mieter, nicht rechtzeitig zum 1. März vollständig fertig renoviert war.
Inzwischen wird mit harten Bandagen gekämpft: Wegen der 20.000 DM hat der Anwalt des Schweizers vor wenigen Tagen einen ‹dringlichen Arrest› gegen Riebe beantragt, eine Art Beschlagnahme des gesamten Vermögens. Vor dem Landgericht Konstanz kam es vorgestern zu einem richterlich empfohlenen Vergleich: Riebe hinterlegt Grundschuldbriefe bei seinem Singener Anwalt, der ‹Arrest› wurde abgewendet. Inzwischen bereitet er, wie er gestern Abend sagte, eine Strafanzeige gegen den Konstanzer Anwalt vor, der ihn, Riebe, systematisch auszuboten versuche, um selbst ins einschlägige Geschäft zu kommen.
Der Schweizer, so heisst es, soll nach wie vor an dem Haus interessiert sein. Das wäre kein Wunder, in der Konstanzer Sex-Branche sind pro Zimmer Tagesmieten in Höhe von rund 100 DM (und mehr) üblich. Das Rechts- und Ordnungsamt hat die gewerbsmässige Prostitution in dem Wohnhaus zwar untersagt. Aber in erster Linie wegen fehlender Stellplätze.
In der Mitte des Textes prangte ein Bild meines Vaters mit folgendem Text:
GERNOT C. RIEBE, 49, gebürtiger Westpreusse, einst stellvertretender Leiter der Stadtkasse Meersburg, eine Zeitlang Leiter eines Juweliergeschäftes. Heute das Enfant terrible unter den Konstanzer Geschäftemachern. Ein Anwalt will ihm jetzt ans Leder. Mit heftigen Auseinandersetzungen ist zu rechnen.
Ich verstand nicht wirklich. Für mich war das alles nur Schmutz, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Ich hatte schon während des Lesens begonnen, mich zu schämen, bei all den für mich schlimmen Wörtern, die in dem Artikel standen. Wir hatten innerhalb der Familie nie über Sex, schon gar nicht über käuflichen gesprochen, eigentlich wusste ich noch immer nicht, was Sache ist, und jetzt das!
Nachdem ich den letzten Satz gelesen hatte, kam ich mir vor, als würde ein bösartiges Wesen mir unaufhörlich in die Magengrube boxen. Erbarmungslos. Noch nie hatte ich mich so blossgestellt gefühlt, obwohl es ausschliesslich um meinen Vater ging. Doch wir waren eine Familie, gehörten unweigerlich zusammen. Meine Mitschüler würden mich fertigmachen, das war klar: «Riebe, Zuhälter-Sohn … Lude … Puff-Riebe …» Tränen der Wut stiegen mir in die Augen. Ich konnte das Grauen, das mich erwartete, förmlich spüren. Mein Bruder Gernot C., der von den Turbulenzen wach geworden und aufgestanden war, noch viel mehr. Er weigerte sich am Montag, in die Schule zu gehen. Ging auch am nächsten Tag nicht. Schloss sich acht Wochen lang in seinem Zimmer ein, und kam nur kurzzeitig heraus, um im Badezimmer zu verschwinden oder etwas zu essen.
Und ich? Ich spürte auf dem Schulweg jeden Schritt in meinem Magen, in meiner Brust. Das kotzte mich an. Die ersten Mitschüler, denen ich begegnete, wollte ich am liebsten ignorieren. Dann ging es auch schon mit der Häme los, ganz so, wie ich es befürchtet hatte. Plötzlich kam der Aussiedler-Status wieder hoch. Wir waren doch nur Zugereiste, Flüchtlinge, und von denen konnte man nichts anderes erwarten als «käuflichen Sex» und «unseriöse Geldgeschäfte». Das hatten die Eltern ihren Kindern übers Wochenende schon beigebracht. Sicher fanden sie die Klamotten, die ich von einem meiner Cousins auftrug, auch nicht gerade lässig, und erst recht nicht die Sachen, die Oma für mich und meine Geschwister nähte. An diesem Morgen kam ich mir wirklich vor, wie der letzte Penner, dazu mit einem Puffvermieter als Vater. Für mich ging an diesem Tag die Welt unter, so sehr schämte ich mich.
Vielleicht rächte sich jetzt, dass ich in der Schule aufsässig war und keinen Bock hatte. Die Lehrer nahmen mich, den «Porno-Riebe», nicht in Schutz. Zwei sprachen mich sogar süffisant darauf an, wo der Puff denn eigentlich sei. Das kränkte mich zusätzlich. Nein, es machte mich geradezu wütend. Doch in die Fresse hauen konnte ich denen ja nicht.
Am nächsten Tag stand in der ersten Stunde Religion auf dem Lehrplan, gefolgt von Latein, beides bei Frau Dr. R., mit der ich nun wirklich nicht konnte. Ich kaufte mir ein Fleischkäsebrötchen beim Metzger mit roter, eingelegter Paprika darin, ass erst einmal in Ruhe und spielte anschliessend Billard in meiner Lieblingskneipe. Während der ersten Pause schlich ich mich ins Klassenzimmer. Diesmal prahlte ich gegenüber meinen Klassenkameraden nicht, geschwänzt zu haben, statt über die Reden und Briefe Ciceros zu philosophieren. Meine Welt hatte sich verändert. Ich wusste nicht mehr, wer Freund oder Feind war. Für mich gab es nichts. In der ganzen beschissenen Welt gab es keinen Platz, wo ich mich akzeptiert fühlte. Es war die Hölle. Und wo steht überhaupt, dass dieser unselige Ort aus Feuer bestehen muss?
Mit Abstand betrachtet frage ich mich, ob mein Vater meinen Bruder und mich – die Kleinen bekamen noch nicht mit, was lief – nicht hätte zur Seite nehmen und sagen können: «Also passt mal auf Jungs. Das mit dem Zeitungsartikel ist nicht schön, aber schlimm ist das auch nicht. Solche Etablissements gibt es in jeder grösseren Stadt, in Zürich, Mailand, Paris, London. Ich gehe mit euch mal in so ein Bordell rein, damit ihr seht …» Und so weiter. Vielleicht wären wir den Anfeindungen gelassener begegnet. Tante Erdmute, die mit dem Journalisten auf der gleichen Uni gewesen war, redete mit ihm. Ach, was sage ich. Sie liess ganz schön Dampf ab. Doch was nutzte das? Der Artikel war geschrieben, veröffentlicht und von den meisten Konstanzer Bürgern gelesen worden.
Mein Vater ging cool mit der ganzen Sache um, sah die Anfeindungen pragmatisch und sich sowieso als Einzelkämpfer. Wer stand schon auf seiner Seite, und welchen Ruf gab es hier eigentlich zu ruinieren? Es kam nur ein lässiges Achselzucken von ihm. Fakt war: Er hatte das Haus Schneckenburgstrasse ersteigert und vermietet, betrieb das Etablissement also nicht selbst. Pech, dass die Thailänderinnen, die im Erdgeschoss in besagtem «Privatklub» arbeiteten, sich allzu offensichtlich aus den Fenstern lehnten, sozusagen die rote Laterne raus stellten. Den männlichen Autofahrern und Fussgängern gefiel das. Der Nachbarschaft, darunter zahlreiche Familien, weniger, zumal das Haus am Rande des Sperrbezirks lag. Es wurde Anzeige erstattet und dabei festgestellt, dass das Freudenhaus seitens des Betreibers behördlich nicht genehmigt war. So kam der Stein ins Rollen. Als dann die Mieten ausblieben, wurde es für meinen Vater finanziell eng. Na ja, der Rest stand in dem Zeitungsartikel.
Hätte der Journalist weiter recherchiert, was Gott sei Dank nicht passierte, hätte er festgestellt, dass Vater in der Emmishofer Strasse einen Sex-Shop betrieb. Der gehörte ihm bereits, als er noch in Meersburg Angestellter gewesen war. In dem Laden wurden Filme vorgeführt und Erotikartikel verkauft. Dabei hatte Vater nicht gesagt: Ich will unbedingt einen Sex-Shop haben! Doch der Mieter, der den Laden zunächst führte, geriet in finanzielle Bedrängnis. Die Geschäftsführung übertrug er seiner Freundin, einer Asiatin. Ab da gingen die Mietzahlungen schleppend und auch nicht in voller Höhe ein. Sie vermietete an einen Osteuropäer unter, was bedeutete, mein Vater sah überhaupt kein Geld mehr. Ihm stand das Wasser bis zum Hals. Er hatte das Haus ersteigert, saniert und musste für Schuldzinsen und Tilgung geradestehen. Er war auf die Mieteinnahmen angewiesen.
Als Mann der Tat dachte er sich: Da gehe ich doch mal schauen, wie der Laden so läuft. Er stellte sich etwas abseits und beobachtete den Geschäftsverkehr, betrieb eine Marktstudie, wenn man so will. Der Sex-Shop lief nach seinen Recherchen bombig! Somit war für ihn klar, dass er das Geschäft ab sofort selbst betreiben würde, anstatt ständig ausstehende Mieten anzumahnen. Er heuerte einen Zweimetermann an, der so gross war, dass er kaum durch die Eingangstür passte. Der schmiss den Kerl, der an der Kasse sass, kurzerhand raus, nahm ihm den Ladenschlüssel ab und beschlagnahmte die Tageseinnahmen als Aufwandsentschädigung für die nicht gezahlte Miete.
Hier passierte all das, was mir als Junge mit Sicherheit peinlich gewesen wäre. Heute allerdings entlockt es mir ein … sagen wir … anerkennendes Lächeln. Man mag über ein solches Verhalten denken, wie man will. Doch eines steht fest: Mein Vater hat sich nicht unterkriegen lassen.
Aber, die Streitigkeiten zwischen meinen Eltern nahmen dramatisch zu. Die Folge: Mein Vater und meine Mutter trennten sich, räumlich zumindest, auch wenn der eigentliche Trennungsprozess sehr dauern sollte.
Meinem Vater ging es zu jener Zeit gesundheitlich schlecht. Er erlitt zuerst einen Schlaganfall und später einen Herzinfarkt. Er war nur wenige Wochen im Krankenhaus und packte danach gleich wieder mit an. Trotzdem war geschäftlich so einiges auf der Strecke geblieben. Ich glaube, ihm fehlten die richtigen Mitarbeiter. Leute, die ihn wirklich entlasteten, anstatt ihm zusätzliche Probleme zu bereiten.
Er geriet in einen finanziellen Abwärtsstrudel, musste zwangsweise Immobilien verkaufen, hielt jedoch mit Sex-Shop und Bordell, Etablissements, die meine Mutter für absolut inakzeptabel hielt, die Familie über Wasser. Das, so glaube ich, hat sie psychisch nie verkraftet.
Meinen persönlichen «Abwärtstrend» konnte ich gerade noch aufhalten und schaffte die mittlere Reife, wenn auch mit Ach und Krach. Dann aber brach ich die elfte Klasse ab und bewarb mich bei der Bodensee-Schiffsbetriebe GmbH, die mich auch einstellte. Der Verdienst war super gut, insbesondere durch die Samstags- und Sonntagszulagen. Während ich voll dabei war, also frühmorgens die Toiletten putzte, Lautsprecher-ansagen machte, Fahrkarten kontrollierte und nach Einarbeitung die Strecke mitfuhr, arbeitete mein Freund Markus ausschliesslich nach der Schule und in den Ferien an Bord. Ich weiss nicht, ob er damals schon zielstrebig eine vielversprechende Karriere anpeilte, doch er wurde später leitender Banker bei einem renommierten deutschen Geldinstitut. Zudem sagte er mir mehrmals eindringlich, beschwor mich geradezu, dass ich mich auf eine Sache konzentrieren und hierin der Beste werden solle. Nur so würde ich im Leben erfolgreich sein.
Das tangierte mich damals noch nicht, denn ich fand meine Arbeit auf dem Schiff echt cool und den Verdienst für mich als Achtzehnjährigen sensationell. Okay, das Toilettenputzen war abscheulich. Es gehörte dazu. Ich machte mir nicht allzu viel daraus, bis auf einmal: Wir beförderten eine Gruppe Behinderter und die Damen-Toilette war anschliessend mit Hygienebinden verstopft. Es kam alles hoch und der Sanitärbereich entwickelte sich zu einer Kloake, durch die ich nur mit hohen Gummistiefeln waten konnte.
Während der Wintermonate half ich, die Schiffe für die nächste Saison klarzumachen, besserte Lackschäden aus und jätete Unkraut an der Kaimauer. Nach einem halben Jahr allerdings fruchteten Markus‘ Worte und es wurde mir klar, dass ich dabei war, meine Zukunft zu vermasseln. Ich begann eine Ausbildung zum «Kaufmann in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft» bei meinem Vater. Die Vergütung gegenüber der Schifffahrt war echt bescheiden, und ich bediente abends im Restaurant Volapük, um mir überhaupt etwas leisten zu können. Mein Vater kapierte einfach nicht, dass ich auch bei ihm nach Feierabend gejobbt hätte, wenn er mir entsprechend spannende Aufgaben übertragen und mich besser bezahlt hätte. Auf seinen Grill-Imbiss, den er neben seiner Immobilienfirma, dem Copyshop und ich weiss nicht, was alles betrieb, hatte ich echt keine Lust. Zum Putzen sonntags waren wir Geschwister, als wir noch klein waren, zwar immer mitgegangen, doch ich hatte mich damals schon geweigert, mit anzufassen. Der Fettgeruch war widerlich.
Das Immobilienbüro meines Vaters an sich war schon garstig genug mit den roten Vorhängen vom Sex-Shop. Kein Scherz! Nun könnte man sich fragen, warum ich mich nicht woanders beworben hatte? Ganz simpel: Weil ich dachte, es nimmt mich mit dem Namen Riebe eh keiner. Dazu kam mein nicht gerade berauschender Notendurchschnitt.
Nach eineinhalb Jahren kriselte es bei mir, und das lag nicht nur an den puffroten Vorhängen, die ich mir jeden Tag ansehen musste. Die Kündigung war bereits per Post verschickt, und ich hatte einen neuen Arbeitsvertrag der Stadtwerke Konstanz für die Fähre Konstanz-Meersburg in der Tasche. Da schaltete sich meine Grossmutter Gertrud ein und meinte energisch: «Marc-Christian, du ziehst die Lehre jetzt durch! Und ich will dir was sagen, für diesen Rat wirst du mir eines Tages danken.» Ich kündigte die Vereinbarung mit der Bodenseeschifffahrt, fing die Post ab und zerriss die Kündigung an meinen Vater. Nach dem Motto «Augen zu und durch» brachte ich die nächsten eineinhalb Jahre hinter mich. Und tatsächlich, ich bin meiner Oma dankbar für den Rat und heute froh, ihn befolgt zu haben.
Eine kleine Episoden ist mir haften geblieben: Bevor sie an Krebs verstarb, besuchte ich sie auf der Intensivstation. Dass ihre Augen nicht mehr wie früher funkelten, die Kraft aus ihrem Körper gewichen war und sie uns Kindern keinen unverwüstlichen Halt mehr geben konnte, berührte mich stark. Die fremden Gerüche im Raum, der nahende Tod und die schlechte Luft taten ihr Übriges. Ich schaffte es gerade noch, mit schleppender Stimme: «Oma, es geht mir nicht gut!», zu sagen und haute ab. Draussen auf dem Flur fing mich mein Vater auf. Ich hoffe, meine Grossmutter hat ihren Kopf nicht über mein Verhalten geschüttelt. Es war meine letzte Begegnung mit ihr.
Meine Oma hätte sich bestimmt gefreut, wenn sie noch mitbekommen hätte, dass ich die Ausbildung bei meinem Vater erfolgreich abgeschlossen hatte. Gar nicht so schlecht, könnte man jetzt sagen, wäre die Atmosphäre im Büro nicht voller undefinierbarer Vorahnungen gewesen. Und dann kam er, der Gerichtsvollzieher. Er setzte den Kuckuck auf den Tresor und mein Vater musste einen Offenbarungseid – heute Eidesstattliche Versicherung – leisten. Die Geschichte wiederholte sich. Mein Urgrossvater war in den 1930er Jahren in Westpreussen mit seinem Juweliergeschäft pleitegegangen. Mein Grossvater hatte ebenfalls alles verloren und war danach zum Schuldienst verpflichtet worden. In den 1960ern fing er in Konstanz noch einmal von vorne an. Jahre später wieder eine Krise. Und nach seinem Tod musste meine Oma das Geschäft weiterführen, bis mein Vater den Laden auf Vordermann brachte. Jetzt griff mein Bruder Gernot C. ein. Er hatte ebenfalls bei unserem Vater gelernt, obwohl er viel besser in der Schule gewesen war als ich. Er hätte ohne Probleme sein Abitur machen und studieren können. Aber gut, er hatte es sich nicht ausreden lassen, nun war er Retter in der Not.
Was mich betraf, so arbeitete ich mittlerweile bei der Allianz Grundstücks GmbH in München. Während des Vorstellungsgespräches war ich unglaublich nervös gewesen. Auch weil ich von der Abschlussfeier bei der Berufsschule mit meinen Kollegen aus Pforzheim noch leicht angeschlagen war. Ich hatte den Termin sogar einmal verschoben. Schweissnasse Hände, unkontrollierter Blutdruck, Herzklopfen … Als letzter Kandidat von zahlreichen Bewerbern dachte ich: Das wird sowieso nix! Doch sie nahmen mich.
In München bei einem so renommierten Unternehmen zu arbeiten, und das mit meinen 23 Jahren, bedeutete für mich die grosse weite Welt. Keine Frage, ich schien meinem Ziel, viel Geld zu verdienen und ein gutes Leben führen zu können, ein ganzes Stück näher gekommen zu sein.
Ich lebte im Stadtteil Obermenzing bei einer geschiedenen Physiotherapeutin und ihren zwei Töchtern zur Untermiete. Sie waren Bhagwan-Anhänger, huldigten «Rajneesh» Chandra Mohan Jain, der sich später kurz Osho nannte. Er lehnte jedes Glaubenssystem ab, betonte den Wert der authentischen eigenen religiösen Erfahrung, sah in Jesus einen Rebell und behauptete, Gott sei nichts als eine Erfindung des Menschen. Opium für das Volk sozusagen. Mir war das egal. Mir gefiel die Gastfreundschaft dieser Leute und allzu lange würde ich nicht in München bleiben. Ich strebte nach mehr, und ich erkannte: Ohne das Abi kommst du nicht weiter.
Ich kehrte nach Konstanz zurück, meldete mich für das Fachabitur in Radolfzell an. Das Schulbankdrücken war ein hartes Jahr. Als ich mich unter anderem in Mathematik von einer Fünf auf eine Zwei hocharbeitete, konnte ich nur erahnen, was mich an der Fachhochschule an Disziplin und Einsatz erwarten würde. Was das Studium betraf, entschied ich mich für Bremen, verbrachte zwei Auslandssemester in Leeds und machte ein weiteres Praktikum bei Husky Injection Molding Systems SA in Luxemburg. Eher zufällig hörte ich von ERASMUS, einem Programm für Bildung, Jugend und Sport der Europäischen Union, das Kompetenzen und Beschäftigungsfähigkeiten verbessern und das berufliche Engagement voranbringen sollte. Ich bewarb mich, gab meinen Praktikumsplatz in Luxemburg an und wurde gefördert. Zusammen mit der Zahlung von Husky hatte ich reichlich Geld, für damalige Verhältnisse zumindest. Trotzdem waren die Mieten in Luxemburg für mich unbezahlbar, und ich wohnte während dieser Zeit einige Kilometer entfernt in Trier.
Nachdem sowohl Praktikum als auch Studium in Bremen und Leeds beendet waren, kam ich über meine damalige Freundin Charlotte beziehungsweise unseren gemeinsamen Freund Adrian, der heute bei Reckitt Benckieser, einem weltweit agierenden Hersteller von Reinigungsprodukten in Amsterdam, beschäftigt ist, zu Ernst & Young (EY) in Mannheim. Ich machte zunächst ein weiteres Praktikum unter Thomas Müller, einem Partner der Mannheimer EY-Niederlassung, und lernte bei einem Mandat den Neffen des gleichnamigen Firmen-Patriarchen Richard Engelhorn, Andreas Hilgenstock, kennen. Er kam gerade vom Stuttgarter Department-Store Breuninger und bereitete sich, gemeinsam mit seinen Cousins, auf seine neue Rolle als «Unternehmensleiter» vor. Zu dieser Aufgabe gehörte der richtige Umgang mit Zahlen, und das brachte Thomas ihm bei.
Mein altersschwacher VW-Passat hatte gerade den Geist aufgegeben und Andreas Hilgenstock verkaufte mir für 15.000 D-Mark seinen anthrazitfarbenen BMW 525 Diesel Kombi. Dieser Wagen, wow! Er war für mich nach Ende meines Studiums und dem gerade frischen Eintritt in die Berufswelt ein absolutes Highlight. Ich wohnte teilweise noch in Bremen und die wöchentliche Fahrt nach Mannheim und zurück machte mir mit diesem schicken Wagen nichts mehr aus. Glücklich und etwas überdreht bretterte ich mit 230 Sachen die Autobahn entlang. Ein junger Kerl, der glaubte, dass ihm die Welt gehört!
Ich fuhr damals nicht nur gerne Auto, sondern spielte auch regelmässig Golf. Der Chef der Mannheimer EY-Niederlassung, Alfred Müller (nicht verwandt mit Thomas Müller), war im Vorstand meines Golfclubs Limburger Hof. Immer, wenn ich ihn im Flur des Büros traf, unterhielten wir uns über Birdies, Handycaps und andere Golfdetails. Das machte mir damals schon bewusst, wie wichtig «Sehen und Gesehen werden» ist, um beruflich voranzukommen.
Ob das Golfspiel wirklich mein Ding war, sei dahingestellt. Doch ich spielte nach einem Jahr mit einem Handicap von 26,5 relativ gut und brachte Thomas, wenn es die Zeit erlaubte, in seinem Büro auf einem ausgelegten Kunstrasen das Putten bei. Später vermittelte ich ihm meinen Personal Trainer. Heute ist Thomas Müller Chef von EY Mannheim und traut sich längst, mit seinen Mandanten auf einem richtigen Turnierplatz Golf zu spielen – und das recht passabel.
Bei einer solch renommierten Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft zu arbeiten, hätte ich mir nie zu träumen gewagt. Ehrlich gesagt wundere ich mich noch heute darüber, im positiven Sinn. Nach einem halben Jahr durfte ich nach Frankfurt in die Abteilung Transaction Support, was ich meinem Auslandsstudium zu verdanken hatte. Trotz häufigem Partytreiben hatte ich eine ganz ordentliche Diplomarbeit zum Thema «Leasingbilanzierung gemäss HGB, IAS und US-GAAP» abgeliefert, und das zahlte sich nun aus. In einem internationalen Team von Fachleuten lernte ich nicht nur, Bilanzen richtig zu lesen, Jahresabschlüsse zu prüfen und Verkaufstransaktionen vorzubereiten, sondern vor allem richtig Englisch. In Leeds hatte der Gebrauch der englischen Sprachen höchstens zehn Prozent ausgemacht. Mein Verständnis für Zahlen nahm also zu. Endlich! Denn sowohl während meiner Schulzeit als auch während des Studiums waren mir die abstrakten, mathematischen Formeln völlig fremd geblieben. Erst durch Due-Diligence-Mandate, die beim Kauf von Unternehmensbeteiligungen oder Immobilien für die «gebotene Sorgfalt» bei Risikoprüfungen stehen, machte es bei mir Klick. Plötzlich verstand ich den Zusammenhang zwischen Statistik, Stochastik, Rechnungswesen, BWL und VWL.
Das wohl eindrücklichste Mandat, an dem ich mitwirken durfte, war die Prüfung im Auftrag der France Telecom für deren Beteiligung von Orange an Mobilcom in Büdelsdorf bei Kiel. Dabei handelte es sich um eine Firma des Unternehmers Gerhard Schmid. Die uns vorgelegten Unterlagen waren alles andere als transparent, ein Prüfungsauftrag, den wir eigentlich nicht mit gutem Gewissen durchziehen konnten. Es lagen keine nachhaltigen Zahlen bereit und die France Telecom stand vor einem 4,7-Milliarden-Scherbenhaufen. Drei Jahre später wurde die 28,5-prozentige Beteiligung der Franzosen dann auch an das Private-Equity-Unternehmen Texas Pacific verkauft, was zumindest von den Aktionären positiv bewertet wurde.
Das alles waren die Sorgen der anderen. Für mich lief es ziemlich gut und wie am Schnürchen, doch dann kam die Fusion mit Arthur Andersen und die Mandate und Teile des Unternehmens wurden neu strukturiert. Zahlreiche Mitarbeiter hatten nichts mehr zu tun. Auch bekam Probleme, zumal ich einen japanischen Klienten hatte, dessen amerikanische Ex-Arthur Andersen Kollegen mir ihre US-Arbeitsweise aufdrücken wollten und verlangten, von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends in der Firma zu sein. Da ich mich nicht unterordnen wollte und auf deutschen Gepflogenheiten beharrte, auch weil ich eine lange Anfahrt hatte, bekam ich eine Verwarnung und über den Sommer hin keine neuen Mandate mehr. Spätestens da fand ich, dass es Zeit sei für einen Wechsel.
Laut Vertrag hatte ich eine Kündigungsfrist von einem halben Jahr. Die wollte ich aber nicht einhalten und bot dem verantwortlichen Chef an, mir lediglich drei Monate meines Gehaltes zu zahlen und mich im Gegenzug früher gehen zu lassen. Er willigte ein, und ich fuhr mit leichtem Gepäck in meine alte Heimat zurück. Ich dachte an eine grosse berufliche Zukunft. An mögliche Konflikte, die dort auf mich warten könnten, dachte ich nicht.