Читать книгу Eisaugen - Margit Kruse - Страница 7
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ОглавлениеSie hätte dagelegen, als schliefe sie, hatte ihr ihre Mutter am Telefon erzählt. Oh, wie sie es hasste, wenn man sie auf ihrer Arbeitsstelle anrief und sie über Lautsprecher ausgerufen werden musste. Die hämischen Kommentare ihrer Kolleginnen und der wütende Blick des Abteilungsleiters hatten sie bis hinter die Stahltür begleitet, die zu dem Büro führte, wo sie das Gespräch entgegennahm. Was hat Waltraud denn nun wieder?, fragte sie sich. Sie wusste, dass es nur ihre Mutter sein konnte, da sich alle anderen an das Bei-der-Arbeit-Anrufverbot hielten.
Eine junge Frau, Anfang 20, mit langen blonden Haaren, war in den frühen Morgenstunden auf dem Friedhof tot aufgefunden worden, berichtete ihr ihre Mutter aufgeregt. Im Garten der Erinnerung, einem neu angelegten Gemeinschaftsfeld, hätte man sie, mit einer Baccara-Rose in der rechten Hand, entdeckt. Natürlich war ihre Mutter, Waltraud Sommerfeld, sofort zum Tatort geeilt, als ihr ein Nachbar, der gerade von der Nachtschicht mit dem Fahrrad dort vorbeigefahren war, davon erzählt hatte.
Sie hatte sich blitzschnell ihren blauen Regenmantel über ihren Schlafanzug gezogen, ihrem Goldfasan »Ich bin gleich wieder da« zugerufen und war die Treppen hinuntergestürzt. Es wurde gerade erst hell. Da die Aprilnächte reichlich kalt sein konnten, wurde Waltraud sich ihrer nackten Füße in den Birkenstocklatschen erst 400 Meter weiter, als sie den Friedhof bereits betreten hatte, bewusst. Doch jetzt gab es für sie kein Zurück mehr. Sie sah in der Ferne das Blaulicht blinken und einige silber-blaue Polizeiautos den Weg versperren. Vor Aufregung und purer Sensationslust schlug Waltrauds Herz schneller.
Ein kalter Windstoß fuhr unter ihren Regenmantel, als sie wie von Sinnen zum Tatort hetzte. Genau bis zum Flatterband, mit welchem der Fundort abgesperrt war, ließ man sie vordringen. Etliche Uniformierte sowie normal Gekleidete, Waltraud vermutete Kripomänner, schüttelten sich stumm die Hände. Ein Weiterer saß auf der gegenüberliegenden Bank und tippte etwas in sein Notebook. Der dickste der normal Gekleideten war wohl der Chef und gab den anderen gewichtig Anweisungen.
»Furchtbare Sache, so ein junges Ding«, hörte sie den Dicken sagen.
Ein Streifenwagen stand direkt am Eingang des Feldes. Im Flackern seines Blaulichts konnte sie den Körper der jungen Frau sogar sehen. Als der Lichtkegel die Tote erfasste, leuchtete das weiße Gesicht der Frau gespenstisch auf und Waltraud hätte am liebsten laut geschrien. Die junge Frau war vollständig bekleidet. Der Gerichtsmediziner machte sich an ihrem Hals zu schaffen und Waltraud vernahm Worte wie: »Blutunterlaufene Stelle, Würgemale und Hämatome«. Ach ja, und gerade noch hörte sie »Sie ist mindestens sechs Stunden tot!«, da wurde sie auch gleich von einem Uniformierten regelrecht vom Fundort verjagt.
»Mutti, nun aber mal ab nach Hause. Wirst schon morgen alles inne Zeitung lesen!« Ruppig packte er sie am Oberarm und schob sie in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Unverschämtheit!«, rief Waltraud ihm hinterher und machte sich, nicht ohne Stolz, auf den Heimweg. Sie, Waltraud Sommerfeld, war dabei gewesen, als man die Leiche fand, würde sie in wenigen Stunden all ihren Nachbarn und Freundinnen erzählen. Und natürlich ihrer Tochter. Die musste es sofort wissen. Gleich wenn ihre Arbeitszeit beginnt, werde ich sie anrufen, dachte Waltraud völlig erregt.
Wer macht so etwas?, fragte Margareta sich. Der Schock über die grausame Tat unweit ihrer Wohnung war größer als der Ärger über den Anruf ihrer Mutter. Und ausgerechnet im Garten der Erinnerung, dem neuen Feld. Oft hatte sie dort auf einer Steinbank gegenüber der Skulptur gesessen. Gerade dort hatte man die tote Frau gefunden. Mit einer Rose in der Hand. Wie furchtbar.
Gleich nachdem sie Feierabend hatte, entschloss sie sich zu einem Spaziergang auf dem Friedhof. Neugierde war es, welche sie veranlasste, ihn an diesem Abend aufzusuchen. Das Wetter war gut, die Abendsonne schien, nachdem man einige Tage zuvor die Uhr auf Sommerzeit umgestellt hatte. Sie warf, während sie sich umzog, einen kurzen Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster hinüber zu Karols Domizil und sah ihn wieder einmal an seinem Tisch sitzen. Auf dem niedrigen Schemel. Einige Nägel zwischen seine Lippen geklemmt, war er ganz in seine Arbeit vertieft, sodass er sie nicht bemerkte. Er trug über einem blau gestreiften, schlafanzugähnlichen Hemd seine verklebte Arbeitsschürze und schlug kräftig mit dem Hammer auf einen Schuh ein, den seine Beine umklammert hielten. Und das mit einer solchen Begeisterung! Margareta schüttelte darüber nur mit dem Kopf. Dem ist einfach nicht zu helfen, diesem starrsinnigen Kerl. Sie zog ihre Jacke an und verließ ihre Wohnung gegen 19 Uhr.
Sie atmete tief die milde Frühlingsluft ein und erfreute sich an den blühenden Blumen in den Vorgärten des Wetterwegs. Als sie das einsame Friedhofstor am Ende der Siedlung erreichte, war ihr etwas mulmig zumute. Sie schob ihre Ängste beiseite. Was soll mir schon passieren? Das wäre ja ein toller Zufall, wenn man an einem Tag auf dem Friedhof zwei Leichen finden würde. Laut Statistik fast unmöglich. Auf dem Hauptweg Richtung Trauerhalle kam ihr Walter Hartmann entgegen. Sie musste schmunzeln. Na, der hat heute aber spät Feierabend. Walter Hartmann war Junggeselle und wohnte mit seiner Mutti schräg gegenüber ihren Eltern in einer Zweizimmerdachwohnung. Oh, wie oft hatte ihre liebe Mutter ihr diesen Mann schon anzudrehen versucht.
»Kind, der ist eine gute Partie! Der arbeitet als Inspektor bei der Stadtverwaltung und hat ein gutes Einkommen!«
»Lass mal gut sein, Mutti!«, ließ sie jedes Mal lachend verlauten. Inspektor bei der Stadtverwaltung wurde man schließlich nicht wegen herausragender Leistungen, sondern einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass man viele lange Jahre pünktlich zum Dienst erschienen war und tapfer den Arbeitstag überstanden hatte, ohne einzuschlafen. Das war zumindest Margaretas Überzeugung in Bezug auf Walter.
Sie wusste, dass der liebe Walter, trotz Monatsfahrkarte, nur deshalb den Heimweg von seiner Arbeitsstelle zu Fuß über den Friedhof zurücklegte, um dort eventuell die Frau fürs Leben zu finden. Aber was für ein Leben erwartete die Gute? Das Leben an der Seite eines 50 Jahre alten, bei Mutti lebenden Mannes, der, wenn diese mal stirbt, in ein so tiefes Loch fällt, dass ihn niemand jemals dort herausziehen könnte. Und so lange es Mutti noch gibt, müsste sie sich mit ihr arrangieren, ein Leben zu dritt in einer kleinen Wohnung. Nein, danke!
Sich tief zu einem Gruß verneigend, ging er an ihr vorbei. Er trug den beigen Trenchcoat schon, so lange sie ihn kannte. Die alte Aktentasche unter den Arm geklemmt, ging er mit immens großen Schritten des Weges. Dabei war er eigentlich gar nicht hässlich. Er erinnerte sie ein wenig an John Wayne, den alten Westernhelden. Seine braunen, zurückgekämmten Naturlocken waren entweder fettig oder mit Gel in Form gebracht worden. Würde er zu einer 70er-Jahre-Party eingeladen, bräuchte er sich nicht einmal zu verkleiden. Seine dunkle Hornbrille war mega-out, so wie der ganze Mann samt seiner verstaubten Ansichten nicht in dieses Jahrzehnt passte. Er war übrigens schon seit 30 Jahren auf der Suche nach der passenden Gefährtin für sich und seine Mutti, die ihm über alles ging. Eigentlich brauchte er ja nur jemanden für den Part, den seine Mutti nicht abdeckte. Er war nicht einmal verlegen, als Margareta ihn neulich bei Sinn in der Wäscheabteilung traf, wo er gerade seine Hände in riesige Schlüpfer mit Bein steckte und diese so spreizte, dass der Stoff fast nachgegeben hätte. Welcher Sohn prüfte so sorgfältig die Qualität, bevor er seiner Mutti etwas kaufte?
Und ausgerechnet Schlüpfer? Welcher Mann grüßte in einer solchen Situation freundlich und wühlte weiter mit Begeisterung in den verschiedenen Unterhosen? Ein Geruch von Franzbranntwein hatte sie gestreift, als
sie sich an ihm vorbeidrängen musste. Igitt!
Aber immerhin war er Inspektor. Inspektor im Referat Bauordnung und Bauverwaltung im Buer’schen Rathaus. Er teilte sein heimeliges Büro mit Margaretas Bruder Gisbert, der ebenfalls dort arbeitete beziehungsweise sich da aufhielt. Gisbert erzählte oft witzige Anekdoten aus Walter Hartmanns Junggesellenleben. Beide waren sie für ordnungsbehördliche Verfahren zuständig. Akribisch, wie nur Beamte sein konnten, freuten sie sich über jeden neuen Fall, der wieder etwas frischen Wind in die miefige Amtsstube brachte. Kam ihnen eine Sache zu Augen oder Ohren, die gegen ihre gestrengen Satzungen verstieß, traten sie in Aktion. Und wenn es sich auch nur um einen fünf Zentimeter zu hohen Zaun handelte, rieben sich die beiden die Hände. Endlich kam Action in ihr Beamtenleben. Die Fliegenklatsche und die Kalenderblätter waren vergessen. Jetzt durften die zittrigen Hände wieder über die Tastatur des PCs fliegen. Behördliche Mahnungen mit Anordnungen von Zwangsgeldern wurden flugs geschrieben und versandt.
Mein Bruder ist nicht besser als dieser Walter, dachte Margareta. Beamte sind alle gleich, irgendwie klebt etwas Spießiges an ihnen, fand sie. Obwohl sie sich schon auf den Ostersonntag bei ihrem Bruder, der mit seiner Familie in einem Zechenhäuschen in der Hasseler Körnerstraße lebte, freute. Da hatte sie anschließend mit ihrer Freundin Corinna wieder Gesprächsstoff für mindestens zwei Stunden. Bei Sekt oder Wein würden sie sich über die Eigenarten der beiden Beamten vor Lachen abrollen.
Sie hatte den Fundort der Leiche erreicht. Nichts erinnerte mehr an die grauenvolle Schilderung ihrer Mutter. Nirgendwo die kleinste Spur eines Verbrechens. Alles war wieder hergerichtet, als wäre nie etwas geschehen.
Nachdem sie sich einige Minuten auf der Steinbank im Garten der Erinnerung niedergelassen und auf den Fundort gestarrt hatte, entschloss sie sich, nach Hause zu gehen.
Das Blinken des Anrufbeantworters zeigte ihr eine neue Nachricht an. Noch während sie sich von Jacke und Schuhen befreite, drückte sie die Abspieltaste. Laut vernahm sie die Bariton-Stimme ihres Ex-Geliebten. »Hallo, Gretchen, ich bin’s, Friedbert. Ruf mich doch mal an!«
Ehe seine Stimme restlos verklungen war, drückte sie hastig die Löschtaste, so, als könne sie mit der hinterlassenen Nachricht gleich den ganzen Bertl auslöschen. Schon zum dritten Male hatte er ihr in dieser Woche aufs Band gesprochen. Sie spürte nicht die geringste Lust, ihn anzurufen. Alles war gesagt, sie hatte kein Verlangen, die abgestandene Suppe zum wiederholten Male aufzuwärmen. Als sie im Schlafzimmer das Rollo herunterließ und dabei zu dem sprossenverglasten Fenster des Nebenhauses sah, saß Karol bei schwachem Licht einer winzigen Tischleuchte noch immer über seine Schuhe gebeugt. Hat wohl Großaufträge, volles Programm! Da wird die Kasse klingeln. Alle wollen zu Ostern ihre Frühjahrsschuhe neu besohlt wissen. Wenn er doch einen ähnlichen Eifer bei der Suche nach seiner Mutter an den Tag legen würde. Wann wollte er sich endlich den Behörden stellen? Wie lange wollte er so weitermachen? Nicht mein Problem. Als er in der letzten Nacht an ihrer Tür klingelte, hatte sie nicht reagiert.
Sie schaltete den Fernseher ein, um sich durch die Tagesschau bestätigen zu lassen, dass es den Mordfall wirklich gab und ihre Mutter ihr kein Märchen erzählt hatte. Man zeigte Bilder vom Friedhof und vom Garten der Erinnerung. Die neu installierte Skulptur wurde zum Medienstar. Von der Toten und von Waltraud konnte sie in dem Gewusel der Polizei- und Kripobeamten nichts entdecken. Bei der Toten handelte es sich um die 25-jährige Sabine Pöschl, eine Angestellte eines nahe gelegenen Reiterhofes, die seit zwei Tagen vermisst wurde. Der Name sagte Margareta nichts. Vielleicht würde morgen in der Zeitung mehr über sie stehen. Außerdem hatte sie ja einen eigenen, viel genaueren Berichterstatter, nämlich ihre Mutter.