Читать книгу Besser im Jenseits als im Abseits - Marcus Lüthke - Страница 4
Geil
ОглавлениеGott, was bin ich geil!
Das ist soweit erst mal nichts Neues. Auch gestern war ich mordsmäßig geil. Und wenn ich mich richtig erinnere, auch am Tag davor. Ehrlich gesagt, ich kann mich an überhaupt keinen Tag erinnern, an dem mich nicht eine enorme Geilheit geplagt hätte. Zwischendurch zwang mich eine schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung in meinem starken linken Arm, etwas kürzer zu treten. Ausgehöhlte, feuchte Brötchen und am Hals mit Sonnenblumenöl eingeschmierte Punica-Flaschen – die mit der großen Öffnung – dienten nur sporadischen und jeweils einmaligen Experimentierzwecken.
Jetzt ist mein Arm wieder gesund, seine Muskeln sind vom ständigen Rauf und Runter hervorragend ausgebildet, und eigentlich könnte ich jetzt gut eine weitere Trainingseinheit einlegen ... Ich bin aber auch so was von geil.
Gerade freunde ich mich mit dem Gedanken an, mein Lieblingsvideo in den Rekorder zu schmeißen – „Schwedische Tropfsteinhöhlen und Feuchtgrotten, Teil 6“ –, um etwas Spelälogie der spaßigen Sorte zu betreiben ... Ich liege schon auf dem Bett, auf der Mattscheibe wuchern die ersten beiden skandinavischen Stalagtiten, als mir einfällt, dass man so etwas ja auch prima zu zweit machen kann. In einem verstaubten und mit Spinnenweben überzogenen Teil meines Gedächtnisses meine ich sogar, eine Erinnerung hervorkramen zu können, in der ich auch schon mal Teil eines solchen Duos gewesen war.
„Verdammt noch mal! Mir reicht’s!“, rufe ich aus und haue mit der freien Hand auf die bereit liegenden Taschentücher. „Heute wird gefickt!“
Hannover am Samstagabend. Inzwischen sitze ich seit einer Stunde auf dem Bett und zermatere mir das Hirn, wo ich jetzt was zum Vögeln herbekomme.
Mein Adressbüchlein gibt in dieser Hinsicht nichts her. Kein ehemaliger One-Night-Stand, den man eben mal anrufen könnte, um alte Zeiten und das eine oder andere Körperteil wieder aufleben zu lassen.
Ich schalte den Computer an, suche nach einem für meine Bedürfnisse geeigneten Chat, werde fündig und bin auf einmal in der virtuellen Welt meiner Stadt. Leider wurde bei Google keine Seite ausgespuckt, die meine drei Suchbegriffe ‚Hannover – Chat – Ficken’ abgedeckt hätte. Hannover und Chat schon. Da bin ich jetzt also. Hm, erst mal einen unmissverständlichen, aber sympathischen und Vertrauen weckenden Namen ausdenken. Das ist leicht. „Lindener Lüstling“ scheint mir eine gute Wahl. Nebenbei befriedigt die Alliteration meinen sprachlichen Ehrgeiz und gibt mir ein sicheres Gefühl.
Wenn man einen Chatraum betritt, sollte man zunächst freundlich grüßen. Das las ich in einem Ratgeber namens ‚Flirten Online’.
„Hallo, ich bin geil!“, betrete ich also den Cyberkontakthof.
Keine Reaktion, obwohl sich mindestens zwanzig Leutchen hier tummeln. Einer tippt immerhin, ich solle die Fresse halten. Der Rest plappert weiter über Nichtigkeiten und faselt dummes Zeug. Scheint eine eingefahrene Clique zu sein, denke ich und starte meinen nächsten wortgewandten Versuch.
„Hey, ich hab’s echt nötig. Kein Witz. Hat eine der Damen Bock?“
Ah! Die ersten Kommentare auf meine unverblümten, aber ehrlichen Worte.
Eine gewisse Anita schreibt, ich solle bitte sofort den Chat verlassen. ‚Netter Peter aus H’ meint, ich solle froh sein, dass er nicht wüsste, wo ich wohne, andernfalls würde er mir nämlich nur allzu gerne die Nase brechen.
Den Vogel aber schießt Svenja42 ab. Sie macht den grandiosen Vorschlag, ich solle mir schleunigst einen runterholen, danach würde es mir bestimmt besser gehen. Es folgen unzählige Lol’s.
Sehr witzig.
Sonderbar, in meinen Filmen reden die alle so, und in der nächsten Szene fließen meistens auch schon die Säfte.
Okay, dann eben nicht. Ohne Tschüs zu sagen verlasse ich den langweiligen Haufen. In echt geht so etwas ohnehin viel besser. Also, raus ins Leben!
Aber nicht, ohne mich vorher entsprechend aufzubrezeln. Das Auge vögelt schließlich mit.
Mit dem gleichen Sonnenblumenöl, das bereits Verwendung gefunden hatte, schmiere ich mir meine Haare nach hinten. Sie glänzen jetzt schön, und das sieht gut aus.
Die Kleidung. Ich entscheide mich gegen das Hawaiihemd und die Goldkette. Klar, auch ein drei Knöpfe weit geöffnetes Magnum-Hemd könnte seinen Zweck erfüllen, aber ich war seit jeher ein großer Freund des Verborgenen, denn Stille Wasser sind tief, und wer als Zweiter kommt, den bestraft das ... Herrje, ich kann kaum noch klar denken vor Geilheit. Da fällt mir was ein. Der Slip! Der Leopardentanga, den ich vor ein paar Tagen günstig bei Ebay geschossen habe, hängt noch auf dem Wäscheständer und ist ein bisschen feucht, aber mit dem Fön bekomme ich ihn schnell trocken. Ständer ... feucht. Ob ich vielleicht doch mal schnell ... Video und Taschentücher und so? Nein! Heute nicht! Heute sind die Taschentücher nur zum Naseputzen da!
Abgesehen vom Raubtierslip halte ich mich eher bedeckt. Ein dezentes rosa Hemd mit hochgeschoppten Ärmeln, eine knallenge Blue Jeans und – weil ich glaube, dass Coolness und Abschleppen eine feste Einheit bilden – die Cowboystiefel.
In Kallis Kleiner Bierklause will ich die ersten Reaktionen auf meine äußere Erscheinung testen.
„Alter! Wie siehst du denn aus?“
Helmut sitzt am Tresen und löst bei Bier und Korn ein Kreuzworträtsel. Ich nehme meine Sonnenbrille ab. „Moin Helmut, alte Säge. Sonst keiner da? Kalli, machst mir Pils und Calvados?“
Ich pflanze mich auf den Hocker neben meinen alten Kumpel und Lieblingsmitarbeiter im Sarah Young-Shop. Er lehnt sich zurück und mustert mich von oben bis unten.
„Sach ma, willst du zum Pornodreh?“
Sein Lachen erstickt in einem schleimigen Hustenanfall.
„Wie? Was Pornodreh? Spinnst du? Ich hab Großes vor heute. Ich reiß heute was auf!“
„So, so, du reißt was auf. Viel Spaß dabei. Aber wenn du mich fragst, erinnerst du mich an … warte, ich hab’s gleich …“ Helmut ist irgendwas über 70. Seinen ersten Job im Pornoverkaufsgewerbe hatte er mit 32. Den Schmuddelfilm, den er nicht kennt, den gibt es nicht. „Ah ja, jetzt fällt’s mir ein. 1982, 00Fick: Sexspionage am Bosperus. Hauptrolle: Stefan das Spritzwunder von Herne Kirchhorst. Der spielte so einen schmierigen Agenten und hatte einen Dildo statt Schaltknüppel in seinem Opel Senator. Schöner Wagen übrigens. Jedenfalls, der sah in dem Streifen genauso aus wie du jetzt.“ Ich kippe meinen Calvados und spüle nach. „Und wie viele Ladies hat er vor seine Agentenflinte bekommen?“, frage ich.
„Fünf. Und eine auf den Schaltdildo“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
„Siehste“, sage ich.
„Was, siehste? Das ist ein Film. Und dazu von 1982“, wendet Helmut ein.
„Egal. Du weißt doch, alles kommt irgendwann wieder. Retro und so.“
Helmut zuckt die Schultern und widmet sich wieder seinem Rätsel.
„Außerdem muss es ‚Das Spritzwunder aus Herne‘ heißen. Nicht von Herne.“
Er wünscht mir viel Glück.
Was soll so einer schon über Frauen und ihre Geschmäcker wissen?
Auf dem Weg zu meinem Jagdrevier lege ich noch einen kurzen Zwischenstopp ein und plaudere bei einem Korn ein bisschen mit dem Kioskbesitzer. Kann mir einfach seinen Namen nicht merken. Klingt so ähnlich wie Mustafa. Ergün? Ali? Keine Ahnung. Er sagt, ich sehe ja spitzenmäßig aus. „Nix Problem so bei Fraue. Tippi-toppi.“ Der Mann hat Ahnung. Obwohl er Tee trinkt.
„So, ich muss los“, sage ich und steige auf mein Fahrrad. „Mach’s mal gut, Mehmet!“
Er ruft mir seinen Namen hinterher, der so ähnlich klingt wie Akbay, und den ich in der nächsten Sekunde wieder vergessen habe.
Ü40-Party im Freizeitheim Linden. Nichts gegen frisches Fleisch, aber ich ziehe die qualitätsbewusste Erfahrung einer unersättlichen Wahllosigkeit vor. Ich weiß schließlich auch, was ich will. Und heute Abend will ich den Rückweg mit ein paar Kilo willigen Fleisches auf dem Gepäckträger antreten. Wäre doch gelacht.
Zu den Klängen von Tina Turners „We Don’t Need Another Hero“ betrete ich den im bunten Discolicht flackernden Saal. Die Turner, denke ich, die käme mir jetzt gerade recht. Wie gesagt, ich bin wirklich ziemlich geil. Ansonsten lungern hier vielleicht dreißig Gestalten rum, ein Pärchen tanzt Standard. Insgeheim hoffe ich, Svenja42 ist auch da. Die könnte mir dann mal so richtig den Marsch blasen.
Gelangweilte Frauen über 40. Leichteres Spiel könnte ich nicht haben.
Betont lässig lasse ich meinen Blick umherschweifen, muss plötzlich an meinen Abtanzball denken, schüttle mich kurz vor Ekel und entdecke eine einsame Braut an der Bar. Bar ist sowieso gut. Mit Pokerface und Händen in den Taschen durchquere ich den Saal und setze mich auf den Hocker neben ihr. Sie wackelt mit dem Fuß zu Chris de Burgh. Nichts auf dieser Welt ist umsonst.
Ich bestelle für sie hörbar einen Bourbon auf Eis, weil es das coolste Getränk der Welt ist.
„Wat?“, fragt der Mann hinter dem Tresen, und er sieht so alt aus, dass ich mich frage, ob er meine Order inhaltlich oder akustisch nicht verstanden hat.
„Whisky. Bourbon“, wiederhole ich.
„Wir ham Cola, Fanta, Apfelsaft, Wasser, Wein und Bier.“
„Okay, dann ein Bier“, sage ich und schaue betörend lächelnd zu meiner Nachbarin herüber.
„Für Sie auch noch etwas?“
Sollte irgendetwas an meinem Körper größer als üblich gewesen sein, so lässt ihr Blick alles wieder auf die Norm schrumpfen.
„Wir duzen uns hier“, erklärt sie mit gerümpfter Nase, nimmt ihr Glas und schafft es, zu Nenas „Leuchtturm“ zu tanzen. Oder was sie dafür hält.
Um es kurz zu machen: Gegen Mitternacht bin ich dermaßen sternhagelvoll, und bis halb eins habe ich sämtliche 13 mögliche Opfer meines Triebes gefragt, ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich mich auf ihnen austobte. Würde auch nur drei Minuten dauern.
Dann tippt mir ein Typ auf die Schulter: „Sag mal, ist jetzt eher unwahrscheinlich, aber es gibt ja solche Zufälle ... Lindener Lüstling?“
Der Alkohol und die Resignation entrauben mich der Möglichkeit, zu verneinen. Ich schaue ihm in die Augen und nicke.
„Angenehm, Netter Peter aus H!“
Als er ausholt, strahlt er über das ganze Gesicht.
Im Krankenwagen wache ich auf. Und muss lächeln.
Ich weiß ganz genau, dass die Schwester eine Schwedin sein wird. Ganz genau weiß ich das.