Читать книгу Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe - Marcel Schwob - Страница 8
KRATES
ОглавлениеEin Zyniker
er kam in theben zur welt, er wurde schü -ler des Diogenes und kannte auch den Alexander. Sein Vater Askondas war begütert und hinterließ ihm zweihundert Talente. Es geschah aber, daß Krates imTheater bei einem Stück des Euripides vor der Gestalt des Myserkönigs Telephos, der als zerlumpter Bettler und mit einem Korb in der Hand auftrat, seiner Berufung inne wurde. Er erhob sich von seinem Platz und verkündete mit lauter Stimme, er werde seine Erbschaft von zweihundert Talenten verteilen; wer wolle, könne sie haben, und daß er sich von jetzt ab mit der Tracht des Telephos begnügen werde. DieThebaner lachten toll und versammelten sich vor seinem Haus; er aber lachte noch toller. Er warf Geld und Hausrat zum Fenster hinaus, nahm einen groben Mantel und einen Quersack und machte sich auf und davon.
In Athen eingetroffen, schlenderte er durch die Straßen oder setzte sich hin, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, mitten in den Kot hinein. Er verwirklichte die Ratschläge des Diogenes. Dessen Tonne aber erschien ihm überflüssig. Denn nach Krates war der Mensch weder eine Schnekkenochein Einsiedlerkrebs. Erbehagtesichsplitternackt im Kehricht, sammelte Brotkrusten,angefaulte Oliven und Fischgräten und füllte seinen Quersack damit. Er sagte, dieser Sack sei eine reiche üppige Stadt, ohne Schmarotzer und ohne Dirnen, und sie werfe ihrem Herrn eine hin reichende Steuer ab: Thymian, Lauch, Feigen und Brot. So trug Krates sein Reich auf seinem Rücken und zog seine Nahrung daraus.
Er kümmerte sich nicht im geringsten um die Staatsangelegenheiten, nicht einmal, um sie zu bespötteln, und gab sich nicht den Anschein von Mut gegen die Gewaltherrscher. Er billigte keineswegs die Handlungsweise des Diogenes, der einesTags aufbrüllte: „Männer hierher!“ und die daraufhin Herbeieilenden mit dem Stock wieder hinwegprügelte, wobei er ihnen zuschrie: „Ich habe doch, Männer‘ gerufen und nicht,Abschaum der Menschheit‘.“ Krates ging mit den Leuten sanft um. Ihm galt alles gleich. Die Wunden waren ihm Gewohnheit geworden. Er bedauerte nur sehr, keinen so gelenken Körper zu haben, daß er sie hätte belecken können, wie es die Hunde tun. Er beklagte auch, daß man das Essen und Trinken nötig habe. Der Mensch, so dachte er, müßte eigentlich mit sich selbst auskommen, ohne jeden Beistand von außen. Zum mindesten kam er ohne Wasser zum Waschen aus. Er begnügte sich, wenn ihn der Schmutz belästigte, seinen Leib an den Hauswänden zu scheuern, da er bemerkt hatte, daß die Esel auch nicht anders handeln. Von den Göttern sprach er selten, er beunruhigte sich ihretwegen nicht: es war ihm gleich, ob es Götter gibt oder nicht, er wußte wohl, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Höchstens warf er ihnen vor, sie hätten die Menschen absichtlich elend gemacht, da sie deren Gestalt zum Himmel hochgerichtet und sie damit der Fähigkeit beraubt haben, die den meistenTieren eignet: sich auf vier Gliedmaßen fortzubewegen. Haben die Götter schon einmal entschieden, daß man essen muß, so hätten sie auch, meinte Krates, dem Menschen das Gesicht zum Boden wenden müssen, wo die Wurzeln sprießen: man kann sich ja nicht von der Luft oder von den Sternen nähren.
Das Leben war ihm nicht gnädig. Seine Augendrüsen erkrankten unter der beständigen Einwirkung des scharfen attischen Staubes. Eine neue Hautkrankheit übersäte ihn mit Pusteln. Er kratzte sich mit seinen Nägeln, die er nie abkaute, und bemerkte, daß er zweifach gewinne, da er dabei erstens die Nägel abwetze und zweitens sich auch noch Erleichterung verschaffe. Sein langes Haupthaar wurde zu einem dicken Filz, und er schob es auf seinem Kopf zurecht, wenn er sich vor Regen oder vor Sonne schützen wollte.
Als ihn Alexander aufsuchte, erfreute ihn Krates keineswegs durch treffende Aussprüche, er sah ihn an, wie er alle andern ansah, ohne zwischen König und Nicht-König zu unterscheiden. Krates hatte keineStellungzu den Machthabern. Sie waren ihm so wenig wichtig wie die Götter. Wichtig war ihm allein der Mensch, und wie man auf eine möglichst einfache Art leben könnte. Die Mahnreden des Diogenes fand er lächerlich, nicht minder dessen Pläne zur Sittenverbesserung. Krates fühlte sich unendlich erhaben über solche wohlfeilen Sorgen. Den Leitsatz im Giebelfeld des Tempels zu Delphi veränderte er in die Worte: „Lebe dich selbst.“ Die Vorstellung, daß es irgendeine Erkenntnis gäbe, erschien ihm sinnlos. Er untersuchte nur eines: wie sich sein Leib zu den Bedürfnissen seines Leibes verhielte, und war bemüht, diese Bedürfnisse nach Möglichkeit einzuschränken. Diogenes konnte beißen wie die Hunde, Krates aber ganz so leben wie sie.
Er hatte einen Schüler, der hieß Metrokies und war ein reicher junger Mann aus Maronea. Seine Schwester Hipparchia, so schön und vornehm sie war, verliebte sich in den Krates. Es steht fest, daß sie von Liebe zu ihm ergriffen war und ihm nachlief. Die Tatsache erscheint unmöglich, ist aber gesichert. Sie ließ sich durch nichts abschrecken, durch keinen Schmutz, durch keine gänzliche Armut, nicht einmal durch den Schauder vor einem Leben in solcher völligen Öffentlichkeit. Krates warntesie: erlebe nach der Weise der Hunde auf der Gasse und stöbere nach den Knochen in den Kehrichthaufen. Er erklärte ihr, daß sich ihr Leben vor aller Augen abspielen werde und er sie besitzen würde vor allen Leuten, wann immer ihn die Lust dazu ankäme, genau so, wie die Hunde es mit den Hündinnen treiben. Das alles erwartete sich Hipparchia nicht anders. Ihre Eltern wollten ihr nicht nachgeben, da drohte sie mit Selbstmord. Sie hatten Mitleid mit ihr. Hipparchia verließ also das Städtchen Maronea, gänzlich entblößt, mit hängendem Haar, nur mit einer alten Decke versehn, und sie lebte mit Krates und trug sich wie er. Er soll auch ein Kind von ihr gehabt haben, Pasikles; doch weiß man nichts Sicheres darüber.
Die genannte Hipparchia war anscheinend gütig zu den Armen, und voll Teilnahme; sie streichelte die Kranken; sie leckte ohne jeden Ekel die blutenden Wunden der Leidenden, in dem Gefühl, diese seien für sie das, was die Schafe für die Schafe sind und die Hunde für die Hunde. War es kalt, so legten sie sich zu den Ärmsten, eng an sie gepreßt, und gaben sich Müh, ihre Leibeswärme mit ihnen zu teilen. Wortlos gewährten sie ihnen ihre Hilfe, so wie die Tiere einander helfen. Sie waren, ohne irgendeinen zu bevorzugen, gleich gut gegen alle ihre Nächsten. Wenn es nur Menschen waren.
So viel ist uns über das Weib des Krates überliefert; wir wissen nicht, wann sie starb, noch wie. Ihr Bruder Metrokies bewunderte den Krates und eiferte ihm nach. Doch fehlte ihm die Ruhe. Seine Gesundheit war gestört durch beständige Blähungen, die er nicht an sich zu halten vermochte. Er war ganz verzweifelt und beschloß, sich zu töten. Krates erfuhr von seiner unglücklichen Lage und wollte ihn trösten. Er aß eine Unmenge von Wolfsbohnen und ging zu ihm. Er stellte ihm die Frage, ob es bloß die Scham über sein Leiden sei, die ihn derart betrübe. Metrokles gab zu, daß er dieses unanständige Geschick nicht ertragen könne. Da ließ Krates, aufgebläht von den Bohnen, vor seinem Schüler einen Wind nach dem andern streichen und versicherte ihm, das Menschengeschlecht sei diesem Übel von Natur aus unterworfen. Darauf hielt er ihm vor, daß er sich vor andern geschämt habe, und verwies ihn auf sein eigenes Beispiel. Dann ließ er noch einige Winde streichen, nahm seinen Schüler bei der Hand und führte ihn mit sich fort.
Beide blieben nun lange Zeit beisammen in den Straßen von Athen, sicherlich noch mit Hipparchia. Sie wechselten kaum Worte miteinander. Es gab nichts, dessen sie sich geschämt hätten. Wenngleich die Hunde denselben Kehrichthaufen durch wühlten, wagten sich die Tiere doch nicht an sie. Man darf aber annehmen, daß sie, etwa von Hunger geplagt, mit Bissen übereinander hergefallen sind. Jedoch die Geschichtschreiber haben nichts dergleichen berichtet. Wir wissen dafür, daß Krates sehr alt wurde; daß er sich zum Schluß nicht mehr von der Stelle bewegte, hingelagert unter dem Schutzdach eines Hafenspeichers, der den Seeleuten zur V erstauung ihrer Ballen diente; daß er es unterließ, einem Knochen zum Benagen fernerhin nachzulaufen, daß er nicht einmal mehr den Arm ausstrecken wollte, und daß man ihn eines Tages ausgedörrt auffand, verhungert.