Читать книгу Kopfsprung ins Leben - Marc Lindner - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеÜberall war es dunkel. Ab und an sah ich ein Licht aufblitzen. Mein Körper fühlte sich schwer an. Meine Schritte waren im Dunkeln unsicher. Ich fühlte mich, als ob ich gar nicht weiter kam, als würde ich etwas mit schleifen müssen. Immer wenn ich glaubte auszumachen, wo das Licht herkam, entschied sich dieses aus einer anderen Richtung aufzublitzen. Ich war wütend und hilflos.
Mal hörte ich Schritte neben mir, mal entfernt oder es war völlig still. Auch wenn ich rief, bekam ich keine Antwort. Ich wusste, dass ich nicht allein war und doch war ich es.
Ich öffnete die Augen. Plötzlich war alles hell. Nein, grell und blendend. Das Licht brannte in meinen Augen. Es brannte sich in mein Hirn und mein Kopf drohte zu platzen.
Wieder hörte ich Schritte. Doch diesmal halten sie in meinem Kopf wider. Als würde ein Hammer auf einen Amboss schlagen, dröhnte es in meinem Schädel.
Die Sonne brannte mir ins Gesicht. Ich verfluchte sie. Mein Kopf rutschte von meinem Arm und schlug auf Fliesen. Ein Schlag, und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er selbst ein Amboss.
Ich versuchte mich aufzurichten, um wieder die Kontrolle zu erlangen.
Aber vergebens. Meine Hand rutschte kraftlos über die Fliesen hinweg.
Ich schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Erinnerungsfetzen flogen vor meinen Augen vorbei. Mir wurde trunken und übel. Mein Mund war ganz verklebt und ich hatte Durst. Das brachte mich auf einen Gedanken und mir wurde schlagartig noch schlechter. Ich hörte Gelächter, dann wurde es still. Mein Magen verkrampfte und ich riss die Augen auf. Wieder durchflog ein Blitzgewitter mein Gehirn.
Willenlos gab ich mich dem Schmerz hin. Als er nachließ drehte ich meinen Kopf und erkannte, dass ich nicht weit entfernt vom Pool lag.
Jedes Bild schmerzte. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte in die Sonne. Schmerz explodierte in meinem Kopf und schüttelte meinen ganzen Körper. Ich verfluchte die Schritte, die mich verfolgt hatten. Ich verfluchte so vieles und doch starrte ich nur in die Sonne und genoss den Schmerz. Obwohl ich ihn spürte, merkte ich, wie er einen Teil von mir betäubte.
Erneut hörte ich Schritte. Der Boden vibrierte. Ich wollte, dass diese Illusion aufhörte, und richtete meinen Oberkörper auf. Ein Schatten bewegte sich. Abermals explodierte mein Kopf. Es war ein Fehler gewesen und ich wusste es. Ich zuckte zusammen und mein Oberkörper kippte zur Seite. Ich musste würgen, doch ich leistete dem Drang, mich zu übergeben Widerstand. Erneutes Schütteln ergriff mich, als ich es hinunter schluckte. Es brannte im Hals. Erschöpft ließ ich meinen Kopf hängen. Ich versuchte mich zu beruhigen, und mich zu sammeln. Ich schüttelte den Kopf. Doch dieser erinnerte sich sogleich daran, dass das in meinem Zustand keine gute Idee war. Ich schloss die Augen und blieb auf einen Arm gestützt auf der Seite liegen.
Eine Weile geschah nichts und ich sah keinen Anlass, mich zu bewegen. Dann endlich bekam ich den Schatten zu Gesicht. Es war Jane. Sie schien von mir keine Notiz zu nehmen oder nehmen zu wollen. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Und doch sah ich ihre ausdruckslose, starre Miene. Pflichtbewusst und stumm. Sie hatte mich schon oft so angesehen. Als würde sie durch mich hindurchschauen.
Bevor ich den Gedanken gefasst bekam sie anzusprechen, war der Schatten wieder verschwunden. Zurück blieb ein Haufen Verwirrung und das Gefühl eines sich drehenden Bodens. Ich kannte es zur Genüge, und hasste es. Ich starrte gegen die Hauswand und versuchte den Eindruck zu ignorieren.
Die Augen schließen konnte ich auch nicht, es machte es nur noch schlimmer. Ich musste etwas tun, meine Gedanken wegschicken, sie zum Schweigen bringen. Mein Magen verkrampfte, als sich Erinnerungen hervorkämpften.
Jane eilte an mir vorbei und suchte das Chaos zu beseitigen. Meine Augen folgten ihren raschen Schritten. Die grelle Sonne leuchtete in jeden Winkel und ließ erahnen, welch ein Unwetter hier gewütet haben musste. Aber viele Spuren waren bereits beseitigt und Janes entschlossener Gang sprach Bände.
Als sie an mir vorbei ins Haus eilte, war sie voll beladen mit großen Kisten überfüllt mit leeren Flaschen. Unter ihrem Arm waren verloren gegangene Badetücher geklemmt und über ihren Rücken hing eine pralle Mülltüte. Mir öffnete sich der Mund. Und weg war sie. Sie irritierte mich mit ihrer Geschwindigkeit. Wieder war da etwas, das ich nicht fassen konnte.
Es war als hätte sich die gesamte Welt verschworen, eine nicht aufzuhaltende Eigendynamik zu entwickeln. Das trunkene Gefühl meiner Sinne griff auf meine Gedanken über und zeichnete eine verworrene fremde Welt. Obwohl ich auf dem Boden lag, fand ich keinen Halt.
Schlürfende Schritte rissen mich in diese Welt zurück. Verwundert drehte ich mich um und sah zwei Gestalten aus einer Hecke herausstolpern. Leises Kichern ertönte, während sich das Pärchen gegenseitig stützte und wenig gradlinig am Garten entlang zum Vorhof taumelte. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie von mir keine Notiz nahmen. Dass ich mich reflexartig geduckt hatte, war völlig unnötig gewesen.
Der Abend hatte also nicht nur bei mir Spuren hinterlassen. Ich grinste zufrieden, und musste es augenblicklich mit einem Schub Kopfschmerzen sühnen.
Als der Schmerz nachließ war Jane wieder zugegen, und räumte unbeirrbar das Schlachtfeld auf. Wo nahm sie nur die Kraft her? Mir war es gar zu viel mich zu erheben und sie war gegen jede Erschöpfung immun.
„Wo kommst du her?“, fragte ich, als sie erneut an mir vorbeischritt.
Sie setzte an stehen zu bleiben, entschied sich dann doch anders. Es sah aus als würde das Bild kurz rucken. Aus der Ferne wäre ihre Reaktion unsichtbar geblieben.
Ich war überfordert. Auflodernde Wut lähmte meine Gedanken. Was bildete sie sich nur ein? Doch noch bevor die Wut mich vollends ergreifen konnte, schämte ich mich dafür. Ich hatte ungewollt einen wunden Punkt getroffen. Meine Frage sollte meine Bewunderung vermitteln, doch gesendet hatte sie nur Hass. Ich wollte dieses Missverständnis aus der Welt schaffen, doch ich war zu erschöpft. Jane blieb im Haus und ließ ihre Arbeit draußen unvollendet.
Lange stierte ich auf die Tür und hoffte sie würde rauskommen. Doch um ehrlich zu sein, ich wusste, dass sie nicht kommen würde. Und ich wusste warum.
Es war mein Vater. Es kam nicht oft vor, dass er wütend war, aber manchmal fanden die gleichen Worte den Weg aus seinem Mund. Die gleichen Worte, aber nicht die gleiche Frage. Bei weitem nicht. Es war nicht einmal eine Frage.
Ich stierte die offene Tür an und hörte meines Vaters Stimme heraus hallen. Wo kommst du her? Was hast du hier zu suchen? Geh doch zurück in dein Land, wenn es dir nicht gefällt. Du hast hier nichts zu suchen.
Ich kämpfte gegen die Übelkeit an, die mich zum Würgen brachte. Ich wollte nicht. Es ging gegen meine Würde. Ich wollte nicht auch noch die letzte Kontrolle verlieren.
Ich rang um Atem. Mein Hals war ganz trocken und kratzte.
„Jane?“ Jane kam nicht. Sie wäre auch nicht gekommen, wenn sie das Flüstern gehört hätte.
Erschöpft legte ich meinen Kopf auf die Fliesen. Es wurde dunkel vor meinen Augen und ich schlief ein.
Ein Schatten huschte an mir vorbei. Vollkommene Stille umgab mich und verwirrte meine Gedanken. Es wirkte so irreal in der roten Welt in der ich gefangen war. Dabei war ich mir absolut sicher, dass die Welt einen Augenblick zuvor noch schwarz gewesen war. Meine Gedanken vermochten das Rätsel nicht zu lösen.
Bedächtig öffnete ich die Augen und musste blinzeln. Gleißendes Licht blendete mich, bevor ich erkannte, dass ich immer noch am Pool lag. Von einem Schatten war nichts zu sehen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick wandern, ohne dabei aber meinen Kopf zu bewegen. Dort wo ich es erkennen konnte, waren die Spuren der vergangenen Nacht beseitigt. Nur noch unliebsame Erinnerungen kündeten von dem Partygetöse.
Unvermittelt trat Jane an mir vorbei. Ich hatte ihre Schritte nicht gehört und so sanft, wie sie ihre Schritte setzte, war das auch so von ihr gewollt.
„Wo ...“, flüsterte ich und musste husten.
Jane beschleunigte ihre Schritte und war sogleich verschwunden.
Ich erinnerte mich an meinen Fehler und wollte ihr hinterher eilen. Aber das ging nicht. In meinem Kopf begann es von Neuem zu hämmern, noch bevor ich ganz aufgestanden war. Ich blieb stehen und dehnte meinen Rücken in der Hoffnung ich könnte den Schmerz vertreiben. Wenigstens meine Haltung wollte ich wahren und blickte mich ausgiebig um. Überall war es blendend hell und die Erinnerungen an die letzte Nacht wollten nicht hierhin passen.
„Wo komme ich denn her?“ Ich drehte mich im Kreis und fand keinen Platz zum Halten. Mir wurde schwindlig und ich stolperte ein paar Schritte in Richtung Tür und klammerte mich an die Wand um nicht zu kippen. Ich brauchte einen Moment um zu verschnaufen. Drinnen kam mir, nach der blendenden Sonne, alles dunkel vor. Ich hörte Glas klirren und wusste dass Jane im Keller zu Gange war. Ich überlegte ob ich warten sollte bis sie wieder hoch kam. Doch so energisch das klang, wie sie bei der Arbeit war, glaubte ich, dass das noch eine ganze Weile dauern würde.
Deshalb stieß ich mich leicht von der Wand ab und hangelte mich am Esstisch vorbei in Richtung Treppe. Die Geräusche wurden lauter. Nach einem etwas längeren Blick auf die Bar folgte ich den Stufen nach unten.
Ich fühlte mich wie in einem schlechten Traum. Meine Beine bewegten sich unsicher und ich vermochte sie nicht zu kontrollieren. Meine Hände strichen über die Wand, als wäre ich ein Einbrecher. Und es war mir, als hätte ich nicht das Recht dort hinunter zu gehen.
Ich stand bereits eine Weile unten an der Treppe bevor Jane meine Gegenwart bemerkte. Sie hielt mitten in der Bewegung inne, ohne sich aufzurichten oder auch nur umzudrehen.
Ein Zittern ergriff meinen Körper und ich drückte beide Hände hinter mich gegen die Wand, damit sie mit dem Zittern aufhören sollten.
Ich wollte etwas sagen, doch ich wagte es nicht. Da waren so viele Worte, so viele die nur falsch zu verstehen waren. Ich selbst verstand sie nicht. Ich wünschte ich könnte schreien, damit ich all das Schweigen nicht hören musste. Jane wollte sich in Luft auflösen, doch es gelang ihr nicht.
Der Moment schien festgefroren. Keiner bewegte sich. Ich konnte spüren wie sie in Gedanken den Raum hinter sich ausmaß. Doch es führte kein Weg an mir vorbei. Die Seitentür nach außen war mit Getränkeboxen zugestellt. Sie musste still mit sich fluchen, dass sie die dort abgestellt hatte. Zu allem Überfluss stand ich so dicht an der Treppe, dass sie nicht berührungslos an mir vorbei kommen konnte.
Zu der Einschätzung musste sie auch eben gekommen sein. Ich beschäftigte mich seit einer Weile mit dem Gedanken einen Schritt zur Seite zu gehen, konnte mich aber nicht entscheiden.
Jane drehte sich um und ihr Mund lächelte. Sie gab nicht vor überrascht zu sein. Sie nickte mir grüßend zu, bückte sich und schnappte sich eine Kiste mit Gefrierelementen. Ihre Schritte wirkten sicher als sie auf mich zukam.
Endlich tat ich den Schritt zur Seite.
„Es tut mir leid.“
Sie betrat eben die Treppe.
„Ich wollte nicht.“
Sie ging weiter nach oben.
„Wir räumen lieber noch ein bisschen auf, bevor dein Vater kommt.“
Ich blickte mich um und sah auf den Turm voll Müll den der gestrige Abend hinterlassen hatte.
Als ich erneut zur Treppe sah, war Jane bereits verschwunden. Schwerfällig arbeitete ich mich die Treppe hoch.
Jane stand hinter der Bar und wischte nass auf. Wo sie den Eimer so schnell her hatte, blieb mir ein Rätsel. Sie wandte mir den Rücken zu und war eifrig dabei zu schrubben. Dennoch war von Hektik bei ihr nichts zu erahnen.
Sie bewegte sich wesentlich schneller und flinker als es ihrem Körperbau entsprach. Ich hörte Vaters Stimme.
„Die Putze putzt“, pflegte er zu sagen, wenn er sie so sah.
Dabei lachte er stets leise, als würde er sich für seine Wortkombination bewundern.
Ich hielt mich an der Wand fest. Es war so ungerecht.
„Du kannst die Kisten hinunter tragen.“ Jane blickte mich kurz an und zauberte ein neues Tuch aus ihrer Schurze hervor und nebelte den Spiegel mit ihrer Sprühflasche ein.
Ich ließ meinen Oberkörper nach vorne kippen und stützte mich am Tresen ab. Am anderen Ende der Bar standen drei Kisten mit leeren Flaschen. Ich nahm eine Kiste und ging zur Treppe. Es kam mir vor, als wären alle Flaschen gefüllt, so schwer wog es in meinen Armen. Das Gehen fiel mir noch schwerer. Als ich die ersten Stufen hinter mir hatte, erkannte ich den Fehler. Es war keine Hand frei, um mich an der Wand abzustützen. Stehen bleiben konnte ich auch nicht mehr. Mein Oberkörper zog mich nach unten. Doch auch so kam ich nicht weit. Meine Beine verloren den Rest Kontrolle, den sie noch hatten. In dem verzweifelten Versuch das Gleichgewicht zu wahren, setzte ich die Füße schneller ab. Doch diese entwickelten eine Eigendynamik, derer ich nicht gewachsen war. In der Hälfte der Treppe kippte mein Körper endgültig nach vorne. Meine Füße verloren den festen Boden unter sich. Die Kiste entglitt meinen Händen und flog in einem hohen Bogen nach unten. Mein Oberkörper schlug schmerzhaft auf und kippte zur Seite. Die restlichen Stufen rollte ich unkontrolliert in die Tiefe. Zusammen gekauert blieb ich liegen. Lautes Klirren schallte mir entgegen, während viele der Flaschen brachen. Die Scherben lagen in einem weiten Kreis verteilt. Mit Alkohol beladener Dunst erhob sich und erweckte unerwünschte Geister in meinem Kopf.
Kleine Splitter glitzerten auf der Erde und mir war es, als wäre das Klirren immer noch zu hören. Die Welt kam nicht zur Ruhe. Überall war Lärm und Schmerz. Ich lag gegen die Wand gerollt auf der Erde. Als ich wieder zur Ruhe kam, horchte ich.
Doch Jane kam nicht nach mir sehen.
Eine Weile starrte ich die Treppe hoch. Dann zog ich mich an der Wand nach oben.
Jane war immer noch am Wischen. Die Stühle waren hochgestellt und der Boden glänzte feucht. Auch wenn sie es bemerkte, so reagierte sie nicht, als ich ihr bei der Arbeit zusah.
Ich konnte mich nicht entschließen etwas zu sagen und senkte den Blick. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, bevor ich glauben konnte, was ich dort sah. Vor meinen Füßen stand ein kleiner Handfeger samt Eimer und Schaufel.
Ich sah Jane nochmals an und gehorchte ihrem Befehl.
Auf allen Vieren rutschte ich über den Kellerboden und sammelte die Scherben auf.
Es war mühselig und nicht selten fand ich unter meinem Knie einen Splitter der mitrutschen wollte.
Mehrmals setzte ich mich auf den Hintern und musste resignierend feststellen, dass Jane das viel schneller und gründlicher tun würde.
So konnte das nicht weiter gehen. Nachdem die meisten Scherben eingesammelt waren, stand ich auf und fasste einen Entschluss. Diesmal würde Jane mich nicht aufhalten. Keiner würde mich aufhalten.
Den Eimer mit Scherben stellte ich direkt neben Jane ab.
„Hier bitte“, sagte ich und reichte ihr den Handfeger.
„Danke.“ Sie musterte mich von oben bis unten.
„Das hast du gut gemacht, mein Junge.“ Alles war wieder wie immer. Den Ton kannte ich gut. Sie war mir nicht mehr böse. Auch wenn ich mich sonst über das fragwürdige Kompliment geärgert hätte, freute ich mich diesmal.
„Jane?“
Sie hielt inne und wirkte etwas angespannt.
„Ich meinte das ernst.“
Sie wurde unruhig.
„Du hast mir nie von dir erzählt.“
„Du hast nie gefragt!“ Sie nahm ihren Wischmopp und ging nach draußen. Dort stellte sie ihn ab, weil sie merkte, dass sie andere Arbeit hatte liegen lassen.
„Hast du auch eine Familie?“
„Ja.“ Jane schüttelte den Kopf.
Ich kam mir so dumm vor. So hatte ich es eigentlich nicht fragen wollen.
„Ich meine da wo du herkommst.“
Jane flüchtete in die Gartenanlage und sammelte unter den Büschen noch die Überreste der Nacht ein.
Diesmal ließ ich sie nicht fort und lief ihr hinterher. Jane zügelte ihre Schritte als sie merkte, dass ich nicht nachließ.
Sie hob die Schultern.
„Jane?“
„Ja.“ Sie blickte mich nur kurz an. „Ja, hab ich.“
„Wo kommst du denn her?“
„Ich wohne auf dieser Insel!“ Sie blieb stehen und drehte sich suchend um.
„Dort.“ Sie zeigte vom Meer weg den Berg hinunter. „Dort unten. Du kannst es aber nicht sehen. Es liegt hinter dem Kaufhaus.“
Jane wollte, dass ich es sah. Sie wich mir nicht mehr aus und drängte mich, ihrem ausgestreckten Finger zu folgen. Ich hörte ihrer Beschreibung zu, auch wenn es mir unmöglich war, mich dort unten in dem Gewusel an Gebäuden wieder zu finden.
„Jane, sei mir nicht böse. Ich meine, wo du wirklich herkommst.“
Sie ließ ihren dunklen Arm resignierend fallen und sah mich an, als würde sie mich bitten die Frage zu vergessen.
Aber ich hielt ihrem Blick stand.
„Ein Dorf bei Yendi“, antwortete sie gepresst. Sie wollte nicht darüber sprechen.
Ich nickte gedankenversunken.
„Wo ist das?“
„Ghana.“ Sie legte ihre Stirn in Falten. „Westafrika.“ Mit einem Seitenblick auf mich ging sie weiter durch den Garten.
„Und bist du schon lange hier?“
„Länger als du lebst.“
Ich rechnete in meinem Kopf.
„27 Jahre.“
„31 und 4 Monate“, antwortete sie fast zeitgleich.
Ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. Aber es war mir gleichgültig. Sie brauchte sich nicht zu rechtfertigen. Ich wollte wissen, wo sie herkam.
„Bitte erzähl mir, wie du hergekommen bist.“
„Das ist keine Geschichte zum Erzählen.“ Sie bückte sich und zog ein nasses Badetuch unter einer Hecke hervor und klopfte den Mulch ab.
„Bitte.“
Sie schwieg.
„Oder erzähl mir von Ghana.“
Mit finsterem Blick wollte sie mich zum Schweigen bringen. Das Lächeln auf meinem Gesicht schien sie dabei zu irritieren.
„Du hast keine Ahnung.“
Obwohl ich damit gerechnet hatte, traf es mich härter, als ich gedacht hätte.
Wieder zog sie davon. Als ich mich erholt hatte, folgte ich ihr und holte sie nach wenigen Schritten ein. Sie wusste sie würde mich nicht mehr loswerden. Schließlich kannte sie mich seit ich auf der Welt war.
„Warum?“, fragte sie und setzte sich auf eine niedrige Wand am Pool.
„Weil“, ich brauchte ein wenig bis ich die richtigen Worte fand. „Weil ich nichts von dir weiß.“
Sie setzte an, mir zu widersprechen. Sie rang mit sich selbst. Dann deutete sie neben sich. Sie gestand sich ein, dass ich wirklich nichts von ihr wusste.
„Was möchtest du denn wissen?“ Sie war es nicht gewohnt über sich zu sprechen.
Ich musste viele Fragen stellen um sie am Reden zu halten. Zunächst gab sie nur wortkarge Antworten, aber als sie merkte, dass ich mich interessierte, gab sie sich Mühe mir eine Vorstellung von ihrem bisherigen Leben zu geben.
Dabei ließ ich meinen Blick nicht von ihr. Sie sah größtenteils vor sich. Nach einer Weile glaubte ich, dass sie vergessen hatte, dass sie mit mir redete.
Dann plötzlich stand sie auf. Sie blieb kurz stehen, als wollte sie noch etwas sagen. Sie schwieg aber und ging fort. Ich war völlig verwirrt. Noch war ich in Gedanken von ihrer Erzählung gefangen. Hatte ich auf etwas falsch reagiert? Was hatte sie gesagt, dass sie nun ging? Oder was hatte sie nicht gesagt?
„Jane?“
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Sie war der Meinung, dass sie mir schon zu viel erzählt hatte. Ihr Rücken war verkrampft.
„Ich möchte dahin!“
Eine Sekunde geschah nichts.
Dann brach sie in Gelächter aus und wandte sich mir zu.
„Junge“, lachte sie und ging weiter und wischte sich die Tränen weg.
„Ich meine das ernst.“
„Sicher.“ Ihr Lachen wurde leiser.
„Jane?“
„Unsinn Junge, du hast keine Ahnung!“
„Und ich geh doch!“
Sie blieb abrupt stehen. Dieser Satz gehörte zu meinem Standardrepertoire. Und sie kannte ihn nur allzu gut. Meistens war er zu hören, kurz bevor ich dabei war eine größere Dummheit zu begehen. Mein Gewissen verriet mir diese Erkenntnis, doch diesmal war ich mir sicher, dass es anders war.
„Du kennst mich“, sagte ich.
Sie nickte widerwillig. „Frag deinen Vater!“
„Ich bin erwachsen!“
„Ein Kindskopf bist du!“ Sie hoffte mich mit dieser Feststellung entwaffnet zu haben und drehte sich um. Glauben tat sie es aber nicht.
„Ich geh deine Familie besuchen.“
„Warum?“
Es gab darauf keine Antworten. Es gab nur diesen Entschluss. Ich musste den Beweis finden, dass mein Leben etwas bedeutete. Und wenn dies nur dadurch möglich war, dass ich ihm Bedeutung verleihen musste, dann war das so. Ich ging nun nach Afrika, dort gab es genug, um eine Bedeutung zu finden.
„Oder möchtest du, dass ich auf mich alleine gestellt ins Blaue reise?“
Sie schloss die Augen und fluchte tonlos. Sie hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera.