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Tür eins: Das Foto

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Ich erhielt das Foto am 16. Dezember 2002. Es war Montag und die Woche vor Weihnachten. Zwar hatte ich kaum Geschenke zu besorgen und blieb von den hektischen Einkäufen verschont, aber dennoch steckte mich das typisch hysterische Verhalten der Leute kurz vor Weihnachten an.

Ich arbeitete in der Stadtbibliothek von Meltray. Ich war kein Bibliothekar, aber dank Mary Stoleham arbeitete ich seit knapp einem Jahr dort, und so wie es damals aussah, würde ich das auch noch eine Weile tun.

An jenem Morgen war ich zu spät zur Arbeit gekommen. Das hatte den Grund, dass mein Kater (der auf den Namen Igor hörte) irgendetwas mit dem Magen hatte und in der Nacht in sämtliche Ecken meiner Wohnung gekotzt hatte. Auch auf meinem Bettvorleger lag ein schöner Haufen, in den ich fast getreten wäre, als ich schlaftrunken meine Beine aus dem Bett schwang. Also musste ich meine Morgenplanung verwerfen und machte erst einmal die ganze Schweinerei weg. Als ich zur Bibliothek kam, war es nach acht Uhr (normalerweise öffneten wir um acht Uhr). Der kleine Parkplatz vor dem Gebäude war leer, die Lichter hinter den Fenstern brannten nicht und eine kleine Menge wütender Menschen drängte sich am Eingang. Dazu kam noch, dass es schneite, und das schien die Laune der Meute nicht gerade zu bessern. Ich ging auf den Eingang zu und wappnete mich gegen ihre Angriffe. Die meisten Leute kannte ich. Da war Mr. Veltore, der pensionierte Grundschullehrer, in einen dicken braunen Mantel gehüllt, sein kahler Kopf glühte rot, so dass er aussah wie eine kleine, etwas unförmige Stehlampe. Er musterte mich durch seine Hornbrille, als ich näher kam. Er brauchte nichts zu sagen, ich konnte in seinen Augen lesen, was er dachte. Typisch, einfach typisch! Ich friere mir hier den Hintern ab und der Kerl traut sich auch noch, in aller Seelenruhe herüberzuschlendern, als hätte er seinen Spaß daran. Nun, Veltore kannte mich schon seit der Grundschule und seine Meinung von mir war noch nie besonders hoch gewesen.

Ich sah Rita Marlowe, die sich mit einer Frau unterhielt, die ich nicht kannte. Etwas abseits stand ein Junge mit einem Rucksack, der rauchte. Das war Benny Smith, der vermutlich noch seine Hausaufgaben machen musste, bevor er zur Schule ging. Das heißt, eigentlich machte ich seine Hausaufgaben. Er ging in die neunte Klasse, war nicht gerade eine Leuchte, aber ansonsten ganz in Ordnung. Wir hatten eine Abmachung: Ich half ihm bei den Hausaufgaben, lernte mit ihm, damit er die neunte Klasse irgendwie schaffte, und er gab mir jede Woche ein Päckchen Zigaretten dafür. Als er mich sah, hob er eine Hand und winkte halbherzig. Ich winkte zurück. Es standen noch ein halbes Dutzend andere Leute vor dem Eingang und auf den letzten paar Metern zu ihnen legte ich mir die Worte zurecht, die ich sagen würde, bevor sie mir ihre Vorwürfe entgegen brachten.

Mr. Veltore wollte seine Fistelstimme gerade erheben, als ich laut und an alle gewandt sagte: „Entschuldigen Sie bitte, dass wir heute später öffnen. Ich werde Sie in Kürze hereinlassen. Nur noch einen Moment Geduld.“ Ich wartete ihre Fragen nicht ab, sondern kramte den Schlüssel aus meiner Jackentasche, schloss die Haupttür auf und schlug sie hinter mir wieder zu. Von draußen vernahm ich empörtes Gemurmel, aber das war mir einerlei. Zuerst musste ich herausbekommen, was eigentlich los war. Wo waren Martha Timbey und Claudia Hertz, die sonst die Pünktlichkeit in Person waren?

Ich tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür und einen Augenblick später wurde die kleine Eingangshalle von gelbem Licht erhellt, das die billige Kopie eines Lüsters spendete, der in der Mitte der Decke hing. Die Wände waren normalerweise weiß, aber jetzt mit Weihnachtsschmuck behangen: mit lustigen Pappweihnachtsmännern, Rentieren, Schneemännern etc. Ich fand, es sah grauenhaft aus. Aber Martha Timbey bestand nun einmal darauf; wie ein Betrunkener darauf besteht, noch ein Glas Bier zu bekommen, obwohl er es kaum noch halten kann und klar ist, dass er es fallen lassen wird. So sahen auch die Wandbilder aus, die ich gebastelt hatte. Nächstes Jahr würden andere an den Wänden hängen, da war ich mir sicher. In der Mitte der Halle stand ein künstlicher kleiner Weihnachtsbaum, mit Lametta und silbernen und goldenen Weihnachtskugeln behangen. Ebenfalls schrecklich. Ich hätte ihn fast umgerannt, als ich schnellen Schrittes durch die Halle ging und in die Betrachtung der Wände versunken war. Ich erklomm die drei Stufen, die zum eigentlichen Eingang der Bibliothek führten, und schloss die zweiflüglige Eichenholztür auf. Sie führte in den großen Saal, der gewissermaßen das Herz der Bibliothek war. Ich machte auch hier das Licht an und ließ meinen Blick obligatorisch durch den Raum gleiten. Es schien alles in Ordnung zu sein. Bücherregale liefen etwa fünfzehn Meter in Reih und Glied durch den Raum, einen Gang in der Mitte lassend. Davor standen ein paar Tische mit Stühlen. Und davor der Tresen, mit Computer, Telefon und Karteikarten.

Die Bibliothek war ein zweistöckiges Gebäude, grau verputzt und keine Schönheit. Hier unten war der öffentliche Teil und oben das Magazin und Räume für die Mitarbeiter. Eigentlich hatten wir einen recht großen Bestand, aber wenn man bedachte, dass dies die einzige Bibliothek in ganz Meltray war, war der Bestand doch nicht so gigantisch.

Ich brauchte nicht nachzusehen, ob Mrs. Timbey und Claudia oben waren. Erstens, weil ich wusste, dass sie nicht da waren, und zweitens, weil das Telefon am Tresen mich aus meinen Gedanken aufschreckte. Ich ging hinüber und meldete mich förmlich, wie immer, auch wenn ich schon wusste, wer am Apparat war, noch bevor ich abnahm. „Stadtbibliothek Meltray, Thomas Holden am Apparat, was kann ich für Sie tun?“

„Guten Morgen, Mr. Holden“, sagte eine rauchige und verkratzte Stimme. Es war Martha Timbey. „Mr. Holden, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ich bin krank und kann heute nicht kommen. Herbert hat die Grippe und ich habe mich wohl bei ihm angesteckt.“

„Das tut mir leid, Mrs. Timbey.“

„Wie dem auch sei. Ich weiß nicht, wann ich wieder da sein werde. Der Arzt hat mir geraten, im Bett zu bleiben. Und in meinem Alter, Sie wissen ja... Glauben Sie, dass Sie und Claudia ein paar Tage ohne mich auskommen werden?“

„Ja, natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Timbey“, sagte ich.

„Vielleicht bin ich zur Weihnachtsfeier am Donnerstag wieder da. Falls nicht, Claudia weiß, was zu tun ist.“

„Wir werden das schon machen. Das Wichtigste ist, dass Sie sich erst einmal ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Alles andere bekommen wir schon hin.“

„Na gut“, sagte sie, nicht ohne die Spur eines Zweifels in der Stimme. Mrs. Timbey war eine alte, etwas schrullige Frau und außerdem die Leiterin der Bibliothek und das seit etwa drei Millionen Jahren. Sie achtete immer darauf, dass alles so lief, wie sie es wollte. Selbst, wenn es sich nur um eine kleine Weihnachtsfeier für ein paar Kinder handelte, musste alles perfekt sein.

„Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Mrs. Timbey. Und machen Sie sich keine Sorgen.“

Wir verabschiedeten uns und ich legte auf. Dann schaltete ich den Computer an und suchte im Leserverzeichnis die Nummer von Claudia heraus. Aber nach dem zehnten Klingeln legte ich den Hörer wieder auf die Gabel. Im Moment musste ich den Laden alleine schmeißen.

Ich ging ins obere Stockwerk, in unser kleines Büro, drehte die Heizung auf, hängte meine Jacke an den Haken und legte die Tüte, in der mein Frühstück und Mittagessen verstaut waren, auf meinem Schreibtisch ab. Sehnsüchtig sah ich zur Kaffeemaschine hinüber, die auf einem kleinen Abstelltisch stand. Ich hätte dringend noch einen Kaffee gebraucht und außerdem noch eine Zigarette. Aber es ging nicht, ich musste die Meute einlassen, die sich unten gegen die Haupttür drängte. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir trotzdem in aller Ruhe einen Kaffee zu kochen, nur damit sich Mr. Veltore noch mehr ärgern konnte, weil er sich seinen kleinen pummeligen Arsch abfror. Aber ich dachte an Benny Smith, der um neun in der Schule sein musste. Es war zwanzig nach acht.

Ich ging nach unten und ließ die Meute ein.

Etwa um halb zehn war es in der Bibliothek wieder ruhig. Ich saß am Tresen, vor mir eine Tasse Kaffee, und las im National Geographic einen Artikel über die Urvölker Lateinamerikas. Eigentlich war es verboten, innerhalb der Bibliothek zu essen oder zu trinken, aber nachdem ich schon Mr. Veltore hatte ertragen müssen, der sich mal wieder vollkommen daneben benommen hatte, war mir das völlig egal. Den Kaffee hatte ich mir verdient und Martha Timbey war schließlich nicht da. Claudia auch noch nicht, was das betraf. Ich betrachtete zum hundertsten Mal den Spruch, der auf meiner Tasse in knallgelben Buchstaben und einer comicartigen Schrift stand: same shit, different day! Das war gewissermaßen mein Mantra und jedes Mal, wenn ich aus dieser Tasse trank, umspielte ein kleines Schmunzeln meinen Mund. Mr. Veltore hatte sich als erster an den Tresen gedrängt und grimmig darum gebeten, dass ich ihm bis fünfzehn Uhr alle Bücher übers Stricken heraussuchte, die wir dahatten. Ich fragte ihn freundlich, ob das sein neuer Zeitvertreib wäre. ‚Ja, natürlich. Und Weihnachten gibt’s Ostereier und ich verkleide mich als Hase, nachdem ich mir ein schönes Kostüm gestrickt habe. Die Bücher sind natürlich für meine Frau, Mr. Holden. Das wissen Sie genau‘, hatte er mit seiner Fistelstimme zum Besten gegeben. Dann war er, mit hochrotem Kopf, aus der Bibliothek gestürmt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ich musste aufpassen, dass ich nicht lachte. Mr. Veltore war ein Meister unfreiwilliger Komik. Ein kleiner Mann, der immer rot im Gesicht war, eine Glatze hatte und durch eine Hornbrille schielte. Er ließ sich von seiner Frau (eigentlich mehr ein Drache, der zufällig ein halbwegs menschliches Aussehen hatte) herumkommandieren und ließ seinerseits seinen Unmut darüber an anderen aus. Oder versuchte es zumindest.

Rita Marlowe wollte wissen, ob wir das neue Buch von Danielle Steel schon hatten. Ich sagte ihr, dass das der Fall wäre, dass aber die Neuanschaffungen erst nächste Woche zum Verleih freigegeben würden, weil sie noch nicht eingearbeitet waren. Ich versprach ihr, es auf jeden Fall für sie zurückzulegen, so dass sie sich das Buch gleich nächsten Montag mitnehmen konnte.

Es war das übliche Prozedere. Ich nahm Bücher, CDs, Schallplatten, Kassetten, Videos, DVDs zurück und verlieh welche. Das Telefon klingelte in regelmäßigen Abständen. Leute wollten ihre Leihfristen verlängern, fragten, ob wir dies und jenes hätten und gaben Vorbestellungen auf. Ich stellte die zurückgegebenen Medien auf den Wagen, fuhr mit ihm durch die Regale und sortierte alles wieder ein.

Zwischendurch half ich Benny Smith bei seiner Hausaufgabe. Er hatte einen Aufsatz über Moral schreiben müssen. Verlegen hatte er mir sechs Blätter gezeigt, auf denen seine große und unförmige Schrift grässlich anzusehen war. Wir saßen an einem der Tische und ich las den Aufsatz schnell durch. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was ich von seinen Gedanken, geschweige denn von seinen mit Füller durchgestrichenen Worten und den Tintenklecksen hielt. Von den Fettschmierern, die auf jedem Blatt verteilt waren, möchte ich gar nicht reden. Ich holte einen Block, schrieb innerhalb von fünfzehn Minuten vier Seiten und reichte sie ihm wortlos. Ich hatte mich bemüht, seine Gedanken zu beherzigen und nicht allzu ordentlich zu schreiben, aber der Lehrer, den Benny hatte, würde so oder so nicht darauf achten. Benny sah mir erleichtert ins Gesicht. „Danke, Thomas. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte.“ Er griff in eine seiner Jackentaschen und schob mir dann das Päckchen Lucky Strike über den Tisch zu. „Und ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte“, sagte ich. Er lachte verlegen und stand auf. „Ich muss los.“

„Gut, alles klar. Lies es vorher noch mal, nur zur Sicherheit. Und viel Glück.“

Er stolperte tollpatschig aus der Tür und war kurz darauf verschwunden.

Ich nahm gerade einen weiteren Schluck Kaffee, als ich die Haupttür zuschlagen hörte und kurz darauf das Geklapper von Claudias Schuhen vernahm. Mir kam es immer so vor, als hätte sie die lautesten Schuhe der Welt. Daran konnte man sie jedenfalls immer erkennen, wenn man sie noch nicht sah. Ich nahm die Tasse vom Mund und stellte sie so versteckt wie möglich hinter den Stapel Strickbücher, die ich für Veltore herausgesucht hatte. Nicht, dass Claudia sich aufgeregt hätte, ich tat es automatisch, als wäre es eine Art Reflex.

Ihre Erscheinung erhellte sofort die Bibliothek. Das lag nicht etwa daran, dass sie eine besonders schöne oder auffällige Frau gewesen wäre (ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich jemals ein Mann auf der Straße nach ihr umdrehte), sondern viel mehr an ihrer Art. Sie war einunddreißig Jahre alt, eine große und stämmige Frau, mit immer guter Laune. Ihre laute und kräftige Stimme hallte mir augenblicklich entgegen, als sie mich sah. „Morgen, Thomas! Na, wie geht’s, wie war dein Wochenende?“

„Ereignisreich, wie immer“, sagte ich. Ich mochte Claudia und verstand mich gut mit ihr. Außerdem war sie eine Freundin von Mary Stoleham und hatte sich bei Martha Timbey dafür eingesetzt, dass ich in der Bibliothek arbeiten konnte.

„Ja, so siehst du aus“, sagte sie, indem sie näher kam und sich vor dem Tresen aufbaute. In ihrem roten Anorak und den aschblonden langen Haaren, die ihr weit bis über die Schulter hingen, sah sie aus wie die kleine Schwester des Weihnachtsmannes.

„Mrs. Timbey hat vorhin angerufen“, sagte ich. „Sie ist krank, hat die Grippe.“

„Die Ärmste.“

„Ja. Und was hast du bis jetzt getrieben, Claudia? Ich dachte schon, du würdest auch nicht kommen. Ich habe versucht, dich –“

„Ich hatte einen Termin beim Frauenarzt. Ich habe Mrs. Timbey Bescheid gesagt. Hat sie dir nichts gesagt am Telefon?“

„Nein. Und ich habe auch nicht gefragt. Aber ich bin froh, dass du jetzt da bist. Ich hatte heute schon das Vergnügen, einen Auftrag für Veltore auszuführen.“

„Das alte Ekel“, platzte sie heraus. Das brachte mich zum Lachen. Dafür war Claudia immer gut. Sie hatte so eine Art an sich, die Dinge beim Namen zu nennen. Sie verzog das Gesicht so, als ob sie in einen Madenhaufen fassen müsste. „Was wollte er denn diesmal?“

Ich hielt ihr das oberste Buch von dem Stapel entgegen, die ich für das „alte Ekel“ herausgesucht hatte. Es hieß Stricken für Anfänger und der Umschlag zeigte das Bild von fröhlichen Kindern, die mit lachenden Gesichtern ihre Stricknadeln schwangen und im Kreis um einen Tisch saßen, während eine alte gruselige Frau ihnen über die Schulter blickte. „Was ist denn das?“, fragte Claudia. „Wird es dem Alten etwa zu langweilig, andere Leute unfreundlich zu behandeln, oder ist das sein neuer Fetisch?“

„Ist angeblich für seine Frau“, sagte ich. „Er kommt um drei und holt sie sich ab.“

„Gut, das übernehme ich, wenn du nichts dagegen hast. Und der Tresen gehört ab jetzt auch mir.“ Sie lief zur Tür, dann hörte ich ihre Schuhe die Treppe hochklappern. Als sie wieder nach unten kam, ohne Jacke, setzte sie sich hinter den Tresen und war an diesem Platz genau richtig. Ich nahm meine Kaffeetasse und ging nach oben. Dann schnappte ich mir einen Stapel neuer Bücher aus dem Magazin, ging ins Büro und arbeitete sie ein.

Bis zum Nachmittag hatten wir kaum Leserverkehr. Das änderte sich ab zwölf schlagartig. Mir kam es so vor, als käme die ganze Stadt zu uns. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, Bücher herauszusuchen, einzusortieren, alte Männer und Frauen zu den entsprechenden Regalen zu führen, Neuanmeldungen entgegenzunehmen und fiese kleine Kinder davon abzuhalten, Verstecken und Hasche zwischen den Regalen zu spielen. Claudia ging es nicht anders.

Veltore kam pünktlich um drei und holte sich seine Bücher ab. „Bitte sehr, Mr. Veltore“, sagte Claudia. „Ich wünsche Ihnen viel Spaß damit. Stricken ist nicht so schwer, wie es den Anschein hat.“ Sie lächelte auf ihn hinunter und er schaute wie ein Kaninchen zu ihr auf. „Die sind für meine Frau“, sagte er und rang sichtbar um Fassung. Dann warf er mir einen hasserfüllten Blick zu.

„Einen Monat können Sie die behalten. Wenn Sie sie länger brauchen, rufen Sie einfach an. Aber das wissen Sie ja, nicht, Mr. Veltore?“

„Ja“, knurrte er und machte sich schnell auf den Weg zum Ausgang.

„Und grüßen Sie Ihre Frau“, rief Claudia ihm hinterher. Veltore beschleunigte seinen Schritt und ein paar Sekunden später hörten wir, wie er die Haupttür mit einem lauten Krachen zuschlug. Ich schaute Claudia an und sie mich. Sie verzog das Gesicht wieder so, als müsste sie in einen Madenhaufen fassen, und wir mussten beide ein Lachen unterdrücken. Dann hielt ich Rebecca unter den Scanner und reichte das Buch über den Tresen an eine kleine dünne Frau, die hastig im Raum umherblickte, als wäre sie paranoid. „Bis zum neunzehnten Januar“, sagte ich.

Um vier Uhr schlossen wir die Bibliothek. Dann gingen wir zum Hinterausgang und rauchten auf dem Hof eine Zigarette. Wir sprachen den Ablauf für die Kinderweihnachtsfeier am Donnerstag durch und unterhielten uns über unsere Lieblingsfilme. Claudias war Die fabelhafte Welt der Amelie, meiner Vertigo. Dabei fiel mir ein, dass ich noch einen Film für diesen Abend heraussuchen musste. Ich war mit Mary Stoleham verabredet. Wir wollten uns einen gemütlichen Abend bei ihr machen.

Als ich um fünf Uhr aus dem Haupteingang der Bibliothek trat und mich von Claudia verabschiedete, war ich guter Stimmung. Das änderte sich schlagartig, als ich auf dem Heimweg merkte, dass ich verfolgt wurde.

Ich entfernte mich von der Bibliothek, überquerte die Dixon Street (auf der der übliche Feierabendverkehr dahinrollte) und ging durch das gusseiserne Eingangstor in den Stadtpark hinein. Mittlerweile hatte es wieder zu schneien begonnen und ein rauer Wind blies mir Schneeflocken ins Gesicht, die sich wie kleine spitze Nadeln anfühlten. Über den weiten Rasenflächen des Parks lag eine noch dünne Schneeschicht, die aussah wie Puderzucker auf einem Kuchen.

Ich zog die Schultern etwas nach oben und lief mit gesenktem Kopf den Hauptweg entlang. Nach einiger Zeit war der Verkehr der Dixon Street verstummt und nur der eisige Wind schnitt an meinen Ohren entlang. Der Park war menschenleer. Ich blickte nach vorne. Der Hauptweg war eine Art Allee, beiderseits des Weges mit Kastanien bestanden, die im Sommer prachtvoll grün und im Herbst geheimnisvoll vielfarbig waren. Jetzt kam es mir fast so vor, als stünden übergroße Gerippe mir Spalier, die mit knochigen Armen nach mir griffen, wenn der Wind sie durchfuhr.

In regelmäßigen Abständen kam ich an den Lichtkreisen der Laternen vorbei und zählte unbewusst jede einzelne, während ich im Geiste bei Mary Stoleham weilte. Als ich die zwölfte Laterne gerade hinter mir gelassen hatte, glaubte ich, hinter mir ein Husten zu hören und fuhr zusammen. Ich unterdrückte den Drang, mich wie ein verängstigtes Reh umzublicken, und beschleunigte stattdessen meinen Schritt. Mein Herz tat dasselbe. Als das zweite Mal das Husten hinter mir ertönte, rau und irgendwie unnatürlich, als käme es nicht von einem Menschen, sondern von einem tollwütigen Tier, verspürte ich den Drang, einfach loszustürmen und wegzulaufen. Ich kann nicht erklären, warum ich diese irrationale Angst verspürte. Schließlich wäre es ja vermessen gewesen, anzunehmen, dass ich der einzige Mensch war, der den Weg durch den Stadtpark nahm.

Statt wegzulaufen, wie ein kleines Kind, blieb ich im Lichtkegel der nächsten Laterne stehen und drehte mich um. Ich sah nichts. Im Abschnitt zwischen dieser und der vorigen Laterne lag ein Reich aus Dunkelheit und Schatten. Der Wind, der Schneeflocken durch die Luft wirbelte, machte das Erkennen auch nicht einfacher. Adrenalin durchfuhr meinen Körper und ich geriet einen Moment lang in Panik. Der Augenblick ging vorüber und ich lief, ohne, dass ich es bewusst gewollt hätte, langsam den Weg zurück. Ich kam ins Halbdunkel zwischen den Laternen und fühlte mich dort seltsamerweise ein wenig sicherer. Das heißt, bis ich die Spuren sah. Spuren von großen Schuhen, die direkt neben meinen verliefen, deren Größe sich dagegen wie die eines Zwerges ausnahm. Ich hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blickte mich hastig um, sah aber nur die kahlen Kastanien und die Rasenflächen, die sich ins Dunkel zogen. Wenn mich tatsächlich jemand verfolgte, so hatte er keine Möglichkeit, sich schnell irgendwo zu verstecken. Außer natürlich hinter den Stämmen der kahlen Bäume.

Ich spielte für einen Moment mit dem Gedanken, einfach umzukehren und zur Dixon Street zurückzulaufen. Aber dann fiel mir noch etwas anderes ein. Vielleicht erlaubte sich irgendein Witzbold auch nur einen Scherz mit mir. Wenn ich zurück rannte, wäre ich dem Arsch auf den Leim gegangen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass das nicht stimmte, aber der Gedanke half mir irgendwie.

Ich setzte mich wieder in Bewegung und zwang mich dazu, nicht zu schnell zu laufen. Dabei warf ich verstohlene Seitenblicke zu jedem Baum, an dem ich vorbeikam und zählte weiter unbewusst die Laternen. Das Gefühl des Beobachtetwerdens nahm nicht ab, aber das Husten ertönte nicht mehr und ich sah auch nichts. Ich dachte schon, ich hätte mir alles nur eingebildet, als ich an Laterne neunzehn plötzlich wieder die Fußspuren sah. Sie begannen einfach im Nichts. Ich lief, trotz der Panik, die wieder in mir aufkeimte, ruhig weiter und wandte meinen Blick stur geradeaus. Durch die Schneeflocken, die mir der kalte Wind ins Gesicht trieb, musste ich fast ununterbrochen zwinkern. Nur noch vier Laternen, sagte ich mir. Noch vier Laternen und es ist vorbei. Mit der Zeit vernahm ich wieder den Lärm von Straßenverkehr. Das Tor am anderen Ende des Parks wurde größer und größer und schließlich stand ich davor und blickte wie im Traum auf den Verkehr der Churchill Street. Ich stand da, als wagte ich nicht, einen Fuß aus dem Park zu setzen. So, als hätte die Kälte meine Beine einfrieren lassen. Dann sah ich nach unten. Die Fußspuren führten bis zum Ausgang des Parks und bogen dann nach links ab. Natürlich, dachte ich, wie könnte es auch anders sein?

Ich ging weiter, bog nach links ab und lief eine Weile die Churchill Street entlang, meinen Blick auf die Spuren gerichtet. Eine alte Frau ging an mir vorüber und blickte mich grimmig an. Irgendwann vermengten sich die Fußspuren mit denen anderer Leute und ich verlor sie. Dennoch wusste ich eines mit Sicherheit: Sie würden, könnte ich sie weiterverfolgen, direkt zu dem Haus führen, in dem ich wohnte. Was würde mich dann dort erwarten, wer würde mir auflauern und was wollte er von mir?

Letzten Endes lauerte mir niemand auf. Stattdessen hatte ich einen weißen Briefumschlag in meinem Briefkasten. Ohne Adresse, Absender, Briefmarke und Poststempel. Ich wusste, dass mein Verfolger ihn eingeworfen hatte. Er musste nicht lange vor mir hier gewesen sein. Aber ich wusste ebenso gut, dass er jetzt verschwunden war. Als ich den weißen Briefumschlag in der Hand hielt und vor den Briefkästen stand, zitterten meine Hände.

Ich saß an meinem Küchentisch, noch in Jacke und Straßenschuhen, und hielt den Umschlag in den Händen. Igor strich um meine Beine, reckte das Köpfchen nach oben und miaute. „Ich weiß, mein Kleiner“, sagte ich. „Kriegst ja gleich was.“ Er sah mich wütend an, ein vorwurfsvolles Maauuu! ertönte und er ging beleidigt aus der Küche.

Ich hatte mich beherrschen müssen, den Brief nicht sofort aufzureißen. Ich dachte, dass es besser war, wenn ich saß. Jetzt hielt ich den Umschlag in den Händen und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Mit einem kleinen Messer, das ich sonst zum Gemüseschneiden benutzte, öffnete ich langsam den Umschlag. Dann förderte ich eine Fotographie zutage. Kein Brief, sondern nur diese eine Fotographie.

Meine Hände begannen wieder zu zittern, als ich sie mir ansah. Sie zeigte das Gesicht einer Frau und war schwarz-weiß. Die Frau schaute direkt in die Kamera und hatte ein ernstes, fast trauriges Gesicht, das von langem glattem Haar eingerahmt wurde. Ihre Gesichtszüge waren so exakt, dass ich innerlich erschauerte. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig.

Sie war wunderschön.

Ich blickte lange in ihre Augen, und mir war, als könnten sie mich ebenfalls sehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasaß, aber ich weiß noch, dass ich ein wenig traurig darüber war, dass ich die Farbe ihrer Augen nicht wusste. Nur mit Mühe gelang es mir, mich von dem Foto loszureißen. Dann sah ich mir die Beschaffenheit des Fotos genauer an. Es schien schon sehr alt zu sein. Der Rand war gezackt, wie bei Briefmarken; die Rückseite war gelblich verfärbt und... Dort stand etwas, in einer alten Schrift, die ich nicht lesen konnte. Ich nahm an, dass es ein Name war. Ihr Name? Vielleicht. Ich versuchte lange Zeit, die Buchstaben zu entschlüsseln. Aber es gelang mir einfach nicht. Ich legte das Foto vor mir auf den Tisch und betrachtete wieder diese fremde Frau, die aus einer anderen Zeit stammte. Sie ist schon längst tot, hörte ich eine kalte Stimme in mir sagen. Und auf einmal fühlte ich mich aufgrund dieses Gedankens völlig niedergeschlagen. Natürlich war sie tot. Ich dachte daran, wann und zu welchem Zweck das Foto gemacht worden war. Wer war der Fotograph gewesen? Warum sah die Frau so ernst und traurig aus? In welchen Verhältnissen hatte sie gelebt? Wann war sie gestorben und woran? Wer hatte das Foto nach ihrem Tod besessen? Und vor allem, warum hatte ich es bekommen? Diese letzte Frage erinnerte mich wieder an meinen Heimweg. Warum hatte mich jemand ein Stück verfolgt, war dann zu meinem Haus gegangen und hatte mir den Umschlag in den Briefkasten geworfen? Ich fand keine Antworten auf diese Fragen.

Ich stand auf und ging in den kleinen Flur meiner Wohnung. Dort zog ich Jacke und Schuhe aus und betrachtete mich dann im Spiegel, der gegenüber der Eingangstür hing. Ich hatte irgendwo einmal gelesen, dass man keinen Spiegel direkt gegenüber der Wohnungstür aufhängen sollte, da sonst die positive Energie, die man beim Betreten der Wohnung mit hereinbrachte, sofort wieder nach draußen abgestrahlt wurde. Humbug, dachte ich, heute war ich ängstlich, als ich die Wohnung betrat. Was schadet es also?

Mein Spiegelbild zeigte einen mittelgroßen, hageren Mann mit Dreitagebart und kurzen, etwas zerzausten Haaren. Schlafringe waren unter den graugrünen Augen zu erkennen und eine große Sorgenfalte, die sich senkrecht über meine Stirn zog. Ich kam mir unendlich alt vor. Ich war erst zweiundzwanzig, aber ich fühlte mich immer, als hätte ich schon sechzig Jahre hinter mich gebracht. Ich blickte in die Augen meines Spiegelbildes, so lange, bis ich dachte, ich sähe einen Fremden vor mir. In gewisser Weise stimmte das auch. Ich sah so lange in die Augen meines Spiegelbildes, bis ich es mit der Angst bekam. Es war, als sähe man in die Augen des Wesens, das in einem steckt. Ich wandte den Blick ab.

In der Küche öffnete ich den Kühlschrank und holte eine Dose Whiskas heraus. Thunfisch. Igor hatte eine Schwäche für Thunfisch, jedenfalls momentan. Als ich den Deckel am Verschluss aufzog, kam er, angelockt durch das Geräusch, das dabei entstand, sofort in die Küche gestürmt und miaute wieder laut. Ich füllte die Hälfte des Doseninhaltes auf einen Teller und stellte es ihm hin. Gierig fiel er über sein Fressen her und schmatzte dabei lautstark. Ich hoffte, dass er nicht wieder die ganze Nacht kotzen würde. Dann holte ich die zwei Videos, die ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, aus der Tüte und legte sie auf den Küchentisch, damit ich sie später nicht vergaß. Pulp Fiction und Smoke. Mary Stoleham hatte eine Schwäche für Harvey Keitel und dies waren die einzigen zwei Filme, in denen er mitspielte, die wir gerade in der Bibliothek gehabt hatten. Ich wusste, dass sie sich für Smoke entscheiden würde. Erstens, weil er da die Hauptrolle spielte, und zweitens, weil sie außerdem noch eine Schwäche für Zigaretten hatte (wie ich auch). Der wichtigste Grund von allen aber war, dass es einfach ihr Lieblingsfilm war. Trotzdem wollte ich noch eine Alternative dabeihaben. Man wusste ja nie.

Ich kochte mir einen Kaffee, setzte mich an den Küchentisch, rauchte eine von den Luckies, die Benny mir gegeben hatte und betrachtete das Foto, bis ich mit beidem, Kaffee und Zigarette, fertig war. Dann sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach sechs war. Um sieben war ich mit Mary verabredet und bis dahin musste ich wieder intakt sein. Mary merkte sofort, wenn etwas nicht in Ordnung war.

Ich ging ins Wohnzimmer und nahm eine Foreigner-CD aus dem Regal, auf dem meine Stereoanlage stand, und legte sie ein. Kurz darauf schmetterte Lou Gramm Urgent durch die ganze Wohnung. Als ich ein paar Minuten später unter der Dusche stand und warmes Wasser über meinen Körper floss, drangen die Klänge von I’m gonna win zu mir herüber. Ich liebte diesen Song und sang lauthals mit.

Als ich aus der Dusche trat, hatte ich mir den Angstschweiß des Heimweges vom Körper gewaschen und fühlte mich schon ein wenig besser. I’m gonna win, dachte ich, als ich mich abtrocknete.

Pünktlich um sieben kam ich bei Mary an, die in einer Seitenstraße der Churchill Street wohnte. Als sie mir die Tür öffnete, vergaß ich augenblicklich alles, was mir an jenem Tag widerfahren war. Kaum sah sie mich, fiel sie mir um den Hals und wir umarmten uns innig und lange. Mary war eine kleine Frau mit wallenden roten Locken, einer schönen femininen Figur und dem wundervollsten Lächeln, das ich kannte. Als sie die Arme um mich schlang, spürte ich, wie sich ihre Brüste gegen mich drückten. Das Gefühl war mir so vertraut, dass ich erschauerte und eine Gänsehaut bekam.

„Thommy, bist du dünner geworden? Du musst mehr essen, Junge.“ Sie musterte mich von oben bis unten kritisch, aber ein Grinsen umspielte ihre sanft geschwungenen Lippen. „Dein Schlaf ist auch nicht so gut, was?“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mary“, sagte ich. Ich zog Schuhe und Jacke aus und kurz darauf saßen wir auf dem großen schwarzen Ledersofa ihres gemütlichen Wohnzimmers. Mary mit einer Pall Mall im Mund, ich mit einer Lucky Strike. Aus den Boxen ihrer Stereoanlage vernahm ich die kehlige Stimme von Dave Gahan. Pizzageruch drang von der Küche ins Wohnzimmer.

„Also, Thommy, wie geht es dir?“

„Wie immer, nichts Besonderes. Außer, dass ich heute Veltore ertragen musste.“

„So? Was wollte er denn?“

„Er kam in die Bibliothek und verlangte, dass ich ihm alle Bücher übers Stricken raussuche. Für seine Frau.“

Mary grinste einen Augenblick, dann nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. Ihre Stirn zog sich in Falten und sie sah mich eindringlich an. „Macht es dir noch etwas aus? Ich meine...“

„Nein, Mary. Mach dir keine Sorgen darüber. Es ist so lange her. Reden wir nicht darüber, okay?“

Noch einen Augenblick sah sie mir tief in die Augen, als vermutete sie etwas dahinter. Dann lächelte sie mich an. „Okay.“

„Und, wie geht es dir?“, fragte ich und hoffte, dass ich normal klang.

„Auch wie immer, schätze ich. Das Leben einer Fachverkäuferin für Textilien ist nicht so spannend. Du weißt ja, jeden Tag das Gleiche.“ Mary betrieb mit Ricarda Hummel ein kleines Modegeschäft in der Innenstadt. Manchmal brachte sie mir Sachen mit. Strickjacken, Pullover, T-Shirts. Eigentlich hatte ich fast all meine Sachen von Mary. Ich konnte mich nicht daran erinnern, selbst einmal etwas gekauft zu haben.

„So, Thommy. Und nun lass uns zum Thema kommen.“ Ihr Gesicht nahm einen freudigen Ausdruck an. „Was für einen Film hast du mitgebracht?“

Ich nahm die Tüte, die neben mir lag, und zog die zwei Videos wortlos heraus. Dann reichte ich sie ihr.

„Smoke!“, rief sie aus. „Das ist lieb von dir!“ Sie umarmte mich und gab mir einen Schmatzer auf die Wange. Dann entschwand sie in die Küche. Ich blieb, wo ich war, und dachte über Mary und mich nach. Wir waren schon ein seltsames Paar. Ich kannte Mary, seit ich ein kleiner Junge war. Zuerst war sie eine Art Mutter gewesen, dann meine erste Liebe und nun war sie von beidem etwas. Keiner kannte mich besser als sie. Bis vor einem Jahr ungefähr hatte ich noch bei ihr gewohnt, dann war mir bewusst geworden, dass ich erwachsen wurde und dass meine Beziehung mit Mary kein gutes Ende nehmen würde. Ich musste endlich auf eigenen Beinen stehen. Trotzdem sahen wir uns jede Woche ein paar Mal, schliefen sporadisch miteinander und waren uns nach wie vor so vertraut wie immer. Ich war mir nicht sicher, wohin sich unsere Beziehung entwickelte. Sie war mittlerweile achtunddreißig und ich erst zweiundzwanzig. Ich glaubte, dass das früher oder später zu einem Problem werden konnte. Darum hatte ich versucht, mich ein wenig von ihr abzunabeln. Das änderte jedoch nichts daran, dass ich Mary auf eine elementare Weise immer lieben würde. Wenn es so etwas wie Seelenverwandtschaft gab, so waren Mary und ich zwei Seelenverwandte.

„Na, Thommy, was grübelst du?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie wieder ins Wohnzimmer gekommen war. Auf dem Couchtisch stand eine riesige, in viele Teile aufgeschnittene Pizza mit Salami, Paprika, Peperoni, Tomate, Gurken und viel Käse. Außerdem noch vier Flaschen Bier, zwei davon geöffnet. Wenn ich nicht bemerkt hatte, wie sie all das ins Zimmer getragen und auf den Tisch gestellt hatte, musste ich wirklich vollkommen weggetreten gewesen sein. Mary setzte sich neben mich auf die Couch und mir wurde bewusst, dass sie auf eine Antwort wartete.

„Ich habe nur überlegt, was ich dir zu Weihnachten schenken soll“, sagte ich.

Sie winkte ab. „Ach, zerbrich dir darüber nicht den Kopf und mach dir meinetwegen bloß keine Umstände, hörst du?“ Sie stand auf und legte Smoke in den Videorecorder ein. Dann machte sie ein paar Kerzen an, schaltete das Licht aus und kam wieder zu mir aufs Sofa. Sie nahm zwei Bierflaschen, reichte mir eine und sagte: „Prost, mein Lieber! Auf uns!“

„Ja, auf uns und auf deine Kochkünste“, sagte ich. Sie lachte und zwickte mir ins Bein.

Den weiteren Abend verbrachten wir auf dem Sofa, Pizza essend, Bier trinkend, rauchend und Smoke schauend. Und als der Film vorbei, die Pizza alle und die Bierflaschen leer waren, lagen wir einfach schweigend auf dem Sofa, hielten uns wie Teenager an den Händen und genossen die Stille und Friedlichkeit. Irgendwann flüsterte Mary: „Möchtest du heut hier schlafen? Ich meine wirklich nur schlafen? Du machst irgendwie den Eindruck, als würde es dir gut tun.“

Ich überlegte eine Weile. Es wäre schön, Marys warmen Körper zu fühlen, an den ich mich schmiegen konnte, sie atmen zu hören, sie zu riechen und zu wissen, dass alles in Ordnung war. Aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht richtig wäre. Nicht an diesem Tag.

„Nein, Mary. Heute nicht. Ich muss morgen zur Arbeit und ich möchte morgen früh keinen Stress haben. Aber danke.“ Mary sah mich an, als suchte sie nach etwas in meinen Augen. Dann gab sie mir einen sanften Kuss direkt auf den Mund. „Okay, mein Spätzchen. Falls irgendetwas ist, du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst.“

Ich drückte eine ihrer Hände fester. „Ich weiß, Mary. Danke.“ Plötzlich hatte ich das Gefühl, als müsste ich weinen. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals bildete, hinunter und dann drangen, ohne dass ich bewusst darüber nachgedacht hatte, Worte aus meinem Mund, an die ich an jenem Tag schon einmal gedacht hatte. „Es sind nur die alten Gespenster.“ Schweigen lag zwischen uns und ich hatte schon die Hoffnung, dass ich es doch nicht laut gesprochen, sondern nur gedacht hatte.

„Ich weiß, Thommy“, flüsterte Mary, als verstünde sie genau, was ich damit sagen wollte. Ich legte meinen Kopf auf ihren Busen und sie strich mir durchs Haar. Dann flüsterte sie noch einmal: „Ich weiß.“

Etwas später drückten wir uns wieder und ich trat den Heimweg an.

Ich lag im Bett und beobachtete die Schatten. Es war fast ein Uhr, aber ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Das kam in letzter Zeit häufig vor und ich konnte unmöglich sagen, woran das lag. Vielleicht hatte ich einfach zu viele Gedanken im Kopf. Vielleicht hatte ich aber auch unbewusst Angst vor meinen Träumen.

Auf dem Heimweg war ich wie ein Geist durch die dunklen, verlassenen Straßen gegangen. Es gab einen Moment, da dachte ich, wieder verfolgt zu werden. Aber nichts geschah. Ich lief den kurzen Weg nach Hause und kam ohne Überraschungen an.

Jetzt, in der Dunkelheit meiner Wohnung, fühlte ich mich sehr einsam. Manchmal überkam mich nachts der Gedanke, dass alle Menschen auf einmal verschwunden waren und ich ganz allein auf der Welt wäre. Ich hatte Bilder im Kopf, in denen alles in Trümmern lag; wo es nie Sonne gab, sondern ewiges Zwielicht; wo eine alte Schaukel auf einem Spielplatz einsam im Wind schwang, mit einem leisen Quietschen, das niemand mehr hörte; wo alles vorbei war und verfiel, was je gewesen war. Manchmal überkam mich auch der Gedanke, dass es wirklich so war. Als läge unter der Oberfläche der Welt, die mich umgab, noch eine andere, in der alles schon zum Stillstand gekommen war. Ich fragte mich, ob das möglich war. Vielleicht, sagte diese kalte Stimme in meinem Kopf. Vielleicht ist es so. Aber was ändert es?

Wahrscheinlich nichts, dachte ich. Das Leben ging weiter, immer weiter.

Ich kletterte aus dem Bett und ging, nur in Unterhose, durch die dunkle Wohnung in die Küche zum Kühlschrank. Ich öffnete ihn und holte eine Flasche Wasser heraus. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und trank einen großen Schluck. Kaltes Mondlicht fiel in den Raum. Ich sah, dass meine Luckies auf dem Tisch lagen und nahm mir eine. Rauchend blickte ich aus dem Fenster, zum Mond empor, der mich traurig ansah. Ich dachte an die ebenso traurige Frau auf dem alten Foto und dann wurde mir schlagartig bewusst, dass es nicht mehr auf dem Tisch lag. Panik breitete sich in mir aus und ich sprang vom Stuhl auf. Dann sah ich es auf dem Boden liegen, direkt neben mir. Ich bückte mich und hob es auf. Wieder wurde ich von diesen traurigen Augen gefangen genommen. Und dann, ohne dass ich wusste warum, küsste ich das Foto und gleichzeitig liefen mir Tränen über die Wangen. Ich presste es an meine Brust und war von Traurigkeit und gleichzeitiger Erleichterung erfüllt.

Irgendwann schaffte ich es, mich wieder hinzusetzen. Ich zitterte, dann spürte ich plötzlich gar nichts mehr, sondern fühlte mich nur noch schwach und benebelt. Ich legte das Foto auf den Küchentisch und lief ins Schlafzimmer. Meine Beine waren so schwer, als wögen sie mindestens eine Tonne. Ich fiel wie ein Stein ins Bett und verkroch mich unter der Bettdecke wie ein Embryo. Nach einiger Zeit kam Igor aufs Bett gehüpft und durch sein monotones Schnurren schlief ich ein.

Am nächsten Morgen wusste ich nicht, ob ich geträumt hatte oder nicht.

Um sechs Uhr stand ich auf. Wie im Traum ging ich durch die dunkle Wohnung ins Bad, pinkelte und stellte mich unter die Dusche. Dort stand ich und wusste nicht, ob ich noch schlief oder schon wach war. Das Prasseln des Wassers drang wie ein Flüstern an mein Ohr, schien aus weiter Ferne zu kommen. Dann zuckte ich zusammen, rutschte aus und konnte mich nur mit Mühe an den Wänden der Duschkabine festhalten. Ich war kurz davor gewesen, wieder einzuschlafen. Der Schreck sorgte dafür, dass ich von einem Moment auf den anderen hellwach war. Ich trocknete mich ab und zog mir meinen alten blauen Bademantel an. Dann ging ich in die Küche und kochte mir Kaffee. Rauchend saß ich am Küchentisch und betrachtete das Foto.

Wie schön sie war!

Es kam mir fast so vor, als wäre sie noch schöner, als am Tag zuvor; obwohl das kaum möglich war. Wie sollte sich ein Foto über Nacht schon verändern können? Ich küsste das Foto wieder, diesmal ganz bewusst. Es hatte etwas Tröstliches an sich. Lange Zeit blickte ich in diese traurigen Augen und wünschte mir zum wiederholten Mal, dass ich ihre Farbe wusste.

Igor riss mich aus meinen Gedanken, indem er laut miauend in die Küche kam und auf den Tisch sprang. Ich hatte die Zeit völlig vergessen. Schnell gab ich ihm sein Futter und ging dann ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Danach machte ich mir Brote für die Arbeit. Das Foto verstaute ich in einer meiner Jackentaschen.

Auf dem Weg zur Bibliothek lief ich durch tiefen Neuschnee, der in der Nacht gefallen war. Die Stadt, die Menschen, die ebenfalls zur Arbeit gingen, der Verkehr, das Licht der Laternen – alles kam mir unwirklich vor, als läge noch eine Wahrheit unter den Dingen. Eine Wahrheit, die so elementar war, dass ich innerlich erschauerte.

Ich betrat den leeren Stadtpark und hatte augenblicklich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich versuchte, es zu ignorieren, und durchquerte den Park so schnell ich konnte.

Den Tag erlebte ich in einer Art Trancezustand. Andauernd musste ich mich vergewissern, dass das Foto noch in meiner Jackentasche war. Es verdrängte alles andere aus meinem Denken. Claudia schien nichts zu bemerken – wahrscheinlich hielt sie mein Verhalten für normal und dachte, dass ich einfach ab und zu meine Phasen hatte.

Ich glaube, an diesem Morgen begann ich, den Verstand zu verlieren. Vieles, was sich danach ereignete, erlebte ich in einer Art Traumwelt, als wäre ich in einer Blase gefangen, die ohne Ziel umhertreibt, nur, um irgendwann zu zerplatzen. Als meine Blase zerplatzte, hatte sich einiges verändert. Das Wenigste zum Guten.

Am Abend dieses Tages saß ich auf meinem kleinen Ledersofa im Wohnzimmer in der Dunkelheit. Die Kopfschmerzen hatten angefangen, als ich von der Bibliothek aus nach Hause gegangen war. Sie waren ohne Vorwarnung gekommen und hatten mich in ihrer Intensität fast bis zur Ohnmacht getrieben. Im Stadtpark war mir schwarz vor Augen geworden und ich war vornüber in den Schnee gestürzt. Dort lag ich eine Weile benommen, in meinem Kopf hämmerte es, als wäre ein sadistischer kleiner Mann mit einem Presslufthammer am Werk. Ich war unfähig, zu denken, bestand nur noch aus diesem stechenden Schmerz. Ich fühlte Schnee, der meine linke Wange einfror. Wahrscheinlich hätte ich Stunden dort liegen können, aber als ich das nächste Mal klar denken konnte, befand ich mich im Flur meiner Wohnung und starrte in den Spiegel. Ich schrak zurück, weil ich den, den ich erblickte, nicht kannte. Es war ein Fremder, mit wirren Haaren und eingefallenen Wangen. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht. Sie schienen keine Farbe zu haben, waren weder hell noch dunkel, nur zwei Löcher, in denen eine milchige Flüssigkeit schimmerte. Dann setzte mein Denken aus und als es wieder da war, saß ich im dunklen Wohnzimmer und hatte Angst. Aber zumindest hatte ich danach keine Aussetzer mehr. Ich versuchte mich an den Tag zu erinnern, an die Arbeit, den Heimweg, was ich gegessen hatte. Aber ich konnte es nicht. Stumme Tränen rannen meine Wangen hinab, in meinem Kopf pulsierte etwas, das mich um den Verstand brachte.

Mit großer Anstrengung brachte ich es fertig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich stand auf und ging in die Küche. Meine Beine fühlten sich wie Gummi an. In der Küche schaltete ich das Licht ein und der Schmerz wurde noch intensiver. Ich öffnete eine Schublade an der Anrichte und kramte eine Schachtel Aspirin heraus. Ich nahm zwei Tabletten, steckte sie in den Mund und schluckte sie sofort hinunter. Dann erlebte ich einen schlimmen Moment der Panik, als ich mich verschluckte. Ich würgte sie wieder hervor, zerkaute sie, schluckte den Brei hinunter und trank Wasser, indem ich meinen Kopf unter den Wasserhahn in der Spüle beugte. Danach saß ich am Küchentisch und überlegte, was ich tun konnte. Wenn ich Glück hatte, würden die Schmerzen irgendwann nachlassen, aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Mir wurde klar, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Weder Fernsehen, noch Musikhören oder Lesen. Ich ertrug ja nicht einmal das Licht, das ich in der Küche angemacht hatte. Ich stand auf, schaltete es aus und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort setzte ich mich wieder auf das Ledersofa und starrte in die Dunkelheit.

Plötzlich spürte ich eine große Hand, die mich von hinten hart an der Schulter packte. Ich schrie auf und sprang vom Sofa auf. Aber dort war nichts. Am ganzen Leib zitternd ging ich ins Schlafzimmer und legte mich, in den Sachen, die ich den ganzen Tag getragen hatte, ins Bett. Unter der Decke kauerte ich mich wieder wie ein Embryo zusammen. Als Igor aufs Bett sprang und sich neben meinen Kopf legte, war ich froh, dass er da war. Er beruhigte mich auf eine Art und Weise, wie es ein Mensch niemals vermocht hätte. Er war einfach bei mir, als wollte er sagen: Du bist nicht allein, alter Kumpel.

Der Schmerz entfernte sich langsam und ich driftete in den Schlaf. Und dieses Mal träumte ich.

Nebel.

Das war das erste, was ich wahrnahm. Ein dicker, undurchdringbarer Schleier, der mich von allen Seiten her umgab. Ich war gerade auf weichem Untergrund erwacht, der Gras zu sein schien. Es war totenstill. Ich fragte mich in einem Winkel meines Verstandes, wie ich von meinem Bett aus plötzlich an diesen Ort gelangt sein konnte. Der Gedanke wurde durch Angst verdrängt, die schnell durch meinen Körper pulsierte. Ich stand auf und fühlte mich, mit festem Boden unter den Füßen, irgendwie träger und schwerer. Ich blickte mich um.

Nebel, der im Zwielicht waberte.

Undeutlich konnte ich links und rechts von mir dürre, kahle Bäume sehen. Mir wurde klar, dass ich mich auf einem Weg befand. Einem Waldweg? Ich wusste es nicht. Neben mir knackte plötzlich ein Zweig und ich schrie laut auf. Der Ton klang grauenhaft und war schrecklich verzerrt. In Panik rannte ich in eine Richtung des Weges davon. Mein Herz wollte zerspringen und meine Beine fühlten sich an, als wären sie mit Eisenkugeln beschwert. Ich hatte das Gefühl, mich in Zeitlupe zu bewegen. Durch den Nebel konnte ich kaum etwas erkennen. Beim Rennen warf ich einen Blick über die Schulter und dann... Stürzte ich der Länge nach hin. Ich schrie wie wild, und bei jedem Versuch aufzustehen, zog mich die Schwerkraft wieder zu Boden. Irgendwann kämpfte ich nicht mehr gegen sie an, sondern ließ mich auf den weichen Boden zurücksinken. Mein Brustkorb hob und senkte sich in atemberaubendem Tempo. Meine Augen fielen vor Erschöpfung zu und ich wurde mir wieder dieser Totenstille bewusst. Irgendwann wurde mir klar, dass mir nichts geschehen war und ich schlug meine Augen wieder auf und...

... der Nebel hatte sich gelichtet.

Es war immer noch düster, doch konnte ich nun meine Umgebung klar und deutlich erkennen.

Ich befand mich auf einem Friedhof.

Um mich herum sah ich vereinzelt alte Grabsteine, die unregelmäßig dastanden. Schief, efeuüberwuchert, umgestürzt. Ein Wald mit gerippeartigen Bäumen zäunte das gesamte Areal ein. Mein Herz schlug wieder heftig in meiner Brust. Mir fiel ein Grab auf, das in der Mitte der Anlage stand. Eine große steinerne Figur (ich hielt sie aus der Entfernung für einen Engel) stützte einen Arm auf den Grabstein, das Gesicht zu Boden gewandt.

Ich stand auf und lief langsam darauf zu. Mein Verstand wehrte sich dagegen, doch mein Körper gehorchte ihm nicht. Je näher ich dem Grabmal kam, desto ruhiger wurde ich. Und dann...

... blieb ich davor stehen.

Ich blickte die Statue an, die mindestens zwei Meter hoch zu sein schien. Ihr Gesicht schaute auf mich hinunter und ich erkannte es augenblicklich. Es war die Frau, deren Foto ich hatte. Ihr Haar hing nach unten, sie trug ein welliges Gewand und ich konnte deutlich die Umrisse ihres Busens, ihrer Hüften und ihres Bauches erkennen. Fasziniert trat ich noch einen Schritt näher an sie heran. Mein Denken hatte völlig ausgesetzt, und das Einzige, was ich wollte war, diese Statue zu berühren. Ich streckte die Hand aus und tastete damit nach ihrer Hüfte (ich wollte nach ihrem Gesicht greifen, aber das war zu weit oben). Meine Hand berührte den Stein und ich erschauerte.

Sie war unendlich kalt.

Ich begann zu zittern und ließ von ihr ab. Ihr Name, flüsterte eine Stimme in mir. Schau nach ihrem Namen!

Ich hockte mich hin, vor den Grabstein, der teilweise mit Efeu berankt war, und konnte nur undeutlich die Worte erkennen, die in goldener Schrift eingemeißelt worden waren. Nach einer Weile gelang es mir. Dort stand:

Annabell Conway

Die Trauernde

„Annabell Conway“, flüsterte ich. „Die Trauernde.“

Ich sank zurück, in das hohe wuchernde Gras und spürte mit einem Mal einen stechenden Schmerz in meinem Kopf. Tränen rannen mir die Wangen hinab und mir wurde schwarz vor den Augen.

Und schließlich...

... verlor ich das Bewusstsein.

Am nächsten Morgen erwachte ich völlig verschwitzt in meinem zerknüllten Bett. Sofort erinnerte ich mich an den Traum, den ich gehabt hatte. „Annabell Conway“, flüsterte ich. Mir kam es nicht so vor, als hätte ich geträumt. Viel mehr hatte ich das Gefühl, alles real erlebt zu haben und wirklich auf dem Friedhof gewesen zu sein.

Ich stand auf und lief sofort in die Küche. Nachdem ich das Licht angemacht hatte, nahm ich das Foto vom Küchentisch. „Annabell Conway“, flüsterte ich wieder und küsste das Foto. Ich hatte ihr Grab gesehen und war mir sicher, dass dieser Friedhof auch in der Realität existierte. Die Trauernde, dachte ich. „Warum die Trauernde?“, fragte ich das Foto. „Weswegen hast du getrauert?“ Aber natürlich bekam ich keine Antwort. Einzig ihre traurigen Augen sahen mich an. Ich drückte das Foto an meine Brust und nahm es dann mit ins Bad.

Als ich auf dem Weg zur Arbeit war, hatte ich es wieder in meiner Jackentasche. Ich dachte über meinen Traum nach. Zwar freute ich mich, endlich den Namen dieser wunderschönen Frau zu wissen, doch machten mir ein paar Dinge auch Sorgen. Zu ihnen gehörte beispielsweise, dass ich am Tag zuvor diese unheimlichen Aussetzer gehabt hatte. Oder diese grässlichen Kopfschmerzen. Eine Frage war jedoch nach wie vor die wichtigste: Wer hatte mir das Foto zukommen lassen und zu welchem Zweck? Ich dachte darüber nach, als mein Weg mich durch den Stadtpark führte. Dort hatte ich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Diesmal beschleunigte ich meinen Schritt nicht, sondern versuchte ganz normal zu gehen und mich zu konzentrieren. Ich glaubte, dass derjenige, der mir immer im Park auflauerte, derselbe war, der mir das Foto in meinen Briefkasten geworfen hatte. Was wollte er? Und warum zeigte er sich nicht?

Vielleicht hat er genau das bezweckt, was eingetreten ist, hm?, sagte diese kalte Stimme in meinem Kopf.

Woher kann er wissen, wie ich auf das Foto reagiere?

Nun, er beobachtet dich noch immer, oder, Thommy?

Ja, das stimmte. Er beobachtete mich noch immer.

Ich erreichte das andere Ende des Parks und überquerte die Dixon Street. Vor der Bibliothek rauchte ich noch eine Zigarette. Was geschieht mit mir?, dachte ich. Die Stimme in meinem Kopf gab mir keine Antworten, stattdessen erteilte sie mir einen Befehl.

Nimm Kontakt mit ihm auf! Dann weißt du es.

Nein. Das würde ich schön bleiben lassen. Schließlich wollte der Kerl irgendetwas von mir. Ich warf den Zigarettenstummel weg und ging in die Bibliothek.

Der größte Teil des Arbeitstages verlief wie immer. Ich hatte keinerlei Aussetzer, machte meine Arbeit und schaffte es sogar, nicht die ganze Zeit über an das Foto und alles, was damit zusammenhing, zu denken. Natürlich vergewisserte ich mich trotzdem ein paar Mal, ob es noch in meiner Jacke war.

In der Mittagspause erwischte Claudia mich dabei, wie ich im Büro am Tisch saß und es anstarrte. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie hereingekommen war. Als sie nun hinter mir stand und mich fragte, wer die Frau auf dem Foto sei, schrak ich zusammen.

„Wer sie ist?“, fragte ich, noch völlig perplex wegen Claudias plötzlichem Auftauchen.

„Ja, Thomas. Wer ist sie? Oder ist das dein Geheimnis?“

„Nein“, sagte ich. „Aber ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich habe das Foto auf einem Flohmarkt gekauft. Ich finde, sie sieht wunderschön aus.“

„So, so“, sagte Claudia.

Ich war ein schlechter Lügner.

„Nun gut, Thomas.“ Sie setzte sich zu mir. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, wie es morgen abläuft.“

„Wie was abläuft?“

„Die Weihnachtsfeier natürlich. Eine zweite Klasse aus der Grundschule von Klinmoore kommt morgen, um sich die Bibliothek anzusehen und danach noch eine kleine Weihnachtsfeier hier zu machen. Hast du das etwa vergessen?“

„Nein. Jetzt weiß ich es wieder.“ Ich wurde rot im Gesicht. Noch immer hatte ich das Foto in der Hand. Ich legte es auf den Tisch und dachte daran, dass Klinmoore ein weniger guter Stadtteil von Meltray war.

„Na ja“, fuhr Claudia fort, „wir müssen die Bibliothek heute nach der Öffnungszeit noch ein wenig schmücken. Sie kommen morgen so gegen zehn. Von zehn Uhr bis zwölf Uhr gibt es also keinen Leserverkehr.“

„Gut, alles klar“, sagte ich. „Habe ich irgendwas Besonderes zu der Feier beizutragen?“

„Ja. Du könntest den Kleinen eine Weihnachtsgeschichte vorlesen, wenn du nichts dagegen hast.“

„Nein. Ich denke, das geht in Ordnung.“

„Fein“, sagte Claudia. Dann zögerte sie und sah mich an, als wüsste sie nicht, wie sie den nächsten Satz herausbringen sollte. „Da ist noch etwas, Thomas. Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Aber du bist seit gestern irgendwie ein wenig seltsam. Es wäre schön, wenn du morgen versuchen könntest, dir das nicht so anmerken zu lassen.“ Sie zögerte wieder. „Du musst mir nichts sagen und es geht mich ja auch nichts an, aber falls du jemanden zum Reden brauchst...“

Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ihr ja schließlich nicht erklären, dass ich langsam den Verstand verlor, weil ich dieses Foto hatte. „Danke, Claudia. Aber es wird wohl daran liegen, dass bald Weihnachten ist, da werde ich immer etwas depressiv.“

Sie schaute mich ernst an, dann klarten sich ihre Gesichtszüge auf. „Du bist ein schlechter Lügner, Thomas.“

„Ich weiß“, sagte ich und lächelte ebenfalls. Claudia stand auf und ging wieder nach unten.

Ich musste mich wirklich ein wenig mehr beherrschen. Claudia war die beste Freundin von Mary. Die Wege des Informationsflusses waren also sehr kurz. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit Mary über all dies reden konnte (schließlich wusste ich ja selber nicht wirklich, was vor sich ging). Auf jeden Fall wollte ich es nicht. Doch wie ich später feststellte, war es schon zu spät.

Ich küsste das Foto und verstaute es wieder in meiner Jacke.

Ich lief, wie immer, durch den Stadtpark nach Hause. Irgendwie kam ich gar nicht auf die Idee, einfach einen anderen Weg zu nehmen. Und was hätte das auch genützt. Mehr und mehr brachte ich das Sichbeobachtetfühlen mit dem Foto in Verbindung und hoffte... Worauf eigentlich? Ich wusste es nicht. Aber ich schätzte, dass es Antworten waren. Wenn derjenige, der mich beobachtete, tatsächlich derselbe war, der mir das Foto in den Briefkasten geworfen hatte, so musste er irgendein Ziel damit verfolgen und so früher oder später auf mich zukommen. Ich fragte mich allerdings auch, warum er nicht einfach bei mir klingelte oder mich anrief, wie jeder normale Mensch es getan hätte. Aber ich fand keine Antworten und der Grund, weshalb ich immer noch den Weg durch den Stadtpark nahm, war Neugierde.

Es war sehr kalt und ein eisiger Wind pfiff um meine Ohren und schnitt mir ins Gesicht, aber wenigstens schneite es nicht mehr. Ich lief langsam den Hauptweg entlang und wusste, dass irgendwo in meiner Nähe jemand lauerte. Ich konnte es deutlich spüren, so als liefe er direkt neben mir.

Wieder zählte ich beim Gehen unbewusst jede Laterne, an der ich vorüber kam. Bei Nummer zwölf wurde ich ein wenig sauer. Warum zeigte er sich nicht endlich? Ich blieb im Lichtkegel der Laterne stehen und atmete tief durch. Dann flüsterte ich: „Zeig dich, mach schon. Sag mir endlich, was du willst!“ Aber nichts geschah. Der Wind antwortete mir mit einem Pfeifen. Das war alles.

Und dann, ohne, dass es mir wirklich bewusst war, schrie ich aus voller Kehle: „ZEIG DICH! NA LOS! ZEIG DICH DOCH ENDLICH, ICH WEISS, DASS DU DA BIST!“

Die Stille, die danach herrschte, war unheimlich. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und alle Geräusche der Welt wären mit einem Mal verstummt. Ich stand stocksteif da und merkte, dass sich trotz der Kälte Schweißtröpfchen auf meiner Stirn bildeten. Das Licht der Laterne erinnerte mich an das Licht in leeren Krankenhausfluren bei Nacht.

Dann spürte ich mit einem Mal, dass etwas näher kam. Doch wusste ich weder, aus welcher Richtung es sich näherte, noch, was es war. Vielleicht, so dachte ich, ist es nur deine eigene Angst, die sich in deine Eingeweide schleicht. Ja, das konnte gut möglich sein; dennoch hatte ich das starke Gefühl, dass sich noch etwas anderes, Körperliches, heranschlich. Ich verharrte weiterhin in Starre und dann wurde es plötzlich noch kälter, als es ohnehin schon war. Eine Wand aus Eiseskälte schwappte über mich hinweg und riss mich mit sich. Ich fiel nach hinten um und landete schmerzhaft auf dem Steiß. Die Wand war so plötzlich aufgetaucht, dass ich nicht einmal einen Schrei der Überraschung hatte ausstoßen können.

Benommen lag ich auf dem Gehweg und spürte nun wieder den Wind, der über meinen Körper schnitt, als wollte er in meine Sachen kriechen. Was immer das eben gewesen war, es war vorbei, das wusste ich. Und ebenso wusste ich, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. Was, um Himmels Willen, war das gewesen? Ich dachte darüber nach und vergaß, dass ich noch immer auf dem Boden lag. Das Gegröle von Jugendlichen irgendwo hinter mir riss mich aus meinen Gedanken und ich stand schwerfällig auf. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, bemerkte ich ein Gefühl, das mir mittlerweile sehr vertraut war. Es war der stechende Schmerz in meinem Kopf, der meine Schläfen pulsieren und Tausende spitzer kleiner Nadeln hinter meinen Augen tanzen ließ. Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte wieder zur Besinnung zu kommen. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Wenn ich mich gehen ließ, konnte es gut sein, dass ich wieder einen Aussetzer hatte, und das wollte ich unter allen Umständen vermeiden. Das Gegröle hinter mir wurde lauter und gab den Ausschlag dafür, dass ich mich wieder in Bewegung setzte. Für heute hatte ich genug. Ein Zusammentreffen mit einer Horde betrunkener Halbstarker war das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte.

Ich humpelte mehr, als dass ich wirklich lief. Mein Steiß schmerzte und hinderte mich irgendwie daran, wie ein normaler Mensch zu laufen. Ich bin sicher, dass ich ein lustiger Anblick für jeden war, an dem ich vorüber ging. Aber das scherte mich überhaupt nicht. Ich nahm die anderen Leute, den Straßenverkehr, die Lichter der Schaufenster, den Wind und die Kälte gar nicht mehr wahr. Ich schwebte in meiner Blase nach Hause und fiel dort völlig erschöpft ins Bett.

Als ich erwachte war es schon spät am Abend. Kaltes Mondlicht fiel in mein Schlafzimmer und die Digitalanzeige meines Radioweckers zeigte in leuchtend roten Zahlen an, dass es 23:16 war.

Ich ließ meinen Kopf wieder auf das Kissen sinken. Als käme ich langsam aus einer Nebelschwade hervor, schälte sich aus meinem Verstand allmählich wieder die Erinnerung daran heraus, was ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause erlebt hatte. Diese unglaublich kalte Wand, die mich umgeworfen hatte. Die Kopfschmerzen danach. Der Schmerz an meinem Steiß. Zumindest konnte ich nun feststellen, dass die Kopfschmerzen sich ein wenig zurückgezogen hatten und einem dumpfen Pochen gewichen waren, das ich ignorieren konnte, wenn ich mich anstrengte. Ich schluckte trocken und merkte, dass meine Kehle völlig ausgedörrt war. Das gab mir Anlass, aufzustehen.

Ich lief durch die dunkle Wohnung in die Küche und machte dort das Licht an. Aus dem Kühlschrank wollte ich eine Flasche Wasser nehmen, aber es war keines mehr da. Dafür aber eine Flasche Budweiser als Alternative. Ich wusste, dass es nicht gut für meinen Kopf wäre, wenn ich jetzt Alkohol trank. Andererseits verspürte ich ein fast archaisches Verlangen danach. Ich griff nach der Flasche und setzte mich an den Küchentisch. Dann überlegte ich es mir anders und ging ins Wohnzimmer.

Igor lag auf dem Sofa und schlief. Als ich mich neben ihn setzte, hob er den Kopf und sah mich mit seinen grünen Augen an. „Abend, alter Kumpel“, sagte ich. „Was dagegen, wenn ich ein wenig Musik anmache?“ Er sagte nichts und musterte mich stattdessen aufmerksam. Ich schaute ihn ebenfalls an. Er machte keine Anstalten, als Erster wegzuschauen, und das brachte mich dazu, ein lautes Lachen auszustoßen. Der Klang, den es erzeugte, gefiel mir nicht. Es war irgendwie rostig und entsprach mehr dem Gegacker eines alten senilen Mannes. Das erschreckte Igor und er war mit einem Satz von der Couch gesprungen und in den Flur verschwunden. „Okay“, sagte ich in den leeren Raum. „Die besten Witze sind eh die, über die man nur selber lachen kann.“

Ich ging zum CD-Regal und sah meine Sammlung durch. Pink Floyd, dachte ich. Genau das Richtige jetzt. Ich schob die CD in den Player, drehte den Lautstärkeregler auf und setzte mich wieder auf das Sofa. Dann sprang ich auf, lief in den Flur und kramte das Foto von Annabell Conway aus meiner Jackentasche. Ich küsste es und lief mit ihm zurück ins Wohnzimmer. Dort legte ich es auf den Couchtisch, so, dass ich es sehen konnte, wenn ich mich zurücklehnte. Ich hielt das Budweiser in einer Hand, eine Zigarette in der anderen und lauschte den Klängen von Shine on you crazy diamond. Die Musik beruhigte mich, drang in all meine Poren und vertrieb jeglichen Schmerz. Ich dachte nur noch an Annabell Conway. Irgendwie musste ich mir die Tatsache eingestehen, dass ich mich in sie verliebt hatte. Das klang verrückt. Wer verliebte sich schon in das uralte Foto einer Frau, die schon lange tot war? Aber nach allem, was ich erlebt hatte, seit sich das Foto in meinem Besitz befand, wusste ich, dass es etwas zu bedeuten hatte und dass die Dinge langsam aus den Fugen gerieten. Ein großes Rad war in Bewegung versetzt worden und ich drehte mich nun mit ihm. Einem Teil meines Verstandes gefiel das ganz und gar nicht; aber ein anderer Teil wollte sehen, was sich tat. Denn irgendetwas würde geschehen, dessen war ich mir sicher. Ich musste nur abwarten und...

„Thomas!“ Ein Ruf, wie aus weiter Ferne, drang durch die laute Musik an mein Ohr. Ich hielt ihn für Einbildung und machte keine Anstalten zu antworten, noch aufzustehen. Ich nahm noch einen Schluck Bier und ließ die Flasche dann fallen, weil Mary Stoleham plötzlich in meiner Wohnung stand und mich mit sorgenvollem Blick musterte. Bier lief über mein Hemd und meine Hose und wie im Traum sah ich, wie Mary die Lippen bewegte und etwas sagte. Aber ich war wie gelähmt, unfähig mich zu rühren. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?

Plötzlich wurden die Klänge von Comfortably Numb abgewürgt und Stille herrschte. Mary kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Sofa und sah mich mit sorgenvollem Gesicht an. „Thomas, ist alles in Ordnung mit dir?“ In ihrer hellen Stimme lag der Tonfall, den man benutzt, wenn man mit einem Geistesgestörten redet. Das machte mir Angst. Aber noch schlimmer war, dass Mary, meine Mary, von einer Sekunde auf die nächste in meiner Wohnung, meinem Wohnzimmer, meiner Couch neben mir war, als habe sie sich aus dem Nichts materialisiert. Ich war unfähig zu sprechen, so überrascht war ich über diesen Umstand.

Sie hat einen Schlüssel, Dummkopf!, sagte die kalte Stimme in meinem Kopf. Sie hat sich Sorgen gemacht und ihn benutzt. Darum ist sie in diesem Augenblick in deiner Wohnung und mustert dich, als wärst du der Mann im Mond oder ein seltenes Exemplar einer vom Aussterben bedrohten Affenart.

„Was machst du hier, Mary?“ Meine Stimme klang äußerst seltsam. Falsche Unbeschwertheit drang in meine Ohren. Ich nahm wahr, dass Mary eine weiße Bluse und einen schwarzen, wadenlangen Rock trug. Ihr Haar wallte wie kochende Milch um ihr Gesicht und rahmte dessen Ausdruck ein.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, Thomas. Was denkst du denn? Ich habe ein dutzend Mal versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Außerdem habe ich dir bestimmt fünf SMS geschrieben.

Ich hatte kein Festnetztelefon, nur ein Handy, das Mary mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Zurzeit befand es sich wahrscheinlich irgendwo in meiner Jacke. Ich benutzte es nicht oft. Hättest du lieber tun sollen, Schwachkopf!, sagte die Stimme in meinem Kopf. Und wahrscheinlich hatte sie Recht. Dann hätte ich mir zumindest diese unangenehme Situation erspart. Ich saß da, mit von Bier durchweichten Sachen, stank nach Rauch und Schweiß. Wer wusste, was ich sonst noch für einen Anblick bot. Zu allem Überfluss lag natürlich noch das Foto, als einziger Gegenstand (außer eines Glasaschenbechers, der zur Hälfte mit Asche und Zigarettenstummeln gefüllt war), auf dem Tisch. Das Schlimmste schien mir jedoch zu sein, dass ich unfähig war, zu sprechen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der dabei ertappt worden war, wie er im Schlafzimmer seiner Eltern heimlich die Sachen seiner Mutter anprobierte.

Ich sah Mary an, deren Stirn sich in Falten zog, und die auf eine Antwort wartete. Als ihr klar wurde, dass sie keine bekam, legte sie ihre drängende Art ab und sprach in sanfterem Tonfall weiter. „Okay, Thomas. Komm mal her.“ Sie zog mich in ihre Arme, noch bevor ich etwas dagegen tun konnte. Ihre Bluse würde von dem Bier benetzt werden, das an meinen Sachen klebte. Aber ich ließ es dennoch zu. Dies waren die Augenblicke, deretwegen ich Mary liebte. Egal, was geschah, sie zeigte einem immer erst, dass grundsätzlich alles in Ordnung war und dass man über alles reden konnte. Ich spürte ihren Busen an meiner schmalen Brust und irgendetwas an dieser Berührung, an Marys festem Druck und ihrer Liebe, die mich wie ein Kokon umgab, brachte mich zum Weinen. Tränen liefen meine Wangen hinunter und ein kehliger Laut drang aus meinem Mund, der sich zu einem Schluchzen steigerte.

Mary drückte mich noch fester an sich und flüsterte etwas.

„Also, Thommy. Was ist los, hm?“

Ich hatte mich wieder beruhigt und saß jetzt still und beherrscht neben Mary, die sich eine Zigarette angezündet hatte.

„Hör zu, es tut mir leid, dass ich hier einfach so hereingeplatzt bin. Aber nachdem mich Claudia angerufen hatte und ich dich nicht erreicht habe, habe ich mir Sorgen gemacht.“

Natürlich, dachte ich, Claudia Hertz. Ich überlegte noch immer, was ich ihr sagen sollte. „Mary, ich war einfach völlig fertig, als ich nach Hause kam. Ich bin sofort ins Bett gefallen und erst vor kurzem wieder aufgewacht. Es besteht also kein Grund zur Sorge.“ Ich hoffte, dass das halbwegs plausibel klang. Doch wusste ich, sofort, nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, dass das nicht der Fall war. Um Marys Blick auszuweichen, zündete ich mir ebenfalls eine Zigarette an.

„Claudia hat mir erzählt, dass du seit zwei Tagen irgendwie... Nun ja, dass du dich irgendwie seltsam verhältst. Abwesend bist.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Außerdem...“ Sie zögerte. „Außerdem hat sie mir auch von diesem Foto erzählt, das dort liegt.“ Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fotos. Ich sah ebenfalls dort hin. Ich konnte deutlich die Augen von Annabell Conway sehen. Sie schienen mich dazu aufzufordern, Mary davon abzuhalten, weiter von dem Foto zu reden. Und genau das hatte ich auch vor.

„Und?“, fragte ich.

„Nun, Claudia meinte, du warst so in Betrachtung des Fotos versunken, dass du sie gar nicht bemerkt hast, als sie ins Büro kam. Sie hätte mindestens zwei Minuten hinter dir gestanden, ehe sie etwas zu dir sagte. Ihr kam das irgendwie seltsam vor, als wärst du in Trance oder so.“

Ich schaute Mary direkt an, die jetzt etwas verunsichert aussah. Ich bemühte mich, einen Blick aufzusetzen, der ausdrücken sollte, dass das alles Humbug war und nicht der Rede wert. Nach einer Weile schaute sie weg. Sie hatte rote Wangen bekommen und ich deutete dies als gutes Zeichen. Es widerstrebte mir eigentlich, Mary anzulügen, aber ich hatte im Moment keine andere Wahl. Wer wusste, was geschah, wenn ich ihr die Wahrheit sagte...

„Schön, Mary“, sagte ich. „Es mag sein, dass ich in letzter Zeit ein wenig nachdenklich bin. Es mag ebenfalls sein, dass ich weggetreten wirke und mich für andere Leute seltsam verhalte. Aber denkst du ernsthaft, dass das irgendetwas mit dem Foto zu tun hat? Du weißt, dass es viele andere Gründe dafür geben kann. Außerdem haben wir bald Weihnachten und du hast mich um diese Zeit oft genug erlebt, oder?“

Sie schaute wieder auf, mit rosigen Wangen, und nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette. „Ja, Thomas, das habe ich. Und ich weiß, zu was du in diesem Zustand in der Lage bist. Hast du wieder damit angefangen?“

Das Gespräch nahm eine Wendung an, die mir immer unangenehmer wurde. Aber daran war ich selber Schuld. Ich hatte ihm diese Richtung gegeben.

„Nein“, sagte ich. „Nein, Mary, ich habe es seit zwei Jahren nicht mehr getan. Das weißt du doch, oder?“

„Ja, natürlich, Thomas.“

„Gut.“

Für eine Weile lag betretenes Schweigen im Raum. Ich dachte schon, das Gröbste wäre vorbei, als sie wieder anfing. „Vielleicht wäre es besser, wenn du wieder zu Dr. Hanslow gehst. Ich meine ...“

„Nein, ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Dr. Hanslow hat mir auch nicht wesentlich weiterhelfen können. Man muss das selber durchstehen.“

Mary beugte sich nach vorne, um ihre Zigarette auszudrücken. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto und verharrte eine Weile dort. Als sie mich wieder ansah, wusste ich, dass das Gespräch beendet war.

„Also schön, dann werde ich mal wieder gehen.“ Ihr Gesichtsausdruck kam mir jetzt noch besorgter vor, außerdem hatte sich eine Spur Resignation hineingeschlichen. Das tat mir leid. Es schmerzte mich, Mary so zu sehen. Doch im Moment wollte der größte Teil von mir, dass sie einfach nur ging und mich mit meinen Gedanken allein ließ.

„Okay“, sagte ich.

Wir standen auf und ich brachte sie zur Tür. Sie stand vor mir, mit gesenktem Kopf und nestelte an ihrer Jacke herum. „Ich melde mich bei dir. Wenn du willst, kannst du dich ja auch melden.“ An ihrer Stimme hörte ich, dass sie nicht davon ausging, dass ich das tun würde.

Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen nahm ich sie in den Arm und sagte: „Danke, Mary.“

Als ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte ich mich an die Wand des Flures, schloss die Augen und atmete einen Augenblick tief durch. Dann ging ich ins Bad und nahm eine Dusche, um mir das Bier und die Aura der letzten halben Stunde vom Körper zu waschen.

Um ein Uhr nachts saß ich, in meinen Bademantel gehüllt, wieder auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer. Ich war damit beschäftigt, nachzudenken. Irgendwie war ich immer noch verstört dadurch, dass Mary so plötzlich in meiner Wohnung gewesen war. Aber das Schlimmste war das Gespräch gewesen, in dem ich sie angelogen hatte. Ich hatte mich mit einer argen Ausrede aus der Affäre ziehen wollen.

Ja, es stimmte, ich war für gewöhnlich um die Weihnachtszeit herum ein wenig seltsam. Vielleicht könnte man es als eine Art Depression bezeichnen, aber das bezweifelte ich. Wenn überhaupt, litt ich die ganze Zeit über an einer ständig unterschwellig vorhandenen Depression, die sich zu dieser Zeit nur steigerte. Der Grund dafür war sehr simpel: Am 22. Dezember 1989 waren meine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Sie waren auf dem Rückweg von einer Weihnachtsparty bei Bekannten und mein Vater hatte zu viel getrunken. Auf einer Landstraße außerhalb Meltrays hatte er die Kontrolle über den alten braunen Ford Kombi verloren und das Auto hatte sich ein paar Mal überschlagen. Meine Mutter war nicht angeschnallt gewesen und wurde aus dem Wagen geschleudert. Sie brach sich das Genick. Mein Vater erlitt einen Schädelbruch. Als es passierte, war ich allein zu Hause. Irgendwann mitten in der Nacht kam Mary Stoleham, eine der besten Freundinnen meiner Mutter, in unsere Wohnung. Bei ihr war ein Polizist. Ich hatte geschlafen und als das Licht plötzlich in meinem Zimmer anging und ich den Uniformierten und Mary sah, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass etwas ganz und gar nicht so sein sollte, wie es war.

Die erste Zeit nach dieser Sache kam ich in ein Heim. Dann schaffte es Mary irgendwie, dass ich bei ihr wohnen konnte und dass sie sich um mich kümmern konnte. Ich fragte sie einmal, warum sie das getan hatte. Sie hatte geantwortet, dass sie es erstens meinen Eltern schuldig gewesen wäre und, dass sie zweitens wüsste, dass ich es bei ihr besser hätte, als unter staatlicher Fürsorge.

So wuchs ich also von meinem neunten Lebensjahr an bei Mary auf. Sie war immer gut zu mir und behandelte mich, als wäre ich ihr eigenes Kind (vermutlich war ich das auf eine bestimmte Art und Weise auch; sie hatte nie eigene Kinder gehabt). Ich sah sie auch als meine Mutter an. Jedenfalls bis sich die Dinge änderten und sie eine Frau für mich wurde und ich zu einem Mann...

Ich kam damals in psychologische Behandlung zu Dr. Hanslow. Einem Mann, der mir äußerlich immer so schien, als habe er die Zeit der Hippies nicht überlebt. Ich war ein ruhiges, in mich gekehrtes Kind, das kaum Freunde hatte und nicht viel redete. Irgendwann kam ich mit allem halbwegs klar. Ich ging zur Schule, lebte mit Mary und wuchs heran. Als ich sechzehn war, stellten sich meine „Weihnachtsdepressionen“ ein und ich begann, jedes Jahr um diese Zeit, mir die Arme mit Rasierklingen aufzuschlitzen. Jedes Mal, wenn ich mich schlecht fühlte, griff ich zur Klinge. Mary merkte das natürlich irgendwann und ich musste wieder zu Dr. Hanslow...

Die Erinnerung an all diese Dinge kam mir wieder in den Sinn und ich spürte, wie sie mich mit sich reißen wollten. Sie hatten eine große Macht, diese Gedanken, und man musste vorsichtig mit ihnen umgehen. Außerdem fühlte ich mich schlecht, weil ich Mary angelogen hatte. Aber was hatte ich denn für eine Wahl gehabt? Meine „Weihnachtsdepression“ war dieses Jahr ausgeblieben, stattdessen war ich mit einem Foto und einem unbekannten Beobachter beschäftigt. Wie hätte Mary das verstehen können, wo ich es selbst nicht verstand?

Schwerfällig stand ich vom Sofa auf. Ich war unglaublich müde und wollte nur noch ins Bett. Doch mein Blick fiel auf den Couchtisch und ich sah das Foto von Annabell Conway. Ihre traurigen Augen verursachten fast so etwas wie ein Schuldgefühl in mir, weil ich sie so lange nicht beachtet hatte. Ich nahm das Foto, küsste es und trug es ins Schlafzimmer. Dort stellte ich es an meine Nachttischlampe und schlief, noch während ich es betrachtete, ein.

Obscurus

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