Читать книгу Cicero: Vom höchsten Gut und vom größten Übel - De finibus bonorum et malorum - Marcus Tullius Cicero - Страница 4
Erstes Buch
ОглавлениеKap. I. (§ 1.) Ich wusste wohl, mein Brutus, dass, als ich das, was die geistreichsten und gelehrtesten Philosophen in griechischer Sprache behandelt hatten, in lateinischer wiedergab, meine Arbeit mancherlei Tadel finden würde. Denn manchen und nicht gerade ungelehrten Männern gefällt das Philosophiren überhaupt nicht; andere wollen eine mässige Thätigkeit hier wohl gestatten, aber meinen, dass man nicht so grossen Fleiss und so viele Mühe darauf verwenden dürfe. Auch giebt es Männer, die, mit den Schriften der Griechen vertraut, die lateinischen verachten und sagen, dass sie ihre Mühe lieber auf jene verwenden mögen. Endlich werden auch Einige mich vermuthlich an andere Wissenschaften verweisen, weil diese Art von Schriftstellerei, trotz des Scharfsinns, doch nach ihrer Meinung meiner Person und Würde nicht gezieme.
(§ 2.) Gegen alle Diese möchte ich hier Einiges sagen. Den Tadlern der Philosophie habe ich zwar schon hinlänglich in jener Schrift geantwortet, worin ich die von Hortensius angeklagte und getadelte Philosophie vertheidigt und gelobt habe, und da diese Schrift sowohl von Dir wie von Allen, denen ich ein Urtheil zutraue, gebilligt worden ist, so bin ich in diesen Arbeiten fortgefahren, damit es nicht scheine, als könnte ich das Interesse für diese Wissenschaft wohl erwecken, aber nicht dauernd erhalten. Wenn dagegen Manche, die dem wohl beistimmen, doch nur eine mässigere Thätigkeit hier gestatten wollen, so fordern sie eine Mässigung bei einem Gegenstande, wo sie schwer einzuhalten ist, und der, einmal aufgenommen, sich nicht in Schranken halten oder wieder bei Seite legen lässt. Vielmehr möchte ich dann eher Jenen beitreten, welche die Philosophie überhaupt nicht zulassen wollen, als Diesen, die eine Schranke für einen Gegenstand ziehen, der unerschöpflich ist und um so besser wird, je grösser er wird.
(§ 3.) Denn wenn man die Weisheit wirklich erreichen kann, so muss man sie nicht blos erwerben, sondern auch geniessen, und wenn ihre Erwerbung schwer fällt, so darf man doch der Erforschung der Wahrheit, bevor man sie erreicht hat, keine Schranke ziehen; auch bleibt die Ermüdung im Suchen da tadelnswerth, wo der gesuchte Gegenstand der schönste ist. Wenn ich aber an meiner Arbeit mich ergötze, so kann doch nur der Neid mich davon abziehen wollen, und wenn ich mich dabei anstrenge, so darf doch ein Dritter fremdem Fleisse keine Grenze ziehen wollen. Wie der gutmüthige Chremes bei Terenz nicht will, dass sein neuer Nachbar »grabe oder pflüge oder sonst so etwas thue« (womit er ihn nicht von der Arbeit, sondern nur von der gemeinen Körperarbeit abhalten will), so machen sich Manche übertriebene Sorge, wenn sie an einer Arbeit Anstoss nehmen, welche mir keineswegs unangenehm ist.
Kap. II. (§ 4.) Schwerer sind Die zufrieden zu stellen, welche die lateinischen Bücher verächtlich von sich weisen; nur wundert es mich bei diesen vor Allem, dass sie in den wichtigsten Dingen an ihrer Muttersprache keine Freude finden und doch die kleinen aus dem Griechischen wörtlich in das Lateinische übersetzten Geschichtchen nicht ungern lesen. Wer könnte wohl Allem, was den römischen Namen trägt, so feind sein, dass er des Ennius Medea und des Pacuvius Antiopa gering schätzte und zurückwiese, während er sich an denselben Stücken von Euripides geständlich ergötzt und nur die lateinischen Schriften hasst? Soll ich denn, höre ich ihn sagen, des Cäcilius Jugendgenossen und des Terenz Andria lesen und nicht lieber des Menander gleichnamige Stücke?
(§ 5.) Allein ich kann dem durchaus nicht beistimmen. Wenn auch Sophokles seine Electra noch so schön verfasst hat, so meine ich doch auch die schlechte Übersetzung des Attilius lesen zu sollen, den Licinius »einen Schriftsteller von Eisen, aber doch immer einen Schriftsteller« nennt, der also gelesen werden soll. Mit unsern Dichtern ganz unbekannt zu sein, ist das Zeichen grosser Trägheit oder verzärtelter Vornehmthuerei, und ich kann Niemand für einen ganzen Gelehrten anerkennen, der unsre Schriften gar nicht kennt. Oder soll man zwar das lateinische Stück: »O! dass nicht im Haine....« lesen, obgleich es auch griechisch vorhanden ist, aber soll es nicht gestattet sein, des Plato Ausführungen über das gute und glückliche Leben lateinisch wiederzugeben?
(§ 6.) Wenn ich nicht blos den Dolmetscher mache, sondern das von Andern Gesagte, so weit ich es billige, vertheidige, mein eigenes Urtheil und meine Darstellungsweise dazu gebe, weshalb sollen da solche Arbeiten von guter Schreibart, die keine blossen Übersetzungen aus dem Griechischen sind, dennoch den griechischen Schriften nachstehn? Wendet man ein, dass die Griechen dies schon Alles behandelt hätten, so darf man dann auch nicht so viel griechische Bücher lesen, als doch geschehen muss. Denn was hätte wohl Chrysipp bei den Stoikern übergangen? und trotzdem liest man den Diogenes, Antipater, Mnesarchus, Panätius und viele Andere, insbesondere unsern Freund Posidonius. Und ergötzt etwa Theophrast weniger, weil er das behandelt, was schon Aristoteles vor ihm behandelt hat? Stehen etwa die Epikureer davon ab, in ihren Schriften Gegenstände, über die sowohl Epikur wie die Alten geschrieben haben, nach ihrem Gutdünken zu behandeln? Und wenn die Griechen von den Griechen gelesen werden, sobald sie dieselben Gegenstände in anderer Weise behandeln, weshalb sollten da meine Schriften nicht von den Unsrigen gelesen werden?
Kap. III. (§ 7.) Wenn ich auch den Plato oder Aristoteles nur einfach so übersetzte, wie unsre Dichter die Fabeln übersetzt haben, so würde ich mich um meine Mitbürger nicht wenig verdient machen, indem ich sie mit jenen göttlichen Männern bekannt machte. Ich habe es bis jetzt nicht gethan, glaube aber wohl, dass auch dies mir gestattet sein wird. Einzelne Stellen werde ich allerdings, wenn es mir passend scheint, übersetzen; insbesondere bei jenen genannten Männern, wenn es sich trifft, dass es passend geschehen kann. Auch Ennius hat dies mit dem Homer, Afranius mit dem Menander so gemacht. Ich werde aber nicht, wie unser Lucilius, gewisse Leser zurückweisen. Lebte doch nur jener Persius noch und vor Allem Scipio und Rutilius, deren Urtheil Lucilius scheute und der deshalb nur von den Tarentinern, Consentiern und Sicilianern gelesen sein wollte. Dies war ein zierlicher Ausspruch, wie wir deren auch anderwärts bei ihm finden; allein so gelehrt waren diese Leute, um deren Urtheil er sich bemühte, damals noch nicht, und seine Schriften gehören zu den leichtern, die zwar durch grosse Feinheit, aber weniger durch Gelehrsamkeit sich auszeichnen.
(§ 8.) Welchen Leser sollte ich aber fürchten, da ich es wage, diese meine Schrift an Dich zu richten, der Du selbst den Griechen in der Philosophie nichts nachgiebst? Allerdings hast Du mir den Anlass durch Dein mir so werthes Buch über die Tugend gegeben, was ich von Dir erhalten habe. Vielleicht haben auch Manche einen Widerwillen gegen lateinische Schriften bekommen, weil sie auf gemeine und widerwärtige Sachen gerathen sind, die aus schlechtem Griechisch in noch schlechteres Latein übertragen worden sind; hier stimme ich ganz bei, sofern man nur auch griechische Schriften über dergleichen nicht lesen mag. Wer wollte dagegen nicht Schriften lesen, die über gute Gegenstände in gewählter Sprache ernst und schön abgefasst sind? Er müsste denn durchaus als Grieche gelten wollen, wie Albucius, der vom Prätor Scävola zu Athen so begrüsst wurde.
(§ 9.) Lucilius hat auch dies sehr schön und durchaus witzig dargestellt, indem er den Scävola vortrefflich sagen lässt: »Lieber ein Grieche willst Du, Albucius, heissen und nicht ein Römer oder Sabiner, oder ein Fahnenträger und Landsmann der Centurionen Pontius und Tritanus, jener wackern und ausgezeichneten Männer? Also begrüsse ich, der Prätor, Dich in Athen bei Deinem Nahen mit griechischen Worten, wie Du es wünschst. chaire! mein Titus! sage ich, und ihr, die Lictoren, die Cohorten und die Menge rufet: chaire Titus! – Seitdem hasst mich Albucius und ist mir feindlich gesinnt.«
(§ 10.) Aber Scävola hat Recht; ich kann nicht begreifen, woher diese übermüthige Verachtung des Vaterländischen kommt? Allerdings ist hier nicht der Ort, dies weitläufig auszuführen, aber ich meine und habe es oft dargelegt, dass die lateinische Sprache keineswegs so arm ist, wie man immer sagt, sondern dass sie sogar reicher als die Griechische ist. Denn wann hat wohl je mir oder vielmehr den guten Rednern und Dichtern, wenigstens seit der Zeit, wo gute Muster zur Nachahmung vorhanden waren, irgend ein Schmuck der Rede zu deren Fülle und Zierlichkeit gefehlt?
Kap. IV. Wenn ich nun in den gerichtlichen Verhandlungen, Mühen und Gefahren den Posten, auf den das römische Volk mich gestellt hatte, nicht glaube verlassen zu haben, so liegt mir fürwahr auch ob, nach Möglichkeit dahin zu wirken, dass meine Mitbürger durch meine Thätigkeit, Fleiss und Anstrengungen kenntnissreicher werden, und ich mag mich nicht mit Denen herumstreiten, welche griechische Bücher vorziehen – sofern sie sie nur wirklich lesen und es nicht blos vorgeben – vielmehr lieber Denen beistehen, welche die Schriften aus beiden Sprachen benutzen wollen, oder die, wenn sie die Schriften in ihrer eigenen Sprache besitzen, die in der andern nicht sehr vermissen.
(§ 11.) Wenn man aber meint, ich sollte lieber über Anderes schreiben, so möge man billig bedenken, dass dies bereits vielfach geschehen ist, und zwar in grösserem Maasse, als von irgend einem der Unsrigen, und dass, wenn ich am Leben bleibe, noch Mehreres nachfolgen wird. Auch wird jeder aufmerksame Leser meiner philosophischen Schriften finden, dass sie mehr als andere des Lesens werth sind. Denn was verdient wohl im Leben grössere Anstrengung als die Philosophie im Allgemeinen und insbesondere die in dieser Schrift enthaltenen Untersuchungen über die höchsten und letzten Ziele, auf die alle Entschlüsse überglückliches Leben und rechtes Handeln zu beziehen sind, so wie über das Höchste, was die Natur unter dem Begehrenswerthen verfolgt und unter dem Üblen flieht? Über diese Fragen herrscht unter den einsichtigsten Männern grosse Uneinigkeit; weshalb sollte es deshalb meiner, von Allen anerkannten Würde zuwider sein, wenn ich untersuche, was bei allen Aufgaben des Lebens das Beste und Richtigste ist?
(§ 12.) Ob das Kind einer Sclavin zur Nutzniessung gehöre, mag unter jenen angesehenen Staatsmännern, wie P. Scävola und Manius Manilius verhandelt werden, und M. Brutus mag hierbei anderer Ansicht sein; dergleichen sind scharfsinnige Untersuchungen, und sie haben ihren Nutzen für den bürgerlichen Verkehr; auch lese ich solche und ähnliche Schriften gern und werde sie auch ferner lesen; aber sollen deshalb die Fragen vernachlässigt werden, welche das ganze Leben befassen? Jene Schriften mögen beliebter sein, aber fruchtbringender sind sicherlich diese, wenn ich auch dem Urtheil der Leser hierin nicht vorgreifen mag. Ich glaube wenigstens in dieser Schrift die Frage über das höchste Gut und Übel vollständig behandelt zu haben, und ich habe nach Möglichkeit darin nicht blos meine eigenen Ansichten, sondern auch die Lehren der verschiedenen philosophischen Schulen dargelegt.
Kap. V. (§ 13.) Um mit dem Leichtesten zu beginnen, trage ich zunächst die Lehre des Epikur vor, die am bekanntesten ist. Du wirst finden, dass ich sie so sorgfältig dargestellt habe, wie es nur die Anhänger dieser Lehre selbst vermögen; denn ich trachte nach der Wahrheit und nicht blos nach der Widerlegung meiner Gegner. Sehr sorgfältig wurden einmal früher des Epikur’s Ansichten über die Lust von L. Torquatus, einem in allen Wissenschaften erfahrenen Manne, vertheidigt. Ich selbst trat ihm damals entgegen, und C. Triarius, ein ernster und kenntnissreicher junger Mann, war bei der Erörterung zugegen.
(§ 14.) Beide hatten mich nämlich auf meinem Gute bei Cumä besucht. Zunächst wurde Einiges über die Wissenschaften, die von Beiden mit dem höchsten Eifer betrieben wurden, verhandelt; dann sagte Torquatus zu mir: Da wir Dich einmal frei von Geschäften angetroffen haben, so möchte ich gern wissen, was Du an unserm Epikur, wenn auch nicht hassest, wie es von seinen Gegnern geschieht, aber doch missbilligst. Ich meine, dass nur er allein die Wahrheit erfasst, die Gemüther der Menschen von den grössten Irrthümern befreit und Alles gelehrt hat, was zu einem guten und glücklichen Leben gehört. Ich vermuthe, dass er Dir und unserm Triarius nur deshalb missfällt, weil er jenen Schmuck der Rede vernachlässigt hat, der sich bei Plato, Aristoteles und Theophrast findet; wenigstens kann ich kaum glauben, dass seine Lehre selbst Dir nicht für die wahre gelten sollte. –
(§ 15.) Da sieh, wie Du Dich irrst, Torquatus, erwiderte ich; sein Styl verletzt mich nicht, denn er drückt vollständig aus, was er sagen will und in verständlicher Weise. Wenn ich nun einen Philosophen, der die Beredsamkeit benutzt, nicht verachte, so tadle ich es doch auch nicht, wenn ein Anderer dies nicht thut. Aber Epikur befriedigt mich in der Sache selbst, und zwar bei vielen Punkten nicht. Indess kann ich mich täuschen, denn: So viele Köpfe, so viele Sinne, sagt das Sprüchwort. – Weshalb genügt er Dir denn nicht? erwiderte Torquatus; denn ich halte Dich für einen billigen Richter, sofern Du nur seine Ansichten genau kennst. –
(§ 16.) Wenn nicht Phädrus und Zeno, antwortete ich, die ich Beide gehört habe, mich belegen haben, so dürfte ich wohl mit der ganzen Lehre Epikur’s vertraut sein. Ich habe Beide mit unserm Freund Atticus fleissig gehört. Ihren emsigen Fleiss abgerechnet, hatten sie nicht meinen Beifall, aber Atticus bewunderte Beide und liebte den Phädrus; deshalb besprachen wir täglich das, was wir bei ihnen gehört hatten, und wenn ein Streit entstand, war es nicht, weil ich ihre Lehre nicht verstanden hätte, sondern weil ich sie nicht billigte. –
Kap. VI. (§17.) Was könnte dies sein? fragte Torquator; ich möchte wohl wissen, was Du nicht billigst. – Zunächst, sagte ich, ist er in seiner Physik, auf die er sich am meisten, einbildet, durchaus ohne eigene Ansichten; er folgt hier dem Demokrit und ändert nur wenig und dabei so, dass er das, was er verbessern will, mir zu verschlechtern scheint. Demokrit lehrt, dass die sogenannten Atome, d.h. die wegen ihrer Dichtheit untheilbaren Körper in dem unendlichen Leeren, in dem es weder ein Oberstes noch ein Unterstes, weder eine Mitte noch einen Anfang oder Ende gebe, sich so bewegen, dass sie bei ihrem Zusammentreffen aneinander hängen blieben, und dass sich daraus alle vorhandenen und sichtbaren Dinge gebildet haben; auch soll diese Bewegung der Atome keinen Anfang gehabt haben, sondern müsse als eine ewige angesehen werden.
(§ 18.) Epikur schwankt nun zwar da nicht, wo er dem Demokrit folgt; indess muss ich, abgesehen von vielen Punkten, wo ich ihnen nicht beitreten kann, insbesondere tadeln, dass sie, indem es sich bei der Erforschung der Natur doch um Zweierlei handelt, einmal, was der Stoff sei, aus dem alle Dinge gebildet sind, und zweitens, welche Kraft dies bewirke, über den Stoff sich wohl ausgelassen, aber die Kraft und wirkende Ursache übergangen haben. Dieser Fehler trifft sie Beide; Epikur hat aber noch seine eigenen Gebrechen; er meint, dass jene untheilbaren und dichten Körper durch ihr eigenes Gewicht sich in gerader Linie nach unten bewegen, und dass dies die natürliche Bewegung aller Körper sei.
(§ 19.) Allein da, wenn Alles, wie er sagt, in gerader Richtung sich nach unten bewegt, man nicht einsieht, wie ein Atom jemals das andere berühren, könne, so stellt dieser scharfsinnige Mann als Verbesserung den Satz auf, dass die Atome ein wenig von der geraden Bewegung abweichen, und zwar so wenig wie möglich. Dadurch sollen die Vereinigungen, Verbindungen und Anhängungen der Atome untereinander entstanden sein, aus denen die Welt und alle Dinge in ihr hervorgegangen seien. Allein einmal ist dies Alles nur eine knabenhafte Erfindung, und dann leistet sie nicht einmal das, was sie soll. Denn jene Abweichung bleibt eine willkürliche Annahme, da sie ohne Ursache geschehen soll, obgleich einem Naturforscher doch nichts schlechter ansteht, als zu sagen, dass Etwas ohne Ursache geschehe; sodann nimmt er damit ohne Grund den Atomen jene von ihm selbst festgestellte natürliche Bewegung, vermöge deren alles Schwere nach unten fällt, ohne doch das, wozu ihm diese Erdichtung dienen soll, zu erreichen.
(§ 20.) Denn wenn alle Atome abweichen, so können sie niemals zusammentreffen; wenn aber nur ein Theil abweicht und die andern nach ihrer Schwere sich senkrecht bewegen, so weist er einmal den Atomen damit gleichsam Gebiete zu, wo sie sich entweder gerade oder schief bewegen sollen, und dann kann ein solches verworrenes Zusammentreffen der Atome die Schönheit dieser Welt nicht hervorbringen, ein Bedenken, was auch Demokrit mit trifft. Sodann darf kein Naturforscher lehren, dass es ein Kleinstes gebe; hätte Epikur lieber sich die Geometrie von seinem Freunde Polyänus lehren lassen, als sie ihn verlernen zu lassen, so würde er nie auf eine solche Meinung gekommen sein. Die Sonne hielt Demokrit für einen grossen Körper, denn er war ein gelehrter und in der Geometrie bewanderter Mann; dagegen soll sie nach Epikur nur ohngefähr einen Fuss gross sein, da er sie nur für so gross hielt, als sie erscheint, oder doch nur ein wenig grösser oder kleiner. –
(§ 21.) So verdirbt Epikur das, was er verändert, und was er beibehält, gehört ganz dem Demokrit an. Die Atome, das Leere, die Bilder, welche sie eidola nennen, durch deren Eindringen man nicht blos sieht, sondern auch denkt, die Unendlichkeit selbst, die sie apeiria nennen, gehören ganz dem Demokrit an; ebenso die unzähligen Welten, welche täglich entstehen und vergehen. Obgleich ich dem keineswegs zustimmen mag, so kann ich es doch nicht billigen, wenn der von Allen gelobte Demokrit gerade von Epikur, der ihm lediglich gefolgt ist, getadelt wird.
Kap. VII. (§ 22.) Was nun den zweiten Theil der Philosophie anlangt, den man die Logik nennt und welcher das Untersuchen und Erörtern behandelt, so scheint mir Euer Philosoph darin sehr schwach und dürftig. Er beseitigt die Definitionen, sagt nichts über Eintheilungen und Abschnitte und lehrt nicht, wie der Vernunftschluss gebildet wird und wirkt; er zeigt auch nicht, auf welchem Wege das Verfängliche gelöst und das Zweideutige beseitigt werden kann. Das Urtheil über die Dinge verlegt er in die Sinne, und ist durch diese einmal Falsches für Wahres geboten worden, so hält er jedes Kennzeichen der Wahrheit und Unwahrheit für aufgehoben.
(§ 23.) Vorzüglich aber begründet er den Satz, dass die Natur selbst, wie er sagt, auswähle und billige, nämlich die Lust und den Schmerz; hierauf bezieht er Alles, was man vermeiden und dem man nachstreben solle. Allerdings ist auch Aristipp dieser Ansicht, und die Cyrenaiker haben sie besser und ungezwungener vertheidigt; aber dennoch kann es nach meinem Urtheil keine des Menschen unwürdigere geben; vielmehr hat die Natur, wie mir scheint, zu Grösserem uns geschaffen und gebildet. Ich kann mich vielleicht irren; aber sicherlich hat doch jener Torquatus, der zuerst diesen Beinamen sich erwarb, die Halskette dem Feinde nicht deshalb entrissen, um damit sich irgendwie körperliche Lust zu verschaffen; noch hat er während seines dritten Consulats mit den Lateinern an der Veseris der Lust wegen gekämpft. Als er aber seinen Sohn mit dem Beile hinrichten liess, scheint er sogar sich vieler Freuden beraubt zu haben, indem er das Recht der Majestät und des Amtes höher als die Natur und die väterliche Liebe stellte.
(§ 24.) Und wie erklärt es sich denn, dass derjenige Torquatus, welcher mit Cn. Octavius Consul war, so streng gegen seinen Sohn verfuhr? Er hatte ihn aus der väterlichen Gewalt entlassen, damit D. Silanus ihn an Kindesstatt annehmen konnte, und forderte ihn zur Verantwortung vor sich, als die macedonischen Gesandten ihn anklagten, er habe sich als Prätor in der Provinz bestechen lassen. Nach Anhörung beider Theil fällte er seinen Spruch dahin, dass sein Sohn sich in seinem Amte nicht so wie seine Vorfahren benommen habe, und er verbot ihm, wieder vor seine Augen zu kommen. Meinst Du, dass er dabei nur an sein Vergnügen gedacht habe? Ich übergehe die Gefahren, Anstrengungen und Schmerzen, welche die besten Männer für das Vaterland und die Ihrigen übernehmen, obgleich ihnen keine Lust dabei sich bietet. Sie gehen vielmehr Allem der Art vorbei und wollen lieber alle Schmerzen ertragen, als irgend eine ihrer Pflichten versäumen; ich wende mich vielmehr zu geringern Dingen, welche dies nicht minder bestätigen.
(§ 25.) Welche Lust hast Du, mein Torquatus, und Du, unser Triarius, nicht von den Wissenschaften, von der Geschichte und der Kenntniss der Dinge und dem Auswendiglernen so vieler Verse? Sage mir nicht: »Dies Alles an sich macht mir Vergnügen, wie Jenes es den Torquatern gemacht hat.« Nirgends vertheidigt Epikur dies so, und auch Du nicht und Niemand, der Verstand hat oder seine Lehre kennt. Wenn man sich aber über die grosse Zahl der Epikureer wundert, so giebt es mancherlei Ursachen dafür; hauptsächlich wird die Menge davon angelockt, weil sie meint, das Gerechte und Sittliche gewähre nach dessen Ausspruche, als solches, durch sich Freude und damit Lust. Die guten Leute sehen nicht ein, dass sein ganzes Lehrgebäude umstürzen würde, wenn es sich so verhielte. Denn wenn Epikur zugestände, dass jene Dinge, auch wenn sie zur sinnlichen Lust nichts beitragen, doch um ihrer willen an sich selbst angenehm seien, so müsste auch die Tugend und das Wissen um ihrer selbst willen erstrebt werden, was er keinesweges will.
(§ 26.) Diese Lehren Epikur’s billige ich also, wie gesagt, nicht; im Übrigen hätte ich gewünscht, er wäre unterrichteter in den Wissenschaften gewesen; denn er ist, wie ja auch Du anerkennen musst, in jenen Wissenschaften und Künsten wenig bewandert, in deren Besitz man zu den Gelehrten gerechnet wird; wenigstens hätte er Andere nicht von der Beschäftigung mit den Wissenschaften abschrecken sollen, obwohl ich sehe, dass Du Dich keinesweges davon hast abschrecken lassen.
Kap. VIII. Ich hatte dies mehr gesagt, um den Torquatus zu reizen, als um selbst das Wort zu führen. Da sprach Triarius lächelnd: Du hast ja den Epikur beinahe ganz aus dem Philosophen-Chor vertrieben; nichts hast Du ihm belassen, als dass Du, wie er auch sprechen mag, verstehst, was er sagt. In der Physik soll er nur die Lehre Anderer vorgetragen haben und selbst diese nicht so, dass Du es billigen kannst; wenn er etwas darin verbessern gewollt, so soll er es verschlechtert haben; die Kunst der Erörterung soll ihm gefehlt haben, und wenn er die Lust für das höchste Gut erklärt, so soll er erstens dies selbst nicht recht eingesehen haben und zweitens es ebenfalls Andern entlehnt haben. Denn schon vor ihm habe Aristipp dasselbe und besser gelehrt; zuletzt hast Du ihn sogar für keinen Gelehrten erklärt. –
(§ 27.) Darauf erwiderte ich: Es ist unmöglich, Triarius, dass man seine Missbilligung nicht da aussprechen soll, wo man anderer Ansicht ist. Was könnte mich hindern, ein Epikureer zu werden, wenn ich seine Lehre billigte? zumal da man sie spielend erlernen kann. Wenn sich deshalb Männer verschiedener Ansicht tadeln, so verdient dies noch keine Rüge; nur Schimpfreden, Verläumdungen, Zorn, Zank, und hartnäckigen Eigensinn bei den Besprechungen halte ich eines Philosophen nicht würdig. –
(§ 28.) Da sagte Torquatus: Ich bin ganz Deiner Meinung; man kann sich nicht streiten, ohne zu tadeln, und ebenso wenig kann man im Zorne oder Eigensinn gründlich erörtern. Aber in der Sache selbst könnte ich wohl antworten, wenn es Euch nicht belästigt. – Glaubst Du, erwiderte ich, dass ich so gesprochen haben würde, wenn ich Dich nicht gern hätte hören wollen ? – Soll ich also, sagte er, die ganze Lehre Epikur’s durchgehen oder nur seine Lehre über die Lust untersuchen, auf die ja aller Streit hinausgeht? – Mache es ganz, sagte ich, wie es Dir angemessen scheint. – Nun gut, erwiderte er, so mag es so sein; ich werde nur einen Gegenstand, aber den wichtigsten erläutern. Über die Physik will ich ein andermal sprechen und hoffe Dir dann sowohl jene Abweichung der Atome wie die Grösse der Sonne zu beweisen, auch dass Epikur viele Irrthümer Demokrit’s aufgedeckt und verbessert hat. Ich beschränke mich also jetzt auf die Frage über die Lust und werde dabei zwar nichts Neues beibringen, aber vertraue, dass auch Du das, was ich sage, billigen wirst. – Gewiss, antwortete ich, werde ich nicht eigensinnig sein, sondern Dir in Allem, was Du mir beweisen wirst, gern beistimmen. –
(§ 29.) Dies wird geschehen, wenn Du so billig bist, wie Du sagst. Ich werde indess dabei im Zusammenhange und fortgehend sprechen, ohne zu fragen oder mich fragen zu lassen. – Wie es Dir beliebt, sagte ich.
Kap. IX. Er begann hierauf folgendermaassen: Zunächst will ich so verfahren, wie es der Stifter dieser Lehre verlangt, und feststellen, was und welcher Art der Gegenstand unserer Untersuchung ist; nicht, weil ich meinte, es sei dies Euch unbekannt, sondern damit meine Darstellung begründet und geradeaus vorschreite. Wir suchen also das höchste und äusserste Gut, was nach aller Philosophen Ansicht so beschaffen sein muss, dass alles Andere auf es zu beziehen ist, während es selbst durch nichts bedingt ist. Epikur setzt dasselbe in die Lust; er erklärt sie für das höchste Gut und den Schmerz für das höchste Übel.
(§ 30.) Er zeigt dies in der Weise, dass jedes lebende Wesen von seiner Geburt ab nach der Lust verlange und sin hrer als des höchsten Gutes erfreue, während es den Schmerz, als das höchste Übel, abweise und möglichst von sich zurückstosse. Dies geschehe von demselben, noch ehe es verdorben worden, lediglich nach dem reinen und unverfälschten Antriebe seiner Natur. Es bedürfe deshalb keiner Gründe und Beweise dafür, weshalb die Lust zu erstreben und der Schmerz zu fliehen sei; dies lehre schon das Gefühl, so wie man wahrnehme, dass das Feuer wärme, der Schneeweiss, der Honig süss sei; für den Beweis dessen bedürfe es keiner besonders ausgewählten Gründe, es genüge, darauf aufmerksam zu machen. Denn die Beweisführung und Schlussfolgerung unterscheide sich von der einfachen Wahrnehmung und Beachtung; jene eröffne das Verborgene und gleichsam Eingewickelte, diese urtheile über das sofort Erfassbare und offen zu Tage Liegende. Nehme man dem Menschen seine Sinne, so verbleibe ihm Nichts; deshalb müsse die Natur selbst beurtheilen, was ihr angenehm oder zuwider sei, und diese bemerke und erkenne als Ursache des Begehrens und Verabscheuens nur die Lust und den Schmerz.
(§ 31.) Doch möchten Manche der Unsrigen dies noch scharfsinniger begründen; sie bestreiten deshalb, dass es genüge, blos nach dem Gefühle zu bestimmen, was ein Gut und was ein Übel sei; vielmehr könne man auch geistig und durch die Vernunft einsehen, dass die Lust um ihrer selbst willen zu suchen und der Schmerz um seiner selbst willen zu fliehen sei. Nach ihnen ist in der Seele des Menschen die natürliche und angeborne Vorstellung enthalten, dass das Eine zu suchen und das Andere zu fliehen sei. Andere dagegen, denen ich beistimme, meinen, dass man hier seiner Sache nicht zu sehr vertrauen dürfe, da von verschiedenen Philosophen Vieles angeführt sei, weshalb die Lust nicht zu den Gütern und der Schmerz nicht zu den Übeln zu rechnen sei; deshalb müsse diese Frage über die Lust und den Schmerz mit Gründen in genauern Erörterungen und reiflichern Erwägungen behandelt werden.
Kap. X. (§ 32.) Damit Ihr indess erkennt, woher dieser ganze Irrthum gekommen ist, und weshalb man die Lust anklagt und den Schmerz lobet, so will ich Euch Alles eröffnen und auseinander setzen, was jener Begründer der Wahrheit und gleichsam Baumeister des glücklichen Lebens selbst darüber gesagt hat. Niemand, sagt er, verschmähe, oder hasse, oder fliehe die Lust als solche, sondern weil grosse Schmerzen ihr folgen, wenn man nicht mit Vernunft ihr nachzugehen verstehe. Ebenso werde der Schmerz als solcher von Niemand geliebt, gesucht und verlangt, sondern weil mitunter solche Zeiten eintreten, dass man mittelst Arbeiten und Schmerzen eine grosse Lust sich zu verschaften suchen müsse. Um hier gleich bei dem Einfachsten stehen zu bleiben, so würde Niemand von uns anstrengende körperliche Übungen vornehmen, wenn er nicht einen Vortheil davon erwartete. Wer dürfte aber wohl Den tadeln, der nach einer Lust verlangt, welcher keine Unannehmlichkeit folgt, oder der einem Schmerze ausweicht, aus dem keine Lust hervorgeht?
(§ 33.) Dagegen tadelt und hasst man mit Recht Den, welcher sich durch die Lockungen einer gegenwärtigen Lust erweichen und verführen lässt, ohne in seiner blinden Begierde zu sehen, welche Schmerzen und Unannehmlichkeiten seiner deshalb warten. Gleiche Schuld treffe Die, welche aus geistiger Schwäche, d.h. um der Arbeit und dem Schmerze zu entgehen, ihre Pflichten verabsäumen. Man kann hier leicht und schnell den richtigen Unterschied treffen; zu einer ruhigen Zeit, wo die Wahl der Entscheidung völlig frei ist und nichts hindert, das zu thun, was den Meisten gefällt, hat man jede Lust zu erfassen und jeden Schmerz abzuhalten; aber zu Zeiten trifft es sich in Folge von schuldigen Pflichten oder von sachlicher Noth, dass man die Lust zurückweisen und Beschwerden nicht von sich weisen darf. Deshalb trifft der Weise dann eine Auswahl, damit er durch Zurückweisung einer Lust dafür eine grössere erlange oder durch Übernahme gewisser Schmerzen sich grössere erspare.
(§ 34.) Wenn ich an diese Lehre mich halte, weshalb sollte ich da fürchten, sie mit dem Benehmen unserer Torquater nicht in Übereinstimmung bringen zu können? Du hast ihrer eben in treuer Erinnerung und in freundschaftlicher und wohlwollender Gesinnung gedacht, aber ich werde mich durch dies Lob meiner Vorfahren nicht verführen, noch in meinen Antworten bedenklich machen lassen. Ich bitte, in welcher Weise willst Du ihre Thaten erklären? Sollten sie nach Deiner Meinung bei ihrem Anstürmen gegen die bewaffneten Feinde oder bei ihrer Härte gegen ihre Kinder und ihr Blut nicht au ihren Nutzen, nicht an ihren Vortheil gedacht haben? Aber nicht einmal die wilden Thiere handeln so; selbst diese stürzen und stürmen nicht so, dass man nicht einsehen könnte, wohin ihre Bewegungen und Sprünge abzielen.
(§ 35.) Sollten da solche ausgezeichnete Männer so grosse Thaten ohne Grund verrichtet haben? Welcher Grund hier gewirkt hat, werden wir bald sehen; vorläufig halte ich fest, dass, wenn sie wegen irgend eines Grundes dergleichen unzweifelhaft herrliche Thaten verrichtet haben, jedenfalls dann die Tugend an sich für sie nicht der Grund gewesen sein kann. Du sagst: Er hat dem Feinde die Halskette entrissen! – Aber er deckte sich auch, um nicht umzukommen. – Allein er hat sich doch einer grossen Gefahr ausgesetzt. – Ja, aber im Angesicht seines Heeres. – Aber was hätte er damit erreicht? – Lob und Liebe, die sichersten Schutzmittel, um das Leben ohne Furcht zuzubringen. – Er hat seinen Sohn mit dem Tode bestraft. – Hätte er es ohne Grund gethan, so möchte ich nicht der Nachkomme eines so schroffen und grausamen Mannes sein; that er es, um durch seinen Schmerz den Gehorsam und die Achtung vor seinem Feldherrnamt zu stärken und das Heer in einem der schwersten Kriege durch die Furcht vor Strafe in Zucht zu erhalten, so hat er für das Wohl der Bürger gesorgt, in dem, wie er wusste, auch das seinige enthalten war.
(§ 36.) Und diese Gründe reichen weit. Alles, was Eure Reden Rühmeswerthes beigebracht haben, und was insbesondere Du mit Eifer aus den alten Zeiten herbeigeholt hast, wo berühmte und tapfre Männer ihre Thaten nicht um eines Vortheils willen, sondern im Glanze der Rechtschaffenheit vollbracht haben sollen, dies Alles fällt zusammen, wenn, wie ich gesagt, jene Auswahl unter den Dingen statthat und entweder eine Lust aufgegeben wird, um eine desto grössere dadurch zu erlangen, oder wenn ein Schmerz übernommen wird, um grösseren Schmerzen dadurch zu entgehen.
Kap. XI. (§ 37.) Damit dürfte über die glänzenden und ruhmvollen Thaten grosser Männer hier genug gesagt sein, und ich werde bald eine passendere Gelegenheit haben, um die Richtung aller Tugenden nach der Lust hin darzulegen. Jetzt will ich erklären, was und welcher Art die Lust selbst ist, um die irrigen Meinungen Unerfahrener zu beseitigen und zu zeigen, wie ernst, entschlossen und streng jene Lehre ist, die man für wollüstig, verzärtelt und verweichlicht zu halten pflegt. Denn wir suchen nicht blos jene Lust, die durch ihre Süssigkeit die Natur von selbst erregt und von den Sinnen angenehm empfunden wird, sondern vor Allem die Lust, welche man durch die Entfernung allen Schmerzes empfindet. Denn wenn man vom Schmerz erlöst wird, so erfreut man sich gerade an dieser Befreiung und Leere von aller Unannehmlichkeit; Alles aber, dessen man sich erfreut, ist eine Lust, so wie Alles, was uns verletzt, ein Schmerz ist. Deshalb kann die Befreiung von allem Schmerz mit Recht eine Lust genannt werden. So wie der durch Speise und Trank gestillte Hunger und Durst lediglich mittelst der Beseitigung des Unangenehmen die Lust zur Folge hat, so bewirkt überall die Beseitigung des Schmerzes als Folge die Lust.
(§ 38.) Deshalb nahm Epikur kein Mittleres zwischen Schmerz und Lust an, weil gerade jener Zustand, wo man von allen Schmerzen frei ist und welcher Manchem als das Mittlere erscheint, nicht blos eine Lust, sondern sogar die höchste Lust ist. Jedweder, der sich erregt fühlt, muss entweder in Lust oder in Schmerz sich befinden. Mit der Beseitigung aller Schmerzen ist aber nach Epikur die höchste Lust erreicht; man kann dann wohl die Art der Lust noch wechseln und unterscheiden, aber sie nicht mehr vergrössern und erweitern.
(§ 39.) In Athen befindet sich, wie ich von meinem Vater gehört habe, der damit die Stoiker witzig und fein verspottete, auf dem Topfmarkte eine Bildsäule des Chrysipp mit vorgestreckter Hand, welche zeigen soll, wie er sich an folgendem kurzen Schluss ergötzt habe: »Begehret Deine so ausgestreckte Hand, wie sie es jetzt ist, etwas? – Durchaus nichts. – Aber wenn die Lust ein Gut ist, so würde sie es begehren? – Ich glaube ja. – Also ist die Lust kein Gut.« Nicht einmal die Bildsäule, meinte mein Vater, würde, wenn sie reden könnte, so sprechen; denn dieser Schluss treffe wohl die Cyrenaiker richtig, aber nicht den Epikur. Wenn nur dasjenige Lust wäre, was die Sinne so zu sagen kitzelt und mit Süssigkeit ihnen zufliesst und in sie eindringt, so könnte weder die Hand, noch irgend ein anderer Theil mit der blossen Schmerzlosigkeit ohne ein angenehmes Gefühl der Lust zufrieden sein; wenn aber die höchste Lust nach Epikur in der Schmerzlosigkeit bestehe, so sei dem Chrysipp das Erste wohl richtig eingeräumt worden, dass die Hand in solcher Haltung nichts begehre; aber man könne ihm nicht auch das Zweite zugestehen, dass sie die Lustbegehren würde, wenn sie ein Gut sei; vielmehr geschehe dies von ihr nicht, weil Alles, was von Schmerzen frei sei, sich schon in der Lust befinde.
Kap. XII. (§ 40.) Dass nun die Lust das höchste Gut ist, lässt sich leicht daraus abnehmen, dass, wenn man sich einen Menschen vorstellt, der alle Lust der Seele und des Körpers in hohem Maasse, in grosser Menge und ohne Unterlass geniesst, dabei weder durch Schmerzen gedrückt, noch davon bedroht wird, man sich keinen bessern und wünschenswerthern Zustand wie diesen denken kann. Ein Mensch in diesem Zustande muss eine Festigkeit der Seele besitzen, die weder den Tod noch die Schmerzen fürchtet; denn im Tode hat man keine Empfindung mehr, und der Schmerz wird durch seine Länge leichter, und ist er schwer, so pflegt er nur kurze Zeit zu währen, so dass über dessen Schwere sein rasches Vorübergehen und über seine Dauer seine Leichtigkeit tröstet.
(§ 41.) Dazu kommt, dass in solchem Zustande den Menschen kein göttliches Wesen ängstigt und die vergangene Lust ihm nicht entschwindet; vielmehr freut er sich ihrer in steter Erinnerung. Wie könnte da noch irgend etwas Besseres zu solchem Zustande hinzutreten? Nimm dagegen Jemand, der von so grossen körperlichen und geistigen Schmerzen gebeugt wird, wie sie einen Menschen nur treffen können, der dabei keine Aussicht hat, dass sie sich lindern werden, und der weder jetzt eine Lust fühlt noch eine solche erwartet, kann man da einen noch elendern Zustand nennen oder sich vorstellen? Wenn ein von Schmerzen erfülltes Leben am meisten zu fürchten ist, so ist offenbar ein Leben in Schmerzen das höchste Übel, und dem entspricht, dass ein Leben in Lust das höchste ist. Denn unsre Seele hat sonst Nichts, was ihr als Endziel gelten könnte; alle Furcht und alle Krankheit wird auf den Schmerz zurückgeführt, und es giebt ausserdem Nichts, was seiner Natur nach Sorge oder Angst erwecken könnte.
(§ 42.) Überdem nimmt alles Begehren, alles Verabscheuen und alle Thätigkeit ihren Anfang von der Lust oder dem Schmerz, und wenn dies richtig ist, so erhellt, dass alles Rechte und Löbliche auf ein von Lust erfülltes Leben abzielt. Wenn nun Das als das höchste, oder letzte, oder äusserste Gut gelten muss (die Griechen nennen es telos), Was an sich selbst auf nichts Anderes bezogen wird, aber auf welches alles Andere bezogen wird, so muss man anerkennen, dass ein angenehmes Leben das höchste Gut ist.
Kap. XIII. Jene, welche dies höchste Gut nur allein in die Tugend setzen und, durch den Glanz des Wortes geblendet, nicht erkennen, was die Natur verlangt, würden von diesem grossen Irrthume befreit werden, wenn sie den Epikur hören wollten. Denn wenn diese Eure vortrefflichen und schönen Tugenden zu keiner Lust führten, so würde sie Niemand für etwas Löbliches oder Begehrenswerthes halten. So schätzt man die Kunst der Ärzte nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie die Gesundheit bewirkt, und die Kunst des Steuermannes wird nicht als solche, sondern wegen ihres Nutzens für die gute Schifffahrt gelobt, und so würde auch die Weisheit, die nur als die Lebenskunst anzusehen ist nicht begehrt werden, wenn sie nichts bewirkte; man verlangt nach ihr nur, weil sie gleichsam der Werkmeister ist, der die Lust beschafft und bereitet.
(§ 43.) Ihr seht also, was ich unter der Lust verstehe; deshalb lasst Euch durch ihren verhassten Namen meine Rede nicht abschwächen. Nur weil man die Güter und Übel nicht kennt, wird das Leben hauptsächlich beschwerlich; wegen dieses Irrthums büsst man oft die grössten Freuden ein und wird von den härtesten Seelenschmerzen gepeinigt. Deshalb bedarf man der Weisheit, welche alle Strecken und Begierden beseitigt, alle dreisten, falschen Meinungen zerstört und sich damit als den sichersten Führer zur Lust bewährt. Denn nur die Weisheit allein vermag die Seele von der Traurigkeit zu befreien; nur sie lässt uns durch die Furcht nicht in Schrecken gerathen; unter ihrer Führung kann man die Hitze aller Begierden kühlen und ein ruhiges Leben führen. Denn die Begierden sind unersättlich; nicht blos Einzelne, sondern ganze Familien bringen sie in das Verderben, ja oft erschüttern sie selbst den Staat.
(§ 44.) Von den Begierden kommt der Hass, die Uneinigkeit, der Streit, der Aufruhr, der Krieg. Auch werfen sie sich nicht blos nach Aussen und stürzen in blindem Ungestüm nicht blos auf Andere, sondern auch innerlich, in der Seele eingeschlossen, streiten und bekämpfen sie sich selbst und verbittern damit das Leben. Deshalb kann nur der Weise, der alle Eitelkeit und allen Irrthum von sich abgethan und beseitigt hat, zufrieden in den von der Natur gesetzten Schranken ohne Ärger und Furcht sein Leben verbringen.
(§ 45.) Denn welche Unterscheidung ist wohl nützlicher und für ein gutes Leben geeigneter, als die, welche Epikur gezogen hat? In die eine Klasse der Begierden stellte er die natürlichen und zugleich nothwendigen, in die zweite die natürlichen, aber nicht nothwendigen, und in die dritte die, welche weder natürlich noch nothwendig sind. Ihr Verhältniss ist der Art, dass die notwendigen ohne viele Mühe und Kosten sich befriedigen lassen.
(§ 46.) Ebenso verlangen auch die natürlichen nicht viel, weil die Natur selbst die Güter, mit denen sie zufrieden ist, bereitet und abgrenzt; nur von den eitlen Begierden kann weder ein Maass noch ein Ende gefunden werden.
Kap. XIV. Wenn man sieht, wie der Irrthum und die Unwissenheit das ganze Leben in Verwirrung bringt, und wie nur die Weisheit uns vor dem Ungestüm der Lüste und den Schrecknissen der Furcht schützt; wie sie selbst das Unrecht des Schicksals uns mit Geduld ertragen lehrt und die Wege weist, welche zur Ruhe und zur Freiheit von Gemüthsbewegungen führen, wie konnte man da zweifeln und nicht offen anerkennen, dass die Weisheit wegen Gewinnung der Lust zu erstreben und die Unwissenheit wegen des Ungemachs zu fliehen sei!
(§ 47.) Aus demselben Grunde wird, nach unsrer Lehre, auch die Mässigkeit nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern weil sie der Seele den Frieden bringt und die Gemüther gleichsam durch eine gewisse Eintracht beruhigt und besänftigt. Denn die Mässigkeit ist es, welche uns ermahnt, in dem Begehren und dem Fliehen der einzelnen Dinge der Vernunft zu folgen, da es nicht genügt, dass man richtig beurtheile, was zu thun und zu unterlassen sei, sondern dass man auch an diesem Urtheile festhalte. Die meisten Menschen können nicht bei dem, was sie selbst beschlossen haben, beharren und verbleiben, sondern lassen sich durch den entgegentretenden Reiz der Lust besiegen und verführen. Damit begeben sie sich in die Fesseln ihrer Lüste, sehen das Kommende nicht voraus und gerathen deshalb um einer geringen Lust willen, die entweder vermeidlich war, oder die auf andere Weise erlangt werden konnte, oder die sie allenfalls auch ohne Schmerzen entbehren konnten, theils in schwere Krankheiten, theils in Schaden, theils in Schande, ja, oft verfallen sie auch den Strafen der Gerichte und Gesetze.
(§ 48.) Wer aber die Lust so zu geniessen vermag, dass kein Schmerz daraus für ihn hervorgeht, und wer in seinen Urtheilen zurückhält, um nicht, durch die Lust besiegt, das zu thun, was nach der eigenen Ansicht nicht geschehen soll, der erreicht gerade durch Beiseiteschiebung solcher Lust die höchste Lust, und der erträgt auch oft einen Schmerz, um nicht sonst in einen grösseren zu gerathen. Hieraus erhellt, dass auch die Unmässigkeit nicht um ihrer selbst willen zu fliehen ist, und dass man die Mässigkeit nicht begehrt, weil sie die Lust flieht, sondern weil sie die grössere Lust bereitet.
Kap. XV. (§ 49.) Dasselbe wird sich auch für die Tapferkeit ergeben. Denn weder die Verrichtung einer Arbeit noch das Erleiden eines Schmerzes lockt an sich an; auch thut dies nicht die Geduld, die Emsigkeit, das Nachtwachen, ja, selbst der vielgerühmte Fleiss und selbst die Tapferkeit nicht; vielmehr folgt man ihren Geboten nur, damit man ohne Sorgen und Furcht leben könne und man Seele und Leib nach Möglichkeit vor Ungemach bewahre. So wie die Todesfurcht den ganzen Zustand eines ruhigen Lebens verwirrt, und so wie es jämmerlich ist, wenn man den Schmerzen unterliegt oder sie nur mit gedrücktem oder schwächlichem Sinne erträgt, und wie ob dieser Geistesschwäche Viele ihre Eltern, Viele ihre Freunde, Manche ihr Vaterland, die Meisten aber sich selbst gänzlich ins Verderben gestürzt haben, so hält sich umgekehrt ein starker und erhabener Sinn frei von aller Angst und Sorge und verachtet selbst den Tod; denn wer davon getroffen wird, ist eben nur so daran, als wie vor seiner Geburt. Ein solcher ist bereit, Schmerzen zu ertragen, denn er weiss, dass die grössten mit dem Tode enden, dass die kleinen viele Pausen der Ruhe haben und dass man Herr der mässigen Schmerzen werden kann, so dass die erträglichen ausgehalten werden können, und bei den härteren man mit Seelenruhe das Leben, wenn es nicht gefällt, wie ein Theater verlassen kann. Daraus ergiebt sich, dass die Furchtsamkeit und Trägheit nicht ihretwegen getadelt und die Tapferkeit und Gelassenheit nicht ihretwegen gelobt werden; sondern man verwirft jene, weil sie Schmerzen, und wählt diese, weil sie Lust bereiten.
Kap. XVI. (§ 50.) So bleibt nur noch die Gerechtigkeit, um alle Tugenden behandelt zu haben. Auch von ihr kann indess das Gleiche gesagt werden. So wie ich gezeigt habe, dass die Weisheit, Mässigkeit und Tapferkeit mit der Lust in der Art verbunden sind, dass sie in keiner Weise von ihr getrennt und abgesondert werden können, so gilt dies auch von der Gerechtigkeit, die nicht allein niemals Jemandem schadet, sondern immer durch ihre Kraft und Natur beiträgt, das Gemüth zu beruhigen und die Hoffnung zu erhalten, dass Nichts von dem fehlen werde, dessen ein unverdorbener Mensch bedarf. So wie die Verwegenheit, die Ausgelassenheit und Trägheit die Seele immer peinigen, immer aufregen und stören, so beunruhigt auch die Unredlichkeit, wenn sie in dem Gemüth sich festgesetzt hat, durch ihre blosse Gegenwart; wenn sie etwas unternimmt, kann sie trotz aller Heimlichkeit doch nicht sicher sein, dass es immer verborgen bleiben werde; denn in der Regel folgt den Handlungen des Unredlichen zunächst der Verdacht, dann erhebt sich das Gerede und Gerücht, dann der Ankläger und zuletzt der Richter, ja, Viele zeigen sich selbst an, wie während Deines Consulats geschah.
(§ 51.) Selbst wenn Einzelne sich genügend gegen alles Bekanntwerden geschützt und verwahrt zu haben dünken, bleibt ihnen doch die Furcht vor den Göttern, und sie halten jene Angst, die ihr Gemüth »Tag und Nacht« verzehrt, für eine von den unsterblichen Göttern verhängte Strafe. Wie kann wohl aus unrechten Handlungen eine so grosse Minderung der Unannehmlichkeiten des Lebens hervorgehen, dass sie die aus dem Bewusstsein der Unthaten, aus der Strafe der Gesetze und dem Hass der Bürger hervorgehende Steigerung derselben die Wage hielte? Und doch giebt es Menschen, die weder in dem Streben nach Geld, noch nach Ehren, nach Herrschaft, nach sinnlicher Lust, nach leckem Mahlzeiten und neuen Annehmlichkeiten Maass halten. Keine Beute, die sie aus ihren Unthaten gewonnen haben, mindert ihre Begierden; sie werden dadurch nur heftiger, und nur Zwang, aber nicht Ermahnung kann sie im Zaume halten.
(§ 52.) So empfiehlt die wahre Vernunft dem Verständigen die Gerechtigkeit, die Billigkeit, die Treue. Schon dem ungeschickten, dem schwachen Menschen nützt sein Unrechtthun nichts, da er seine Pläne nicht leicht auszuführen und, wenn es geschieht, das Erreichte nicht festzuhalten vermag. Aber auch die Macht an Geist und Vermögen passt besser zu einem edlen Sinne, denn durch einen solchen erlangt man das Wohlwollen der Menschen und, was für die Ruhe des Lebens noch wichtiger ist, ihre Liebe, weil aller Anlass zum Unrechtthun dann fehlt.
(§ 53.) Denn die natürlichen Begierden können leicht und ohne Verletzung Anderer befriedigt werden, und den eitlen Begierden darf man nicht nachgeben, da sie kein Wünschenswerthes begehren und in dem Unrecht selbst mehr Schaden enthalten ist, als Vortheil in den Dingen, die durch das Unrecht erlangt werden. Deshalb kann man auch von der Gerechtigkeit nicht sagen, dass sie um ihrer selbst willen begehrenswerth sei; sie ist es nur, weil sie zur Annehmlichkeit des Lebens am meisten beiträgt. Geliebt zu werden und Andern theuer zu sein, ist angenehm, weil das Leben dadurch sicherer und die Lust vollständiger wird. Wir meinen daher, dass die Unredlichkeit nicht blos deshalb zu fliehen sei, weil sie dem Unredlichen Nachtheil bringt, sondern weit mehr noch, weil sie das von ihr eingenommene Gemüth niemals zu Athem und Ruhe kommen lässt.
(§ 54.) Wenn sonach selbst das Lob der Tugenden, in dem sich die Ausführungen der übrigen Philosophen hauptsächlich so stolz ergehen, zu keinem Ergebnisse führen kann, so lange es nicht auf die Lust gerichtet wird, und wenn die Lust allein es ist, die uns durch ihre Natur anruft und anlockt, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass sie das höchste und äusserste Gut ist, und dass das glückliche Leben nur in einem von Lust erfüllten Leben besteht.
Kap. XVII. (§ 55.) Ich will nun kurz darlegen, was mit diesem festen und gesicherten Grundsatz verknüpft ist. In dem höchsten Gut und Übel, d.h. in der Lust oder in dem Schmerze, kann man sich nicht irren, aber wohl kann man in den Gegenständen fehlgreifen, wenn man nicht weiss, aus welchen Ursachen jene hervorgehen. Wir gestehen, dass die Lust und der Schmerz der Seele aus der Lust und dem Schmerz des Körpers entsteht. Ich gebe deshalb zu, dass, wenn Einzelne von uns hier anderer Ansicht sind, dies, wie Du sagtest, die Sache verloren macht; es sind dies zwar Viele, aber doch nur Unerfahrene. Wenn auch die Lust der Seele uns Freude macht und ihr Schmerz uns unangenehm ist, so entspringen doch beiderlei Gefühle aus dem Körper und werden auf ihn bezogen. Doch kann trotzdem die Lust und der Schmerz der Seele viel grösser als die des Körpers sein; denn mit dem Körper kann man nur das Gegenwärtige und Anwesende empfinden, mit der Seele aber auch das Vergangene und Kommende. Wenn man auch bei körperlichen Schmerzen ebenso in der Seele leidet, so kann doch dieses Gefühl erheblich steigen, wenn man meint, von einem dauernden und endlosen Übel bedroht zu sein; und dasselbe gilt von der Lust, sie steigt, wenn man nichts dergleichen befürchtet.
(§ 56.) So erhellt schon hieraus, dass die grösste Lust und der grösste Schmerz der Seele von höherer Bedeutung für das glückliche oder elende Leben ist, als beiderlei Empfindung, wenn sie gleich lange im Körper ist. Nach unserer Ansicht folgt aus der Entziehung der Lust nicht sofort die Traurigkeit; es müsste denn an Stelle der Lust zufällig ein Schmerz getreten sein; aber umgekehrt erfreut der Nachlass der Schmerzen, auch wenn keine die Sinne erregende Lust nachfolgt, und daraus kann man ersehn, welche grosse Lust in der Schmerzlosigkeit enthalten ist.
(§ 57.) Ebenso wie man durch die Güter, welche man erwartet, aufgerichtet wird, freut man sich ihrer in der Erinnerung. Nur die Thoren quälen sich mit dem Andenken der vergangenen Schmerzen, während der Weise sich an den vergangenen Gütern erfreut, die er in dankbarer Erinnerung sich erneut; denn es liegt in unserer Macht, das Unangenehme gleichsam in ewiges Vergessen zu hüllen und des Angenehmen sich gern und freudig zu erinnern. Betrachtet man aber das Vergangene scharf und aufmerksam, so ereignet es sich, dass, wenn es ein Übel gewesen, man traurig, und wenn es ein Gut gewesen, man fröhlich wird.
Kap. XVIII. Oh! wie herrlich und offen und leicht und gerade aus führt nicht dieser Weg zum glücklichen Leben! Wenn es nichts Besseres für den Menschen geben kann, als frei zu sein vor jedem Schmerz und Unbehagen und die höchste Lust der Seele und des Körpers zu gemessen, seht Ihr da nicht, dass dann nichts, was das Leben fördert, übersehen ist, um das erstrebte höchste Gut so leicht als möglich zu erreichen. Epikur hat es laut genug ausgesprochen, dass Der, welcher, wie Ihr sagt, den Lüsten zu sehr ergeben ist, nicht angenehm leben könne, wenn er nicht weise, anständig und gerecht lebe, und dass er nicht weise, anständig und gerecht lebe, wenn er nicht angenehm lebe.
(§ 58.) Denn selbst ein Staat kann im Aufruhr nicht glücklich sein, noch ein Haus, wenn die Herren uneinig sind; viel weniger kann daher die Seele, welche in Streit und Uneinigkeit mit sich selbst ist, irgend etwas von der reinen und feinern Lust geniessen. Wessen Absichten und Bestrebungen immer einander widersprechend und im Streit sind, der kann von Ruhe und Zufriedenheit nichts empfinden.
(§ 59.) Wenn schon durch schwere Krankheiten des Körpers die Annehmlichkeiten des Lebens gehemmt werden, um wie viel mehr muss das durch Krankheiten der Seele geschehen. Die Krankheiten der Seele bestehn eben in den ungemässigten und eitlen Begierden nach Reichthum, Ruhm, Herrschaft und sinnlicher Lust; dazu kommen Verstimmung, Traurigkeit, Kummer, welche den Geist verzehren und durch Sorgen erschöpfen, wenn der Mensch übersieht, dass die Seele nur das schmerzen kann, was jetzt oder später mit körperlichen Schmerzen verknüpft ist; jeder Thor leidet an einer von diesen Krankheiten, und jeder ist deshalb elend.
(§ 60.) Dazu kommt noch der Tod, der, wie der Fels über dem Tantalus, immer über ihnen hängt, und der Aberglaube, bei dem der davon Erfüllte niemals ruhig werden kann. Dabei denken Solche weder an das vergangene Gute, noch geniessen sie das gegenwärtige, und während sie das Kommende erwarten, werden sie, da hier Gewissheit nicht möglich ist, von Angst und Furcht niedergedrückt und schwer gepeinigt. Erst spät werden sie inne, dass sie vergebens sich um Geld oder Macht oder Reichthum oder Ruhm gemüht haben, wenn sie die Lust nicht erlangen, wegen der sie so viel und so schwer in der brennenden Erwartung, sie zu erreichen, sich geplagt haben.
(§ 61.) Nun schaut auch auf jene kleinlichen und ängstlichen Seelen, die entweder an Allem verzagen oder boshaft, neidisch, schwerfällig, lichtscheu, verläumderisch, scheusslich sind, oder schaut auf Andere, die sinnlichen Ausschweifungen ergeben, oder muthwillig, tollkühn und waghalsig und zugleich unmässig und träge niemals bei einer Meinung beharren. Deshalb hören in dem Leben solcher Leute die Unannehmlichkeiten niemals auf, und deshalb ist kein Thor glücklich und kein Weiser unglücklich. Unsere Gründe für diesen Satz sind weit besser als die der Stoiker; denn diese wollen nur, ich weiss nicht welches Schattenbild für ein Gut anerkennen, was sie mit einem weniger gehaltvollen als blendenden Namen das Rechte nennen; die auf dies Rechte gestützte Tugend soll keiner Lust bedürfen, sondern allein zum glücklichen Leben genügen.
Kap. XIX. (§ 62.) Allerdings kann dies in einem gewissen Sinne behauptet werden, ohne dass wir dem entgegentreten; im Gegentheil, wir stimmen zu, da Epikur das Glück des Weisen immer so beschreibt, dass er seine Begierden in Schranken hält, den Tod nicht scheut, in Betreff der unsterblichen Götter ohne alle Furcht ist, die Wahrheit kennt und nicht ansteht, das Leben zu verlassen, wenn es so besser ist. So ausgerüstet, befindet der Weise sich stets in der Lust; zu jeder Zeit überragt bei ihm die Lust den Schmerz, da er des Vorgegangenen sich dankbar erinnert und das Gegenwärtige in seiner ganzen Fälle und Annehmlichkeit bewusst erfasst; er sorgt sich nicht um das Kommende, sondern geniesst in dessen Erwartung das Gegenwärtige. So ist er von jenen Fehlern, die ich vorhin erwähnte, völlig frei und wird von einer hohen Freude erfüllt, wenn er das Leben des Thoren mit dem seinigen vergleicht. Treffen den Weisen einmal Schmerzen, so sind sie doch nie von einer solchen Stärke, dass er nicht immer mehr haben sollte von dem, was ihn erfreut, als von dem, was ihn ängstigt.
(§ 63.) Vortrefflich ist der Ausspruch Epikur’s, dass das Schicksal dem Weisen nur wenig in den Weg trete; dass die grössten und wichtigsten Angelegenheiten nach seinem Rath und seiner Anweisung besorgt werden, und dass selbst ein unendlich langes Leben nicht mehr Lust gewähren könne, als schon das jetzige beschränkte gewähre. Von Eurer Dialektik meinte er, dass sie kein Mittel zum bessern Leben sei und selbst bei den Erörterungen nichts nütze; auf die Naturwissenschaften legte er aber grosses Gewicht; durch sie könne auch die Kraft der Worte, die Natur der Rede und das Verhältniss der Einstimmung und des Widerstreits erkannt werden, und durch die Erkenntniss der Natur aller Dinge werde man allein von dem Aberglauben befreit, von der Todesfurcht erlöst und nicht irregeführt durch jene Unkenntniss der Dinge, welche oft ausserordentliche Schrecknisse veranlasse. Selbst sittlich besser werde man, wenn man gelernt habe, was die Natur verlangt. Hält man die Erkenntniss der Dinge unverrückt fest und bewahrt man dabei jene Regel, die für die Erkenntniss der Dinge gleichsam vom Himmel gefallen ist und nach der sich alle Urtheile über die Dinge bestimmen, so wird man niemals, durch die Rede eines Andern besiegt, seine Meinung aufzugeben brauchen.
(§ 64.) Aber ohne Erkenntniss der Natur der Dinge wird man niemals die Ansprüche der Sinne vertheidigen können. Überdem kommt Alles, was man im Geiste sieht, von den Sinnen, und man kann nur dann mittelst ihrer Etwas wahrnehmen und erkennen, wenn sie sämmtlich als wahrhaft gelten, wie Epikur’s Lehre besagt. Erkennt man dies nicht an und leugnet man eine Erkenntniss durch die Sinne, so kann man bei solcher Beseitigung derselben nicht einmal das verständlich machen, was man verhandelt. Auch wird mit Aufhebung der Kennt nisse und Wissenschaften aller Anhalt für die Führung des Lebens und die Besorgung der Geschäfte unmöglich. Somit wird durch die Naturwissenschaft auch die Festigkeit gegen alle Todesfurcht und die Unerschütterlichkeit gegen die Drohungen der Religion gewonnen. Ist die Unwissenheit über die verborgenen Dinge beseitigt, so tritt die Ruhe des Gemüths ein, und wenn die Natur der Begierden und ihrer Arten eingesehen ist, so folgt die Mässigung. Mit jener erwähnten Regel der Erkenntniss und mit dem von ihr geleiteten Urtheile wird die Unterscheidung des Wahren und Falschen gewonnen.
Kap. XX. (§ 65.) So bleibt mir für unsre Besprechung nur noch ein wichtiger Gegenstand, die Freundschaft, deren Möglichkeit Ihr bestreitet, wenn die Lust das höchste Gut sein soll. Epikur sagt von ihr, dass unter allen Dingen, welche die Weisheit für ein glückliches Leben beschaffen könne, keines grösser und fruchtbarer und angenehmer sei, als die Freundschaft; ein Ausspruch, den er nicht blos durch seine Studien, sondern noch mehr durch sein Leben, seine Thaten und Sitten bestätigt hat. Welch grosses Gut die Freundschaft ist, zeigen schon die Fabeln, welche die Alten erfunden haben. Obgleich seit dem entferntesten Alterthume dergleichen in grosser Zahl und Mannichfaltigkeit gedichtet worden sind, so finden sich von Theseus bis zu Orest doch kaum drei Freundschaftspaare darin. Welche grössere Schaaren von Freunden, die in fester Liebe verbunden waren, hat dagegen Epikur in seinem einen und noch dazu kleinen Hause versammelt? Noch jetzt wiederholt sich dies bei den Epikureern. Doch ich komme zur Sache zurück und brauche nicht von den Personen zu reden.
(§ 66.) Ich finde, dass die Unsrigen in dreifacher Weise die Freundschaft besprochen haben. Die Einen leugnen, dass die auf Freundschaft bezügliche Lust ebenso wie die eigene Lust um ihrer selbst willen zu suchen sei. Damit scheint Manchem die Festigkeit der Freundschaft erschüttert; indess halten Jene an ihrem Ausspruch fest und helfen, wie mir scheint, sich leicht aus dieser Schwierigkeit heraus, indem sie behaupten, dass, wie nach dem Früheren die Tugenden, so auch die Freundschaft nicht ohne Lust sein könne. Ein einsames Leben ohne Freunde sei voll Gefahren und Furcht, deshalb fordere schon die Vernunft, sich Freunde zu erwerben; deren Erlangung gebe der Seele Vertrauen, und sie lasse sich dann die Hoffnung auf zu gewinnende Lust nicht nehmen.
(§ 67.) So wie der Hass, der Neid, die Geringschätzung der Lust zuwider sind, so sind die Freundschaften nicht blos die treuesten Beschützer der Lust, sondern bewirken auch die Lust, nicht blos bei den Freunden, sondern auch bei sich selbst; sie gewähren nicht blos einen gegenwärtigen Genuss, sondern stärken auch durch die Hoffnung auf die folgenden und spätern Zeiten. Wenn man also in keiner Weise ohne Freundschaft ein angenehmes Leben sich sicher und dauerhaft erhalten kann, und wenn man die Freundschaft, ohne die Freunde wie uns selbst zu lieben, nicht bewahren kann, so wird gerade dies in der Freundschaft verwirklicht und die Freundschaft mit der Lust verknüpft; denn man erfreut sich an der Lust der Freunde wie an seiner eigenen und leidet ebenso mit ihren Ängsten.
(§ 68.) Deshalb ist der Weise gegen seine Freunde ebenso gesinnt wie gegen sich selbst, und die Mühe, die er für seine eigene Lust, übernehmen würde, übernimmt er auch für die seiner Freunde. Alles, was von den Tugenden gesagt worden und von der Art, wie sie immer der Lust einwohnen, das gilt auch von der Freundschaft. Herrlich ist der Ausspruch Epikur’s, der ohngefähr so lautet: »Derselbe Grundsatz, welcher die Seele ermuthigt, kein Übel als ein ewiges oder anhaltendes zu fürchten, lässt auch erkennen, dass während dieses Lebens der Schutz der Freundschaft der festeste ist.«
(§ 69.) Manche Epikureer verhalten sich indess etwas verzagter gegen Euer Schimpfen, aber sind doch ganz scharfsinnig. Sie fürchten, dass alle Freundschaft hinkend werden würde, wenn man sie nur der eignen Lust wegen begehrte. Nach ihnen erfolgt zwar das Zusammentreten, die Verbindung und der Wille zu gemeinsamem Umgang zuerst um der eignen Lust willen; wenn aber der fortgesetzte Verkehr die Vertraulichkeit herbeigeführt habe, so erwachse daraus eine solche Liebe, dass die Freunde, auch wenn die Freundschaft keinen Nutzen gewährt, sich um ihrer selbst willen lieben. Sie meinen, dass man durch Gewohnheit ja schon Plätze, heilige Orte, Städte, Gymnasien, das Feld, die Hunde, die Pferde, die Spiele, die Leibesübungen und Jagden lieb zu gewinnen pflege; um so viel mehr und mit mehr Recht könne dies also auch für den Umgang mit Menschen geschehen.
(§ 70.) Man behauptet sogar, dass die Weisen einen Bund geschlossen haben, die Freunde nicht weniger wie sich selbst zu lieben; dies halte ich nicht allein für möglich, sondern es ist auch oft geschehen, und es erhellt, dass eine solche Verbindung das trefflichste Mittel für ein angenehmes Leben sein muss. Aus Alledem kann man abnehmen, dass das Wesen der Freundschaft nicht leidet, wenn das höchste Gut in die Lust gesetzt wird, sondern dass ohnedem die Verbindungen der Freundschaft überhaupt nicht angetroffen werden können.
Kap. XXI. (§ 71.) Wenn somit das, was ich gesagt, heller und klarer ist als die Sonne; wenn ich Alles als aus dem Quell der Natur geschöpft dargelegt habe; wenn meine ganze Rede ihre Bestätigung durch die Sinne, als den unbestochenen und wahrhaften Zeugen, erhält; wenn die kleinen Kinder, ja selbst die stummen Thiere es unter Führung ihrer Lehrerin Natur beinahe aussprechen, dass nur die Lust glücklich mache und nur der Schmerz hart sei, und dieses ihr Urtheil weder verderbt noch bestochen ist, sollte man da dem Manne nicht Dank wissen, der diese Stimme der Natur gleichsam vernommen und so fest und ernst zusammengestellt hat, dass damit jeder Mensch mit gesunden Sinnen auf den Weg eines besänftigten, ruhigen, gelassenen, glücklichen Lebens gelangen kann? Und wenn Du Epikur für wenig gelehrt hältst, so kommt es nur davon, dass ihm blos das als Gelehrsamkeit galt, was die Einrichtung des glücklichen Lebens fördert.
(§ 72.) Sollte er etwa seine Zeit im Lesen der Dichter verbringen, wie ich und Triarius auf Deine Ermahnung thun, in denen nichts wahrhaft Nützliches, sondern nur ein kindisches Vergnügen zu finden ist; oder sollte er sich wie Plato in der Erforschung der Musik, der Geometrie, der Zahlen und Gestirne aufreiben, die von falschen Anfängen ausgehn und deshalb nicht wahr sein können, und wenn sie es auch wären, doch zum angenehmeren, d.h. zum besseren Leben nichts beitragen würden; sollte er also diese Künste treiben und dafür jene grosse und mühsame, aber auch fruchtbringende Kunst des Lebens aufgeben? Sicherlich ist Epikur kein Ungelehrter, sondern jene sind es, welche meinen, dass sie das, was sie als Knaben schmählicher Weise zu lernen versäumt haben, bis zu ihrem Greisenalter nachzuholen haben. – Torquatus schloss hier seine Rede mit den Worten: Ich habe meine Ansichten auseinandergesetzt, und zwar, um Dein Urtheil hierüber zu erfahren. Bisher hatte sich mir die Gelegenheit, dies ganz nach meinem Ermessen zu thun, niemals geboten.
– Ende Erstes Buch –