Читать книгу Das Urvieh - Margret Jacobs - Страница 5
Sex oder kein Sex
ОглавлениеThomas Baldun horchte in den Raum hinein. Niemand war – außer ihm – im Toilettenraum. Das wäre auch schlimm gewesen, oder zumindest unangenehm, wenn sein Chef sich gerade dabei wäre, zu erleichtern.
Der Küster musste grinsen. Sein kleines Spiel war nur ganz für ihn alleine da. Und er konnte es auch nur dann genießen, wenn er hier der einzige Benutzer war. Zum Glück gab es im Moment – neben ihn - nur einen Mann, der hier diesen Raum betreten durfte und der war nicht da. Die männlichen Jugendlichen kamen erst am Nachmittag. Er hatte also genug Zeit, seine Arbeitszeit ein wenig freudvoller zu gestalten.
Was hatte Pastor Krech in seiner letzten Predigt gesagt? Die wahre Freude entsteht aus dem Dienen? Klar, das konnte Thomas Baldun verstehen. Er diente gerne seinem eigenen Körper. Das war sinnvoll und für die körperliche Entspannung effektiv. Er öffnete seinen Hosenschlitz und gab sich der Erregung und dann der Entspannung hin.
Abellus seufzte zufrieden. Holdas Finger glitten mit den Erdkugeln über seinen verspannten Rücken. Er wusste, dass sie nicht weiter gehen würde. Er hätte gerne mit ihr Sex gehabt, aber Holda war wohl in einer Phase, in der sie das uninteressant fand. Koli-Weibchen waren da ganz eigen. Sie wollten nur dann die körperliche Vereinigung, wenn sie Jungen haben wollten. Ansonsten schien sie das wenig zu interessieren. Leider.
Abellus strich versuchsweise über Holdas Bauch. Sie kicherte zwar, aber machte keine Anstalten, sich zu ihm zu legen. Stattdessen rieb sie die restlichen Erdkrümmel an ihren Armen ab und drehte sich von ihm weg. Hoda war ein schönes Weibchen und sie wusste das. Doch zwischen ihnen kam es kaum noch zum Austausch von Zärtlichkeiten. Und Abellus hatte den Verdacht, dass Holda ihn nur deswegen ab und zu massierte, in der Hoffnung, dass ihm nicht auffiel, dass sie sich eigentlich nicht mehr sonderlich gut verstanden. Nicht im Bett und auch sonst nicht.
Er schaute ihr nach, wie sie aus einem Erdloch im Boden eins ihrer Handarbeiten holte. Holda war zufrieden, wenn sie sich mit ihren Dingen beschäftigte. Nun, wenn er ehrlich war, war er zufrieden, wenn er sich mit seinem Hobby beschäftigte: Menschen beobachten. Nein, es war eher seine Passion, nicht nur eine Freizeitbeschäftigung. Es war zu seinem Leben geworden, die Oberwelt zu besuchen und dort Forschungen anzustellen. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, Aufzeichnungen darüber zu machen, was er alles entdeckt hatte und es ärgerte ihn, dass Holda sich so gar nicht für seine Aufzeichnungen und seine Entdeckungen interessierte.
Holda ging dazu über, so zu tun, als wäre ihr Gefährte gar nicht mehr im Raum. Es war nicht so, dass sie es unangenehm fand, ihn zu massieren. Aber es machte ihr auch keine wirkliche Freude. Sie spielte das alles nur vor. Ihre Beziehung war dahin. Schon lange, dass wusste sie. Und sie ahnte, dass Abellus das ähnlich sah. Aber keiner von ihnen beiden, wollte den ersten Schritt machen, um sich voneinander zu trennen. Sie waren schon so viele Jahrzehnte zusammen! Das war ja das Verrückte, obwohl sie sich nichts mehr zu sagen hatten, konnte Holda es sich nicht vorstellen, ohne Abellus zu leben. Er war Teil des Inventars geworden. Er war ein Teil ihres Lebens. Und manchmal konnte sie nicht mal mehr sagen, ob ein angenehmer oder ein unangenehmer.
Thomas Baldun hielt das Ding angewidert an seine Augen. Es war aufgeplatzt und an einem Ende faserig geworden. Eine Frau hatte das Ding, statt in den dafür bereit stehenden Mülleimer, einfach achtlos auf den Boden geworfen. Nun, es war wenigstens nicht in Gebrauch gewesen. Das wäre dann ja wohl auch die Höhe gewesen! Ein gebrauchtes Tampon auf dem Boden der Damentoilette.
Kopfschüttelnd und mit einigem Schwung beförderte Thomas Baldun das Watte-Teil in den dafür vorgesehen Behälter. Der war wieder mal Rand voll mit ekligen Frauensachen. Er versuchte nicht hinzuschauen, als er den Beutel aus dem Mülleimer hob. Schnell knotete er die Enden des Plastikbeutels zusammen und lief dann fast den Gang runter, zum Hinterausgang, wo die Mülleimer für Sondermüll standen. Seit sie keine Putzfrau mehr beschäftigten, musste auch er Arbeitsbereiche abdecken, die ihm nicht gefielen. Den Mülleimer in der Damentoilette leeren, gehörte dazu. Dabei hätte das auch Frau Meier gut machen können. Doch die war vom Pastor nur zum Toiletten reinigen verdonnert worden. Er dagegen musste sich im ganzen Gebäude um den Müll kümmern.
Sein schöne Befriedigung von eben, war wie dahin geflogen. Er fand es ganz und gar nicht erotisch, sich in der Damen Toilette aufhalten zu müssen. Frauen waren ja für Sex o.k., aber für mehr interessierte er sich nicht. Besonders ihre Ausscheidungen, wenn sie nicht mit Sex zusammen hingen, interessierten ihn nicht. Nein, er hatte kein Interesse an der Damenwelt und ihren Schattenseiten.
Jetzt war er so angespannt, dass er glatt noch mal Hand an sich legen hätte müssen, um wieder ruhiger zu werden.
Abellus verstand die Signale von Holda. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Es hatte keinen Sinn, ihr auf die Pelle zu rücken. Was soll es, dachte er. Dann vergnüge ich mich eben wieder oben in der Menschenwelt.
Pastor Krech lächelte vor sich hin. Es machte ihm mehr als Freude, Menschen zu erniedrigen. Er hatte eine gewisse sexuelle Befriedigung dadurch. Nun, seine Kirche erlaubte keine anzüglichen Kontakte mit Weiblichen. Natürlich auch nicht mit Männlichen oder Jüngeren. Das war alles Tabu. Und damit auch für ihn. Aber er hatte schon früh in seiner Jugend festgestellt, dass es ihm Freude sexueller Natur machte, wenn er jemand schlecht behandelte.
Er hatte das auch bei Tieren ausprobiert und den ältlichen, sabbernden Hund seiner Tante mit einem Stock geschlagen. Der Hund heulte damals auf und biss nach ihm, aber das hatte ihm keine Freude gemacht. Und er hatte es schließlich aufgegeben und sich seiner wahren Natur zugewandt. Menschen quälen.
Er ging in seiner Jugend dazu über, einen Schulkameraden regelmäßig zu verprügeln. Dirk war ein dicklicher, unbeholfener Junge, der schnell mit dem Weinen anfing, wenn man ihn quälte. Er mochte das Jammern des Jungen und es reizte ihn, mehr davon zu hören. Es war die Kombination aus menschlichem Gejammer und den angstvollen Gesichtszügen des Jungen, was ihn erregte. Er mochte es, den verzweifelten Blick seines Opfers zu sehen. Und er liebte die Gewissheit, dass sein Opfer wehrlos war und sich nicht gegen ihn widersetzen würde.
Heute quälte er anders.
Er bedauerte es, dass er die Wahrheit der Kirche nicht in seine Gefolgschaft rein prügeln konnte. Das war verboten. Aber er konnte gut mit Worten umgehen und so betonte er in seinen Predigen gerne, dass auch körperliche Züchtigung bei Frauen und Kinder durchaus angebracht war. Bisher hatte sich noch keiner darüber beschwert. Nun, in seiner Kirche saßen ausschließlich Menschen, denen solche Gedanken gefielen. Wie hätte es auch anders sein können?
Zufrieden kaute er an seinem Schinkenbrot, das er sich in der Mitarbeiterküche geschmiert hatte. Nun, die kleinen Snacks für zwischendurch waren seine kleinen Sünden, die er sich ab und zu gönnte. Man konnte es an der Wölbung seines Bauches sehen, dass er dem Essen zugeneigt war. Nun, was sollte es? Kleinen Sünden waren erlaubt, besonders bei so einem schweren Auftrag, den er inne hatte, wie die großen Sünden der Kirchenmitglieder aufzuspüren und auszumerzen.
Aber insgeheim dachte er, dass es noch andere Probleme in der Gemeinde gab. Tiefgründigere. Es war eine heikle Angelegenheit. Aber seit er die Fortbildung gemacht hatte, bei einem Pastor, älteren Semesters, der mit seinem unerschütterlichen Glauben und seiner Weisheit, ihm neue Dimensionen der Erkenntnis geöffnet hatte, lies das Ganze ihm keine Ruhe mehr. Dieses Kapitel des Glaubens hatte er nämlich bisher stark vernachlässigt. Wohl wissend, dass er auf Widerstand stoßen würde, wenn er sich in diese Gewässer vorwagen würde. Das Dämonische. Es war faszinierend und erschreckend zu gleich. Und er war sich sicher, dass es auch in seiner Gemeinde zu finden war. Nur in welcher Form, das wusste er noch nicht.
Nachdenklich biss er ein weiteres Stück Brot ab und kaute es gut durch. Er hatte gehört, dass man abnahm, wenn man sich beim Essen Zeit ließ. Das wollte er versuchen. Irgendwie war es ihm peinlich, dass man seine Sünde der Völlerei so offenkundig sehen konnte.
Aber wo war das Dämonische hier?
Hannelore pfefferte die Schreibtischschublade dermaßen zu, dass es ein Wunder war, das diese heil blieb. Sie konnte machen, was sie wollte, der PC ging stets eigene Wege. Sie hasste das Ding, auch wenn sie wusste, dass es sehr viel mühseliger war, auf einer elektrischen Schreibmaschine die Korrespondenz zu tippen, als auf einem PC. Trotzdem verfluchte sie das Ding.
Ach, wäre ich doch nur nicht Sekretärin geworden, sondern irgendetwas anderes, Aufregendes, draußen an der frischen Luft, dachte sie bei sich. Sie hüstelte. Sie hatte den Eindruck, dass die billige Teppichware ihr den Atem nahm. Sie konnte so viel lüften wie sie wollte, der Gestank nach Plastik ließ sich nicht entfernen. Und eine Atemmaske konnte sie auch nicht tragen, denn ab und zu kam ja ein Besucher und was sollte der dann denken?
Ihre Mutter hatte sie dazu gedrängt, was Anständiges zu werden. Und Sekretärin war halt der Beruf, der als seriös und anerkannt für eine Tochter aus gutem Hause galt. Hannelore seufzte. Sie hatte sich nie getraut, ihrer Mutter Paroli zu bieten. Jetzt hatte sie einen Chef, bei dem sie sich nicht traute, auch nur das kleinste bisschen zu sagen und wenn es auch noch so sehr gerechtfertigt war. Doch nahm sie sich vor, bei der nächsten Mitarbeiterrunde das Teppichwaren-Problem anzusprechen. Sie befürchtete, irgendwann von den giftigen Ausdünstungen, Lungenkrebs zu bekommen. Ein schrecklicher Gedanke!
Unzufrieden hämmerte sie die nächsten Textzeilen in die Tastatur. Sie war froh, dass sie nun alleine in dem Büro saß. Sie hoffte inständig, dass Pastor Krech nicht noch mal heute bei ihr vorbei schauen würde. Bestimmt war er mal wieder nicht einverstanden mit ihrem Arbeitstempo, dabei gab sie sich wirklich Mühe. Na gut, nicht immer. Aber Pastor Krech war auch schwer zufrieden zu stellen. Immer hatte er etwas zu bemängeln. Dieser Mann war die Unruhe in Person. Hannelore konnte sich nicht vorstellen, was Roderich dazu bewogen hatte, Pastor zu werden. Ihrer Meinung nach hätte er besser in den Militärdienst gepasst. Auch konnte sie sich nicht vorstellen, dass Roderich jemals für eine Beziehung offen war, auch nicht in der Zeit als er noch kein Pastor war. Sex hatte er bestimmt auch noch nie gehabt. Er wirkte auf sie so asexuell.
Holda seufzte über ihrer Handarbeitsarbeit. Kolis trugen selten Stoff an sich. Das war eigentlich eine Angewohnheit der Menschen. Aber seit Abellus die Menschen studierte, wollte er auch Bekleidung wie diese haben. Zumindest wollte er kleinere Kleidungsstücke tragen, die leicht herzustellen waren. Sie mühte sich jetzt schon seit Tagen ab, so etwas wie einen kurzen Rock hinzubekommen. Den Stoff und den Faden hatte Abellus aus einem der Räume in dem Gebäude oben geklaut. Holda wäre es lieber gewesen, Abellus hätte die Gegenstände oben gelassen.
Ach ja, eine Nadel zum nähen hatte er auch mitgehen lassen. Diese stach regelmäßig in Holdas Finger und machte ihr so deutlich, dass sie lieber nicht mit Menschengegenständen in Berührung kommen sollte.
Sie leckte das Blut von ihren Fingern und wunderte sich, dass sie diese Arbeit überhaupt für Abellus tat. Schließlich stand es nicht gut zwischen ihnen. Sie machte sich erneut Gedanken darüber, ob sie ihn verlassen sollte oder nicht. Sie zählte die Minuspunkte der Beziehung zu Abellus auf: Sex gab es schon lange keinen mehr zwischen ihnen. Was ihr oft ganz recht war. Miteinander reden taten sie auch nur noch selten und nur dann, wenn es sein musste. Und Abellus schien sich nur noch für die Menschen zu begeistern, für sie dagegen hatte ihr Gefährte kaum noch Interesse. Sie zuckte mit den Achseln. Was sollte sie machen? Sie wusste es wirklich nicht. Nun, bis sie es wusste, konnte sie ja einfach nähen. Warum auch nicht.
Aber diese Gleichgültig konnte auch ein Fehler sein. Ihre Lebenszeit war zwar noch lang, aber trotzdem ärgerte sie sich, dass sie keinen neuen Partner hatte. Sie hatte es ein mal versucht, von Abellus weg zu kommen. Doch der Neue war eine Enttäuschung gewesen. Zu langweilig. Zu bestimmend. Und schließlich hatte sie doch Abellus vermisst.
Einige Wochen ging es dann wieder gut zwischen ihnen. Abellus war nicht nachtragend und offensichtlich froh darüber gewesen, dass er nicht länger alleine mit den Erdtieren in seiner Höhle sitzen musste. Aber der Zustand hatte nicht lange angedauert und schneller als gedacht, waren sie wieder an dem Punkt, wo sie zuletzt standen: Langweile und Desinteresse an dem Partner. Abellus begegnete der Langweile, indem er an die Oberfläche flüchtete – und das immer öfters – und sich so die Zeit vertrieb.
Manchmal dachte Holda, dass sie vielleicht auch ab und zu mal nach oben kriechen sollte. Wenn man Abellus Glauben schenken konnte, war die Welt dort oben aufregender als hier unten. Aber sicher auch gefährlicher. Sehr viel gefährlicher.
Das Röckchen war fertig und sah schief und krumm aus. Abellus würde darin überhaupt nicht sexy aussehen. Sie verstand nicht, warum er sich so was anlegen wollte. Kolis sahen doch nackt sehr viel besser aus.
Abellus betrachtete sich in der Pfütze vor dem Kircheneingang. Es hatte jetzt mehrere Stunden geregnet und hier und da stand das Wasser auf den Gehwegen. Das Wasser gab nur eine verzerrtes Spiegelbild von ihm wieder. Er sah sich kaum. Aber das musste fürs Erste reichen.
Holda wollte wissen, ob sie an dem Rock noch was ändern musste, oder nicht. Er war sich unschlüssig. Für Koli-Weibchen sah er sicherlich damit fürchterlich aus. Aber was sollte es! Er wollte ja kein Weibchen seiner Art aufreißen. Er wollte schick sein nach Menschengeschmack. Er hatte keine Ahnung, ob der Stoff, der um seine Hüften lag und einen Teil seiner Beine bedeckte, elegant war. Aber er fühlte sich gut darin und das war die Hauptsache. Sicherlich würde der Stoff schnell dreckig werden, besonders dann, wenn er den Zugangstunnel zu seiner Höhle entlang kroch. Aber was machte das schon? Ein wenig Dreck hatte noch keinem Koli geschadet.
Und wenn die Menschen ihn doch einmal sahen, dann würden sie ihn, mit dem Tuch um die Hüften, eher als einen Menschen ansehen, als ohne Tuch, da war sich Abellus relativ sicher. Nun, seine schwarze Haut war in dem Fall wohl das kleinere Problem, um als Mensch durch zu gehen, denn er hatte bereits einen Mann mit schwarzer Haut in dem Gebäude gesehen. Der kam ab und zu, saß auf einem der Holzstücke in dem großen Raum und hörte dem Mann von Vorne zu.
Und jetzt hatte Abellus auch noch ein Tuch um die Hüften geschlungen, ganz wie der Mann, der an den zwei Holzstücken hing, hoch oben, fast unter der Decke des großen Raumes. Er schwebte da so und schaute mit geneigtem Kopf auf den Boden. Abellus war der Blickrichtung gefolgt, doch er konnte nichts Besonderes finden, wo der Blick des angenagelten Mannes auftraf. Das war für ihn ein Rätsel. Wieder eins.
Nun, er wusste, dass der Mann an den Holzstücken, kein echter Mann war, denn er war nicht lebendig. Er war wohl eher ein Kunstwerk, das die Menschen besonders liebten, denn es hing sehr zentral im Raum und konnte von allen Seiten gut gesehen werden. Abellus hatte sich eigens dafür fast überall im Raum hingestellt oder gesetzt. Ohne Zweifel, diese Mann-Darstellung war wichtig für die Menschen. Aber warum, ja auch das wusste Abellus nicht. Aber er dachte sich, wenn er ab jetzt in der Menschenwelt so ein Tuch trug, wie der Mann am Holz, dann war er den Menschen doch schon recht ähnlich. Nein, Holda würde nichts mehr an seinem Tuch verändern müssen.
Die Tage darauf gab der Mann am Holz Abellus Rätsel auf. Abellus war sehr neugierig und da er noch nie einen nackten Menschen-Mann gesehen hatte, versuchte er hinter das Tuch des Mannes am Holz zu blicken. Dafür holte er sich einen Stuhl heran, der in der Ecke stand und stieg hinauf. Er verrenkte seinen Kopf, um möglichst nahe an das Tuch heran zu kommen. Doch man konnte nicht dahinter blicken.
Abellus war enttäuscht, er hätte zu gerne gewusst, wir ein Menschen-Mann in seiner Gesamtheit aussah. Na klar, es hätte ihn auch sehr interessiert, wie eine Menschen-Frau nackt aussah, doch es gab in dem Raum und auch in den anderen des Gebäudes, keine nackte Frau. Die waren alle mit sehr viel Stoff bedeckt und er konnte nur Andeutungen von Brüsten entdecken. Nichts verriet, wie sie unten herum aussahen. Er fand es auch lustig, dass keine der Menschen-Frauen an einem Holzstück hing. Die Frauen-Darstellungen standen oder waren auf flachen Flächen zu sehen.
Und was Abellus noch bemerkte, war, dass keiner der Menschen, die hier verewigt waren, dunkle Haut hatten, so wie er. Sie waren alle hell-häutig. Allerdings gab es eine Flachflächendarstellung von einem Lebewesen, dass Abellus ein wenig ähnlich sah. Es lebte in Flammen, hatte das Maul weit aufgesperrt und machte einen sehr furchteinflößenden Gesichtsausdruck. Vielleicht hatte es ja auch Angst oder litt unter dem Feuer. Es war keine schöne Szene.
Das Lebewesen hatte dunkle Haut und sehr große, schwarze Augen. Und es war vollkommen nackt, allerdings auch ohne Geschlechtsteil. Es hatte zu große Füße und glich schon irgendwie auch einem Menschen. Es lief auf allen Vieren und hatte Arme und Beine. Abellus hatte sich diese Darstellung sehr lange angeschaut. Das Wesen hatte Ähnlichkeiten mit ihm und mit einem Menschen. Vielleicht war es ja ein Mischwesen. Eine Kreuzung aus Koli und Menschen? Was hätte er darum gegeben, einfach einen Menschen nach diesen Dingen fragen zu können.
Hannelore schaute aus dem Fenster und träumte vor sich hin. Ach, dachte sie, wenn doch jetzt ein schöner Mann vorbei käme und mich einfach von hier entführen würde. Ihre Träumerei wurde von dem Öffnen der Bürotür abrupt unterbrochen. Thomas Baldun kam hinein gestürmt und ohne einen Gruß zu sagen oder überhaupt etwas von sich zu geben, schnappte er sich den Plastikbeutel aus dem Abfalleimer und war auch schon wieder fort.
>>Der ist auch so ein Beziehungstrottel<<, murmelte sie vor sich hin. >>Gibt es denn hier nur solche Kerle?<<
Thomas Baldun stürmte den Gang hinauf, in Richtung Jugendküche. Die Verbindungstür quietsche lauthals und erinnerte ihn daran, dass er sie mal ölen müsste. Doch er lief einfach weiter und dachte daran, heute mal eher Schluss zu machen. Er wollte sich noch mal mit sich allein vergnügen – dies mal zu Hause bei sich - und dann früh ins Bett gehen.
Dieser Tag war mal wieder so frustrierend gewesen. Er konnte die Leute hier einfach nicht mehr sehen. Neben seinem Chef, ging diese frigide Sekretärin ihm auf den Geist. Die hatte bestimmt Sex gehabt, das war sie zuletzt fünfzehn gewesen. Zumindest sah sie danach aus, als würde sie keinen an sich ran lassen. Er wusste, dass sie nicht verheiratet war, noch nie war. Und dass diese ärmlich und zu brav aussehende Frau auf Frauen stand, konnte er sich vorstellen oder auch nicht. Und wenn, war es ihm auch egal. Er wäre nie auf die Idee gekommen, zu versuchen, diese Frau Meier flach zu legen. Diese Frau war einfach nicht sein Geschmack. Die hatte aber auch nichts Erotisches an sich. Ihre Brüste waren zu klein. Ihr Haar schon leicht angegraut und sie schaute immer verschreckt, wenn er ihr zu nahe kam. Daher bemühte er sich stets, sie so schnell wie möglich wieder allein zu lassen. Ja, im Laufe der Zeit hatte er es sogar ab und zu aufgegeben, auch nur einen Gruß mit ihr zu wechseln. Diese Frau musste man einfach ignorieren.
Mist! Der Pastor hatte ihn gesehen. Jetzt konnte er nicht einfach still heimlich durch den Hinterausgang verschwinden. Sein Dienst machte es manchmal erforderlich, Dinge für die Gemeinde zu beschaffen. Und die konnte er nur außerhalb der Kirche bekommen. Daher fiel es nicht auf, wenn er ab und zu abwesend war. Aber jetzt hatte der Chef ihn erblickt und wollte bestimmt wieder was von ihm.
Thomas Baldun versuchte so unauffällig wie möglich aus dem Blickfeld von Pastor Krech zu kommen. Doch er musste wieder durch die quietschende Verbindungstür gehen, und dass würde der Pastor hören und so auf ihn aufmerksam werden. Also ging er leise in die Mitarbeiterküche und hoffte, Pastor Krech hätte ihn schon vergessen. Er öffnete vorsichtig eine der Schubladen und tat so, als würde er nach etwas suchen. Pastor Krech erschien im Türrahmen der Mitarbeiterküche. Das war es heute mit „früher nach Hause gehen“ und sich erneut entspannen.
Hannelore zwirbelte an einer ihrer Haarsträhnen herum. Sie war heute durch den Wind gegangen und so hatten sich einige Haare aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst. Sie mochte es – manchmal – wenn sie etwas unordentlich aussah. Sie war zwar so erzogen worden, dass kein Fältchen an ihrem Rock zu sehen sein durfte, aber es gelang ihr immer öfters, solche rigiden Anforderungen ihrer Mutter zu hintergehen.
Sie lebte schon lange nicht mehr bei Mutter. Aber diese Frau wohnte in ihrem Kopf, öfters, als ihr das lieb war. Sie fragte sich, ob das der Grund war, warum sie keinen Partner hatte. Mutter dominierte immer noch ihr Leben und war ihr Partner fürs Leben. Zumindest war es bisher so gewesen. Sie hasste es selber, dass es so war. Aber Mutter war allgegenwärtig. Sie wünschte sich, sie könnte die alte Frau mit einem Schlag loswerden.
Sie stellte sich vor, wie sie mit einem Mann aus Afrika, der so schwarz war, wie das Auto von Pastor Krech, durchbrannte. Ein Asiat wäre auch nicht schlecht gewesen. Hauptsache jemand, der ihre Mutter auf die Palme gebracht hätte. Das hätte ihr gefallen.
Sie betrachtete ihre schon sehr abgetragenen Halbschuhe. Sie konnte es sich nicht leisten, neue zu kaufen. Viel zu teuer. Manchmal ging sie auf den Trödelmarkt am Wochenende, um billig gebrauchte Kleidung zu erstehen. So hatte sie preisgünstig einige Kleidungsstücke erwerben können und hatte somit Kleidung zum wechseln. Ihr war es peinlich, in abgetragenen Klamotten auf der Arbeit zu erscheinen. Wenn sie einkaufen ging oder Freundinnen besuchte, fand sie es nicht so schlimm, dass man ihr ansah, dass sie kaum Geld hatte. Aber auf der Arbeit. Zum Glück hatte Pastor Krech noch nichts in der Richtung gesagt, wo er doch auch sonst immer so unzufrieden mit dem war, was sie machte oder darstellte.
Am Sonntag sah es für Pastor Krech obszön aus, wie die Münder der Knieenden sich vor seiner Hand öffneten. Er konnte bei manchen die dunklen Zahnfüllungen sehen und auch, ob sich jemand die Zähne geputzt hatte oder nicht. Das nasse Rosa um die Zähne herum sah aus, wie ekelhafter Fisch. Er mochte keinen Fisch. Und bisweilen hatte er den Eindruck, dass die Münder nach Fisch rochen und der Geruch stieg zu ihm hinauf und erreichte seine Nase. Er war immer froh, wenn dieser Akt vorbei war und er wieder, in sicherer Entfernung von den Menschen, auf seinem Podest stand, um weiter zu predigen.
Er schob die Hostie schnell in den dafür geöffneten Mund vor sich und schloss die Augen. Warum hatte die Kirche es aber auch vorgesehen, dass man als Pastor den Innereien eines Gemeindemitglieds so nahe kam? Dem Himmel sei dank, passierte das nur ein mal im Monat. Das genügte ihm aber auch voll und ganz. Er konnte sich nicht vorstellen, warum es Menschen mochten, ihre Zunge in den Mund eines anderen zu stecken. Es schüttelte ihn innerlich, wenn er daran dachte. Speichelaustausch. Igitt! Er war froh, dass solche Abarten des Menschen ihn nicht berührten.
Holda wackelte an ihrem Zahn. Sie hatte neulich auf etwas zu Hartes gebissen. Eigentlich wollte sie das leckere Innere essen, aber dabei musste man immer erst das Harte außen herum entfernen. Sie mochte das Mark von Knochen. Abellus ganz und gar nicht und er schimpfte immer, wenn sie Knochen aus ihren Höhlenwänden zog, um sie nach Knochenmark zu untersuchen.
Abellus war im Laufe der Jahre verweichlicht worden. Das kam daher, dass er sich zu oft in der Menschenwelt aufhielt. Er behauptete doch tatsächlich, dass es nicht recht wäre, die Knochen von toten Menschen auszulutschen. Dabei hatte sie ein großes Vergnügen daran und überhaupt war es nicht ungewöhnlich für Kolis, dass sie sich nach Essbarem in ihrer Umgebung umsahen und die Möglichkeiten, die sich da boten, nutzten. Wenn sie ehrlich war, fand sie das Auslutschen von Knochen lustvoller, als Sex mit Abellus zu haben. Aber das verriet sie ihm natürlich nicht.
Nun, sie sah ein, dass es eklig war, totes Fleisch von Menschen zu verspeisen. Das war auch häufig durch zu langes Lagern in der Erde giftig geworden und stank zudem ganz fürchterlich. Aber, dass Abellus auch das Mark aus Menschenknochen nicht anrühren wollte, konnte Holda nicht begreifen.
Abellus hatte sich sehr verändert. Abellus war seltsam geworden.
Hannelore träumte am Sonntag – während sie auf einer der Holzbänke im Gottesdienstraum ihre Zeit absaß – von einem Mann, der ihr ebenbürtig war. Intelligent, gemütlich und warmherzig. Neugierig und immer darauf aus, etwas Neues zu entdecken. Es mussten ja keine Abenteuer in fernen Ländern sein, es waren die kleinen Dinge, die Hannelore interessierte. Die kleinen Geheimnisse des Lebens.
Und ja, sie wollte auch mal wieder Sex mit so einem Mann haben. Sie wollte ihren eigenen Körper entdecken und jemanden haben, der Verständnis für ihre ureigensten Bedürfnisse hatte. Sie wollte keinen Akt. Das war ihr zu riskant. Sie war jetzt über vierzig Jahre alt und ihre Periode kam leider immer noch so regelmäßig wie vor zwanzig Jahren. Sie war noch nicht in den Wechseljahren und somit bestand immer noch die Möglichkeit, schwanger zu werden.
Schwanger. Hannelore hatte nie ein Kind in ihrem Leben vorgesehen. Und das sollte auch so bleiben.
Doch die Sache mit dem Sex und der Verhütung war schwierig in ihrem Alter. Ihre Frauenärztin Frau Bechler hatte ihr schon vor drei Jahren eröffnet, dass sie zu alt wäre, um noch weiter die Pille zu schlucken. Das Krebsrisiko war zu groß geworden und die Ärztin hatte kurzerhand ihr das Verhütungsmittel gestrichen. Und Kondomen traute Hannelore nicht. Die rutschten zu leicht runter, wenn Mann und Frau Pech hatten.
Tja. Hannelore war also nun dem Risiko ausgesetzt, ungewollt schwanger zu werden, wenn sie es wagte, mit einem Mann intim zu werden. Daher wünschte sie sich so sehr einen Typen, der mit ihr Sex haben wollte, ohne den Kram mit dem Akt und der Verhütung. Sie wusste, das war ein Wunschtraum. Aber ein schöner.