Читать книгу Das letzte Bild - Marc Pain - Страница 5
Eine vielversprechende Anzeige
ОглавлениеIch wurde um Punkt 6 Uhr von meinem Handywecker aus dem Schlaf gerissen und fühlte mich fürchterlich. Dass ich gestern noch eine zweite Sektflasche gekauft hatte und dass ich noch so lange wach geblieben bin, bereute ich jetzt zu tiefst.
Nachdem ich die Pausenbrote für meinen Sohn geschmiert und belegt hatte, weckte ich ihn, machte ihn für die Schule fertig und brachte ihn zur Bus-Haltestelle.
Wieder zu Hause stellte ich meinen Handywecker auf 10:30 Uhr und legte mich erneut schlafen.
Der Schlaf hatte mir gutgetan und ich den Kater konnte ich so fast auskurieren. Ich schaltete den PC ein und füllte Kaffee in den Filter der Kaffeemaschine. Als der Computer endlich hochgefahren war, setzte ich mich mit meinem Becher in der Hand vor die Tastatur und rief die Internetseite der Bundesagentur für Arbeit auf, um dort nach freien Arbeitsplätzen zu suchen.
Martin hatte natürlich recht - der Einzelhandel war nicht das Richtige für mich, dennoch schrieb ich alle Stellen heraus, die in eben diese Richtung gingen. Ich hatte meine Ausbildung, leider zur Liebe meiner Eltern, in diesem Bereich gemacht, und weil ich kurz nach Beendigung der Ausbildung Tim geheiratet hatte, und dadurch nur sehr wenige praktische Erfahrungen sammeln konnte, würde es selbst im kaufmännischen Bereich nicht gerade leicht für mich werden, einen neuen Job zu finden. Die einzigen praktischen Erfahrungen hatte ich in den letzten zwei Jahren, nach der Scheidung, in dem Super-Markt von Herrn Friedrichs sammeln können.
Und wer stellte schon gerne eine 31-jährige, alleinstehende Mutter, mit geringer Berufserfahrung ein?, fragte ich und war zugleich frustriert. Doch blieb mir nichts anderes übrig. Nach der ersten Kanne Kaffee kochte ich mir eine zweite, und schrieb weitere freie Stellen heraus, um anschließend die Bewerbungsschreiben zu erstellen. Kopien meiner Abschlusszeugnisse und Lebensläufe hatte ich noch zu Genüge vorrätig.
Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg in das Einkaufszentrum meines Stadtteils, um Bewerbungsmappen und Versandtaschen zu besorgen. Zwar hätte ich noch einiges an Geld sparen können, wenn ich die Bewerbungen als E-Mail versendet hätte – doch rechnete ich mir so größere Chancen auf ein Bewerbungsgespräch aus. Zudem würde ich nicht einfach im Spamordner eines Großkonzerns landen.
Auf dem Rückweg wollte ich zur Post gehen, um die Bewerbungen frankieren und abschicken zu lassen. Ich besaß zwar einen Führerschein doch konnte ich mir kein eigenes Auto leisten. Somit war ich auf Bus und Bahn angewiesen, was in der Stadt nicht gerade von Nachteil war. In den meisten Fällen war man mit der Bahn weitaus schneller unterwegs, als mit dem Auto. Allein die rücksichtslosen und meist grimmig dreinschauenden Fahrgäste gestalteten das Bus- und Bahnfahren nicht wirklich angenehm.
***
Als mein Sohn am Nachmittag heimkehrte, war er zwar verwundert, aber überglücklich mich anstelle von Anneliese anzutreffen. Ich erzählte ihm, dass ich diese Woche nicht arbeiten musste, weil ich mir freigenommen hatte. Dass wir nun den gesamten Nachmittag und Abend zusammen verbringen würden, erfüllte mich genau so mit Freude wie Aaron. Dennoch plagten mich die Sorgen um das Geld für die bevorstehende Miete, die schon in einer Woche fällig sein würde.
Wenn es nicht anders ging, musste ich Wohl oder Übels Lisa um etwas Geld bitten. Was ich äußerst ungern tat.
Herr Friedrichs hatte mich in der letzten Juniwoche gefeuert und ich traute mich kaum zur Bank zu gehen, um einen Blick auf mein Konto zu riskieren. Mein Sohn hatte sich als Belohnung für seine hervorragende Mathearbeit einen Kinobesuch gewünscht. Er wollte sich zusammen mit mir den neuen Harry-Potter-Film anschauen. Ich hab ihm alle Bücher vorgelesen und wir hatten bereits die ersten beiden Filme zusammen gesehen.
In der ersten Woche lag keine Post in meinem Briefkasten. Es hätte mich gewundert, wäre dem nicht so gewesen. Trotzdem schaute ich jeden Tag nach, ob nicht doch eine Antwort auf eine meiner Bewerbungen eingegangen war. Morgen, am Samstag, wollten Aaron und ich ins Kino gehen und ich MUSSTE daher zu meiner Bank und einen Blick auf mein Konto werfen.
***
Es war kurz nach 22 Uhr - mein Sohn lag bereits im Bett. Ich zog mir meine schwarzen Stiefel und den langen braunen Mantel an. Leise schloss ich die Wohnungstür und schritt die Stufen des Treppenhauses hinab. Um zur Bank zu gelangen, musste ich ein kurzes Stück durch einen Park gehen und an einer kleinen Kirche vorbei. Ich hörte den Gospelchor, der ein fröhliches Lied sang. Der Gesang drang durch die geöffneten Flügeltüren nach draußen. Zuletzt musste ich noch eine Ampel überqueren. Während ich am Straßenrand stand und darauf wartete, dass es endlich grün wurde, kam ein älterer Mann dazu und stellte sich ungewöhnlich nah an mich heran. Aus dem Augenwinkel beäugte ich den Herrn, der einen aschgrauen Tweedmantel trug und seine Hände in dessen Taschen verbarg. Sein Mund wurde von einem bordeauxroten Schal verdeckt, den er um den Hals trug. Weil es mir unangenehm war, wie nah er an mich herangetreten war, wich ich einige Schritte zur Seite. Als die Ampel auf Grün sprang und ich einen Fuß auf die Straße setzen wollte, sprach er zu mir: »Quin ultimum simulacrum!«
Ich sah den Fremden verdutzt an. Soweit ich mich nicht irrte, sprach er Latein. Aber warum, und was hatte das zu bedeuten? Ich kannte diesen Mann nicht, dessen war ich mir sicher. Gerade wollte ich fragen, was die Worte zu bedeuten hatten, als er sich umdrehte und einfach wegging. Ich überquerte die Straße, ohne zur Kenntnis genommen zu haben, dass die Ampel mittlerweile wieder auf Rot gesprungen war. Das laute Hupen eines Autos, das nur knapp vor meinem linken Bein zum Stehen kam, ließ mich zusammenschrecken. Was der aufgebrachte Fahrer mir aus dem geöffneten Fenster zugeschrien hatte, vernahm ich nicht mehr und huschte verschreckt über die Straße.
Wer war der geheimnisvolle Mann? Was hatte seine Worte zu bedeuten? Hatte er wirklich mit mir gesprochen?
Ich war verwirrt.
Als ich die Karte in den Bankautomaten schob und meinen Kontostand abfragte, wurde diese Woche noch schlimmer, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Minus 329 Euro zeigte mir das Display an und ich steckte meine Karte in den Kontoauszugsautomaten, um zu sehen, was dieses dicke Minus verursacht hatte.
Vor zwei Wochen hatte ich eine neue Waschmaschine im Internet bestellen müssen und hatte erst im nächsten Monat mit der Abbuchung gerechnet. Wie ich jetzt mit Aaron ins Kino gehen sollte, war mir völlig unklar. Keinen Job mehr, ein dickes Minus auf dem Kontoauszug und ein Fremder, der mir eine Heidenangst eingejagt hatte. Was war nur los?
***
Ich drückte die Klingel mit der Aufschrift: Meyer und nach nur wenigen Sekunden wurde der Türsummer betätigt. Lisa schaute, mit nur einem Bein im Hausflur stehend, aus der geöffneten Wohnungstür heraus und begrüßte mich mit einem warmen Lächeln.
»Es tut mir leid, dass ich so unangemeldet vorbeischneie, doch weiß ich nicht mehr was ich machen soll.«
»Du musst dich nicht entschuldigen – komm schon rein!«
Ich erzählte ihr von dem Kontostand und das ich Aaron den Kinobesuch versprochen hatte. Es tat mir im Herzen weh, dass das Glück meines Sohnes auf dem Spiel stand.
»Wegen des Kinobesuchs brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde dir das Geld dafür geben.«
Wohl fühlte ich mich dabei nicht, Geld von Lisa annehmen zu müssen. Als Friseurin hatte sie nicht gerade reichlich Geld zur Verfügung. Doch wollte ich meinem Sohn auf keinen Fall den Kinobesuch verwehren. Ich blieb noch eine knappe Stunde bei meiner besten Freundin und sie schaffte es erneut mir Hoffnung und Mut zu machen.
Zu Hause schaute ich noch einmal in mein E-Mail-Postfach, doch auch hier waren keine Antworten, auf meine Online-Bewerbungen eingegangen. Ich hatte nicht alle Bewerbungen auf dem Postweg versendet. Das hätte den finanziellen Rahmen gesprengt, der mir ohnehin nicht zur Verfügung stand.
***
Mit dem Geld, welches ich von Lisa bekommen hatte, gingen Aaron und ich am nächsten Tag ins Kino und danach noch in ein kostengünstiges Restaurant. Mein Sohn genoss die Zeit mit mir und ich hätte es auch so gern getan. Jedoch ließen meine Sorgen und quälenden Gedanken dies nicht zu. Das wollte ich Aaron nicht spüren lassen und glücklicherweise gelang mir dies recht gut.
Am Sonntag übernachtete Aaron bei einem Freund, da seine Schule ab dem folgenden Montag in die Sommerferien ging. Ich genehmigte mir wieder einmal zu viele Gläser Sekt und stieß beim Durchsuchen mehrerer Internetportale, auf eine vielversprechende Kleinanzeige. Der Titel der Anzeige lautete: 63-jähriger Mann sucht zuverlässige Haushaltshilfe gegen gute Bezahlung.
Vielversprechend aber auch vielsagend. Ich las mir den kurzen Anzeigetext durch.
Ich, 63 Jahre alt, habe ein großes Anwesen mit Grundstück am Stadtrand (genauere Adressdaten bei Interesse), dem ich allein nicht mehr Heer werde. Ich suche daher eine zuverlässige Haushaltshilfe, die eine gute Bezahlung zu erwarten hat. Außerdem biete ich an, ein Zimmer in meinem Haus zu beziehen, sofern dies von Nöten sein sollte. Keine zusätzlichen Kosten!
Bitte nur ehrlich gemeinte Anfragen.
Die Anzeige wurde gestern veröffentlicht und zählte erst wenige Besucher. Ich wusste zwar nicht was der Herr unter einer guten Bezahlung verstand, doch wollte ich mir diese Chance nicht entgehen lassen und drückte den Button: Auf diese Anzeige antworten und tippte meine Antwort in das kleine Textfeld ein.
Sehr geehrter Herr Riemann, ich antworte Ihnen auf Ihre Kleinanzeige, auf die ich im Internet gestoßen bin. Ich bin 31 Jahre alt und habe einen elfjährigen Sohn. Bis vor Kurzem habe ich als Kassiererin eines regionalen Discounters gearbeitet. Ich hätte gern genauere Angaben zu den Arbeiten, die Sie von mir erwarten würden und wie hoch in etwa die Bezahlung ausfallen würde. Außerdem fände ich es nett, wenn Sie mir sagen könnten, ob es in Ordnung wäre, wenn auch mein Sohn ein Zimmer bei Ihnen beziehen könnte, da ich eine alleinerziehende Mutter bin.
Mit freundlichen Grüßen - Sandra Walkina.
Ich las mir den Text noch einmal durch und drückte dann auf den Button zum Absenden der Nachricht. Die Anzeige wirkte für mich fast zu vielversprechend. Nicht nur, dass ich wieder einen Job hätte, sondern zugleich ein Dach über dem Kopf. Meine Sorgen die Miete nicht bezahlen zu können, die Angst vor dem Stress mit meinem seltsamen Vermieter und die Sorge um Essen für meinen Sohn wären mit einem Mal vom Tisch. Doch machte ich mir keine besonders großen Hoffnungen, da alleinerziehende Mütter es nie leicht auf dem Arbeitsmarkt hatten. Bei meinem Glück war Herr Riemann vielleicht ein Mann der Kinder nicht sonderlich mochte und gerade deswegen lieber eine alleinstehende Frau oder einen alleinstehenden Mann als Haushaltshilfe auswählte. Vielleicht war er auch ein verschrobener Wahnsinniger. Wer kann das schon wissen?
***
Nachdem ich am ersten Dienstag im Juli meinen Sohn von seinem Freund abgeholt hatte, setze ich mich zu Hause an den PC und rief abermals das Postfach auf. Es waren keine neuen Nachrichten eingegangen und ich schloss den Browser wieder.
Auch in den nächsten Tagen fand ich weder im Briefkasten noch auf dem Rechner Rückmeldungen auf meine Bewerbungen. Ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort des Herrn Riemann gerechnet, mir jedoch unbewusst Hoffnungen gemacht. Mittlerweile hatte seine Anzeige mehrere Hundert Besucher und sicherlich waren dort eine Menge Bewerber dabei gewesen, deren Lebensläufe viel attraktiver wirkten, als mein eigener. Ich ärgerte mich, ihm lediglich in wenigen Zeilen geantwortet zu haben. Das war eigentlich nicht meine Art.
Am Ende der Woche rief ich die E-Mails erneut auf - ohne überhaupt noch eine Antwort zu erwarten. Und dennoch wurde eine neue Nachricht angezeigt, im Ordner für unbekannte Nachrichten. Am Absender erkannte ich, von wem sie war: R. Riemann. Mein Herz machte einen Aussetzer. Sofort öffnete ich die Nachricht und las den Inhalt.
Hallo Frau Walkina, ich habe mich sehr über Ihre Nachricht gefreut. Natürlich dürfen Sie ihren Sohn mitbringen, mein Haus ist ohnehin viel zu groß für mich allein. Über die Bezahlung möchte ich nicht so gerne in einer E-Mail sprechen. Ihre Arbeiten wären nichts Außergewöhnliches. Sie müssten mir lediglich dabei behilflich sein mein Haus und Grundstück instand zu halten und ein paar Mal im Monat Einkäufe für mich erledigen. Da ich im letzten Jahr meinen Führerschein abgeben musste, bin ich nicht mehr so mobil, wie ich es mir wünsche. Wenn Sie noch Interesse an meinem Angebot haben, würde ich mich sehr über eine Antwort von Ihnen freuen.
Gruß, R. Riemann!
Mein Herz machte einem Freudensprung, während ich mir die Nachricht ein zweites Mal durchlas. Nach wie vor klang alles viel zu gut in meinen Ohren, doch sagte ich mir, dass ich es auf ein erstes Treffen ankommen lassen sollte. Deshalb beantwortete ich Herr Riemanns Nachricht in drei Sätzen.
Sehr geehrter Herr Riemann, natürlich habe ich noch Interesse und freue mich schon darauf Sie kennenzulernen. Es wäre von daher sehr freundlich, wenn Sie mir ihre Adresse und eine Zeit nennen können, in der ich vorbeikommen kann.
Mit freundlichen Grüßen - Sandra Walkina.
Schon am nächsten Tag hatte ich eine Antwort. Herr Riemann lud mich zum nächsten Wochenende, am Samstagvormittag, auf sein Anwesen ein. Auch Aaron hieß er für diesen Tag herzlichst bei sich willkommen, doch wollte ich meinen Sohn für diese Zeit bei Lisa abgeben, die mir am Telefon zugesagt hatte, sich um ihn zu kümmern.
In der darauf folgenden Woche gingen auch die ersten Ablehnungen auf meine Bewerbungen ein und ein Brief meines Vermieters. Die Miete war aufgrund meines negativen Kontorückstandes zurückgegangen und nun hielt ich die fristlose Kündigung in meinen Händen. Ich hoffte, dass ich am Samstag alles in trockene Tücher bekommen würde und nicht, dass ich nur eine unter vielen Bewerberinnen an diesem Tag sein würde.
Nachdem ich Aaron am Freitagabend zu Lisa gebracht hatte, ging ich mit einem vor Aufregung prickelnden Bauch ins Bett und schlief erst spät ein.