Читать книгу Wovon leben wir? - Marcel Roman - Страница 4
Kapitel 1: Der Baum der Erkenntnis
ОглавлениеWie gesagt, finden wir den Ursprung und die Quelle dieses Konfliktes schon im Garten Eden. Bevor Satan in Form der Schlange auftrat und den Menschen verführte, waren Gott und die Menschen total eins. Es gab keine Parteiungen und Positionen. Nur ein Gebot hatte Gott dem Menschen gegeben: „Von jedem Baum des Gartens darfst du essen, aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben!“ (1 Mose 2,16b-17). Zuvor lesen wir in Vers 9, wie Gott die Bäume des Gartens schuf: „Und der HERR, Gott, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und gut zur Nahrung, und den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens, und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“
Doch leider verführte die Schlange den Menschen zur Auflehnung gegen Gottes Gebot. Mit lügnerischen Worten wandte sich die Schlange in 1. Mose 3,1 an Eva und sagte: „Hat Gott wirklich gesagt: Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr nicht essen?“, wobei sie genau wusste, dass Gott dies nicht gesagt hatte. Denn sie sollten nur von einem Baum nicht essen! Eva ging jedoch auf diese verworrenen Worte ein und antwortete: „Von den Früchten der Bäume des Gartens essen wir; aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen und sollt sie nicht berühren, damit ihr nicht sterbt!“ Interessanterweise haben wir eben gelesen, dass eigentlich der Baum des Lebens in der Mitte des Gartens stand. Auch hatte Gott dem Menschen nichts vom Berühren der Früchte des Baumes der Erkenntnis gesagt. Eva geht auf die verdrehten Fragen der Schlange ein und antwortet ebenso merkwürdig, als sei sie durch die Worte der Schlange bereits verwirrt worden.
Nun widerspricht die Schlange Gottes Worten ganz eindeutig: „Keineswegs werdet ihr sterben! Sondern Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses.“ Eva ließ sich von diesen Worten hinreißen und aß, da sie sah, „dass der Baum begehrenswert war, Einsicht zu geben.“ Nachdem auch Adam davon gegessen hatte und Gott sie zur Strafe aus dem Paradies verbannt hatte, sagte Gott: „Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses.“ Der Mensch hatte also nun tatsächlich die Fähigkeit bekommen, das Gute und das Böse zu erkennen. Und genau hier, mit der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen, begann dieser Konflikt, der sich durch die gesamte Geschichte des Menschen zieht und keine Ende zu nehmen scheint.
Denn leider entschieden und entscheiden sich die Menschen immer wieder genau wie damals Adam und Eva, von dieser Frucht des Baumes der Erkenntnis zu essen. Wenn ich als Historiker in die Geschichte schaue, fallen mir unzählig viele Konflikte ein, die sich auf die Früchte dieses Baumes zurückführen lassen. Gott hat selbst gesagt, dass der Mensch nun das Gute und das Böse erkennen kann, und so essen die Menschen seit Jahrtausenden immer weiter von diesem Baum, der die Menschheit spaltet und entzweit.
Was haben die Früchte dieses Baumes nun mit Spaltung und Entzweiung zu tun? Zunächst müssen wir feststellen, dass dieser Baum nicht „der Baum des Guten und des Bösen“ ist, wie wir es vielleicht unbewusst aus dem Text herauslesen, sondern es ist der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Ich habe mich oft gefragt, woran es liegen könnte, dass Menschen sich in ganz unterschiedlichen Zeiten, in ganz verschiedenen Ländern und Situationen doch immer wieder in relativ ähnlichen Lagern feindlich gegenüberstehen. Irgendwann habe ich verstanden, dass es an den Früchten dieses Baumes liegt. Wenn wir von dessen Früchten leben, werden wir immer zu der einen oder zu der anderen Frucht tendieren.
Dieser Baum und seine Früchte polarisieren, und sie bringen uns in Konflikten immer dazu, uns auf eine Seite zu konzentrieren und für eine Seite Partei zu ergreifen. Wenn wir seine Früchte essen, verlassen und stützen wir uns nicht mehr auf Gott, sondern auf unsere Erkenntnis dieser einen Seite oder Position. Dabei neigen die einen dazu, eher das „Böse“ zu erkennen, während die anderen sich darauf konzentrieren, das „Gute“ zu sehen. Für diese beiden Früchte gibt es in der Geschichte und bis heute unendlich viele Synonyme und Gesichter, aber es bleibt derselbe Konflikt. Daher wollen wir uns diese beiden Früchte im Folgenden etwas näher anschauen.
Menschen, die von diesem Baum eher die Früchte der Erkenntnis des Bösen essen und die deshalb sehr darauf fokussiert sind, das „Böse“ zu erkennen, konzentrieren sich zum Beispiel viel auf Schwierigkeiten und Probleme, sie wollen Bewährtes bewahren, sie sehen den Vorzug des Alten, den man gegen alles Neue verteidigen muss. Es wurden in der Geschichte viele Bezeichnungen für Menschen, die sich von der Frucht der Erkenntnis des Bösen nährten, gefunden. So nannte man sie schon konservativ, nationalistisch, royalistisch, gesetzeskonform, rechts oder was auch immer. Doch erkennen die Menschen nicht, dass hinter all diesen Einzelbezeichnungen, die sie so wichtig finden, immer dieselbe Frucht als Quelle steht.
Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sich darauf konzentrieren, das „Gute“ zu erkennen. Sie setzen sich zum Beispiel sehr für Fortschritt ein, sie wollen dynamisch und frisch sein, für bestimmte Ideale eintreten, ja sogar ein Stück weit rebellisch wirken. Politisch könnte man sie als links, sozialistisch und so weiter bezeichnen. Und genau diese beiden Früchte, die dem Menschen „Erkenntnis“ der einen oder anderen Position verleihen, lassen sich in vielen verschiedenen Situationen wiedererkennen. Dazu ein paar Beispiele.