Читать книгу Fürstenkrone Box 15 – Adelsroman - Maria Czigler Bianca - Страница 6

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Die Strahlen der Frühlingssonne fielen durch hohe Fensterbögen, verfingen sich in zartem durchsichtigem Tüll hinter blitzenden Scheiben und malten zitternde Kringel auf die leuchtenden Farben des heiter gemusterten Teppichs, der den Boden des eleganten Damensalons im Palais von Roussillon bedeckte.

Feine alte Möbel aus Rosenholz im Stil des Rokoko standen an Wänden, an denen Bilder scharfgeschnittener, edler Männergesichter und sanfter, schöner Frauenantlitze in kostbaren Rahmen hingen.

Mitten im Raum, auf einem mit heller Seide bezogenen Rokokosofa saß eine schlanke Frauengestalt unbestimmbaren Alters.

Ihre Figur glich in ihrer Zierlichkeit und Anmut der eines jungen Mädchens. Die Züge des zarten Antlitzes waren ebenmäßig und edel, und reiches Blondhaar mit dem Schimmer goldenen Blütenhonigs war auf dem Kopf einer Krone gleich aufgesteckt. Über großen Augen von sonderbar intensivem Blau spannten sich hohe Brauenbögen.

Unzweifelhaft war die Marquise Christina de Roussillon eine der schönsten Frauen, die von den Strahlen der Sonne zärtlich geküßt wurden, und man hätte sie in der Tat noch für sehr jung halten können, wäre der Ausdruck warmer Güte nicht gewesen und hätte die tiefe Menschlichkeit in ihren Augen ihrem Antlitz nicht einen Hauch von Reife gegeben, die einem sehr jungen Menschenkind noch nicht zu eigen sein konnte, ohne daß dies Christina de Roussillon etwas von ihrer bezaubernden Schönheit zu nehmen vermocht hätte.

Eine starke Anziehungskraft ging von der reizenden Erscheinung aus, und wer einmal in diese tiefblauen Augen gesehen hatte, der konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden und mußte sie einfach gern haben.

Christina de Roussillon trug an diesem frühen Vormittag ein schlichtes Hemdblusenkleid aus haselnußfarbener Wildseide. Den einzigen Schmuck bildete eine kostbare Brillantbrosche am Aufschlag. Dennoch wirkte sie unerhört elegant und vornehm.

Sie hielt sinnend einen Brief in ihren schmalen Händen, und ihr zartes Antlitz trug jetzt einen Zug von tiefer Besorgnis zur Schau.

Da war nun also eingetreten, was sie so viele Jahre gefürchtet hatte.

Einen Augenblick lang erwog Christina, den verhängnisvollen Brief einfach zu vernichten und alles so zu belassen, wie es nun einmal jetzt war, aber sogleich wies sie diesen Gedanken wieder weit von sich.

Sie hatte einmal ein Versprechen gegeben, und sie mußte es halten, so schwer es ihr auch fallen mochte.

Zögernd streckte die Marquise die Hand aus und ergriff ein Glöckchen aus Silber mit kunstvoller Ziselierung. Gleich darauf erscholl ein heller Silberklang.

Geräuschlos öffnete sich daraufhin im Hintergrund eine Tür. Eine ältere Dame, in starre dunkelblaue Seide gekleidet, trat ein und näherte sich langsam der Marquise.

»Du, Helene?« fragte Christina überrascht. »Ich habe nach Jean geläutet. Du weißt, ich würde dich niemals mit der Glocke zu mir rufen.«

»Ich hatte das Gefühl, dir nahe sein zu müssen«, gab Helene de Ravoux ruhig zurück. »Wenn dir meine Anwesenheit jedoch unerwünscht ist…«

»Aber nein, bitte bleib!«

Helene de Ravoux setzte sich umständlich in einen Sessel in der Nähe Christinas. Dann faßte sie diese schärfer ins Auge.

»Ist es nun eingetreten, Christina?«

Die Marquise senkte den Kopf und antwortete nicht. Was gab es da auch noch zu antworten?

»Was willst du tun, Christina?« Es klang gespannt und unruhig.

Die Marquise hob die schmalen Schultern.

»Was bleibt mir weiter übrig, als zu erfüllen, was ich einst versprach.«

»Du solltest es dir gründlich überlegen, Christina.«

»Das sagst du mir, die du mir in allem Lehrmeisterin warst, Helene? Wer anders als du hat mich denn gelehrt, ein Versprechen unter allen Umständen zu halten?«

Helene de Ravoux nagte an der Unterlippe.

»Ein Versprechen darf nicht bindend sein, wenn es Unglück für die Menschen heraufbeschwört«, entgegnete sie dann langsam.

»Das ist bisher durch nichts bewiesen.«

»Doch, Christina, weil du nicht imstande sein wirst, das zu halten, was man dir abverlangt hat. Du wirst mit der Lüge auf den Lippen leben müssen für lange Zeit, vielleicht sogar für immer.«

»Ich weiß es, Helene, ich habe es auch damals gewußt.«

»Aber nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht. Dir war die Lüge zeit deines Lebens verhaßt, Christina. Du wirst an der Lüge zerbrechen, und wozu soll das gut sein? Viel Zeit ist seither vergangen, und es ist noch sehr die Frage, ob man dir auch heute dieses unselige Versprechen abgerungen hätte, das dich zwingen will, die Heimat zu verlassen.«

Die Marquise de Roussillon erhob sich und trat mit gefalteten Händen an eines der hohen Fenster. Von der Gardine halb verborgen sah sie hinab auf den herrlichen Park.

Frühlingsblumen streckten ihre Köpfchen der Sonne entgegen. Rote Tulpen, unterpflanzt mit leuchtendblauen Vergißmeinnicht, flammten auf, umrahmt von ganzen Rabatten sattgelber Stiefmütterchen.

Minutenlang sah die Marquise auf dieses heitere Bild hinaus, bevor sie sich mit einem leichten Seufzer wieder ins Zimmer zurückwandte.

»Ich habe nicht das Recht, Angelika für alle Zeiten an mich zu fesseln. Ich versprach, sie nach Rothenstein zu bringen, wenn es an der Zeit sei. Der Tag ist gekommen, ich kann es nicht ändern.«

»Und du glaubst wirklich, es wird gut für Angelika sein? Du glaubst, es wird sie glücklicher machen? Du liebst Angelika doch und hast mehr für sie getan, als zu deinen Pflichten gehörte. Du hast ihr alles gegeben, was man einem Menschen nur schenken kann, nicht nur an Äußerlichkeiten, auch an Liebe. Du hast ihr dein ganzes Leben geopfert.«

»Sprich nicht vom Opfer, Helene, Angelika ist mein Kind. Wie könnte ich anders, als sie zu lieben und für sie dazusein. Sie ist mein ganzes Glück.«

»Sollte es für eine schöne junge Frau, wie du es bist, nicht noch ein anderes, größeres Glück geben als das der Mutterliebe allein?«

»Ich habe niemals etwas vermißt, Helene. «

»Weil du nur für Angelika lebtest, ich weiß es. Ich habe Prinzessin Angelika von Herzen gern, dennoch habe ich es oft bedauert, daß du ihretwegen bisher alle Bewerber um deine Hand zurückgewiesen hast. Dieses liebreizende Kind ist dir selbst zum Fluch geworden.«

»Sprich nicht so, Helene, ich will es nicht hören! Außerdem widersprichst du dir.« Die Marquise lächelte fein.

*

»Du weißt«, sagte Christina de Roussillon wenig später zu Angelika, »daß dein Großvater in Deutschland der Fürst von Rothenstein war.«

»Ich weiß, Mama«, erwiderte das zierliche schwarzhaarige Mädchen. »Weshalb fragst du?«

»Dein Großvater hat dich zu seiner Universalerbin eingesetzt. Dir gehört also Rothenstein, und um es für dich in Besitz zu nehmen, müssen wir dorthin fahren.«

»Aber ich kenne es nicht.«

»Du wirst es kennenlernen, Angelika. Es ist deine Heimat.«

»Nein, Mama, meine Heimat ist Roussillon. Hier bin ich geboren, und hier möchte ich leben. Ich möchte dich niemals verlassen.«

»Roussillon wird deine zweite Heimat bleiben, Angelika. Und verlassen wirst du nicht sein, da ich dich ja begleiten werde. «

»Du wirst bei mir bleiben auf Rothenstein?«

»Natürlich, Angelika. Du bist nach dem Gesetz des Landes, in dem Rothenstein liegt, noch nicht mündig. Deine Geschäfte dort müssen also vorläufig noch von mir abgewickelt werden.«

*

»Du lieber Himmel!« Cäcilie Gräfin von Seebach ließ sich entsetzt in einen Sessel sinken. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Sie war eine ältere, ein wenig hagere Person, und man sagte ihr eine scharfe Zunge nach. Einige harte Linien um ihren Mund zeugten von einer gewissen Verbitterung, und Eingeweihte wollten wissen, es rührte daher, daß es ihr bisher nicht gelungen sei, bei Hofe zugelassen zu werden.

In der Tat war etwas Wahres daran. Sie hatte sehr gehofft, daß sich das ändern würde, wenn Michael erst einmal Fürst auf Rothenstein geworden war. Hatte sie so lange Geduld haben müssen, so kam es auf die zwei fehlenden Jahre auch nicht mehr an, zumal man Grund hatte, anzunehmen, daß die rechtmäßige Erbin von Rothenstein gar nicht oder nicht mehr existierte. Alle Nachforschungen waren seit Jahren im Sande verlaufen.

Und nun dies!

Sie ließ das Telegramm sinken und sah bis ins Innerste erschüttert zu ihrem Gatten auf.

Richard von Seebach starrte in das flackernde Kaminfeuer und antwortete nicht.

»So sage doch endlich etwas, Richard!« fuhr Cäcilie ärgerlich auf. »Du willst mir doch nicht einreden, es sei dir gleichgültig, daß man diese Angelika, an deren Existenz wir alle hier nicht so recht geglaubt haben, uns endlich gefunden hat.«

»Was ereiferst du dich nur so, Mama«, drang eine warme Männerstimme aus dem Hintergrund, und aus dem Halbdunkel trat eine schlanke aufrechte Männergestalt hervor.

Der junge Graf Michael von Seebach glich in manchem seiner Mutter. Von ihr hatte er die hochgewachsene Gestalt und das volle dunkle Haar.

Von ihr hatte er auch eine gewisse Zielstrebigkeit und seinen eisernen Willen. Die Augen jedoch waren ganz die seines Vaters, doch fehlte ihnen die Kälte.

»Wie soll ich mich da wohl nicht ereifern, Michael. Begreifst du denn nicht, was da auf uns zukommt?«

»Niemand weiter als die zukünftige Fürstin auf Rothenstein, Mama. Ich kann es mit dem besten Willen nicht anders sehen.«

»Und es ist dir völlig gleichgültig, daß du Rothenstein verlieren wirst?« fuhr Richard von Seebach dazwischen.

»Gott, Papa, wir Seebachs sind doch auch nicht gerade die Ärmsten. Ich habe es immer als ein wenig unrecht empfunden, daß wir bereits auf Rothenstein leben, als gehöre es uns.«

»Wir sind vom Nachlaßgericht eingesetzt worden. Man hat dort offenbar auch nicht mehr an die Existenz dieser sagenhaften Angelika de Roussillon geglaubt.«

»Das weiß ich ja, aber niemand kann etwas gegen sein Empfinden. Und ich habe mich hier eigentlich niemals heimisch gefühlt. Auf Seebach ist mir wohler, einfach weil ich weiß, dort gehöre ich hin.«

»Nun, du hättest auch hierher gehören können«, sagte Cäcilie, »aber der Besitz allein ist es ja nicht, was die Sache so unangenehm macht. Bedenke doch nur die Lage, in die wir kommen! Unsere gesellschaftliche Stellung wird bis in ihre Grundfesten erschüttert werden. Man wird uns nicht mehr einladen, man wird uns schneiden…«

»Das wirst du mir schon näher erklären müssen. Ich vermag nicht einzusehen, was das Eintreffen eines Kindes auf Rothenstein mit unserer immerhin recht gefestigten gesellschaftlichen Stellung zu tun haben soll.«

Cäcilie und Richard von Seebach warfen sich einen Blick zu.

»Mein Gott«, sagte Cäcilie darum langsam, »was ist da schon groß zu erklären. Christina gilt für die Gesellschaft schon seit langem als tot, da man niemals wieder etwas von ihr hörte. Ihr plötzliches Auftauchen hier wird natürlich alte Geschichten wieder aufleben lassen. Es war den Rothensteinern schon damals nicht angenehm, mit gewissen Dingen in Zusammenhang gebracht zu werden.«

»Christina von Rothenstein? Ich meine: Christina de Roussillon? Sie kommt also mit hierher?«

»Natürlich!« brummte Richard von Seebach und warf ergrimmt seinen Zigarrenstummel in das Kaminfeuer. Dann kam er näher.

»Ich weiß von Christina eigentlich recht wenig«, bemerkte Michael nachdenklich und ließ sich an der Seite seiner Mutter nieder. Ungerührt stopfte er sich dabei eine Pfeife. »Eigentlich nicht mehr und nicht weniger, als daß sie die einzige Tochter des Fürsten von Rothenstein ist und früh nach Frankreich geheiratet hat. Fürst Leopold war nie sehr gesprächig, wenn die Rede auf seine Tochter kam.«

»Er hatte Grund, sich nicht an sie zu erinnern.«

Graf Michael war ein nüchtern und sachlich denkender junger Mann und hielt seine Eltern in mancher Hinsicht für reichlich antiquiert.

Trotzdem packte ihn jetzt eine gewisse Neugier.

Die Mutter tat gerade so, als habe Christina ein Verbrechen begangen, zumindest in ihren Augen, und er war nun doch interessiert, Näheres darüber zu erfahren. Immerhin sollte er Christina, die er ja wohl als Tante betrachten mußte, bald gegenüberstehen, und selbst er hätte doch gern gewußt, welche Haltung er ihr gegenüber einnehmen mußte.

»Was hat Christina denn nun eigentlich verbrochen, Mama? Es hat doch wenig Sinn, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen. Wie sind wir überhaupt mit ihr verwandt?«

»Um etliche Ecken, Michael. Die Verwandtschaft ist auf jeden Fall weitläufig genug, um uns notfalls von Christina und deren Tochter distanzieren zu können. Ich glaube jedenfalls kaum, daß es Christina gelingen dürfte, in der Gesellschaft hier Fuß zu fassen.«

»Das ist noch nicht so sicher«, brummte Graf Richard vor sich hin, »sie hat nicht schlecht geheiratet.«

»Wenigstens nicht unter ihrem Rang«, meinte Cäcilie hochmütig.

»Sei froh.«

»Richard, ich bitte dich. Du nimmst die Sache ja schon fast ebenso gleichgültig hin wie Michael. Bei ihm kann ich das vielleicht noch verstehen, aber nicht bei dir, der du doch weißt, wie streng die Gesellschaft urteilt und wie wenig sie vergißt «

»Bitte, wollt ihr mir nicht endlich erklären, was man Christina de Roussillon vorzuwerfen hat?«

»Gar nichts«, sagte Richard von Seebach ernstlich wütend, »das ist es ja gerade. Mit Tatsachen kann man sich auseinandersetzen, aber was willst du gegen ein Gerücht tun, von dem du nicht weißt, wieviel Wahrheit es enthält und wieviel Lüge? Dagegen ist man machtlos, aber die Gesellschaft registriert es und ist vorsichtig. Sie stößt eher einen Unschuldigen aus ihren Kreisen aus, als daß sie einen möglicherweise Schuldigen in ihrer Mitte dulden würde. Das ist es, was deine Mutter beschäftigt. Und das ist es im Grunde wohl auch, was Christina in ihrer Jugend fortgetrieben hat.«

*

»Es ist sonderbar«, sann Angelika laut vor sich hin. Sie saß, in ein bezauberndes hellblaues Wollkostüm gekleidet, in einem Abteil Erster Klasse tief in die weißen Polster gelehnt und schaute versonnen aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft. Ein schickes hellblaues Hütchen thronte auf dem schwarzen Haar. Am Revers trug sie eine brillantbesetzte Brosche in Form eines Käfers, am Finger den Ring, den der Marquis de Roussillon ihr als letztes vor seinem frühen Tod geschenkt hatte.

Ihr gegenüber saß Helene de Ravoux, Puck, den kleinen Rauhhaardackel, auf dem Schoß, da er sonst immer wieder versuchte, aus dem Abteil zu entwischen. Neben Angelika saß Christina.

In einem Wagen Zweiter Klasse fuhren noch einige Zofen mit, auf die weder Christina noch Angelika bei aller sonstigen Bescheidenheit hatten verzichten wollen, waren sie an deren freundliche Dienste doch allzusehr gewöhnt und wußten sie doch nicht, welcher Art Personal sie auf Rothenstein erwartete. Immerhin hielt Christina es nicht für gänzlich ausgeschlossen, daß man sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen würde.

»Was ist sonderbar?« fragte Christina ein wenig abwesend.

Sie hatte am Abend zuvor noch einmal das große Album durchgesehen und die vielen Fotos von Rothenstein und seinen Bewohnern sehr aufmerksam betrachtet, ja, sich gewissermaßen jedes einzelne Gesicht und jedes einzelne Zimmer eingeprägt. Dann hatte sie stundenlang über einem alten Bauplan des gewaltigen Schlosses von Rothenstein gebrütet und war schließlich völlig übermüdet schlafen gegangen.

»Daß ich mir meinen Großvater, den Fürsten Leopold von Rothenstein, so gar nicht vorstellen kann.«

»Du hast ihn stets nur auf Bildern gesehen. Da ist es sehr schwer, sich von einem Menschen eine lebendige Vorstellung zu machen.«

»Das mag wahr sein. Was war er für ein Mensch? Erzähle mir von ihm, Mama, bitte.«

»Nun, er war ein sehr aufrechter Mann von großer Willensstärke. Seine hervorstechendsten Wesenszüge waren wohl sein unbändiger Stolz und sein übersteigertes Ehrgefühl. Eine Beleidigung vergaß er niemals. Seine Ehre war ihm heilig und bedeutete ihm mehr als alles andere auf der Welt. Im übrigen aber galt er als warmherziger und edler Charakter.«

»Wie eigenartig du das sagst, Mama. Er galt… Es klingt, als hättest du deinen eigenen Vater gar nicht persönlich gekannt. «

Christina schoß eine tiefe Röte in die Wangen, ihr erschrockener Blick traf sich mit dem mahnenden von Helene de Ravoux, die unbehaglich hin und her zu rutschen begann.

»O nein«, sagte Christina da rasch. »Aber es ist für eine Tochter wohl immer schwer, den Vater objektiv zu beschreiben. Man greift unwillkürlich auf die Urteile der Umwelt zurück. Es geschieht ganz unbewußt und hat nichts zu bedeuten.«

*

Die Rothensteiner Wagen standen bereits zehn Minuten vor Eintreffen des Zuges am Bahnhof. Da man wußte, daß Christina mit einigem Gefolge kam, hatte man entsprechend vorgesorgt.

Cäcilie war auf Rothenstein geblieben. Man hatte sich mit allem einigermaßen abgefunden. Am Bahnhof waren Graf Richard und der junge Graf Michael und warteten.

Fauchend und prustend lief der Zug ein. Abteiltüren öffneten sich. Reisende stiegen aus, von Angehörigen mehr oder weniger stürmisch begrüßt.

Richard und Michael standen auf dem Bahnsteig und schauten sich die Augen aus nach einer Dame, die dem Bild einer Französin entsprechen mochte, und einem halbwüchsigen Kind.

Aber kein Kind entstieg dem Wagen Erster Klasse. Die Menschen verliefen sich bereits. Nur an einer Stelle des Bahnsteigs sammelte sich eine Menge Leute. Dort waren ein paar junge Damen aus einem anderen Abteil auf den Wagen der Ersten Klasse zugeeilt, begleitet von einem distinguiert aussehenden Herrn mit sonderbarem Haarschnitt. Koteletten, dachte Michael ein wenig amüsiert, wie altmodisch, und die Zwirnhandschuhe in ihrem schneeigen Weiß erinnern sehr an die Handschuhe des Butlers auf Rothenstein.

Er sah zu, wie die vier ein paar Damen aus dem Wagen Erster Klasse halfen. Eine grauhaarige Dame erschien zuerst. Ihr folgte eine bezaubernd schöne Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Graziös kam sie die Stufen herunter, gekleidet in ein elegantes marineblaues Kostüm. Ihr Haar schimmerte selbst im Dämmerlicht des überdachten Bahnsteigs golden auf. Michaels Augen hingen wie gebannt an ihr.

Dann aber schweifte sein Blick ab, gefesselt von einer Erscheinung, wie sie ihm noch nie begegnet war.

Eine junge Dame war in der Wagentür aufgetaucht, zierlich und anmutig, gekleidet in helles Blau, das zu ihrem fast schwarzen Haar in wunderbarem Kontrast stand. Ihr pikantes Gesichtchen war von unbeschreiblicher Süße und Reinheit. Sie hielt einen Rauhhaardackel im Arm, der alle Anstrengungen machte, ihr zu entwischen.

Michael wandte keinen Blick von der Erscheinung; er hatte seine Umwelt vollständig vergessen und wußte nicht mehr, weshalb er überhaupt hierhergekommen war.

Statt dessen zermarterte er sich das Gehirn, wie er die Bekanntschaft dieses zauberhaften Wesens dort drüben machen konnte, ohne aufdringlich zu erscheinen; denn daß sie der ersten Gesellschaft angehörte, stand außer Zweifel.

Durch seinen Vater wurde Michael unsanft aus seinen Träumen gerissen.

»Christina scheint nicht gekommen zu sein«, bemerkte er. »Das ist mehr als unangenehm. Wir können hier nicht gut die nächsten Züge abwarten.«

»Es wird uns kaum etwas anderes übrigbleiben, Vater«, meinte Michael ein wenig abwesend.

Von der Menschengruppe drangen fremde Laute zu ihnen herüber.

Ein wilder Verdacht durchzuckte Michael. Ein wenig atemlos fragte er: »Wie alt ist Prinzessin Angelika eigentlich, Vater?«

Dieser hob die Schultern. »Was weiß ich? Wir erfuhren ja erst ziemlich spät von ihrer Existenz, woher soll ich da wissen, wann sie geboren ist.«

Michael sah wieder zu den Menschen hinüber, die nun ein wenig unschlüssig dastanden und die Blicke suchend umherschweifen ließen. Gerade wollte er seinen Verdacht dem Vater gegenüber aussprechen, als Puck ihm zuvorkam. Es war ihm endlich gelungen, sich aus Angelikas Armen zu befreien, und nun schoß er mit Freudengekläff davon. Angelika eilte aufgeregt hinter ihm her.

Amüsiert beobachtete Graf Michael die Szene. Es war, als spiele der kleine Hund mit dem jungen Mädchen. Stets flitzte er einige Meter weiter, wenn seine bezaubernde Verfolgerin glaubte, ihn endlich greifen zu können.

Doch Puck gab nicht genügend acht. In seiner wilden Freude an der herrlichen Verfolgungsjagd kam er Michael zu nahe und wandte gleichzeitig den Kopf nach seiner Herrin.

Und schon hatte Michael das nun wild zappelnde und kläffende Etwas beim Genick gepackt und hob es zu sich empor.

Atemlos kam die junge Dame heran. Michael verneigte sich.

»Hier haben Sie den Ausreißer zurück, gnädiges Fräulein«, sagte er lächelnd, »es war mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein. Erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle: Michael von Seebach.«

»Doch nicht Graf von Seebach?«

»Eben der.«

»Mein Gott! Und Mama glaubte schon, es sei niemand erschienen, um uns abzuholen. Ich bin Angelika de Roussillon.«

»Es ist mir ein Vergnügen.«

Michael wollte sich über die Hand Angelikas beugen, doch Puck machte seine Bemühungen zunichte, indem er auf Angelikas Armen wild zu zappeln begann, während er ein heftiges Knurren ausstieß und Michael sein durchaus nicht harmloses Gebiß präsentierte.

»Aber Puck«, sagte Angelika erschrocken, »benimm dich! Ich weiß gar nicht, was er hat. Er ist sonst nicht so unfreundlich Fremden gegenüber. Das sind Sie ja noch für ihn.«

»Wahrscheinlich nimmt er mir übel, daß ich ihn eingefangen habe. Er hätte Sie sicherlich noch gern über den ganzen Bahnsteig gehetzt.«

»Und wie gern«, gab Angelika lachend zu. Sie sah jetzt zu Michael auf. Dabei mußte sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen, denn er überragte sie um Haupteslänge.

Was sie sah, gefiel ihr. Er schaute gut aus und war natürlich und unbefangen. Seine Gesichtsfarbe war frisch, wie sie nur Leuten zu eigen ist, die häufig an der freien Luft sind. Seine Augen blickten hell und klar, und Wärme lag in ihnen. Das Gesicht war schmal und männlich, und sein ein wenig vorstehendes Kinn zeugte von Energie.

Das alles nahm Angelika keineswegs bewußt wahr, dazu fehlte ihr die Erfahrung und die Menschenkenntnis. Sie fand ihn nur ungemein sympathisch und glaubte sogleich, sich gut mit ihm zu verstehen.

So lächelte sie also freundlich.

Michael aber fiel in eben jenem Augenblick der Vater ein und weshalb sie hergekommen waren.

Rasch wandte er sich zur Seite, aber Graf Richard hatte blitzschnell reagiert und war mit Riesenschritten auf die Gruppe zugeeilt.

Michael sah, wie er sich soeben galant über die Hand der reizvollen Blondine beugte. Das also mußte Christina de Roussillon sein, eine bezaubernde Frau, aber ganz anders als ihre Tochter, dachte Michael.

Angelika war seinen Blicken gefolgt.

»Meine Mutter«, erklärte sie denn auch sogleich, »die andere Dame ist Madame de Ravoux, die erste Kammerfrau meiner Mutter, eigentlich aber mehr ihre liebe Freundin und meine Erzieherin. Ich mag sie sehr gern.«

»Wir wollen hinübergehen«, schlug Graf Michael vor, »ich möchte die Damen begrüßen.«

»Mama ist, glaube ich, ein wenig neugierig auf Sie«, bekannte Angelika, während sie die wenigen Schritte zu der Gruppe auf dem Bahnsteig zurücklegten. Michael kam nicht mehr zu einer Antwort.

Zwei helle Augen von sonderbar intensivem Blau musterten ihn so forschend, als wollten sie ihm bis auf den Grund seiner Seele sehen, aber es war ihm nicht unangenehm, denn es lag nichts Aufdringliches darin.

Es erfolgte eine allgemeine Vorstellung und Begrüßung, und bald darauf saß man in dem großen Wagen.

Michaels heimlicher Wunsch, zusammen mit Prinzessin Angelika fahren zu dürfen, war dabei in Erfüllung gegangen, da Graf Richard sich schicklicherweise zu Christina setzen mußte, was er auch sichtlich gern tat.

Angelika fuhr also mit Michael im zweiten Wagen, doch nicht ohne die Begleitung von Madame de Ravoux, die Michael mehrmals mit sonderbarem Blick von der Seite musterte.

Aufmerksam betrachtete Angelika die Landschaft. Weit dehnten sich die Wiesen in ihrem ersten Grün, unterbrochen von riesigen Äckern. Hin und wieder fuhren sie durch ein freundliches Dorf. Rote Dächer über weißgestrichenen Wänden, grüne Läden vor blitzblanken Fenstern, spitze Kirchtürme. Es gefiel Angelika. Dann säumten hohe Tannen den Weg, wechselten mit Eichen und Buchen ab.

Der Wald blieb zurück. Hinter den Pappeln, die zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen die Allee säumten, zeigten sich jetzt die gepflegten Anlagen eines offensichtlich riesigen Parks.

Die Allee machte einen großen Bogen, und dann lag Schloß Rothenstein vor ihnen, ein imposanter Bau. An den Seiten erhoben sich Türme, trotzig und wehrhaft fest, und gaben dem Schloß beinahe den Eindruck einer Festung. Trotzdem wirkte Schloß Rothenstein keineswegs düster.

An einer Seite des Schlosses wuchs dichter Efeu empor, an einer anderen Stelle rankten sich Kletterrosen, die jedoch noch blatt- und blütenlos waren. Im Sommer mußten sie eine wahre Pracht sein.

»Oh«, sagte Angelika überrascht, »wie ist Schloß Rothenstein groß. Wirklich nicht kleiner als das Palais Roussillon. Das habe ich gar nicht erwartet.«

Graf Michael lächelte.

»O ja, die Fürsten zu Rothenstein waren zu allen Zeiten ein mächtiges und reiches Geschlecht, und sie wußten es nach außen hin zu zeigen. Könige waren hier zu Gast.«

»Wie man auch von Roussillon sagt. Mir scheint, es bestehen da nicht so viele Unterschiede. «

»Hoffentlich nicht.«

»Wie meinen Sie das, Michael?«

Eingedenk der Erklärung ihrer Mutter, daß sie ja irgendwie miteinander verwandt seien, nannte Angelika ihn ganz selbstverständlich beim Vornamen. Sie ahnte nicht, wie glücklich sie den jungen Grafen damit machte; denn er hielt es für ein Zeichen persönlicher Sympathie.

»Ich wünsche sehr, daß Rothenstein Ihnen zu einer echten Heimat wird, Angelika«, sagte er ernst.

Angelika schaute zu ihm auf.

»So erscheine ich Ihnen nicht als unerwünschter Eindringling, dem Sie eigentlich gram sein müßten?«

»Wie könnte ich!« rief er enthusiastisch aus und legte seine Hand dorthin, wo sein Herz wild klopfte. »Wie könnte ich einer so bezaubernden jungen Dame jemals gram sein. Ein Königreich möchte ich Ihnen zu Füßen legen.«

Angelika lachte hellauf, und auch Helene de Ravoux konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Es überrascht mich einigermaßen«, sagte Helene zu Michael, »daß es in diesem Land ebenso stürmische Kavaliere zu geben scheint wie in meiner Heimat.«

»Oh, Madame«, entgegnete Michael, »die gibt es wohl in jedem Land, wenn ein Engel wie dieser vom Himmel auf die Erde niedersteigt und unser Auge blendet.«

Michael begriff sich selbst nicht. Was nur riß ihn, den sonst so sachlichen und nüchternen Mann, zu derart poetischen Worten hin?

»Warten Sie nur ab«, meinte Helene de Ravoux. »Sie werden diesen Engel schon noch in seinem ganzen irdischen Temperament kennenlernen.«

»Wie sehr ich das hoffe.«

Michael war nicht zu bremsen. Wann jemals wieder würde er Gelegenheit haben, mit Angelika längere Zeit in einem Wagen zu sitzen, mit ihr zu sprechen?

Die Seebachs hatten Rothenstein längst für Christina und Angelika geräumt. Sie gehörten nicht zu denen, die sich krampfhaft und vergeblich an Verlorenes klammerten und verstanden immer, das Beste aus einer Situation zu machen, wenn es für Cäcilie und Richard von Seebach auch schmerzlich war, auf Rothenstein zu verzichten.

Und Michael wußte noch nicht recht, ob er in Zukunft auf Rothenstein für die Damen ein willkommener Besucher sein würde. Aufdrängen konnte er sich schlecht. So bemühte er sich, sich wenigstens jetzt von seiner besten Seite zu zeigen, um später dafür, wenn sie sich auf Gesellschaften wiederbegegnen würden, wenigstens Gnade vor ihren Augen zu finden und, falls ihm ein Glücksstern leuchtete, vielleicht sogar zu den von ihr bevorzugten Bewunderern zu gehören.

Vergessen waren die Befürchtungen von Cäcilie. Diese junge Prinzessin würde überallhin eingeladen werden, und überall würde sie der Mittelpunkt einer Gesellschaft, eines Balles sein, daran hegte Graf Michael nicht den geringsten Zweifel. Dafür würde schon die Herrenwelt sorgen. Ein so reizvolles Wesen wie Prinzessin Angelika würde nicht im verborgenen blühen.

Mit sanftem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Vor ihnen stieg bereits Christina aus, auf Graf Richards Hand gestützt.

Sie warf einen Blick an der Fassade des Schlosses empor und wandte dann langsam den Kopf nach beiden Seiten, als wolle sie sich das, was sie sah, besonders einprägen.

Sie wartete, bis Angelika mit Helene und Graf Michael heran waren. Dann stieg sie leicht auf den Arm von Graf Richard gestützt, die breiten Stufen der geschwungenen Freitreppe empor.

Niemand ahnte, wie rasend das Herz Christinas schlug und welch ein Sturm von Gefühlen sie durchtobte.

Dies war die bisher schwerste Bewährungsprobe in ihrem Leben, und niemand außer Helene de Ravoux wußte davon.

Christina lächelte, als sie durch das Portal schritt. Eine weite kühle Halle, sonderbar hell, nahm sie auf. Im Hintergrund wieder eine Freitreppe, diesmal die Stufen aus weißem Marmor, bedeckt mit einem leuchtendroten Läufer, ein Geländer aus kunstvoll geschmiedetem Eisen zu beiden Seiten. Am Treppenabsatz zwei Kandelaber, besteckt mit Kerzen, die jedoch jetzt nicht brannten.

In der Halle bestand der Boden aus schwarzem Marmor, hin und wieder ein kostbarer Teppich in leuchtenden Farben. Hell die Wände, viele bogenförmige Durchgänge, davor schwere Samtportieren. Alles machte einen gediegenen Eindruck, und man erkannte, daß die Rothensteiner Geschmack besessen hatten. Alles war ungeheuer prunkvoll und kostbar, ohne jedoch im geringsten überladen zu wirken.

Angelika fand es schön, nur vermißte sie Blumen, die sie doch so sehr liebte.

Inmitten der Halle war das wichtigste Schloßpersonal in zwei Reihen angetreten. Butler und Stubenmädchen? Zofen und Köche, letztere ganz in Weiß und mit hohen weißen Mützen auf dem Kopf. Küchenmädchen – sie alle standen da und hielten Blumensträuße in den Händen.

Jede Gruppe der riesigen Dienerschaft hatte ihren Vertreter gestellt. Sie alle warteten auf die neue Herrin von Rothenstein.

Cäcilie hatte das arrangiert. Sie wußte, wie man die künftige Herrin empfing.

Vor den beiden Reihen stand Cäcilie von Seebach; aufrecht und stolz. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid aus stumpfer Seide und um den Hals eine mehrreihige Perlenkette, aber sie sah durchaus vornehm aus.

Mit ausgestreckten Händen ging sie auf Christina zu, um sie zu begrüßen.

Christina kam ihr lächelnd entgegen, und gerührt von diesem Empfang küßte sie Cäcilie auf beide Wangen und dankte ihr.

Dann kam Angelika. Kindlich freute sie sich über diesen Empfang, den Graf Michael im stillen ein wenig respektlos mit »großer Bahnhof« bezeichnete. Alle wurden sie Christina und Angelika vorgestellt. Christinas eigenes Personal stand bescheiden im Hintergrund, und Blicke flogen hin und her.

Graf Michael hatte die Befürchtung, daß es unter der Dienerschaft wohl bald heimliche, dafür aber um so heftigere Kämpfe um die Bedienung der beiden Dämen geben würde; denn daß diese allen gefielen, war offenkundig.

Angelika hatte bald ebenso wie Christina beide Arme voll Blumen, und als sie zum Schluß in liebenswürdiger Weise allen dankte, da wurde ein lautes »Hoch!« ausgebracht, das eigentlich gar nicht in Cäcilies Plan vorgesehen war und diese für einen Augenblick neidisch die Lippen zusammenpressen ließ.

Aber sofort wurde Cäcilies Aufmerksamkeit von etwas Unvorhergesehenem in Anspruch genommen.

Christina war zu Cäcilie zurückgekehrt und wandte der Freitreppe den Rücken zu, allein Angelika stand noch im Hintergrund, da öffnete sich neben der Freitreppe eine verborgene kleine Tür, hinter der ein Gang zu den Wirtschaftsräumen führte, und eine sehr alte, gebeugt gehende Frau mit schlohweißem Haar, in ein langes dunkles, sehr einfaches Gewand gekleidet, kam näher. Auf dem Kopf hatte sie ein altmodisches Häubchen. Das Gesicht war völlig verrunzelt, und nur die alten Augen blickten noch hell in die Welt.

In den Händen hielt die Alte, die einem Märchenbuch entstammen konnte, einen großen hölzernen Teller. Cäcilie konnte nicht so recht erkennen, was darauf lag.

Sie biß sich nervös auf die Unterlippe. Das hätte sie voraussehen müssen, daß die alte Anna den feierlichen Empfang stören würde. Seit frühester Jugend hatte diese in unwandelbarer Treue den Rothensteinern gedient, und jetzt genoß sie das Gnadenbrot im Schloß, vom übrigen Personal hoch geachtet.

Sie hätte wissen müssen, daß Anna trotz ihres Verbotes in ihrem greisenhaften Starrsinn und ihrer im Grunde rührenden Treue und Anhänglichkeit es sich nicht nehmen lassen würde, die von ihr über alles geliebte Christina persönlich willkommen zu heißen und die junge Herrin zu sehen.

Angelika wandte sich überrascht der Greisin zu und sah deren durchdringende Blicke auf sich gerichtet. Forschend schaute Anna zu Angelika auf, die sich freundlich zu der Alten beugte. Dann ging ein Lächeln über das runzlige Gesicht.

»Ja«, murmelte Anna vernehmlich in die eingetretene Stille, »du bist eine echte Rothenstein. Zug für Zug deines Gesichts bist du es.«

Sie streckte die mageren Arme vor. Auf hölzernem Teller lagen Salz und Brot.

»Nimm von diesem Salz und Brot, daß Segen über deinem Haupte liege, auf daß Glück deinen Eintritt begleite und dich niemals verlasse, solange du auf Rothenstein weilst.«

Angelika warf einen hilflosen Blick in die Runde. Sie kannte diesen schönen Brauch nicht, aber sie wollte die Alte auch nicht gern enttäuschen.

Mit sicherem Instinkt tat sie das Richtige: Sie nahm das Brot, brach es, tunkte ein Stückchen davon in das Salz und schob es in ihren Mund.

Die Greisin lächelte dankbar und irgendwie stolz.

»Ich wußte doch, daß eine Rothenstein mich richtig verstehen und der alten Anna nicht zürnen würde«, murmelte sie wieder.

Aus einem plötzlichen Gefühl heraus nahm Angelika ihre Blumen und legte die Hälfte davon in die Hände der Greisin.

»Danke«, sagte sie hell und lieblich, »ich danke sehr für diesen Empfang und die guten Wünsche. Jetzt weiß ich, daß auch ich eine Rothenstein bin.«

Die Spannung löste sich, alles lächelte, während die Greisin fassungslos auf die Blumen in ihren Händen starrte und Tränen der Freude und Dankbarkeit aus den alten Augen flossen.

In diesem Moment hatte Angelika ein unendlich treues Herz für alle Zeiten gewonnen. Und da man auf Anna hörte, konnte sie sicher sein, daß jeder ihrer Wünsche erfüllt werden würde, selbst die, die man ihr von den Augen ablesen mußte.

Cäcilie war irgendwie befreit. Lächelnd wandte sie sich nun Christina de Roussillon zu und blickte in ein schneeweißes, vor Schrecken fast erstarrtes Gesicht. Christinas Augen gingen an Cäcilie vorbei und hingen an der alten Anna.

Helene de Ravoux trat rasch an Christinas Seite.

Das Gesicht der alten Dame hatte sich ebenfalls auf erschreckende Weise verändert. Kalte Entschlossenheit lag jetzt darin, und ein harter Zug veränderte den Mund.

Helene de Ravoux ergriff leicht den Arm Christinas.

Der junge Graf Michael hatte die reizende Szene zwischen Angelika und Anna lächelnd beobachtet. Ohne den Kopf zu wenden, sagte er zu Christina: »Jetzt sind Sie an der Reihe, Christina, denn im Grunde ist die alte Anna wohl nur erschienen, um Sie nach so langen Jahren wiederzusehen.«

Christina de Roussillon fühlte die Knie weich werden. Helene de Ravoux stützte sie unauffällig. Von Helene, die das Unabänderliche, das da auf sie zukam, fühlte, wurde Christina langsam vorwärtsgeschoben.

Fast willenlos ging die Marquise auf das alte Weiblein zu, das, ein wenig kurzsichtig, wartend dastand.

Angelika sah der Mutter entgegen, aber ihr Lächeln erstarb, als sie deren schreckensbleiches Gesicht erblickte.

Christina de Roussillon stand vor Anna.

Ihre Augen waren verzweifelt, bettelnd und um Hilfe flehend auf die Greisin gerichtet, die von ihr zu Helene und wieder zurückschaute.

Angelika wandte sich ebenfalls Anna zu.

»Das ist meine Mutter, Christina

de…«

Weiter kam Angelika nicht.

Hochauf richtete sich das alte Weiblein. Es schien um Zentimeter zu wachsen.

Die alten Augen schienen zu lodern. Den mageren Arm weit vorgestreckt, kreischte sie mit sich überschlagender Stimme:

»Christina! Nein …«

Da war Helene de Ravoux neben ihr. Mit hartem Griff riß sie die Greisin herum, hielt sie fest am dünnen Arm.

Über die Schulter zu den anderen gewendet sagte Helene, und ihr Gesicht war unnahbar hoheitsvoll: »Es war zuviel für sie. Ich werde mich um sie kümmern.«

Ohne den Griff zu lockern und ohne sich einzusehen, führte sie die Greisin zur verborgenen Tür.

Anna ließ sich die Überraschung sekundenlang ihres Willens beraubt, widerstandslos dorthin schieben.

Erst im Personalgang kam Anna einigermaßen zu sich. So gut sie es mit ihren schwachen Kräften vermochte, versuchte sie, sich von Helene de Ravoux zu lösen.

»Lassen Sie mich!« keuchte Anna. »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Das ist…«

»Ich bin Helene de Ravoux, die erste Kammerfrau der Marquise und die Erzieherin der jungen Prinzessin. Ich möchte mit Ihnen reden. Führen Sie mich in ein Zimmer, in dem wir ungestört sind.«

Die Greisin wollte sich aufbäumen, aber ein Blick in das entschlossene Gesicht von Madame de Ravoux ließ sie in sich zusammensinken.

Sie öffnete am Ende des Ganges eine Tür, die in einen kleinen Personalaufenthaltsraum führte.

Helene de Ravoux trat an der Greisin vorbei gelassen ein. Hinter ihr schloß Anna die Tür.

*

In der Halle war eine sehr verwirrte und überraschte Gesellschaft zurückgeblieben, die minutenlang nicht wußte, wie der Situation zu begegnen sei.

Angelika war zu Christina getreten, die noch immer sehr blaß, aber schon ein wenig gefaßter war. Angelikas Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Christina legte den Arm um die bebenden Schultern und zog Angelika fest an sich.

Mit heißem Mitleid sah Graf Michael auf diese Szene. Das hatten die beiden Damen zum Empfang gewiß nicht erwartet und Christina nach so langen Jahren der Abwesenheit auch nicht verdient, dachte er.

Richard von Seebach hatte eine steile nachdenkliche Falte auf der Stirn, und sein Blick strahlte jene Kälte aus, die allgemein so gefürchtet war.

Cäcilie von Seebach blickte mehr erschrocken als begreifend. Sie faßte sich dann auch als erste. Dem Personal mußte man nicht unbedingt ein Schauspiel bieten, das Ganze war ohnehin peinlich genug.

Sie klatschte leicht in die Hände, sprach abwesend ein paar freundliche Entlassungsworte und sah zu, wie die Leute sich bedrückt und verständnislos zurückzogen. Was hätte sie ihnen auch erklären sollen, verstand sie das Ganze ja selber nicht.

Sie ging auf Christina zu und versuchte zu retten, was doch nicht mehr zu retten war.

»Nimm es bitte nicht so ernst, Christina«, sagte sie, »Anna ist alt geworden und ein wenig wunderlich dazu. Sie weiß oft nicht mehr so recht, was sie tut und spricht. Du darfst das nicht tragisch nehmen. Ich hatte angeordnet, daß Anna nicht erscheinen sollte, weil etwas Derartiges bei ihr immer zu erwarten ist, aber sie hat mein Verbot übertreten. Daraus kannst du schon sehen, daß sie nicht mehr richtig im Kopf ist. Wenn es euch recht ist, lasse ich euch jetzt die Zimmer zeigen, die ich vorerst für euch habe herrichten lassen. Ihr werdet euch vor dem Essen erfrischen wollen. Später werdet ihr sicherlich selbst die Wahl eurer Zimmer treffen, aber ich dachte, daß erst mal…«

»Ja«, bemerkte Christina mit ein wenig starren Lippen, »ich bin dir sehr dankbar für deine Fürsorge und Voraussicht, Cäcilie.«

»Ich habe ein Essen euch zu Ehren richten lassen. Wenn ihr euch also erfrischt habt …«

Christina, schon am Fuß der Freitreppe, wendete sich fast ruckartig um. Ihre Augen waren groß auf Cäcilie gerichtet.

»Gäste? Das ist mir gar nicht lieb. Wir sind müde von der Reise.«

»Aber nein«, lächelte Cäcilie beruhigend, »nur wir. Wir Seebachs werden uns dann auch bald zurückziehen. Aber vielleicht hast du noch Fragen, Christina, vielleicht brauchst du auch meinen Rat. Du warst sehr lange fort, und manches hat sich verändert in der Zeit. Manches wird dir daher fremd erscheinen.«

»Das ist sehr freundlich von dir, Cäcilie.«

Christina wußte kaum, was sie sagte. Alles kam ihr wie mechanisch über die Lippen.

Prinzessin Angelika folgte stumm und ernst.

Später bei Tisch im kleinen, ganz in Weiß und Rot und Gold gehaltenen Speisesaal kam kein richtiges Gespräch mehr zustande.

Christina stocherte in ihrem Essen herum und gab zerstreute Antworten, soviel Mühe Cäcilie sich auch geben mochte, sie zu unterhalten.

Cäcilie war eine vorsichtige Person, und bei all ihren Befürchtungen wollte sie die Beziehungen zu Christina und deren Tochter zunächst einmal möglichst eng gestalten, für den Fall, daß es anders kommen sollte als sie glaubte, und man Christina in der Gesellschaft mit offenen Armen aufnehmen würde. Daher auch ihre viele Mühe bei deren Empfang und ihre jetzige Liebenswürdigkeit. Denn nahm Christina die ihr zukommende Stellung in der Gesellschaft ein, so würde es über diese vielleicht doch möglich sein, eine Einladung zu einem Hofball zu bekommen und damit Zugang zu den höchsten Kreisen zu finden.

Aber sie bemühte sich vergeblich um Christina, und schließlich verstummte auch sie, zumal von ihrem Gatten offenbar keine Unterstützung zu erwarten war. Dieser brütete dumpf über seinem Teller und schien gar nicht zu merken, welche Speisen er in sich hineinstopfte.

Allein zwischen Graf Michael und Angelika flogen ein paar freundliche Blicke hin und her, aber zu einem richtigen Gespräch kam es auch hier nicht.

Helene de Ravoux hingegen hätte es ohnehin niemals gewagt, bei Tisch etwas zu äußern, ohne direkt angesprochen worden zu sein. Cäcilie fand es sowieso verwunderlich, daß eine Kammerfrau mit bei ihnen zu Tisch sitzen konnte.

So ging das recht unerquickliche Essen denn auch bald vorüber, und die Grafen von Seebach verabschiedeten sich danach rasch. Sie waren froh, der merkwürdig steifen Atmosphäre entfliehen zu können.

*

Christina lag zu dieser Zeit in einem der vielen Schlafzimmer des Schlosses auf einer breiten Couch. Sie war in entsetzlicher Verfassung. Einer sonderbaren Starre war eine wilde Verzweiflung gefolgt, die sie förmlich geschüttelt hatte.

Und dann zürnte sie sich selbst dieser Verzweiflung wegen. Das hatte sie doch voraussehen müssen. Sie war doch nicht unvorbereitet auf diese Reise gegangen.

Aber die gute Helene hatte wohl doch recht. Es war nicht leicht zu lügen, nicht für sie, für Christina de Roussillon. Sie hatte ihre Kräfte überschätzt.

Wie gern hätte sie jetzt Helene bei sich gehabt, hätte sich wie in früheren Zeiten von ihr trösten lassen und neuen Mut gefaßt.

Aber Helene de Ravoux war bei Angelika, um die junge Prinzessin zu beruhigen und nach Möglichkeit von dem unerquicklichen Vorfall abzulenken. Sie selbst, Christina, hatte Helene zu Angelika geschickt, da sie sich in ihrer jetzigen Erregung einer solchen Aufgabe nicht gewachsen fühlte.

Als Christina überdachte, was noch vor ihr lag und daß sich solche Begebenheiten jederzeit und völlig unerwartet wiederholen könnten, da floß ein Strom von Tränen über das feine Gesicht, und sie schluchzte laut auf.

Ein leises Klopfen ließ sie zusammenschrecken. Hastig trocknete sie mit einem zarten Tüchlein die Tränen. Es war nicht nötig, daß man sie so sah.

Ohne daß ihre Aufforderung einzutreten abgewartet worden wäre, öffnete sich leise die Tür.

Auf der Schwelle stand die alte Anna.

Ganz ruhig kam die Greisin näher und ohne Christinas stummes Entsetzen zu beachten. Keine Feindseligkeit lag im Blick der Alten.

Sie trat ganz dicht an Christina heran und tastete deren Antlitz förmlich mit ihren Blicken ab. Dann holte sie unter einem Tuch ganz überraschend etwas hervor.

Auf einem hölzernen Teller lagen vor Christinas erstaunten Augen ein Stück dunkles Brot und ein Häufchen Salz.

Auffordernd hielt die Alte es ihr entgegen. Und während Christina das Brot brach und aß, sagte die Greisin zu ihr:

»Auf daß das Glück dir auf allen deinen Wegen zur Seite stehe, dir den Pfad glätte und der Segen des Himmels auf deinem Haupte ruhe.«

Und da geschah etwas, was denen von Seebach noch verwunderlicher erschienen wäre, hätten sie es sehen können.

Die schöne, die stolze, die reiche Marquise Christina de Roussillon brach vor der alten einfachen Dienerin in die Knie und beugte ihr Haupt mit den goldenen Locken vor ihr. Und während sie das tat, bat sie schluchzend: »Vergib mir, Anna! Du allein hast das Recht, mich zu richten.«

Anna legte ihr die alte runzlige Hand auf den Kopf und entgegnete still: »Niemand hat das Recht, zu urteilen und zu richten über dich, als unser Herr dort droben. Und der sieht tiefer und ist gerechter als alle Menschen auf der Erde. Ihm solltest du vertrauen. Er wird dich sicher geleiten, denn gut ist deine Absicht. «

Ein tiefer Friede zog in Christinas Herz. Die weisen Worte der Alten bedeuteten ihr Trost und gaben ihr ihre Zuversicht und ihren Mut wieder.

Ja, sie mußte auf ein gnädig gelenktes Geschick vertrauen, der Menschen Macht vermochte in dieser Sache nichts zu tun, und nicht der Menschen Urteil hatte sie zu fürchten.

Sie erhob sich und strich das Kleid glatt. Leichter war ihr jetzt ums Herz.

»Ich danke dir, Anna«, sagte sie leise, »und ich werde dir deine Worte niemals vergessen. Du weißt nicht, was sie für mich bedeuten.«

Anna schlurfte langsam und vor sich hin nickend hinaus.

Christina aber lag in dieser Nacht noch lange mit offenen Augen im Bett, aber keine Ängste und Sorgen plagten sie mehr.

Auf Rothenstein zog mit Macht der Frühling ein. Überall grünte und blühte es, und die Luft war lind und lau.

Prinzessin Angelika hatte die vergangenen Wochen genutzt, um das Schloß gewissermaßen zu erobern, wie sie ihre Erkundungsgänge selber lachend nannte.

Stundenlang lief sie durch die langen Korridore und entdeckte jede Kleinigkeit. Jedes Zimmer wurde von ihr besichtigt, und sie war glücklich, wenn irgend jemand ihr eine Geschichte aus der Vergangenheit von Rothenstein erzählen konnte.

Alle ihre Vorfahren, die, in Öl gemalt und in Goldrahmen gefaßt, in Lebensgröße in der riesigen Ahnengalerie hingen, hatte sie aufmerksam betrachtet, und sie hatte sich aus ihrem Leben berichten lassen. Sie kannte sie mittlerweile alle: Roderich den Schrecklichen, der so entsetzlich grausam gewesen sein sollte, und Edina die Liebliche, die die Güte in Person gewesen war. Nur von Christina hatte sie kein Bild gefunden, und das fand sie ein wenig verwunderlich. Aber immerhin weilte Christina ja noch unter den Lebenden, und man konnte das nachholen.

Vor dem Bild ihres Großvaters, des verstorbenen Fürsten Leopold von Rothenstein, hatte sie besonders lange verweilt. Von ihm hingen auch Porträts in vielen anderen Zimmern, ebenso wie von der Fürstin Luitgard, die ihre Großmutter gewesen war, aber sie fand zu beiden keine rechte Beziehung.

Christina beobachtete mit ein wenig Besorgnis das Verhalten Angelikas.

»Sie lebt sich sehr rasch ein«, sagte sie traurig zu Helene de Ravoux, »zu schnell für mein Gefühl.«

»Alles Neue lockt junge Menschen, du solltest dir nichts einreden, Christina. Und dann…« Aber die alte Dame sprach nicht weiter.

Besonders liebte Angelika es, in frühen Morgenstunden auf einem der herrlichen Pferde, die Rothenstein in so großer Anzahl besaß, über das Land zu reiten, gewöhnlich von einem Reitknecht häufig auch von Christina begleitet.

Puck pflegte oft bellend nebenher zu laufen, doch er machte die Pferde leicht nervös, und so mußte Angelika schließlich auf seine Begleitung verzichten, was sie nur sehr ungern tat.

An einem Frühjahrsmorgen ertönte Hufgetrappel im Schloßhof, und als Angelika neugierig aus dem Fenster schaute, erblickte sie tief unter sich den jungen Grafen Michael, der ihr grüßend mit der Reitgerte zuwinkte.

Angelika hob leicht die Hand, dann lief sie in die Halle hinunter.

Sie war bereits im Reitanzug und hatte vorgehabt, soeben auszureiten, aber nun mußte sie wohl den frühen Besucher zuvor begrüßen. Sie wußte, daß Christina sich noch nicht erhoben hatte, da sie sich ein wenig unpäßlich fühlte.

Graf Michael stand bereits wartend an der Freitreppe.

Er hatte so lange auf Rothenstein ge lebt, und man hatte ihn schon als künftigen Herrn betrachtet, daß man ihn nach alter Gewohnheit ganz selbstverständlich eingelassen hatte.

Jetzt aber stand mit unerbittlichem Gesicht Jean vor ihm, derselbe Mann, über dessen Koteletten sich Graf Michael auf dem Bahnhof damals so amüsiert hatte und von dem er nun wußte, daß er der treue Diener Christina de Roussillons war. An Jean kam Michael nicht vorbei, und er hatte auch gar nicht die Absicht, als er Angelika auftauchen sah.

Seine Augen leuchteten unwillkürlich auf, als er sie erblickte.

Der Reitanzug kleidete sie hervorragend und modellierte ihre zierliche Figur, wie kein Kleid es vermocht hätte.

Die kleine Reitkappe saß keck ein wenig schief auf dem glänzenden Haar und gab Angelika fast etwas Lausbübisches. Sie sah bezaubernd aus, und wieder fühlte Michael sein Herz stärker klopfen.

Er hatte einen harten Kampf mit sich ausgefochten, bevor er sich dazu entschlossen hatte, einfach uneingeladen und unangemeldet nach Rothenstein zu reiten. Aber der Wunsch, die reizende Prinzessin wiederzusehen, war stärker als alle gute Erziehung und Vernunft.

Und hier war er nun, ein wenig unsicher und verlegen, und mußte hören, wie Angelika ihn lachend fragte: »Graf Michael, sind Sie aus dem Bett gefallen? Was um alles in der Welt treibt Sie um diese frühe Stunde schon hierher? Sie müssen ja schon bei nachtschlafender Zeit losgeritten sein.«

Michael nahm all seine Keckheit zusammen. Er beugte sich über die Hand der Prinzessin und murmelte: »Ich habe vor einiger Zeit mein Herz verloren und glaubte, es hier wiederfinden zu können. Ich bin zu sehr daran gewöhnt, um es lange missen zu können.«

»Michael, Sie reden fürchterlichen Unsinn zusammen!«

Angelika war ein wenig rot geworden.

»Ich werde sofort wieder vernünftig werden, wenn ich erst mein Herz aus Ihren Händen wieder in Empfang genommen habe.«

Angelika überhörte seine Worte, die sie ein wenig keck fand.

»Wollen Sie zu Mama?« fragte sie, um dem Gespräch eine Wendung zu geben.

»Nicht unbedingt. Ich wollte eigentlich zu Ihnen.«

»Warum?«

»Ich hörte von Ihren regelmäßigen morgendlichen Ausritten und dachte, ein ortskundiger Begleiter könnte Ihnen von Nutzen sein. Wie kein zweiter kenne ich das Gebiet von Rothenstein. Verfügen Sie ganz über mich, vorausgesetzt, Sie haben so viel Mut, sich meiner Führung anzuvertrauen.«

»Weshalb sollte Mut dazu gehören?«

»Weil so bezaubernde Prinzessinnen wie Sie schon manches Mal auf einem Ausritt von einem tollkühnen Raubritter entführt worden sein sollen.«

»Aber nur im Märchen«, wehrte Prinzessin Angelika ab, »und Sie sind kein Raubritter, Michael. Im Augenblick machen Sie mir weit mehr den Eindruck eines Troubadours.«

Prompt sank Michael auf ein Knie, und während er die rechte Hand auf sein Herz preßte, den linken Arm mit weitausholender Bewegung von sich gestreckt, sagte er theatralisch: »Hätt’ ich im Augenblick nur meine Laute mit, ich würd’ ein Minnelied dir zum Preise anstimmen, holdeste aller Frauen.«

Hellauf lachte da Angelika. Sie konnte ihm einfach nicht böse sein. Aber dann zürnte sie doch:

»Nun ist es genug, Michael. Benehmen wir uns wieder wie vernünftige Menschen.«

»Nicht bevor Sie mich zu Ihrem Ritter und morgendlichen Begleiter erkoren haben. «

Prinzessin Angelika markierte den Ritterschlag.

»So schlage ich dich denn zum Ritter. Erhebe dich und sei mir fortan ein gar getreuer Knecht.«

»Was ich gelobe.«

Beide lachten aus vollem Hals. Michael stand auf, und sie reichten sich wie zwei Verschwörer die Hände.

Gleich darauf führte draußen ein Reitknecht Angelikas Pferd heran, und sie sprengten davon.

*

Im königlichen Schloß zog der Kammerdiener sacht die schweren Seidendamastvorhänge zurück, die das Fenster verhüllten und das Schlafgemach des Königs in angenehmes Dämmer tauchten.

Die Morgensonne flutete hell in den großen Raum, der zwar kostbar, aber erstaunlich schlicht eingerichtet war.

Rudolf lag in seinem breiten Bett. Er hatte die Augen weit geöffnet und starrte an die holzverschalte Decke über sich.

Obwohl er gut geschlafen hatte, lag doch ein müder Zug auf seinem gutgeschnittenen Gesicht, fast etwas wie Überdruß, vielleicht auch Resignation.

In der Tat hatte der König alles um sich herum im Augenblick so schrecklich satt, wie es kaum zu sagen war. Er kannte das. Es war dann an der Zeit, sich für einige Wochen von seinen Regierungsgeschäften zurückzuziehen, um sich irgendwo in der Stille von der Last der Krone zu erholen. Und es schien wieder einmal soweit zu sein. Diesmal spürte er es selbst, ohne daß ihm die Ärzte einen Urlaub dringend anrieten.

Er erhob sich und fühlte sich wie zerschlagen.

Während er sich von seinem Kammerdiener in die Kleider helfen ließ, überlegte er, was er an wichtigen Dingen noch selbst erledigen mußte und was er seinem Sohn, dem Kronprinzen Alexander, überlassen konnte.

Er warf noch einen Blick in den Spiegel, bevor er sein Schlafgemach verließ, um im Nebenraum sein Frühstück einzunehmen.

Im Spiegel erblickte er eine schlanke hochgewachsene Gestalt, die ihm heute ein wenig gebeugter als sonst erscheinen wollte. Er betrachtete sich, wie er einen Fremden angesehen hätte, den er einschätzen wollte.

Sein Gesicht war schmal und ebenmäßig. Sein kräftiges Kinn zeugte von Willenskraft und Energie. Der Mund war fein gezeichnet und bezeugte seine Sensibilität. Helle blaue Augen blickten scharf und durchdringend. Das fast schwarze Haar begann an den Schläfen langsam silbern zu werden, erste Zeichen herannahenden Alters.

Unwillig runzelte er über seinen eigenen Anblick die hohe, klare Stirn.

König Rudolf war ein gutaussehender Mann und erschien gewöhnlich jünger, als er den Jahren nach zählte. Jetzt aber machten die deutlichen Zeichen tiefer Erschöpfung ihn um einiges älter.

Unwillkürlich straffte er sich ein wenig, als er endlich festen Schrittes den Raum verließ. Den Kopf hoch erhoben, erschien er gleich darauf im angrenzenden Frühstückszimmer.

Dort wartete neben dem sorgfältig gedeckten Tisch außer einem livrierten Diener bereits sein Adjutant, um den vorgesehenen Terminplan vorzutragen, an wichtige Besucher zu erinnern und seinem König Vorschläge zu machen.

Rudolf winkte mit der Hand kurz ab.

»Sparen Sie sich das heute«, sagte er trocken. »Ich habe mich entschlossen, zur Schwarzwildjagd nach Wertach zu fahren.«

»Aber Majestät«, erwiderte der Adjutant entsetzt, »die Termine! Die Besprechungen sind vereinbart. Majestät haben verschiedenen wichtigen Personen Audienz zugesagt. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, diese auf später zu vertrösten. «

»Was auch gar nicht in meiner Absicht liegt.« Das Entsetzen seines Adjutanten amüsierte Rudolf ein wenig. »Mein Sohn Alexander kann das alles für mich erledigen.«

*

»Weißt du, daß du bezaubernd aussiehst, Angelika?« fragte der junge Graf Michael von Seebach seine Begleiterin.

Angelika saß am Rand eines stillen Waldteiches auf dem moosbewachsenen Boden. Sie hatte die Beine angezogen und ihre Arme darumgeschlungen. Mit dem Rücken lehnte sie am Stamm eines Baumes. Um sich herum blühten die wilden Himmelsschlüsselchen. Es war ein reizendes Bild.

Angelika, die verträumt auf die ruhige Wasserfläche geblickt hatte, hob den Kopf. Sie blickte in zwei Augen, in denen die Liebe brannte.

Ganz wenig zog Angelika die Schultern höher und umklammerte ihre Beine fester, als könne sie sich so gegen das Gefühl wehren, das ihr da entgegenschlug.

Es war das erste Mal, daß ihr eine Ahnung kam, Michael könne ihr mehr als bloße Freundschaft entgegenbringen. Und das verwirrte sie und setzte sie in Verlegenheit, obwohl sie es von Roussillon her gewohnt war, umworben zu werden.

Aber dies hier war etwas anderes. Michael war ihr nicht gleichgültig wie die anderen Herren. Für Michael trug sie ein warmes, freundschaftliches Gefühl im Herzen, und sie wollte ihn nicht gern verletzen, indem sie ihn kühl zurückwies, noch wollte sie ihn verlieren, wenn er seine Liebe zu ihr als hoffnungslos erkennen mußte. Er war ihr ein so guter, zuverlässiger Kamerad und Freund.

Sie wandte den Blick zur Seite und blinzelte ein wenig in die Sonne, als habe sie seine Worte nicht gehört, aber er kniete neben ihr nieder.

»Weich mir nicht aus, Angelika«, sagte er leise, »du hast meine Worte genau verstanden. Soll ich sie wiederholen?«

Angelika schüttelte den Kopf.

»Nein, bitte nicht.«

»Ist es dir so unangenehm, aus meinem Mund ein Kompliment zu hören, Angelika?«

Sie drehte sich ihm wieder zu.

»Ach, Michael«, seufzte sie, »weshalb diese Töne? Es kann so vieles zerstören.«

»Du weißt, daß ich dich gern habe.«

»Aber ich mag dich ja auch gern, Michael, deshalb laß uns Freunde bleiben wie bisher, ja?«

»Freunde«, sagte er ein wenig bitter, »ich verstehe! Du weist mich zurück, bevor ich dir gestanden habe, was ich für dich empfinde – und was du längst fühlen mußt.«

»Nein, O nein, Michael, so ist es ja nicht! Es kommt so plötzlich. Ich wußte nicht…«

»Wirklich nicht? Dann kannst du mein Gefühl nicht erwidern, wenn du es nicht einmal erkannt hast.«

»Michael…«, bat Angelika schwach.

»Schon gut, Angelika! Ich werde dich nicht mit dem Geständnis meiner Liebe behelligen, denn ich möchte deine Freundschaft nicht gern verlieren. Sage mir nur eines: Gehört dein Herz einem anderen? In deiner Heimat vielleicht?«

Angelika schüttelte stumm den Kopf. Eine feine Röte war ihr in die Stirn gestiegen.

Graf Michael lächelte erleichtert.

»So gebe ich die Hoffnung noch nicht auf«, meinte er heiterer als zuvor. »Es ist ja möglich, daß aus Freundschaft auch bei dir eines Tages einmal mehr wird, nicht wahr? Willst du mir diese kleine Hoffnung wenigstens lassen, Angelika?«

Und Angelika nickte eifrig.

*

Cäcilie von Seebach war die stille Zuneigung ihres Sohnes zu der reizenden Prinzessin Angelika nicht entgangen.

Sie war lange mit sich zu Rate gegangen, hatte das Für und Wider reiflich erwogen und war zu dem Schluß gekommen, daß eine Verbindung Michaels mit Angelika nur von Vorteil für die Seebachs sein würde, zumal Angelika ihr sympathisch war.

Zwar war sie sich noch immer nicht ganz im klaren darüber, wie die Gesellschaft Christina de Roussillon aufnehmen würde, da diese völlig zurückgezogen auf Rothenstein lebte und es bisher abgelehnt hatte, selbst ein Fest oder einen Ball zu geben, doch glaubte sie nicht mehr an eine Ablehnung Christinas durch die Gesellschaft. An gewissen Anzeichen hätte sie es längst erkennen müssen.

Offenbar war doch bereits Gras über die alten Geschichten gewachsen, und es schien sich niemand mehr so recht zu erinnern, denn Cäcilie wußte, daß man sich von verschiedenen Seiten schon bemüht hatte, Christina und Angelika einzuladen.

Bisher aber war Christina noch nirgendwo in der Öffentlichkeit erschienen.

Fast schien es, als wolle sie sich selbst und Angelika auf Rothenstein verstecken.

Das paßte nicht ganz in die Pläne Cäcilies, aber vielleicht mußte man nur genügend Geduld haben. Eines Tages würde Christina die selbst gewählte Einsamkeit schon aufgeben.

Außerdem kam es hier wohl auch mehr auf Angelika an, die eine Prinzessin von Geburt war und damit ohnehin Zutritt bei Hofe haben würde. Überdies würde sie bald Besitzerin von Rothenstein sein.

Und Cäcilie hätte ihren Michael nicht ungern als Herrn auf Rothenstein gesehen.

So war sie denn nach Kräften bemüht, das Feuer zu schüren.

»Du solltest dich ein wenig rarer auf Rothenstein machen, mein Sohn«, sagte sie eines Tages in aller Frühe zu Michael.

Der drehte sich verwundert zu seiner Mutter um, die plötzlich hinter ihm stand, als er gerade ausreiten wollte

»Was meinst du damit, Mama?«

»Ich meine, daß man nicht schätzt, was man als selbstverständlich besitzt«, gab Cäcilie mit leisem Lächeln zurück. »Ich weiß längst, was du für die wirklich reizende Prinzessin Angelika empfindest, aber du wirst niemals ihr Herz gewinnen, wenn du als ihr treuer Vasall ständig in ihrer Nähe bist. Gib ihr endlich Gelegenheit, deinen Wert zu erkennen, mach dich rar, so daß sie dich vermißt.«

»Du meinst…?«

Cäcilie nickte. »Du solltest nicht so oft auf Rothenstein erscheinen, Michael. Du bist für Angelika längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden, wie die Luft, die um sie herum ist. Wer aber schätzt schon die Luft, solange er nicht merkt, daß man ohne sie nicht leben kann. Und vielleicht kann auch Angelika de Roussillon nicht ohne dich leben. Gib ihr Gelegenheit, das festzustellen, Michael.«

»Es ist etwas Wahres an deinen Worten, Mama. Vielleicht habe ich wirklich einen Fehler gemacht.«

»Ganz sicherlich, Michael.«

»Und wenn du dich irrst, Mama? Wenn sich herausstellt, daß Angelika sehr wohl ohne mich leben kann, daß sie mich nicht vermißt?«

»Glaubst du das wirklich, Michael?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dies Risiko mußt du auf dich nehmen, und du solltest es leicht können, denke ich.«

»Warum?«

»Weil du dann die Wahrheit kennst, auch wenn sie für dich bitter ist.«

*

Prinzessin Angelika de Roussillon schaute zum wiederholten Male auf ihre kleine goldene Armbanduhr. Ungeduldig lief sie sodann zum Fenster und blickte hinaus.

Es war schon eine Stunde über die Zeit, zu der Graf Michael sie sonst zum morgendlichen Ausritt abzuholen pflegte.

Noch nie hatte Angelika je auf einen Mann gewartet und schon gar nicht so lange Zeit. Sie verstand sich selber nicht mehr.

Sie beschloß, noch zehn Minuten zuzugeben und dann schließlich allein auszureiten. Michael hatte es nicht anders verdient, wenn er wirklich noch erscheinen sollte. Man ließ eine junge Dame nicht einfach warten.

Oder sollte er ihr übelgenommen haben, daß sie seine Gefühle nicht erwidern konnte?

Angelika biß sich auf die Unterlippe.

Aber das sähe Michael so gar nicht ähnlich. Es paßte einfach nicht zu ihm. Er war ja der geborene Kavalier. Niemals würde er sich absichtlich verspäten.

Unruhig wanderte sie im Zimmer auf und ab, und als der Zeiger der Uhr um eine Viertelstunde weitergerückt war, begab sie sich in die Halle hinunter und verließ das Schloß.

Puck lief ihr über den Weg. Er kläffte und jaulte vor Freude, als sie ihn auf den Arm emporhob.

Angelika hatte ein etwas schlechtes Gewissen.

»Armer Puck«, murmelte sie in sein rauhaariges Fellchen, »ich glaube, ich habe dich arg vernachlässigt. Aber das kommt nur davon, daß du niemals gehorchst und immer eigene Streifzüge im Wald unternimmst. Und das gehört sich nicht für einen wohlerzogenen Hund. Aber warte nur, heute nehme ich dich mit. Später darfst du dann ein wenig umherstreifen.«

Als habe Puck den Sinn ihrer Worte verstanden, so hob er freudig winselnd seinen Kopf und versuchte, mit seiner kleinen Zunge über ihr Gesicht zu lecken.

Aber sie wehrte ihn entrüstet ab und belehrte ihn darüber, daß sich auch dergleichen nicht für einen Hund gehöre, auch wenn er Puck heiße.

Ein Reitknecht führte ihr Pferd vor und half ihr in den Sattel.

Angelika faßte die Zügel fester. Unwillkürlich warf sie noch einen Blick in die Richtung, aus der Michael gewöhnlich zu kommen pflegte, aber kein Reiter war in Sicht, und so gab sie ihrem Pferd ein wenig ärgerlich die Sporen.

Sie hatte an Michaels Seite in den vergangenen Wochen den Forst nach allen Seiten hin durchstreift, aber sie war noch immer weit davon entfernt, das ganze Ausmaß des riesigen Rothensteinschen Waldes zu kennen.

Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen. Der Tau hing noch in den Gräsern und Blüten, die Vögel jubilierten und huldigten mit ihrem Gesang dem kommenden Tag.

Angelika ritt tief in Gedanken versunken dahin, Puck fest an sich gepreßt, und achtete nicht weiter auf den Weg.

Sie schrak aus ihren Gedanken, die hauptsächlich um den jungen Grafen Michael gekreist hatten, erst auf, als sie sich einer sonnenbeschienenen Lichtung näherte, auf der sie noch niemals gewesen war, wie sie sofort erkannte.

Hübsch war es an diesem Fleckchen, und sie beschloß, eine kurze Rast zu machen, was offensichtlich auch ganz in Pucks Sinn zu sein schien, denn er machte wilde Anstrengungen, auf den Boden zu gelangen.

So stieg Angelika denn ab, ließ ihr Pferd ruhig grasen und setzte Puck zu Boden.

Der Hund schoß sofort laut kläffend davon. Sie rief ihm noch ein paarmal laut nach, aber sein Bellen verlor sich immer mehr in der Ferne, und schließlich ließ sie ihn lächelnd gewähren. Sie wußte, daß er das Wild nicht belästigte, es lag nicht in seiner Natur, und er würde schon wiederkommen, wenn er sich ein wenig ausgetobt hatte.

Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und träumte in den offenen Himmel. Etwas wehmütig war ihr zumute, als sie so dasaß, allein, ohne Michael von Seebach. Und zum erstenmal merkte sie, daß sie ihn vermißte.

Es erschien ihr selber verwunderlich, und sie horchte erstaunt in sich hinein und glaubte, in ihrem Innern eine Stimme zu hören, die seinen Namen rief.

Dann kam ihr die jähe Stille zum Bewußtsein. Puck hatte aufgehört zu bellen. Sie fuhr empor.

»Puck!« rief sie laut. »Puck!«

Lange Zeit rührte sich nichts.

Dann aber wurde die morgendliche Stille durch lauten Lärm unterbrochen. Puck bellte wieder, aber jetzt klang es giftig und angriffslustig. Ganz fern hörte sie eine Männerstimme. Dann ertönte ein Schuß, und sofort ging Pucks Bellen in ein Winseln über und erstarb plötzlich.

Erstarrt hatte Prinzessin Angelika dagestanden, nun aber kam Leben in sie. Jemand hatte ihren Puck erschossen.

Sie rannte über die Lichtung, tauchte im Gestrüpp unter, das am Rand der Lichtung begann, und bahnte sich, halb blind vor Zorn und ohnmächtigem Schmerz, ihren Weg dorthin, von wo sie zuletzt das entsetzliche Winseln zu hören vermeint hatte. Dabei rief sie immer wieder laut nach ihrem geliebten Puck.

»Hier!« rief endlich eine sonore Männerstimme ganz in der Nähe.

Angelika schob Tannenzweige zur Seite, achtete nicht darauf, daß die scharfen Nadeln ihr die zarte Haut ritzten, und stand dann plötzlich auf einer Schneise.

Und da sah sie den Jäger, der das Gewehr noch locker unter dem Arm hielt und ihr ernst entgegenschaute.

»Sie«, rief Angelika vor Zorn geschüttelt. »Sie Unmensch. Sie haben meinen Puck erschossen. Was hat der kleine Hund Ihnen getan? Oh, ich hasse Sie!«

»Hunde haben im Forst nichts zu suchen«, sagte der Mann mit sympathischer Stimme ernst. »Sie stöbern das Wild auf und beunruhigen es, auch wenn sie es vielleicht selbst nicht angreifen. Jeder Jäger hätte den Hund erschossen, wenn er nur halbwegs pflichtbewußt gewesen wäre. «

»Aber Sie sind im Rothensteinschen Forst. Sie hatten hier nichts zu suchen. Und es ist meine Sache, ob in meinem Wald Hunde herumlaufen oder nicht. Sie hatten nicht das Recht, meinen Hund zu erschießen. Ich werde Sie entlassen.«

»Das wird nicht gut möglich sein, mein Fräulein.« Der Anflug eines Lächelns zog über das ernste schmale Männerantlitz.

»Und warum nicht?« Prinzessin Angelika richtete sich kampfbereit auf. »Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden, und ich müßte mich doch sehr irren, wenn Sie nicht zu meinen eigenen Jägern gehörten.«

Angelikas Irrtum war verzeihlich. Der hochgewachsene Mann vor ihr war in grünes Loden gekleidet. Er trug Stiefel an den Füßen, wie die Jäger sie trugen, und einen Hut, der der Jägertracht sehr ähnelte.

Zudem trug er ein Gewehr und an einem Schulterriemen eine lederne Tasche bei sich.

»Sie haben die Grenzen des Rothensteinschen Forstes schon lange hinter sich gelassen, mein Fräulein«, sagte der Mann, und Prinzessin Angelika empfand sein Lächeln als impertinent. »Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden. Und hier bestimme ich, ob Hunde herumlaufen dürfen oder nicht.«

»Und wenn es so wäre«, erwiderte Angelika, und ihr schossen die hellen Tränen in die Augen, »trotzdem ist es unmenschlich, einen kleinen jungen Hund zu erschießen. Ich verzeihe es Ihnen nicht. Niemals! Ein Hund hat auch ein Recht auf sein bißchen Leben, und er vertraut den Menschen als seinen Freunden.«

»Sind Sie denn wirklich so sicher, daß ich Ihren Hund erschossen habe?« fragte der Mann da ernst.

Angelika schaute sich um. »Ganz sicher«, behauptete sie dann, »Puck wäre sonst schon lange erschienen.«

»Er hat sich irgendwo verkrochen und beleckt jetzt zweifellos traurig seine Wunden«, sagte der Mann, »doch ich habe nicht auf ihn geschossen. Ihr Puck, so heißt er ja wohl, war so tollkühn, es mit einem alten, erfahrenen Keiler aufnehmen zu wollen. Es blieb mir nichts weiter übrig, als das Wildschwein zu erlegen, um Ihren Hund zu retten. Aber ich konnte nicht verhindern, daß der Keiler mit seinen Hauern Ihren Hund noch erreichte. Sehen Sie nur.«

Er deutete mit der Hand zur Seite, und erschauernd sah Angelika ein riesiges Wildschwein mit gefährlichen Hauern verendet am Boden liegen.

»Aber dann?«

»Dann haben Sie mir unrecht getan, mein kleines Fräulein«, lächelte der Mann da gutmütig.

»Darüber aber können wir uns später noch unterhalten. Jetzt scheint es mir erst mal an der Zeit zu sein, Ihren Hund zu suchen.«

Und so krochen sie gleich darauf beide durch das dichte Unterholz.

Der Jäger war es dann, der Puck als erster fand. Ein leises Winseln hatte ihm den Weg gewiesen.

»Hier«, rief er laut. »Kommen Sie hierher! Ich habe ihn gefunden.«

Angelika war überglücklich. Sie schloß den Hund erleichtert in die Arme und erschrak zu Tode, als an ihren Händen Blut zurückblieb.

Aber der Jäger lachte nur laut auf, als er ihr Entsetzen sah.

»Oh«, entrüstete sich Angelika da. »Sie roher Mensch! Über den Schmerz eines kleinen Hundes so zu lachen. Puck kann sterben, er kann…«

»Aber schauen Sie doch genauer hin! Die Verletzung ist gering, nur ein Haukratzer. Das schlechte Gewissen hat ihn sich verkriechen lassen. Es ist so typisch für die an sich tapferen Dackel. Sie wissen stets genau, wann sie unrecht getan haben. Den Keiler ging er an, aber vor seiner Herrin und deren zu erwartender Schelte verkriecht sich der Schlingel.«

»O Puck«, stöhnte Angelika halb wütend, halb erleichtert auf, »in was für eine Situation hast du mich da nur gebracht! Wie konntest du nur! Ich bin dir sehr böse.«

»Schelten Sie nicht. Puck hat sich eine Wurst verdient.«

»Womit?« fragte Angelika erstaunt.

»Er hat mir die reizendste Bekanntschaft meines Lebens vermittelt.« Der Mann machte eine tadellose Verbeugung.

»Rudolf von Wertach«, stellte er sich vor.

»Ich bin Angelika Prinzessin de Roussillon.«

»Oh, eine richtige Prinzessin wie aus einem Märchen. So befinden wir uns in einem verzauberten Wald und…«

»Und Puck könnte ein wenig Jod auf seine Wunde brauchen«, stellte Angelika sachlich fest. Nun, da die Angst um Puck abgeklungen war, fand sie zu sich selbst zurück und bemühte sich, der Situation Herr zu werden. Auf keinen Fall aber war sie bereit, sich fade Komplimente eines Fremden anzuhören, wenn der genannte Name auch klangvoll war. Aber ein Name sagte noch lange nichts über einen Menschen aus.

»Ganz recht«, erwiderte Rudolf ernsthaft, »und seine reizende Herrin einen Schluck zur Beruhigung. Ich habe in der Nähe eine Jagdhütte, dort kann ich Sie mit dem Nötigsten versorgen. Auch mit Jod«, setzte er rasch hinzu, als er Angelikas abweisende Handbewegung bemerkte.

Und das gab den Ausschlag. Für Puck war Angelika bereit, alles zu tun.

*

Die Jagdhütte erwies sich als ein solider und überraschend geräumiger Holzbau. In der Halle befand sich ein Kamin, in welchem sogar ein Feuer brannte. Die Wände schmückten Geweihe aller Art, darunter einige Prachtexemplare. Ledersessel waren um einen runden Eichentisch gruppiert, und Tierfelle bedeckten den Boden. Lustig gemusterte Bauerngardinen hingen vor den Fenstern.

»Das nennen Sie eine Jagdhütte?« fragte Angelika ein wenig sarkastisch

»Gefällt sie Ihnen nicht?«

»Sehr«, gab Angelika widerwillig zu und wunderte sich, wie still Puck die schmerzhafte Jodbehandlung durch Rudolf über sich ergehen ließ. Er leckte ihm sogar ganz kurz und wie verstohlen über die Hand, und Angelika bemerkte zu ihrer eigenen Überraschung, wie fein die Hände ihres seltsamen Gastgebers waren.

Dann wurde ein Glas in einer klaren Flüssigkeit vor sie hingestellt.

»Eigentlich nicht das Richtige für eine junge bezaubernde Prinzessin, aber trinken Sie nur, es wird Ihnen auf den Schreck hin doch guttun.«

Angelika schossen Tränen in die Augen, als sie trank.

»Puh!« Sie schüttelte sich. »Das ist ja gräßlich.«

»Ein guter alter Jägerschnaps. Eine Jägerin sollte dergleichen vertragen!«

»Ich bin keine Jägerin«, protestierte Angelika. »Ich könnte niemals ein Tier töten. «

Rudolf betrachtete Angelika lange und gedankenvoll, und die Prinzessin spürte, wie ihr langsam eine feine Röte ins Antlitz kroch. Verlegen beugte sie sich zu Puck nieder.

»Ja, das glaube ich wohl«, meinte Rudolf dann merkwürdig sanft, »es würde nicht zu Ihnen passen. Es ist etwas Märchenhaftes um Sie.«

Angelika fühlte ihr Herz sonderbar hart pochen. Etwas stieg in ihr auf, das sie bisher nicht kannte, süß und schmerzlich zugleich. Sie fühlte sich zu de Mann hingezogen und wußte nicht einmal weshalb.

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie aus ihrer Verlegenheit heraus.

»Weshalb?«

»Ich habe Sie zu Unrecht beschuldigt, auf Puck geschossen zu haben. Und außerdem war Puck in Ihrem Forst. Und ich auch«, fügte sie leise hinzu.

»Sie brauchen sich deswegen nicht zu entschuldigen. Puck hat seine Lehre weg, und ich habe einen kapitalen Keiler geschossen, hinter dem ich schon lange her war. Puck hat mir gewissermaßen geholfen. Dafür sei ihm verziehen, auf meinem Gebiet das Wild erschreckt zu haben.«

»Sie sind sehr liebenswürdig.«

»Aber ich bitte Sie! Ich bin sehr glücklich, einen so reizenden Gast unter meinem Dach zu haben. Auf einen so schönen Tagesanfang war ich nicht gefaßt.«

Prinzessin Angelika wußte nun nicht mehr so recht, was sie darauf antworten sollte. Es war ihr ganz eigen zumute, und sie fragte sich, ob das die Liebe sei. Aber sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie gefangen war von einem seltsamen Gefühl, dessen sie nicht Herr zu werden vermochte.

»Sie sagen ja gar nichts mehr«, lächelte Rudolf leicht. Er war bezaubert von der Prinzessin. Sie war so reizend und so natürlich, und er verspürte den Wunsch, noch länger in ihrer Gesellschaft zu verweilen. Dabei hätte sie dem Alter nach seine Tochter sein können.

Daran aber dachte er nicht. Es war wie eine heimliche Verzauberung, und sie spürten es beide.

Angelika hob ein wenig die Schultern.

»Was soll ich sagen?« murmelte sie. »Dies alles ist so sonderbar, so neu für mich.«

»Aber es wird Ihnen doch schon jemand gesagt haben, daß Sie eine bezaubernde junge Dame sind?«

»Sicher, aber niemand anders als Sie.«

Voll schlug Angelika die großen Augen zu dem Mann auf, und alles, was sie empfand, war in ihnen zu lesen.

Es rührte und beglückte den Mann zugleich.

»Darf ich einmal wiederkommen?« fragte Angelika ernsthaft.

»Aber jederzeit. Ich würde mich freuen – und ich werde auf Sie warten. Das heißt, wenn Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist.«

»Aber wie können Sie so etwas sagen!« entfuhr es ihr da. »Noch niemals habe ich einen Mann kennengelernt wie Sie.«

Dann kam ihr zum Bewußtsein, was sie gesagt hatte, und erschrocken preßte sie ihre kleine Hand auf ihren Mund.

Rudolf zog ihre Hand herunter und nahm ihren Kopf in beide Hände. Lange, lange betrachtete er das junge Gesicht, las in den hellen Augen, und irgendwo ganz fern klingelte das Glöckchen der Erinnerung.

Schon einmal hatte er einen Frauenkopf so zwischen seinen Händen gehalten. Wie lange nur war das her? War es Wirklichkeit gewesen oder nur ein schöner Traum? Aber vergessen hatte er die Frau niemals, der die Prinzessin in manchem so erstaunlich glich.

War es die Erinnerung an jene unerreichbare, spurlos verschwundene Geliebte, die den Mann plötzlich seinen Mund auf die klare, reine Stirn der jungen Prinzessin pressen ließ? Er hätte es nicht zu sagen vermocht.

Angelika hielt ganz still, und nur ihr Herz klopfte ganz unvernünftig.

Und dann plötzlich – sie wußte selber nicht, wie es hatte geschehen können – hatte sie beide Arme um seinen Hals geschlungen und schmiegte sich sekundenlang an ihn.

Ebenso plötzlich ließ sie ihn los. Sie rannte mit rotem Kopf hinaus ins Freie und stolperte davon. Puck fest im Arm.

Keuchend erreichte sie die Lichtung, auf der sie kurz zuvor Rast gemacht hatte. Dort graste ruhig ihr Pferd. Sein Anblick brachte sie ein wenig zur Besinnung.

Sie horchte noch einen Augenblick, aber hinter ihr blieb alles still. Da schwang sie sich auf ihr Pferd und preschte davon.

Auf Rothenstein angekommen, warf sie einem Reitknecht die Zügel zu und rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Hier warf sie sich tief aufatmend auf ihr Bett, beide Hände gegen ihr pochendes Herz gepreßt.

So lag sie lange Zeit und kümmerte sich nicht darum, als es mehrmals an ihre Tür klopfte.

»Ich liebe«, murmelte sie vor sich hin, »mein Gott, ich liebe! Wie wundervoll ist dieses Gefühl und doch wie schmerzlich zugleich.«

Sie blieb bis Mittag in ihrem Zimmer, und als sie endlich im kleinen Speisesaal erschien, wirkte sie sonderbar zerstreut und verträumt.

Christina de Roussillon warf ihr mehrmals einen forschenden und leicht besorgten Blick zu, aber sie fragte nichts.

Wenn Angelika ihr irgend etwas zu sagen hatte, so würde sie von allein zu ihr kommen. Vertrauen konnte man nicht erzwingen. Christina wußte das.

Für den Nachmittag hatte Angelika sich einige Einkäufe vorgenommen, aber sie schob diese für einen späteren Zeitpunkt auf. Statt dessen lief sie im weiten Park herum, umtollt von Puck, der seine kleine Bißwunde nicht mehr zu spüren schien, und träumte von einem Mann mit silbernen Schläfen, der so sonderbar durchdringend und warm zugleich blicken konnte und dessen Kuß noch auf ihrer Stirn brannte…

*

Am folgenden Morgen wäre Angelika liebend gern wieder hinausgeritten zum fernen Jagdhaus, aber sie bezwang ihre Sehnsucht und Ungeduld.

Was mußte dieser Herr von Wertach von ihr denken, wenn sie bereits wieder dort auftauchte.

Sie nahm sich vor, mindestens eine Woche lang damit zu warten, aber dann hielt sie es doch nicht aus, und zwei Tage später ritt sie wieder in aller Frühe davon und schlug den gleichen Weg ein, nur hatte sie diesmal Puck auf Rothenstein zurückgelassen.

Sie ritt bis dicht vor die Tür des Jagdhauses. Es lag still und verlassen vor ihr, und schon glaubte sie, sein Besitzer sei nicht anwesend, als er in die Tür trat und sie herzlich begrüßte.

Angelika ließ sich vom Pferd helfen und fühlte sich am Arm ins Haus geführt.

Sie glaubte, sich für ihr erneutes Erscheinen entschuldigen zu müssen, aber Rudolf ließ es nicht dazu kommen.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, lächelte er ihr freundlich zu, »ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Ich habe so selten Menschen um mich, die so bezaubernd und natürlich sind wie Sie.«

»Aber ich hätte nicht kommen dürfen«, murmelte Angelika vor sich hin.

»Und warum nicht? Sind Sie jemandem Rechenschaft über Ihr Handeln schuldig?«

»Meiner Mama. Sie weiß nicht, daß ich hier bin.«

»Sie sollten es ihr sagen.«

Angelika nickte beklommen. Gleichzeitig fühlte sie jedoch, daß sie gerade das nicht fertigbringen würde, aber sie wußte nicht, warum.

»Wissen Sie eigentlich«, fragte sie nach einer Weile, »daß Sie meine Be­kanntschaft dem Grafen von Seebach verdanken?«

»Tatsächlich?«

»Wenn er mich nicht im Stich gelassen hätte, wäre ich vermutlich niemals über die Grenzen von Rothenstein hinausgekommen. Wissen Sie, er ist . . .«

»Sie lieben ihn sehr?« fragte er unvermittelt.

»Nein, o nein«, fuhr Angelika da auf, »so ist es nicht! Er ist mir ein Freund, ist mir wie ein Bruder.«

»Also ist Ihr Herz noch frei.«

Hatte das nicht erleichtert geklungen?

Angelika vermochte nicht zu antworten. Sie schaute Rudolf nur unverwandt an und konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Er erschien ihr in diesem Moment wie die Verkörperung all ihrer Träume von Liebe und Glück.

»Kind«, murmelte Rudolf da erschüttert. »Sie sollten mich nicht so ansehen mit Ihren wundervollen Augen. Sie sollten nicht mit dem Feuer spielen. Gar zu leicht kann man sich bei diesem Spiel verbrennen. «

»Und wenn es kein Spiel wäre?« fragte sie mit einer ihr selbst fremd klingenden Stimme.

»Kind«, sagte er wieder, »ich könnte Ihr Vater sein. Ich hätte gern eine Tochter wie Sie gehabt.«

»Aber Sie sind nicht mein Vater, Herr von Wertach.«

»Leider nicht.« Rudolf riß sich zusammen, griff nach ihrem Arm und führte sie ein Stück in den Wald hinaus. »Kommen Sie«, sagte er dabei, »ich zeige Ihnen ein paar ganz herrliche Fleckchen unserer schönen Erde. Würde es Ihnen Freude machen, das Rotwild zu beobachten?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab und zwang sie fast, mit ihm Schritt zu halten.

War sie enttäuscht? Sie wußte es nicht. Seine Nähe allein beglückte sie. Es war wie ein Rausch. Sie hörte seine Worte, seine Stimme, und sie war glücklich, was immer er auch sagte. Ihr ganzes Herz schenkte sie in diesem Augenblick einem Mann, der davon sonderbar verwirrt wurde und fast bereit war, sein Alter zu vergessen, und der sich nur gewaltsam zusammennahm

Diese reine Liebe eines kaum erwachsenen Kindes hatte etwas seltsam Faszinierendes, etwas Fesselndes, das einen Mann schon in seinen Bann schlagen konnte.

Und warum eigentlich nicht? Was konnte ihn hindern, dieses bezaubernde Geschöpf zu lieben? Was nur hielt ihn davon zurück, sie einfach in die Arme zu nehmen und ihren zarten Mund mit Küssen zu bedecken?

Aber er tat es nicht, erklärte ihr statt dessen den Forst und seine Tiere, sprach von Menschen seiner Umgebung zu ihr und genoß allein ihre Gegenwart.

Für Angelika indessen war auch das schon die Erfüllung eines Traumes. An seiner Seite sein zu dürfen, seine warme Stimme zu hören, das war ihr schon Glück genug.

Die junge Prinzessin glaubte in diesen Augenblicken, niemals einem anderen Mann ihr Herz schenken zu können als Rudolf von Wertach.

*

Sie sahen sich von da an fast täglich. Es war wie ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, und die Liebe Angelikas zu dem wesentlich älteren Mann wuchs von Mal zu Mal.

Und Rudolf?

Er genoß die reine Liebe dieses jungen entzückenden Menschenkindes wie ein unerwartetes kostbares Geschenk. Doch das Verantwortungsbewußtsein des reifen, erfahrenen Mannes ließ ihn stets den gebührenden Abstand wahren.

Wie hätte er ahnen sollen, daß Angelika darin etwas ganz anderes sah, nämlich die ernsthafte Werbung um die Frau, die man zu heiraten gedachte.

Ihr Glück war unbeschreiblich. Geduldig wartete sie, daß er sich ihr erklären würde. Statt dessen kam eines Tages Michael von Seebach wieder nach Rothenstein.

Vergeblich hatte er in der vergangenen Zeit auf ein Zeichen Angelikas gewartet, auf einen Anruf, einen Brief, der ihm sagen würde, daß sie ihn vermißt hatte.

Aber nichts dergleichen war geschehen. Es war, als existiere er nicht mehr in der Erinnerung der jungen Prinzessin.

Michael von Seebach hatte darunter gelitten und seiner Mutter für ihren verhängnisvollen Ratschlag die bittersten Vorwürfe gemacht, aber Cäcilie hatte nur gelächelt.

»Du gibst zu schnell auf, Michael«, hatte sie gemeint, »es kann auch mädchenhafte Scheu oder damenhafte Zurückhaltung sein, die Angelika schweigen läßt. Das wirst du erst erfahren, wenn du ihr gegenüberstehst. Das Auge einer Frau kann nicht lügen.«

So war Michael von Seebach denn losgeritten und ohne Voranmeldung wie gewöhnlich auf Rothenstein erschienen.

Aber er traf nur Christina de Roussillon an, die heute früher als sonst am Kaffeetisch saß.

»Michael«, rief sie erstaunt, als sie ihn erblickte. »Sie noch hier? Ich glaubte Sie mit Angelika im Forst.«

Michael beugte sich zum Handkuß über ihre schmale Rechte.

»Ich bin wohl zu spät gekommen«, lächelte er verkrampft und bemühte sich, seine grenzenlose Enttäuschung zu verbergen. So hatte es Angelika ausgemacht, daß er fortgeblieben war. Sie hatte am Morgen nicht etwa auf sein Erscheinen gewartet, sondern sie war losgeritten, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt.

»Das sollte bei einem Kavalier nicht vorkommen«, entgegnete Christina. »Ich glaube, Angelika wird es bedauern. Es ist das erste Mal, daß sie allein ausreitet, nicht wahr? Und es gefällt mir gar nicht. Einen Reitknecht hätte sie schon mitnehmen können, kennt sie den Forst doch noch keineswegs gut genug, um sich allein sicher darin bewegen zu können.«

»Ich weiß, und ich mache mir Vorwürfe. Wahrscheinlich zürnt mir die Prinzessin, weil ich einige Tage fortgeblieben bin. Ich war zur Jagd eingeladen und…«

»Was sagen Sie da?« fuhr Christina entgeistert auf. »Soll das heißen, daß Sie seit Tagen nicht mehr auf Rothenstein gewesen sind, um mit Angelika auszureiten?«

Michael von Seebach nickte unglücklich.

»Aber mein Gott, dann ist Angelika ja schon seit Tagen allein im Wald umhergestreift. Wie leicht hätte ihr etwas passieren können. Es gehört ein Moor dazu, und Angelika kennt es nicht. Ich mache mir große Sorgen. Wollen Sie Angelika nachreiten und sie sicher zurückbringen, Michael, wenn ich Sie herzlich darum bitte? Ich weiß doch, was Angelika Ihnen bedeutet.«

»Sie wissen es, Christina?«

»Es war schwerlich zu übersehen.«

»Und Sie billigen meine Neigung?«

»Ich habe nichts gegen Sie persönlich, Michael. In der Tat mag ich Sie recht gern, aber entscheidend ist allein Angelika. Ich werde mich in ihre Herzensangelegenheiten keinesfalls einmischen. Es ist Ihre Sache, Graf Michael, Angelikas Herz zu erringen, wenn Sie sie zu lieben glauben. «

»Ich glaube es nicht nur, ich liebe Angelika wirklich. Und ich hatte so gehofft, daß ein paar Tage der Trennung…«

Er brach ab, unfähig, weiterzusprechen.

Christina de Roussillon sah ihn mitleidig an.

»Ich verstehe«, meinte sie leise. »Sie wollten sich Klarheit verschaffen.«

Eine Weile herrschte bedrückendes Schweigen.

Christina wurde es plötzlich bewußt, daß Angelika kein Wort darüber verloren hatte, daß Michael ausgeblieben war, und jäh preßte eine unsichtbare Hand ihr Herz zusammen, und sie wurde blaß. War das wirklich nur Gleichgültigkeit Angelikas Michael gegenüber? Aber das paßte nicht zu Angelika. Als Freund betrachtete sie Michael gewiß schon lange, und Freunde waren ihr niemals gleichgültig gewesen. Es sei denn…

Christina wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

»Reiten Sie, Michael«, bat sie schwach, »reiten Sie und holen Sie mir Angelika zurück. Ich bitte Sie! Ich habe namenlose Angst um Angelika.«

Michael verbeugte sich und eilte auch schon davon. Gleich darauf ritt er im Galopp vom Schloßhof.

Christina schaute vom Fenster aus hinter ihm her, eine Hand auf ihr wildklopfendes Herz gepreßt

»Was ist dir, meine Liebe?« fragte hinter ihr Helene de Ravoux erstaunt. »Du siehst erregt aus, Christina. «

Die Marquise erzählte der bejahrten Freundin, was vorgefallen war.

»Es gibt eigentlich nur eine vernünftige Erklärung für das sonderbare Verhalten Angelikas«, meinte Helene de Ravoux nach einer Weile.

»Oh, sprich es nicht aus, Helene! Es wäre zu fürchterlich.«

»Du kannst den Tatsachen nicht ausweichen, Christina. Schon einmal hat das eine Frau versucht, und du weißt, welch bitteres Ende das alles genommen hat. Unendliches Herzeleid hat es über sie gebracht, und sie starb an gebrochenem Herzen. Willst du zulassen, daß Angelika das gleiche geschieht? Sie hat das starke Herz ihrer…«

»Ich weiß es, Helene, und ich fühle mich entsetzlich schuldig. Ich habe meine Pflicht versäumt. Ich hätte mehr auf Angelika achten müssen. Wenn wirklich ein Mann dahintersteckt, so kann es kein ebenbürtiger sein, sonst hätte Angelika ihn mir vorgestellt und nicht diese Heimlichkeiten vor mir gehabt. «

»Das will ich nicht sagen, Christina. Die erste Liebe ist besonders süß, wenn sie ein Geheimnis der Liebenden bleibt. Zudem konntest du nicht ahnen, daß Graf Michael verreist war.«

»Trotzdem, Helene, ich mache mir Vorwürfe.«

»Sie sind verfrüht, Christina. Vielleicht hat Angelika ihr Herz an den Richtigen verloren. Vielleicht billigst du ihre Wahl.«

»Niemals! Was so mit Heimlichkeiten begann, muß irgendwie das Licht des Tages scheuen.«

»So wenig vertraust du Angelika?«

»Ich vertraue ihr vollständig, aber sie ist jung und unerfahren und hat ein leicht entflammbares Herz.«

»Davon war nichts zu merken, als es um Graf Michael ging. Fürchtest du nicht in erster Linie, Angelika an einen Mann zu verlieren? Sie zurücklassen zu müssen auf Rothenstein, wenn der Tag gekommen ist, an dem wir beide selbst zurückreisen werden?«

»Ich hätte nichts gegen den jungen Grafen von Seebach einzuwenden gehabt. «

»Weil du längst weißt, daß Angelikas Herz nicht für ihn schlägt. Du belügst dich selbst, Christina.«

Christina de Roussillon senkte den Kopf und schwieg.

*

Michael von Seebach war indessen in wildem Galopp davongeprescht. Aber bald schon zügelte er sein Pferd.

Wo nur, um alles in der Welt, sollte er Angelika suchen? Er war kein Indianer, der sich aufs Fährtenlesen verstanden hätte, und der Forst war groß. Zudem grenzte dieser noch an den nachbarlichen Forst.

Nur so viel war dem jungen Grafen bald klar, daß er nicht an Stellen suchen durfte, die Angelika bereits gut kannte.

So ritt er ziellos dahin, horchte auf jeden Laut und rief hin und wieder Angelikas Namen.

Mehrfach hatte er sich der Grenze des Waldes genähert, einen großen Bogen geschlagen und sich erneut auf die Suche gemacht. So war er wieder der nachbarlichen Grenze nahe gekommen.

Gerade wollte er sein Tier wenden, als er Stimmen hörte.

Er zügelte sein Pferd und wartete gespannt.

Helles Frauenlachen klang auf, und Michael erkannte an dem Lachen Angelika.

Eine sonore Männerstimme sagte etwas, was Michael nicht verstehen konnte, und wieder lachte Angelika.

Das Blut schoß Michael in die Stirn, gleich darauf wurde er leichenblaß.

Und dann sah er sie herankommen. Sie ging am Arm eines hochgewachsenen Mannes, der ihr Pferd am Zügel führte. Ganz vertraut hatte sie sich bei dem Mann eingehängt und schien lustig mit ihm zu plaudern.

Michael spürte, wie sein Herz vor Zorn und Eifersucht zu rasen begann.

Da kam sie ihm entgegen auf der schmalen Schneise. Die Frau, die er so liebte. Sie trug dunkle Reithosen und eine weiße Seidenbluse. Ein weißes Stirnband hielt ihr dunkles Haar zurück, und sie sah hinreißend aus.

Das schien auch der Mann an ihrer Seite zu erkennen, denn er wandte keinen Blick von seiner reizenden Begleiterin, und sein Lächeln, mit dem er Angelika betrachtete, war warm und herzlich.

Ohne es wirklich zu wollen, aus seiner Überraschung heraus, rief Michael die junge Prinzessin beim Namen.

Angelika wandte sich ihm erstaunt zu, und auch der Mann schaute ihm entgegen.

Und da erkannte Michael den Begleiter der Prinzessin.

Alles Blut wich aus seinem Gesicht, und sekundenlang schien es, als könne er sich nicht im Sattel halten.

Aber dann preßte er die Lippen aufeinander, riß sein Pferd herum und galoppierte wie irrsinnig davon, auf Rothenstein zu.

Er wußte, daß er sich unmöglich benahm, aber er wußte auch, daß er etwas Unverzeihliches getan hätte, wäre er geblieben. Zorn, Verzweiflung und Eifersucht hatten ihn um die Beherrschung gebracht.

Und er war noch ganz erfüllt von diesen Gefühlen, als er in Christinas Salon stürzte.

»Michael!« Die Marquise sprang entsetzt auf, als sie seinen wilden Blick sah, und auch Helene de Ravoux erhob sich und ging mit ärgerlichem Stirnrunzeln dem jungen Grafen ein paar Schritte entgegen.

»Ich habe Angelika gefunden«, sagte Michael laut, »doch es war mir nicht möglich, die Prinzessin zurückzugeleiten. Sie befand sich in der denkbar besten Gesellschaft.«

»Michael!« rief Christina und wurde leichenblaß. »Wollen Sie mir nicht näher erklären…«

»Da gibt es nichts mehr zu erklären. Gegen den Begleiter der Prinzessin Angelika bin ich machtlos.«

»Aber wer ist es denn, um Himmels willen?«

»Die Prinzessin de Roussillon«, erklärte Michael von Seebach sehr förmlich und übersah in seinem wilden Schmerz die Angst und das aufsteigende Entsetzen in den Augen der Marquis, »befindet sich zur Zeit in Begleitung des Königs. Erlauben Sie mir, daß ich mich unter diesen Umständen zurückziehe.«

Er wartete eine Erwiderung nicht ab, verbeugte sich knapp und eilte hinaus, unfähig, seine Gefühle länger zu verbergen.

So sah er nicht, daß die Marquise de Roussillon mit einem ächzenden Wehlaut langsam in sich zusammensank, in letzter Sekunde von den Armen ihrer Kammerfrau aufgefangen.

*

»Michael!« rief Angelika hinter dem jungen Grafen her, der sich, völlig unverständlich für die Prinzessin, so unvermutet herumwarf und davonritt, ohne sie und ihren Begleiter zu begrüßen.

Dann wandte sie sich dem Mann an ihrer Seite zu.

»Das war Michael Graf von Seebach«, sagte sie ein wenig unglücklich. »Ich verstehe gar nicht, was in ihn gefahren ist. Er ist sonst immer freundlich und liebenswürdig.«

Rudolf biß sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht sah sorgenvoll aus.

Diese Begegnung war mehr als peinlich und konnte die Prinzessin leicht in einen schlechten Ruf bringen. Man ging als junge Dame der ersten Gesellschaft nicht allein mit einem Mann im Wald spazieren, auch nicht, wenn er ein König war. Gerade dann nicht.

Und für ihn selbst war die Begegnung nicht weniger unangenehm, war sie doch geeignet, ihm Konsequenzen aufzuzwingen, an die er bisher nicht ernsthaft gedacht hatte.

Aber würde das wirklich unangenehm für ihn sein? War die Liebe dieses jungen Mädchens an seiner Seite, das noch dazu aus einer der ersten Familien stammte, nicht ein wundervolles Geschenk des Schicksals, das er nicht zurückweisen durfte?

Tiefe Zärtlichkeit durchflutete den hochgewachsenen Mann, als er auf Angelika herunterblickte, die so hilflos und verwirrt dreinschaute.

»Sie sollten ihm nachreiten, Angelika«, sagte er weich und sanft, »er liebt Sie. Es ist Eifersucht, die ihn davonjagt.«

»Aber er hat kein Recht zur Eifersucht«, rief sie da hell aus, »ich habe ihm nie Hoffnungen gemacht. Bitte, glauben Sie mir das, Herr von Wertach!«

»Liegt Ihnen denn so viel daran, daß ich Ihnen glaube?«

»Ja, sehr viel. lch möchte nicht, daß Sie denken, ich meine…« Sie brach verwirrt ab, wußte nicht, was sie weiter erklären sollte.

»Und warum?« entschlüpfte es ihm, und sofort biß er sich ärgerlich auf die Unterlippe.

Das hätte er nicht fragen dürfen, das nicht. Es forderte sie heraus, und er kannte Angelika bereits gut genug, um zu wissen, daß sie immer die Wahrheit sagte, daß sie nicht fähig war, ihre Gefühle zu verheimlichen.

Angelika hob den Kopf zu ihm auf und sah ihn mit ihren schönen klaren Augen offen an.

»Weil ich Sie liebe«, sagte sie einfach, »das wissen Sie doch, Herr von Wertach.«

»Kind«, erwiderte Rudolf, völlig aus der Fassung gebracht. »Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen.«

»Ich weiß es sehr gut.« Angelika sah ihn unverwandt an, und ihr Gesicht schien zu leuchten. »Ich werde niemals einen anderen Mann lieben können als Sie, Herr von Wertach.«

Rudolf blieb stehen und ließ das Pferd los. Statt dessen nahm er, wie schon einmal, Angelikas Gesichtchen in beide Hände.

»Vergessen Sie diese Liebe, Kind«, murmelte er. »Ich bin ein alter Mann und passe nicht an Ihre Seite, obwohl Ihre Worte mich sehr glücklich machen. Jeder Mann würde durch ein solches Geständnis aus Ihrem Mund sehr glücklich, Angelika. «

»Das kann ich nicht. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an Sie, und ich wäre sehr unglücklich, wenn ich Sie nicht mehr sehen dürfte. Und das wollen Sie doch nicht, daß ich unglücklich bin?«

Rudolf schüttelte den Kopf und schaute unverwandt in das glühende Gesichtchen der Prinzessin.

Welch ein Schatz bot sich ihm da dar, welch ein namenloses Glück wollte da auf ihn zukommen.

Er riß sich fast gewaltsam zusammen und ließ sie los. Stumm ging er weiter.

»Verzeihen Sie mir«, murmelte Angelika ein wenig unglücklich, »ich hätte das natürlich nicht sagen dürfen, nicht wahr? Mama tadelt mich oft deswegen, daß ich mein Herz auf der Zunge trage.«

»Sie sollten auf Ihre Mama hören.«

Angelika schwieg. Ihr Gesicht war ein wenig blasser geworden. Es dämmerte ihr, daß sie sich schrecklich falsch benommen hatte. Was mußte er jetzt nur von ihr denken?

»Bitte«, bat sie schwach und mit fast ersterbender Stimme, »könnten Sie meine Worte nicht vergessen, wenn ich Sie sehr darum bitte? Ich möchte doch nichts weiter, als in Ihrer Nähe sein zu dürfen. «

»Nein«, lächelte Rudolf sanft, »vergessen werde ich Ihre Worte niemals. Aber wir wollen nie wieder darüber sprechen, einverstanden?«

Angelika nickte, aber sie hatte Tränen in den Augen.

*

»Die Marquise erwartet dich, Angelika«, sagte Helen de Ravoux, als Angelika zurückgekehrt war und gerade nach oben eilen wollte, um sich umzuziehen.

»Ich möchte mich erst noch rasch umkleiden«, sagte Angelika leise.

»Es ist besser, du gehst gleich zur Mama, Angelika.«

Die Prinzessin zögerte, gehorchte dann aber.

Christina de Roussillon saß auf einem dunkelroten Sofa, die Hände im Schoß gefaltet. Sie war leichenblaß und glich einer schönen Statue.

Angelika erschrak, als sie die Marquise sah.

»Mama«, rief sie leise und hilflos und wagte nicht, sich zu nähern.

Christina bewegte sich leicht. »Komm zu mir, Angelika«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie geborsten.

Angelika trat ein paar Schritte näher.

Christina faßte nach der Hand der Prinzessin.

»Du weißt, weshalb ich dich zu mir bitten ließ, Angelika?«

»Ich kann es mir denken, Mama. Michael hat mich gesehen und es dir berichtet. Aber…«

»Ja«, sagte Christina tiefernst, »und ich bin sehr traurig, es erst jetzt und nicht aus deinem Mund erfahren zu haben.«

Angelika atmete heimlich auf. War es nur das, was die geliebte Mama verletzt hatte? Aber sie mußte doch verstehen.

»O Mama«, rief sie, »ich wollte es dir ja sagen, und ich hätte es auch bestimmt bald getan. Du mußt doch verstehen…«

»Nein, Angelika, ich verstehe es nicht! Du bist nicht irgendein Mädchen aus dem Volk, das Heimlichkeiten in der Liebe haben darf. Du bist eine Prinzessin, und das erlegt dir Verpflichtungen auf.«

»Das weiß ich ja, und ich kann dir versichern, Mama, daß ich. . .«

»Du wirst diesen Mann niemals wiedersehen, Angelika«, wandte Christina ein, der es entsetzlich schwer fiel, so mit der Prinzessin zu sprechen. »Versprich mir das, Angelika!«

Angelika zuckte zurück.

»Aber das kann ich nicht, Mama!« rief sie fassungslos, und Tränen traten ihr in die Augen. »Ich liebe ihn doch.«

»Gerade deshalb darfst du ihn niemals wiedersehen, wenn du nicht sehr unglücklich werden willst.«

»Wie kann ich unglücklich werden, wenn ich ihn liebe? Du machst mich unglücklich, Mama, wenn du das von mir verlangst. Bedenke es doch, Mama, ich bitte dich! Ich war dir immer eine gehorsame Tochter, und ich möchte das auch bleiben, aber bestehe nicht darauf, bitte, daß ich ihn nicht wiedersehe. Ich kann das nicht, Mama, ich würde todunglücklich werden.«

»Weißt du überhaupt, was du da sprichst, Angelika? Weißt du denn, was du tust? Der Mann, den du zu lieben glaubst, ist…«

»Der Graf von Wertach, ich weiß«, unterbrach Angelika die Marquise. »Aber was macht das aus? Gerade du hast mich gelehrt, nicht dünkelhaft zu sein. Ist ein Graf jetzt nicht gut genug für mich? Mama, das kann dein Ernst nicht sein.«

Christina war noch um einen Schein blasser geworden. So ahnte Angelika nicht einmal, mit wem sie es zu tun gehabt hatte. So war der König unehrenhaft gewesen und hatte der jungen, unerfahrenen Prinzessin gegenüber seine Identität verschwiegen. Und das konnte nur einen Grund haben.

Christinas Herz erbebte in namenloser Angst und entsetzlicher Verzweiflung.

»Angelika«, sagte sie, und sie nahm sich mit letzter Kraft zusammen, um ruhig sprechen zu können, »höre mir einmal zu. Habe ich jemals etwas getan oder von dir verlangt, was nicht gut für dich gewesen wäre, auch wenn es anfangs nicht immer so ausgesehen hat? Verdiene ich dein Vertrauen jetzt nicht mehr? Glaube mir, Angelika, ich will nichts weiter, als dich glücklich zu sehen. Mit diesem Mann aber kannst du nur unglücklich werden. Deshalb darfst du ihn nicht wiedersehen, solange es noch Zeit ist und die Narben in deinem Herzen noch zu heilen vermögen. Ich muß dir jetzt weh tun, Angelika, aber nur, um dir größeren Schmerz zu ersparen. Dieser Mann wird dich niemals zu seiner Frau machen.«

»Das glaube ich nicht, Mama«, rief Angelika aus und warf trotzig und erbittert den Kopf in den Nacken. »Graf von Wertach ist ein Ehrenmann.«

»Und woher weißt du das, Angelika?«

»lch weiß es, weil ich ihn liebe. Ich fühle es. Niemals hat er etwas Unehrenhaftes getan, seit ich ihn kenne.«

»Bist du ganz sicher, Angelika? Könnte er nicht ein ganz anderer sein als der Mann, der er dir gegenüber scheinen möchte?«

»Das ist gemein, Mama, und deiner nicht würdig! Du wertest einen Mann herab, den du gar nicht kennst. Das hast du noch niemals getan, Mama, ich bitte dich, gönne mir doch meine Liebe.«

»Aber Kind, ich gönne dir alles Glück der Welt. Gerade deshalb muß ich darauf bestehen, daß du diesen einen Mann niemals wiedersiehst. Niemals mehr, verstehst du?«

»Nein, Mama, das verstehe ich nicht. Und darin kann ich dir auch nicht folgen. Vergib mir, Mama, aber meine Liebe ist stärker als mein Gehorsam und meine Dankbarkeit.«

»So muß ich dich zwingen, Angelika?«

Angelika erhob sich. Hoch aufgerichtet stand sie vor der Marquise. Die hellen Augen loderten, und das ganze Temperament dieses schönen Geschöpfes brach durch.

»Du kannst mich nicht zwingen, Mama. Niemand kann meinem Herzen befehlen, auch du nicht. Die Liebe ist stärker. Ich habe es nie zuvor glauben wollen, aber es ist so. Ich werde niemals von meiner Liebe lassen.«

»So werden wir abreisen, Angelika, wir kehren sofort nach Roussillon zurück. Das wird dich zur Vernunft bringen.«

Was es Christina kostete, so zu reden, das wußte nur sie allein.

Sie war einem Zusammenbruch nahe.

Warum nur machte Angelika ihr alles so entsetzlich schwer? Warum hatte sie ihr Herz an diesen einen Mann verlieren müssen? Konnte das Schicksal denn so unbarmherzig sein? Hatte dieser Mann noch nicht genug Unheil und Leid gestiftet?

Mußte er nun auch Angelika unglücklich machen?

Sie hatte es geahnt, daß diese Reise nach Rothenstein ihnen Kummer und Ärger bringen würde. Ihre Ängste hatten sie nicht getrogen, nur hatte sie das Unglück nicht in dieser Form erwartet, die wohl die schlimmste für sie alle war.

»Wir werden nicht abreisen«, sagte eine totenblasse, aber sehr entschlossene Angelika. »Das Testament von Großvater zwingt mich, bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag auf Rothenstein zu bleiben. Du kannst dich über diese Bedingung nicht einfach hinwegsetzen, ohne an mir schuldig zu werden, ohne mir mein Erbe gegen meinen Willen zu rauben. Ich will bleiben, Mama!«

Unendlich traurig sah Christina die junge Prinzessin an.

»Es gab eine Zeit«, sagte sie leise, »da verlangtest du, auf Roussillon bleiben zu dürfen, da batest du mich im voraus um Verzeihung dafür, daß du auf Rothenstein verzichten wolltest.«

»Ich weiß, Mama, und es tut mir entsetzlich leid. Aber ich kann nicht fort von hier, solange ich Graf von Wertach liebe. Und ich werde niemals aufhören, ihn zu lieben. Niemals!«

»Angelika«, bat Christina hilflos und mit Tränen in den Augen. »Angelika, du wirst in dein Unglück rennen.«

»Und wenn ich unglücklich werden muß, Mama, ich kann es nicht ändern. Das Herz hat seine eigenen Gesetze. Es kümmert sich nicht darum, ob der Liebe das Leid auf dem Fuß folgt. Ich will es auf mich nehmen, wenn ich nur jetzt in seiner Nähe bleiben kann.«

»So muß ich einen anderen, bitteren Weg gehen, Angelika, du zwingst mich dazu. «

»Mama«, rief Angelika mit heller Stimme, in der all ihre Entschlossenheit mitschwang. »Mama, überlege dir, was du tun willst! Es könnte sein, daß ich lerne, dich zu hassen.«

Christina erhob sich mit Anstrengung. Sie sah entsetzlich aus. Das Leid und die Verzweiflung brannten in ihren schönen Augen. Sie wankte ein wenig, aber Angelika kam ihr nicht zu Hilfe. Aufgerichtet und mit blitzenden Augen stand die Prinzessin vor der Marquise.

»Auch um diesen Preis werde ich dein Unglück zu verhindern wissen«, sagte Christina und ging wankend hinaus.

Angelika stand allein mitten in diesem eleganten Salon und hielt beide Hände zu Fäusten geballt.

»Ich werde um mein Glück zu kämpfen wissen, Mama«, sagte sie laut in die Stille hinein, »wenn es notwendig sein sollte, sogar gegen dich.«

Und dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie sank schluchzend in einem Sessel in sich zusammen.

Einen hohen Preis würde sie für ihre Liebe zahlen müssen: den Verlust der über alles geliebten Mama.

*

Rudolf saß in der geräumigen Bibliothek des Jagdschlosses von Wertach und blätterte unlustig in einem Buch.

Vor ihm auf einem niedrigen Tisch stand ein Gedeck. In silberner Kanne dampfte aromatisch heißer Kaffee.

Aber Rudolf konnte sich nicht konzentrieren.

Immer wieder dachte er an die bezaubernde Prinzessin Angelika, und unversehens kam er ins Träumen.

Unwillig schaute er auf, als der Kammerdiener von Strössig eintrat.

»Was gibt es denn?« fragte er ärgerlich.

»Verzeihung, eine Marquise de Roussillon bittet, von Eurer Majestät in einer dringenden Angelegenheit empfangen zu werden.«

Angelika, durchzuckte es Rudolf, aber sofort sagte er sich, daß es die Prinzessin nicht sein konnte. Es mußte sich bei der Marquise um die Mutter der Prinzessin oder um eine nahe Verwandte handeln.

Sofort wuchs in ihm ein gewisses Unbehagen, und er fühlte sich schuldbewußt. Dann nahm er den Kopf ein wenig höher. Gab es etwas, was er sich vorzuwerfen hatte?

Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Kammerherrn, die Besucherin eintreten zu lassen.

Und dann stand Christina auf der Schwelle, eine sehr blasse, aber zu allem entschlossene Christina.

Sie trug ein tadellos geschneidertes Kostüm in einer warmen braunen Farbe, die den Goldton ihres vollen Haares ganz besonders hervorhob. Ein Hütchen gleicher Farbe saß auf ihrem Kopf. Ein feiner weißer Seidenschal lag um ihren schlanken Hals.

Sie bot ein bezaubernd schönes Bild, als sie so in der offenen Tür stand.

Rudolf hielt unwillkürlich den Atem an. Selten war ihm eine derartig schöne Frau vor Augen gekommen, eine Frau, die auf den ersten Blick all das vorstellte, wovon Rudolf nur zu träumen gewagt hatte, eine Frau, die die Vollkommenheit in Person war.

Langsam erhob er sich und ging ihr einige Schritte entgegen.

Christina versank in einen tiefen Hofknicks und hielt den Kopf gesenkt.

Fast liebevoll hob Rudolf die Marquise empor und führte sie zu einem der tiefen Ledersessel, die überall in Gruppen umherstanden.

»Ich muß Eure Majestät für mein formloses und unschickliches Eindringen um Entschuldigung bitten«, begann Christina mühsam und doch eisern entschlossen, »allein der Anlaß meines Besuches ist dringend.«

»Was immer der Anlaß sein mag«, entgegnete Rudolf lächelnd und doch sonderbarerweise ein wenig befangen, »ich freue mich, Ihre bezaubernde Bekanntschaft zu machen.«

»Majestät sind zu gütig, aber Majestät werden auch gleich anders über meinen Besuch denken. Ich komme mit einer Bitte, die nur Eure Majestät zu erfüllen in der Lage sind.«

»Ich werde Ihnen jede Bitte erfüllen, Marquise.« Rudolf war ernst, als er das sagte. Und er meinte es auch ernst, obwohl er den Grund dieses überraschenden Besuches durchaus ahnte.

»Dann bitte ich Eure Majestät, Wertach zu verlassen.«

»Was soll… Ich soll abreisen?« Entgeistert starrte Rudolf Christina an.

»Ganz recht, Majestät.«

»Darf ich um eine Erklärung für diesen sonderbaren Wunsch bitten, Marquise?«

»Ist sie noch nötig, Majestät? Ich bitte um Vergebung, wenn mein Ton anmaßend klingen sollte, allein ich stehe nicht als Untertanin vor Eurer Majestät, sondern in meiner Eigenschaft als Verantwortliche für ein junges Menschenkind, das Eure Majestät zu lieben glaubt.«

Rudolf schaute ernst in das noch bleicher gewordene Gesicht seiner schönen Besucherin. Ihr Mut und ihre offene Sprache imponierten ihm. Hier kämpfte eine Mutter um ihr Kind. Was zählten dann der Ton und selbst anmaßende Worte? Und hatte er selbst die Situation nicht herausgefordert?

Er hatte sich erwärmt an dem Feuer der jungen Liebe, die ihm aus den Augen der reizenden Prinzessin Angelika entgegengeschlagen war. War er von Sinnen gewesen?

»Sie sprechen von Prinzessin Angelika de Roussillon, Marquise?«

»Ganz recht, Majestät. Die Prinzessin liebt Sie mit einer solchen Leidenschaft, daß daraus nichts Gutes erwachsen kann. Auch nicht für Eure Majestät selber.«

Rudolf ging langsam und mit leicht geneigtem Kopf eine Zeitlang auf und ab. Dann blieb er jäh vor Christina stehen.

»Geht es so tief? Ich glaubte an eine erste Schwärmerei und nahm es nicht so ganz ernst.«

»Um so ernster war und ist es Angelika.«

»Es tut mir leid. Ich weiß, meine Worte klingen banal, und in Anbetracht der Situation sind sie es wohl auch, dennoch versichere ich Ihnen, daß es mir ehrlich und von Herzen leid tut.«

»So habe ich recht vermutet, wenn ich annahm, daß Angelikas Liebe von Eurer Majestät nicht erwidert wird«, sagte Christina ein wenig bitter. Wie hätte es auch anders sein können? Für einen König konnte ein junges Ding wie Angelika nichts weiter sein als eine nette Unterhaltung.

Rudolf schaute nachdenklich in die klaren blauen Augen der Marquise.

»Es mag Ihnen sonderbar vorkommen, Marquise, aber ich muß Ihnen ehrlich gestehen, daß ich Ihre Frage nicht zu beantworten vermag.«

Er ließ sich wieder neben Christina nieder, schaute jedoch an ihr vorbei zum Fenster hinaus. Langsam und fast wie zu sich selbst fuhr er dann fort:

»Irgend etwas zieht mich zu ihr hin, wenn ich Prinzessin Angelika vor mir sehe. Sie ist von bezaubernder Anmut und so recht geeignet, das Herz eines Mannes zu gewinnen.«

Er hob die Hand, als er merkte, daß Christina antworten wollte.

»Sagen Sie nichts, Marquise! Sie können nichts sagen, was ich nicht selber wüßte. Meine Stellung, die ich in diesem Land einnehme, die Jahre meines Lebens, die ich der Prinzessin voraushabe…«

»Und die Unmöglichkeit, daß Eure Majestät Angelika jemals heiraten.«

»Ist das wirklich so unmöglich, Marquise? Ich gebe zu, mit dem Gedanken gespielt zu haben. Ein König kann sehr einsam sein, Marquise. In seiner liebeleeren Umgebung kann sein Herz erfrieren. Begegnet ihm dann jemand, der es wieder zu erwärmen vermag, so liegt der Wunsch doch sehr nahe, dieses Wesen an sich zu ketten für alle Zeiten.«

»Majestät! «

»Schon gut! Es würde Prinzessin Angelika wahrscheinlich nicht zum Glück gereichen, die Gattin eines Königs zu werden. «

»Dem König auch nicht, Majestät. Die Bevölkerung dieses Landes würde es kaum verstehen.«

»Der König selbst auch nicht«, lächelte Rudolf ein wenig bitter, »denn er handelte verantwortungslos. Ein so junges und so reizendes Geschöpf wie Prinzessin Angelika verdient ein reines und wahres Glück an der Seite eines Mannes, der sie wirklich von Herzen liebt, etwa wie der junge Graf von Seebach.«

Christina schaute erstaunt auf. »Eure Majestät wissen?«

»Es war nicht schwer zu erraten nach dem Abgang des jungen Hitzkopfes an diesem Morgen.«

»So werden Majestät meinen Wunsch erfüllen?«

Wieder nahm Rudolf seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer auf. Er hielt seine Hände auf dem Rücken verschränkt, wie es so charakteristisch für ihn war.

Dann blieb er vor Christina stehen. Sein Blick, mit dem er sie umfaßte, war fast liebevoll, und Christina fühlte ärgerlich, wie eine feine Röte ihr in die Stirn stieg

Sie hatte sich die Unterhaltung mit dem König ein wenig anders vorgestellt. Sie hatte sich auch den König selbst anders vorgestellt, obwohl sie nicht zu sagen gewußt hätte, weshalb.

Dieser Mann vor ihr machte so gar nicht den Eindruck eines Menschen, der bedenkenlos und zu seinem eigenen Vergnügen Mädchenherzen zu brechen imstande war. Dieser Mann wirkte durchaus edel und zeigte eine unangreifbare Würde. Darüber hinaus sah er unglaublich gut aus.

Da sie aus einem anderen Land kam, hatte sie ihn nie zuvor gesehen, und Bilder, die ihr manchmal von ihm in Zeitschriften unter die Augen gekommen waren, hatte sie nicht beachtet. Welches Interesse hätte sie ihm im fernen Roussillon auch entgegenbringen sollen?

Plötzlich verstand sie Angelika besser.

Es war nicht schwer, sich in König Rudolf zu verlieben, und zu ihrem Entsetzen spürte sie ihr Herz stärker klopfen, und das Blut pochte ihr in den Schläfen.

Seine Nähe verwirrte und beunruhigte sie, und sie zürnte sich selbst deswegen.

Sie spürte, wie er sie forschend betrachtete, und wagte nicht, zu ihm aufzuschauen. Krampfhaft hielt sie ihre elegante Handtasche umklammert und kam sich unsäglich klein und lächerlich vor.

Aber dann riß sie sich zusammen. Entstammte nicht auch sie selber einem königlichen Geschlecht? Ein wenig steifte sie ihren Nacken.

»Glauben Sie wirklich, Marquise«, hörte sie den König da sagen, »daß mit meiner Abreise das Problem für Sie gelöst wäre? Ich wage das zu bezweifeln.«

»Aber Majestät…«

»Prinzessin Angelika ist ein aufrechter Charakter mit einem starken Herzen. Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich, der ich die Prinzessin erst so kurze Zeit kenne. Aber wenn es so ist, wie Sie sagen, und Prinzessin Angelika liebt mich wirklich, dann wäre meine Abreise sehr unklug.«

»Ich verstehe nicht.«

»In den Augen von Prinzessin Angelika würde meine plötzliche Abreise nichts weiter als ein edler Verzicht auf sie sein – auf Ihre Bitten hin, Marquise. Die Prinzessin würde nicht aufhören, mich zu lieben, im Gegenteil, zur Liebe käme dann noch die Bewunderung. Sie aber, Marquise, würde die Prinzessin möglicherweise als Urheberin der Trennung zu hassen beginnen. Es wäre also nichts gewonnen mit meiner Abreise, für Sie selber nur sehr viel verloren.«

Christina saß ganz still. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und Tränen traten ihr in die schönen Augen.

Rudolf sah es und ergriff ihre beiden Hände. Er zog sie zu sich empor.

»Nur Mut, Marquise!« sagte er mit unendlich traurigem Lächeln. »Vergessen Sie nicht, daß ich mich in gewisser Weise schuldig fühle. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Aber in der Tat habe ich die Prinzessin irgendwie in mein Herz geschlossen, wenn auch auf eine mehr väterliche Weise. Ich werde Sie daher nicht mit diesem Problem allein lassen, aber ich werde auch ein Opfer von Ihnen fordern müssen.«

»Was kann ich tun, Majestät?«

Rudolf wandte sich ab, damit sie den Blick seiner Augen nicht sähe. Er schaute zum Fenster hinaus auf die gepflegte Rasenfläche unter sich. Ohne sich umzudrehen sagte er:

»Vermutlich kann nur eines die Liebe der Prinzessin Angelika zu mir zerstören, nämlich, wenn sie glauben muß, in mir einen unedlen Charakter vor sich zu haben.«

»Majestät!«

Christina war entsetzt. Wollte der König sich erniedrigen? Es war eine unfaßbare Vorstellung, und sie durfte das nicht von ihm erwarten. Es war ja nicht seine Schuld, daß alles so gekommen war.

Erschrocken merkte sie, wie sie in ihrem Herzen nach Entschuldigungen für ihn suchte.

»Warum entsetzen Sie sich so, Marquise? Wären nicht auch Sie bereit, für Prinzessin Angelika jedes Opfer zu bringen?«

»Das ist etwas anderes, Majestät.«

»Meinen Sie? Weshalb soll ich mich von Ihnen beschämen lassen. Nein, Marquise, die Prinzessin muß glauben, ich hätte nur ein Spiel mit ihr getrieben. Das allein kann noch helfen. Außerdem muß sie glauben, nur ein Mittel zum Zweck für mich gewesen zu sein.«

»Ich verstehe Eure Majestät nicht.«

»Ich werde abreisen, Marquise, aber nicht ohne zuvor auf Wertach ein Fest gegeben zu haben. Unter meinen Gästen werden auch Sie und Prinzessin Angelika sein.«

Christina begriff sofort. Unvermutet würde Rudolf Angelika als König des Landes entgegentreten.

Sie mußte sich beschämt und erniedrigt, betrogen und belogen vorkommen. Ihr Stolz würde neben ihrer Liebe bis auf den Grund verletzt werden, aber ihr Stolz würde ihr auch über den Schmerz und die Beschämung hinweghelfen.

»Ich sehe, Sie beginnen mich zu verstehen, Marquise.«

»Ich weiß nicht, wie ich Eurer Majestät danken soll.

»Indem Sie, Marquise de Roussillon, auf diesem Fest mein persönlicher Ehrengast sind.«

»Majestät beschämen mich und beschwören gleichzeitig einen Skandal herauf.«

»Fürchten Sie um Ihren Ruf, Marquise?«

»Nicht um den meinen.«

»Um meinen machen Sie sich keine Sorgen, Marquise. Ich weiß sehr gut, was ich tue.«

»So kann ich nichts weiter tun, als Eurer Majestät von Herzen zu danken.«

»Nun, ich bin nicht so uneigennützig, wie Sie zu glauben scheinen, Marquise«, lächelte Rudolf. »Etwas verlange ich schon von Ihnen für den Dienst, den ich Ihnen und der Prinzessin erweise.«

»Alles, was Sie wünschen, Majestät.«

»Dann seien Sie jetzt mein Gast. Lassen Sie nicht zu, daß der König einsam seinen Kaffee trinken muß. Schenken Sie mir ein paar Minuten Ihre bezaubernde Gesellschaft.«

Christina de Roussillon senkte errötend das Haupt. Sie fühlte sich auf sonderbare Weise glücklich.

In den Tagen, die darauf folgten, lag eine sonderbare Spannung über Schloß Rothenstein.

Angelika lief mit verbissener Miene herum, und ihre Augen waren ständig leicht gerötet.

Sie hatte Rudolf bisher nicht wiedergesehen. So oft sie auch zum Blockhaus geritten war, sie hatte es stets leer gefunden, und sie schloß daraus, daß Christina mit dem Grafen von Wertach, für den sie den König noch immer hielt, gesprochen haben mußte.

Ihre Liebe und ihre Sehnsucht nach dem geliebten Mann wuchsen damit nur noch, gleichzeitig aber entwickelte sich in ihr auch eine heftige Abneigung gegen Christina, gegen die Helene de Ravoux vergeblich anzukämpfen versuchte. Es war mit Angelika nicht mehr vernünftig zu reden. Sie litt selber darunter, vermochte aber nichts dagegen zu tun.

Von Michael von Seebach hatte man auf Rothenstein nichts wieder gehört.

Dann, eines Tages, brachte der Butler auf silbernem Tablett zwei Einladungskarten aus Wertach, Stahlstich auf Bütten.

Angelika war wie elektrisiert und überrascht, daß ein König es war, der zu einem Abschiedsfest einlud. Erst nach einer Weile kam es ihr zum Bewußtsein.

»Aber das ist ja vom König selbst«, sagte sie verwundert zu Helene de Ravoux.

»Natürlich, Liebling«, gab diese mit feinem Lächeln zurück. »Der König weilt schon seit einer ganzen Zeit zur Jagd auf Wertach, wußtest du das nicht?«

Angelika schüttelte das Köpfchen. »Merkwürdig«, sann sie vor sich hin, »daß ich ihm niemals im Forst begegnet bin.«

»Der Forst ist groß, Angelika. Und ein König verirrt sich nicht über seine Grenzen. «

Angelika schoß das Blut in die Wangen, und sie wandte sich ab.

Fast hätte sie sich verraten und es wäre ihr entschlüpft, daß sie selber mehr als einmal Rothensteinsches Gebiet verlassen hatte und im Wertachschen Forst umhergestreift war – in Begleitung des Grafen von Wertach allerdings.

Als sie an ihn dachte, begann ihr Herzchen wild zu klopfen.

Sie würde ihn wiedersehen! Auf dem Fest des Königs würde sie ihm begegnen, denn natürlich würde Herr von Wertach in seinem eigenen Schloß bei einem solchen Anlaß zugegen sein.

Er mußte ein großer Herr sein und einer ersten Familie entstammen, wenn ein König bei ihm zu Gast war.

Angelika preßte die Einladungskarte voller Freude an die Brust und stürmte ins Freie. Sie mußte allein sein mit dem Sturm der Gefühle, der sie durchtobte.

Sicher hatte sie nur auf Veranlassung des Grafen von Wertach eine Einladung erhalten, denn der König kannte sie ja nicht. Und welche Veranlassung wollte ein König auch wohl haben, eine kleine, unbedeutende Prinzessin zu sich einzuladen?

Nein, dahinter steckte der Graf von Wertach. Und er mußte sie sehr lieben, wenn er das für sie getan hatte.

Sie sang und jubilierte den ganzen Tag, und ihre Freude wurde auch nicht gemildert, als sie erfuhr, daß Christina de Roussillon die gleiche Einladung erhalten hatte.

Eifrig durchstöberte sie jetzt Modejournale, um sich zu informieren, was man bei einem solchen Ball am besten trug.

Schließlich fuhr sie mit Helene de Ravoux in die nahe gelegene Stadt, um sich im ersten Salon ein Kleid auszusuchen. Zum erstenmal verzichtete sie auf den Ratschlag Christinas und ahnte nicht, wie bitter weh sie dieser damit tat.

Sie entschied sich für ein hellrotes Kleid mit enganliegender Korsage, die über und über mit glitzernden Steinen besetzt war. Der weite Rock war aus gleichfarbenem Chiffon. Sie sah bezaubernd darin aus mit ihrem dunklen, fast schwarzen kurzen Haar, und sie wußte, daß sie aller Augen auf sich ziehen würde.

Angelika war sonst bescheiden, aber diesmal wollte sie Eindruck machen, wenn auch nur auf einen einzigen: auf den Grafen von Wertach.

Als sie den Salon verließ, wäre sie fast mit Michael von Seebach zusammengestoßen.

Er sah mit düsterem Blick auf sie hinunter, als sie verlegen etwas stammelte.

Er sah nicht gut aus, der junge Graf Michael von Seebach. Er war schmaler geworden und ernster als gewöhnlich, und seine Augen schienen tief in den Höhlen zu liegen.

Angelika spürte heißes Mitleid, und sie bedauerte, ihn nicht lieben zu können.

Vielleicht hätte sie eines Tages gelernt, Michael zu lieben, wenn ihr nicht jener andere begegnet wäre, der nun ihr ganzes Herz besaß und dem es immer und für alle Zeiten gehören würde.

»Michael«, sagte sie leise, »wir haben uns so lange Zeit nicht mehr gesehen. Weshalb nur bist du so plötzlich fortgeblieben? Warum hast du mich alleingelassen?«

»Hast du mich denn vermißt, Angelika?« entgegnete er tiefernst und mit forschendem Blick.

Angelika senkte den Kopf. Sie vermochte nicht zu antworten.

Nein, vermißt hatte sie ihn nicht über dem Glück ihrer Liebe, aber das konnte und wollte sie ihm nicht sagen.

»Siehst du!« Er nickte wie bestätigend vor sich hin. »Mit einem solchen Mann kann ich wohl auch nicht konkurrieren. «

Helene de Ravoux trat wachsam ein paar Schritte näher. Es war nicht nötig, daß Angelika vor dem Fest schon erfuhr, was ihr bevorstand, sollte es doch ein heilsamer Schock für sie werden.

»Es tut mir so leid, Michael!« stammelte Angelika und hatte plötzlich Tränen in den Augen, was sie selber nicht wenig verwunderte. »Ich wünschte, es wäre alles anders gekommen, aber man kann seinem Herzen ja nicht befehlen.«

»Nein, das kann man wohl nicht, Angelika.«

Michael nickte noch ein paarmal still vor sich hin, dann drehte er sich wortlos um und ging mit hängenden Schultern davon.

Angelika sah ihm eine Weile stumm nach.

»Oh, Madame de Ravoux«, sagte sie dann mit einem Seufzer, »weshalb nur muß Michael gerade mich so lieben. Er tut mir so wahnsinnig leid.«

»Nur leid, Angelika?«

Angelika nickte, aber ihr war beklommen zumute. Es war kein schönes Gefühl, einem lieben Freund so weh tun zu müssen. Einen Augenblick hatte sie sogar den Wunsch gehabt, ihm zärtlich über die Wange zu streicheln, aber sie hatte es unterlassen. Er hätte es allzuleicht mißverstehen können, und außerdem liebte ein rechter Mann kein Mitleid.

Sie fuhren dann bald zurück nach Rothenstein, aber Angelika war nicht mehr so froh wie zuvor. Die Begegnung mit Michael lastete wie eine Bedrückung auf ihr.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Michael!« Cäcilie von Seebach war entsetzt. »Eine so ehrenvolle Einladung vom König, und du willst sie ausschlagen. Bedenke, welch ein Affront für den König. Wir werden in Ungnade fallen…«

»Was liegt daran, Mama?«

»Aber Michael«, jammerte Cäcilie weiter, »denke doch auch einmal an mich! Jahrelang habe ich darauf gewartet, einmal eine solche Einladung zu erhalten, und jetzt…« Sie drückte ein Taschentuch an die Augen.

»Aber Mama, niemand hindert dich, der Einladung Folge zu leisten. Meine Begleitung ist wirklich völlig unnötig.«

»Aber begreife doch, daß ich eine Erklärung geben muß, und du weißt doch, wie schlecht ich lügen kann.«

Das stimmte. Jeder durchschaute Cäcilie sofort.

»Überlasse es Papa.«

»Nein, mein Junge«, polterte da auch Richard von Seebach los, »so einfach ist das nicht. Eine Einladung des Königs mißachtet man nicht ohne ernsten Grund. Jeder andere wäre glücklich und stolz über diese Auszeichnung.«

Michael schwieg bedrückt. Er wußte, daß auch Angelika auf Wertach erscheinen würde, und er fürchtete, in ihrer Nähe die Fassung zu verlieren.

Wie konnte man ihm zumuten, zuzusehen, wie Angelika dem König verliebte Blicke zuwarf?

Es konnte doch kein Zweifel bestehen, daß dieses Fest des Königs allein Angelika galt.

Graf Michael fühlte sich durch diese Einladung verhöhnt. Wollte man sich an seiner Enttäuschung weiden?

Oder war diese Bevorzugung eine Art von Trostpflaster auf seinen Schmerz?

Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er sich nach Angelika sehnte und gleichzeitig alles in ihm sich sträubte, ihr auf Wertach zu begegnen.

Er schaute zu der Mutter hinüber, sah die ängstliche Spannung in ihrem Gesicht und senkte fast ein wenig ergeben den Kopf. Nein, das konnte er ihr wohl wirklich nicht antun.

Richard von Seebach hatte das stumme Augenspiel nicht beobachtet.

»Es gibt ein paar gute Gründe für uns«, murrte er, »uns über diese Einladung zu freuen, schon deshalb, weil wir sie wohl nicht Christina verdanken.«

»Was hat das alles mit Christina de Roussillon zu tun?« fragte Michael erstaunt.

»Einiges. Ich habe Nachrichten erhalten…« Richard von Seebach brach ab, schwieg eine Weile und fuhr dann ruhiger fort: »Ich möchte darüber im einzelnen heute noch nicht sprechen, das wäre vielleicht verfrüht. Ich möchte zunächst ganz sicher sein. Nur so viel sollt ihr heute schon erfahren, daß wir eines Tages wohl noch sehr froh sein werden, Christina nichts zu verdanken. Wir werden uns möglicherweise einmal von ihr und ihrer Tochter distanzieren müssen.«

»Unmöglich, Papa!« fuhr Michael da mit rotem Kopf auf. »Ich weiß nicht, was du bei deinen heimlichen Nachforschungen, die ich im übrigen durchaus mißbillige, herausgebracht zu haben glaubst. Aber das eine weiß ich genau, daß du an Christina de Roussillon und Angelika keinen Tadel finden wirst.«

»Ob du mein Tun und Lassen billigst oder nicht, steht hier nicht zur Debatte«, wurde Richard von Seebach scharf. »Ich werde auch ohne deine gütige Erlaubnis deine Rechte zu vertreten wissen. Im übrigen kannst du die Entwicklung ja in Ruhe abwarten, wenn du von der Untadeligkeit der Damen de Roussillon so überzeugt bist.«

Michael biß sich zornig auf die Unterlippe und schwieg. Jedoch beschloß er, von jetzt an ein wachsames Auge auf die Damen de Roussillon zu haben, um notfalls zur Stelle sein zu können, wenn es galt, sie zu schützen. Wenn es sein mußte, auch gegen den eigenen Vater.

Er konnte nicht anders. Er liebte Angelika eben, und er verehrte Christina.

»Du wirst also mit uns nach Wertach kommen, Michael?« fragte Cäcilie von Seebach, die aus alledem nur das herausgehört hatte, was ihr im Augenblick am meisten am Herzen lag.

»Worauf du dich verlassen kannst, Mama!« entgegnete Michael grimmig und schoß einen scharfen Blick auf den Vater ab.

Aber dieser lächelte nur hintergründig und schwieg.

*

Schloß Wertach war aus seiner beschaulichen Ruhe aufgeschreckt.

Seit Jahren kam der König nur, um sich in der Stille zu erholen, und so mancher hatte das bedauert, war das Jagdschloß doch durchaus ein prunkvoller Bau von gewaltigen Ausmaßen, so recht geschaffen für fröhliche Feste und Geselligkeiten.

Die riesigen Säle des Jagdschlosses waren in ein Meer von Licht getaucht. Räume, die sonst unbenutzt gestanden hatten, waren geöffnet worden.

Ein Heer von livrierten Bediensteten stand bereit, um die Gäste zu empfangen, die in rascher Folge vorfuhren.

Und bald wogte eine festlich gekleidete und erwartungsvolle Menge im Hauptsaal, in dem der König zuerst erscheinen würde. Orden blitzten an Frackbrüsten. Brillanten funkelten bei den Damen, Seide rauschte und der Duft schwerer kostbarer Parfüms hing in der Luft.

Christina de Roussillon traf mit Angelika verhältnismäßig spät ein, und so wandten sich ihr viele Blicke zu, als der Haushofmeister sie ankündigte.

Und plötzlich lag Stille über dem riesigen Saal. Niemand hatte Christina und Angelika bisher gesehen, nur gehört hatte man von Christinas Rückkehr. Und jetzt standen die beiden Damen da, beide gleichermaßen geeignet, die Könige des heutigen Abends zu werden.

Angelika in ihrem leuchtendroten, duftigen Kleid, ein kostbares Diamanthalsband aus dem Familienschmuck der de Roussillons um den schlanken Hals, bestach durch ihre strahlende Jugendfrische und ihre natürliche Anmut.

Neben ihr stand Christina hoch aufgerichtet, ein Bild vollkommener Schönheit und vollendeter Eleganz. Christina hatte ein schlichtes schwarzes Samtkleid gewählt, das über der rechten Schulter von einem einzigen, über und über mit Brillanten besetzten Träger gehalten wurde. An den Ohren trug sie schwarzen Smaragdschmuck, von Brillanten umkränzt. Ihr dichtes goldblondes Haar war hochgesteckt und erweckte den Eindruck eines goldenen Helms. Über dem rechten Arm trug sie eine Stola aus schneeweißem Nerz.

Sehr ruhig und sehr gelassen stand Christina da und ließ ihre Augen kühl und stolz über die Anwesenden gleiten.

Niemand konnte ihr in diesem Augenblick ansehen, wie sehr sie litt in Erwartung des Kommenden, wie sehr ihr Herz sich vor Angst und Mitleid mit Angelika, die vollkommen ahnungslos war, zusammenkrampfte.

Angelika indessen war unbefangen und erregt. Suchend ließ sie ihre Augen umherschweifen in Erwartung, das einzig geliebte Antlitz unter den vielen Gästen zu erblicken. Als sie es nicht fand, legte sich leichte Enttäuschung über ihre Züge.

Michael von Seebach, der mit seinen Eltern ein wenig im Hintergrund stand, sah es mit Bitterkeit.

»Willst du Christina und Angelika nicht ebenfalls begrüßen?« zischte Cäcilie ihrem Sohn ein wenig ärgerlich zu. Wirklich, sie verstand Michael nicht mehr.

»Dazu ist immer noch Zeit«, murmelte Michael mit düsterem Blick. Wie schmerzlich war es für ihn, das geliebte Wesen so nah vor sich zu sehen und ihm innerlich doch so fern zu sein, denn ihr Herz schlug ja nicht im Gleichklang mit dem seinen.

»Du bist ein Narr!« murmelte Cäcilie. »Willst du warten, bis ihr ein anderer besser gefällt als du? Das Glück ist doch zum Greifen nahe. Weshalb packst du es nicht?«

»Papa scheint anderer Meinung zu sein als du, Mama«, entgegnete Michael sarkastisch.

Christina und Angelika waren inzwischen bis zur Mitte des Saals gelangt, als der Oberhofmeister das Eintreffen des Königs meldete.

Sofort bildete sich eine breite Gasse. Herren beugten ihren Rücken, und die Damen machten einen Hofknicks.

Auch Angelika war brav im tiefen Knicks zusammengesunken, das Köpfchen hielt sie geneigt.

Dann aber fuhr sie so plötzlich empor, daß sie ins Wanken geriet. Die Stimme kannte sie doch, die da freundliche Begrüßungsworte zu irgendwelchen ihr fremden Gästen sprach. Das war die Stimme Rudolf von Wertachs, des Mannes, den sie liebte.

Sie hob den Blick und sah direkt in des Königs helle Augen, die mit einem Ausdruck von Kälte und zärtlichem Mitleid zugleich auf ihr ruhten.

»Angelika Prinzessin de Roussillon«, stellte der Begleiter des Königs sie dem Monarchen vor.

Angelika glaubte einen entsetzlichen Alptraum zu erleben. Die Gesichter der Menschen um sie herum verschwammen vor ihren Augen. Sie sah nur sein Gesicht, sein so über alles geliebtes Gesicht. Fast willenlos legte sie ihre kleine Hand in seine Rechte.

Sie spürte nicht die Neugier der Anwesenden, hörte nicht das Flüstern um sich herum. Sie blickte nur in zwei helle Augen. Glimmte dort hinter der zur Schau getragenen Kälte nicht noch etwas anderes im Hintergrund?

»Rudolf«, sagte sie aus ihrer grenzenlosen Hilflosigkeit heraus, »Rudolf, nein, das kann nicht wahr sein. Das ist doch nur ein Traum, nicht wahr? Ein fürchterlicher Traum? Gleich werde ich erwachen, und wir werden gemeinsam über all dies lachen.«

So befangen war sie, so verwirrt, daß ihr das helle Entsetzen im Gesicht des Mannes entging, der einen halben Schritt hinter dem König stand und diesem die einzelnen Gäste vorstellte.

Der Mund des Mannes zuckte nervös. Ein Skandal, um Gottes willen, das war ja ein Skandal! Dieses junge Ding redete den König mit Vornamen an, sprach vertraulich mit ihm.

Ein schneller Seitenblick überzeugte den Hofbeamten davon, daß die Umstehenden jedes Wort vernommen hatten.

Angelika wartete noch immer auf eine Antwort.

Rudolf starrte sie noch einen Moment an, Wärme und Herzlichkeit und tiefes Mitleid in den Augen, dann wandte er sich ab, als habe er nichts gehört, und begrüßte mit unveränderter freundlicher Gelassenheit seine weiteren Gäste.

Angelika starrte ihm nach. Hilflos streckte sie beide Hände nach ihm aus, als könne sie ihn so zurückhalten und Antwort bekommen auf so viele Fragen, die sie bestürmten.

Da fühlte sie ihre Hände sanft niedergedrückt, und wie erwachend starrte sie in das Gesicht Christinas, das gleich dem ihren leichenblaß war.

»Du hast das gewußt, Mama«, schluchzte Angelika verhalten auf, »du hast das gewußt.«

»Nimm dich zusammen, Angelika!« sagte Christina streng. »Vergiß nicht, wer du bist! Willst du all diesen neugierigen Menschen, die nur darauf warten, sich an deinem Schmerz zu weiden, ein Schauspiel bieten? Sieh dich doch nur um, wie sie dich anstarren.«

»Laß uns fortgehen, Mama!« bat Angelika schwach, sie konnte sich kaum noch auf den Füßen halten.

»In einer Minute, Kind.«

Gleich darauf führte Christina so unauffällig wie möglich Angelika in einen der kleinen Salons, die an die Gesellschaftsräume grenzten.

Und hier sank Angelika schluchzend in einen der zierlichen Sesselchen, beide Hände vor das Gesicht gepreßt.

»Oh, wie gemein!« stieß sie hervor. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich wußte ja nicht, daß er der König ist. Es ist so gemein.«

»Kind«, erwiderte Christina hilflos, »ich hätte es dir so gern erspart, aber du wolltest nicht auf mich hören, als ich dich bat, diese Liebe zu vergessen.«

»Ich konnte nicht auf dich hören, Mama«, entgegnete Angelika heftig, »ich kann es nicht einmal jetzt. Ich liebe ihn, ob er ein König ist oder nicht…«

»Komm zu dir, Angelika! Ich weiß, dein Schmerz ist entsetzlich, aber glaube mir, mit der Zeit wird er abklingen. Du wirst es überwinden.«

»Niemals«, fuhr Angelika auf, »niemals!«

»Und wohin soll das führen, Kind?«

Prinzessin Angelika hob die Schultern, über ihr Gesichtchen liefen Tränen.

»Laß uns gehen, Mama«, bat sie nach einer Weile, während sie sich die Tränen trocknete, »bitte, laß uns nach Hause zurückkehren, ich möchte fort von hier.«

»Hast du dir das auch gut überlegt, Angelika?«

»Was gibt es da noch zu überlegen, Mama?«

»Es wird auffallen, Angelika, und das wird Anlaß zu Gerüchten geben. Man wird sich in Vermutungen ergehen.«

»Das ist mir gleichgültig.«

»Das sollte es aber nicht sein, Kind, glaube mir, es ist mir entsetzlich, dich so quälen zu müssen, aber deine Situation wird unhaltbar, wenn du jetzt gehst. Noch kannst du den Kopf hocherhoben tragen, noch kann dein Stolz dir helfen, zu überwinden. Noch kannst du tun, als wäre nichts geschehen, ein Mißverständnis, als hätten sich alle die Lauscher geirrt. Das aber ist vorbei, wenn du jetzt das Schloß verläßt. Dein Ruf wird dahin sein.«

»Was liegt mir noch daran?«

»Das sagst du jetzt, was aber wirst du in ein paar Jahren sagen? Diese Gesellschaft vergißt niemals etwas, Angelika. Niemand weiß das besser als ich. Und wenn du schon nicht an dich selber denken willst, so denke an den König. Wenn du ihn wirklich geliebt hast, so solltest du ihm einen Skandal ersparen, denn er wird davon nicht unbetroffen bleiben.«

Angelika sann ein paar Minuten den Worten Christinas nach, dann hob sie den Kopf.

»Was soll ich denn nur tun, Mama?« klagte sie unglücklich. »Ich kann dem König nicht unbefangen gegenübertreten, ich kann es einfach nicht.«

»Michael wird dir dabei helfen.«

»Nein«, sagte Angelika, »nicht Michael!« Und eine tiefe Blutwelle schoß ihr bis in die klare Stirn hinauf. »Das kann ich ihm nicht auch noch antun.«

»Michael ist hochherzig, ihm kannst du dich anvertrauen. Er wird immer für dich dasein und dir helfen, weil er dich liebt und deshalb alles für dich tun wird, so wie du alles für den König tun würdest, nicht wahr?«

Angelika senkte still und ergeben den Kopf.

*

Sie blieben zusammen in diesem Salon, bis zu Tisch gebeten wurde.

Angelika hatte sich in dieser Zeit ein wenig gefaßt. Noch immer tobte zwar ein Sturm wilder Gefühle in ihr, aber nach außen hin hatte sie ihre Beherrschung zurückgewonnen, so weh ihr auch ums Herz war.

Als sie einen der Säle betraten, kam Michael von Seebach ihnen sogleich entgegen. Er schien auf sie gewartet zu haben.

Lächelnd, als sei nichts geschehen, aber mit mitleidigem Blick, verneigte er sich leicht vor Angelika.

»Ich habe das Vergnügen, dich zu Tisch führen zu dürfen«, sagte er dabei und reichte ihr den Arm.

Christina atmete leicht auf. Daran also hatte König Rudolf gedacht, denn zweifellos war das auf seine Anordnung hin geschehen. Er mußte Angelika sehr gern haben, daß er sich um für ihn so belanglose Dinge wie die Tischordnung selber kümmerte.

Aber sie hatte nicht viel Zeit zur Überlegung. Ein Herr näherte sich ihr devot und flüsterte ihr einige Worte zu.

Erstaunt folgte Christina ihm und mußte dann erleben, von König Rudolf zu Tisch geführt zu werden.

Verwirrt und befangen schritt sie an seiner Seite dahin und kam erst zu sich, als sie neben ihm auf einem der hochlehnigen Stühle saß.

»War das wirklich notwendig, Majestät?« fragte sie halblaut zwischen zwei Gängen.

Rudolf lächelte und gab ebenso leise zurück: »Unbedingt, Marquise.«

»Aber weshalb? Ich verstehe es nicht?«

»Ist es Ihnen denn so unangenehm, an der Seite eines Königs zu speisen?«

»Es verwirrt mich, Majestät.«

»Aus schuldigem Respekt vor dem Monarchen oder aus Sympathie für den Mann?«

»Diese Frage kann ich nicht beantworten.«

Rudolf lachte leise auf.

»Was ich als die Antwort nehme, die ich mir gewünscht habe«, meinte er dann.

»Sie nehmen die Dinge von der heiteren Seite, ich aber vermag das nicht. Ich habe noch das Gesicht Angelikas vor Augen.«

Unvermittelt wurde Rudolf ernst.

»Es muß schwer für Angelika sein, aber soll ich deshalb auf halbem Wege stehenbleiben? Soll ich der Prinzessin Gelegenheit geben, sich zu fassen und erneut ihre Liebe zu mir zu entdecken? Ist es da nicht besser, ihr zu zeigen, daß für den König auch noch andere Frauen existieren?«

Christina spürte einen Stich in ihrem Herzen. So war das also!

»So bin ich in diesem Augenblick nichts anderes als ein Mittel zum Zweck«, stellte sie sonderbar ruhig fest und nahm sich von dem flambierten Fasan, der in diesem Moment mit Kartoffelkroketten und Champagnerkraut gereicht wurde.

Rudolf wartete, bis der servierende Diener ein Stück weitergegangen war, dann sagte er zu Christina:

»Zu einem Teil gewiß, Marquise. Stört es Sie?«

»Nicht, wenn es zum Besten für Angelika ist. Aber weshalb muß gerade ich es sein? Es gibt Damen in diesem Saal, die mehr Anspruch auf die Ehre haben, von einem König zu Tisch gebeten zu werden.«

»Als Mittel zum Zweck?« Der König lachte verhalten in sich hinein.

»Sie hätten es nicht gewußt.«

»Sie hätten es aber auch nicht an Schönheit mit Ihnen aufnehmen können, Marquise. Vergessen Sie doch bitte nicht, daß ich als Privatmann auf Wertach weile. Dieser Aufenthalt dient nur meiner Erholung. Wollen Sie einem König verübeln, daß er sich wenigstens in dieser Zeit mit dem Schönsten umgibt, das es für ihn gibt?«

Christina fühlte, wie sie errötete, und beugte sich hastig ein wenig tiefer über ihren Teller.

Sie kam sich abgrundtief schlecht vor, weil sie sich über das Kompliment aus seinem Mund freute, während Angelika litt.

Sie warf einen Blick über die lange Tafel hinweg zu dem Platz, wo Angelika neben Michael saß, und begegnete den brennenden, verzweifelten Augen der Prinzessin.

Unvermittelt zog wieder Angst in ihr Herz ein, und sie beschloß, Wertach so bald wie möglich mit Angelika zu verlassen.

»Sie denken zuviel an Prinzessin Angelika«, sagte Rudolf leise, »und Sie vergessen sich selbst dabei. Denken Sie einmal darüber nach. Kein Kind dankt ein solches Opfer.«

»Sie kennen Angelika nicht.«

»Ich bin da nicht so sicher.«

Das Gespräch wurde allgemeiner, da man ihnen mehr Aufmerksamkeit zuwandte.

Später ging man hinüber in den Hauptsaal, in dem alles zum Tanz vorbereitet war.

Die wogende Menge, die sich zu den Klängen der Musik im Takt wiegte, bot ein festliches und heiteres Bild, aber Christina konnte ein bedrückendes Gefühl nicht loswerden.

Und dieses steigerte sich noch, als der König sie vor allen anderen Damen auszeichnete, indem er fast ausschließlich mit ihr tanzte.

»Majestät«, sagte sie endlich, »ich weiß die Ehre einer solchen Bevorzugung zu schätzen, aber Sie bringen mich gleichzeitig in nicht geringe Verlegenheit. Es wird Anlaß zu Gerüchten geben.«

»Sagte ich Ihnen nicht schon einmal, ich würde auch von Ihnen ein Opfer für Angelika fordern?«

Christina kam vor Schreck fast aus dem Takt. Er lachte leicht, und alle im Saal sahen es, wie er sich ein wenig tiefer über Christina beugte.

»Majestät«, sagte sie nur hilflos.

»Man kann mit einem König nicht streiten, Christina«, erklärte er lächelnd. »Ich mache mir dieses Vorrecht zum erstenmal so rücksichtslos bei einer Frau zunutze, weil ich weiß, daß Sie sonst meine Nähe meiden würden, um Ihrer Tochter willen.«

Christina biß die Zähne aufeinander. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß er recht hatte, und doch war es so.

Nach diesem Tanz suchte sie Angelika, die erschreckend blaß aussah, aber heiter mit Michael von Seebach plauderte.

Sie fuhren zurück nach Rothenstein, ohne sich zu verabschieden. Ihre Abfahrt glich fast einer Flucht.

Lange saßen sie schweigend nebeneinander und starrten aus dem Wagenfenster in die Dunkelheit hinaus. Es war Angelika, die zuerst das Wort ergriff.

»Mama«, sagte sie, »liebst du den König?«

Christina de Roussillon fuhr zusammen wie unter einem Schlag. Sie spürte, wie sie errötete, und sie war froh, daß Angelika es nicht sehen konnte.

»Wie kommst du nur auf so etwas?« entgegnete sie abwehrend.

»Er zog dich allen anderen Damen sehr deutlich vor.« Angelika begann zu schluchzen.

»Mama, warum tust du mir das an? Meine Liebe verurteilst du, und du selber…«

»Kind, du weißt nicht, was du sprichst! «

»O doch, Mama!«

»Angelika«, sagte Christina mit Mühe, »du bist verbittert, weil der König dich getäuscht hat. Laß nicht deine Eifersucht dich jetzt ungerecht machen. Es ist nicht meine Schuld, wenn der König mich auszeichnete. Ich habe mich nicht danach gedrängt, und um ehrlich zu sein, ich habe mich nicht einmal darüber gefreut. Es war mir sehr peinlich.«

Angelika hob den Kopf. Hoffnung zog neu in ihr Herz ein.

»So liebst du ihn wirklich nicht?«

»Welch eine Frage«, wich Christina aus. »Welch einen Sinn hätte es auch schon, einen König zu lieben. Es kann niemals Gutes daraus kommen.«

»Möglich, aber fragt das Herz nach dem Sinn der Liebe?«

Christina zuckte erneut zusammen. Angelika hatte eine große Wahrheit ausgesprochen. Nein, das Herz fragte wirklich nicht danach. Es fragte auch nicht danach, was später kam.

Wieder blieb es eine Weile still im Wagen, dann begann Angelika von neuem:

»Ich frage mich jetzt, ob meine Liebe wirklich so unmöglich ist. Wenn ich dem König nichts bedeutet hätte, dann hätte er sich nicht so oft mit mir unterhalten, dann wäre er nicht mit mir durch den Forst gestreift, dann hätte er nicht stets auf mich gewartet. Ein König kann doch nicht tun und lassen, was er will. Um mich zu sehen, wird er sich heimlich haben davonstehlen müssen von Schloß Wertach. Zeugt das nicht von seiner Liebe zu mir?«

»Um Gottes willen, Angelika, rede dir nur nichts ein! Ich dachte, du hättest begriffen, wie sinnlos und wie aussichtslos eine solche Liebe für dich ist. Du kannst und sollst den König verehren, aber du darfst ihn nicht lieben. Niemals!«

»Und warum nicht, Mama? Ist der König kein Mann? Braucht er nicht die Liebe einer Frau? Er ist unvermählt, und niemand kann ihm einen Vorwurf machen.«

»Aber ein König kann nicht heiraten, wen er will.«

»Ich bin eine Prinzessin, Mama!«

»Ich weiß, und dennoch wird Rudolf dich niemals zur Frau begehren, sieh es doch endlich ein, Angelika.«

Angelika schwieg wieder, und Christina glaubte ihre innere Auflehnung geradezu zu spüren. Sie senkte müde und verzweifelt den Kopf. Wie konnte sie Angelika nur von ihrer verhängnisvollen Leidenschaft heilen?

Angelika zog sich sofort nach ihrer Rückkehr auf Rothenstein in ihre Zimmer zurück. Nur flüchtig hatte sie sich von Christina verabschiedet.

Die Marquise stand noch eine Weile auf dem langen Flur und starrte auf die Tür, hinter der Angelika verschwunden war.

Sie fühlte dumpf, daß der Leidensweg noch nicht zu Ende war.

Auch sie suchte nun ihr Gemach auf, doch der Schlaf floh sie. Immer wieder erschien ihr das sympathische Gesicht des Königs und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder glaubte sie, sich noch im Takt in seinen Armen zu wiegen zu den Klängen der Kapelle.

Ärgerlich stand sie auf und suchte nach einer Schlaftablette.

Das fehlte noch, daß sie jetzt gleich Angelika ihr Herz an einen König verlor, dem sie nichts weiter bedeutete als eine nette Abwechslung im täglichen Einerlei, für den sie nichts weiter gewesen war als ein Mittel zum Zweck; und das auf ihre eigene Bitte hin.

Sie schluckte die Tablette und warf sich auf ihr Bett, fest entschlossen, jeden Gedanken an König Rudolf aus ihrem Kopf zu verbannen und endlich zu schlafen.

*

Angelika kam am folgenden Morgen nicht zum Frühstück. So saßen Christina de Roussillon und Helene de Ravoux allein auf der sonnenbeschienenen Terrasse, als ein Bote von Schloß Wertach einen riesigen Strauß dunkelroter Rosen für die Marquise de Roussillon brachte.

Christina beugte sich errötend über die duftenden Blüten und versuchte vergeblich, ihre Überraschung und tödliche Verlegenheit vor den scharfen Augen von Helene zu verbergen.

»Christina«, sagte Helene, als sie wieder allein waren, und sah zur Marquise hinüber, die angelegentlich damit beschäftigt war, den Strauß in einer großen Kristallvase zu ordnen, »das ist nicht gut! «

»Ach, Helene«, entgegnete Christina ein wenig unglücklich, »was soll ich denn nur tun? Hätte ich die Rosen zurückgehen lassen sollen? Man kann einen König nicht so vor den Kopf stoßen. Es wäre eine entsetzliche Beleidigung für ihn. Wahrscheinlich ist dieser Strauß auch nicht mehr als eine liebenswürdige Geste vor seiner Abreise.«

»Aber du freust dich über diese Rosen, wie das nur eine Frau tut, die Blumen von dem Geliebten erhält. Christina, hast du dein Herz an den König verloren?«

Die Marquise setzte sich. Der alten Vertrauten blieb ohnedies nichts verborgen, sie kannte sie zu gut.

»Und wenn es so wäre, Helene, so mache ich mir doch keine Illusionen darüber, was ich König Rudolf bedeute.«

»Bist du ganz sicher, Christina? Ich habe dich nie zuvor so gesehen wie heute. Du bist verliebt, und Verliebte hoffen immer auf ein Wunder.«

»Das Wunder der Erfüllung einer Liebe, meinst du? Gibt es das überhaupt in unseren Kreisen?«

»Nun, immerhin entstammst du einem fürstlichen Geschlecht und wärest einem König ebenbürtig. Ich würde es verstehen, wenn du hoffst.«

»Nein, Helene«, sagte Christina da entschieden und sehr ernst, »es gibt noch einen weiteren Grund für mich, nicht auf die Liebe eines Königs zu hoffen. Nicht auf die Liebe dieses Königs. Und du kennst den Grund.«

»Angelika, ich weiß«, nickte Helene de Ravoux.

»Ich kann es verstehen.«

»Ja, in jeder Beziehung, Angelika. Sie würde glauben, ich hätte eigensüchtig gehandelt, ich hätte ihr den König nehmen wollen, weil ich selbst ihn liebe. Sie würde mir nichts mehr glauben. Und mit welchen Argumenten sollte ich dann noch versuchen, sie von ihrer unheilvollen Liebe zum König abzubringen?«

»Mit der Wahrheit vielleicht, Christina.«

»Und das rätst du mir, Helene?«

»Nein, ich rate dir nicht dazu, weil ich nirgendwo eine glückliche Lösung sehe. Das beste ist eben, es bleibt alles, wie es ist.«

»Ich weiß es, und deshalb würde ich diesen König niemals erhören, selbst wenn er mich lieben sollte, was ich nicht glaube, Helene.«

»Wer weiß.«

Christina schwieg und rührte in ihrer Tasse herum.

Helene de Ravoux sah ihr eine Weile stumm zu, dann meinte sie: »Du bist also bereit, dein eigenes Glück zu opfern, um Angelikas willen? Hast du dir das auch gut überlegt, Christina?«

»Es kann für mich kein Glück geben, das auf Kosten Angelikas geht.«

»Eines Versprechens wegen, das viele Jahre zurückliegt?«

»Nein, weil Angelika meinem Herzen am nächsten steht, weil sie mir das meiste bedeutet auf dieser Welt.«

»Ich weiß, so war es bei unserer Abreise von Roussillon, aber ist es auch heute noch so?«

»Warum willst du mich quälen, Helene?« fragte Christina hilflos, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Trage ich nicht ohnehin schwer an meinem Los?«

»An einem selbstgewählten, Christina. Du könntest es abwerfen. Und ich will dich nicht quälen, ich will nur, daß du dir selber klar wirst über alles, was dich berührt. Du wirst eine Wahl treffen müssen.«

»Aber Helene.« Christina versuchte zu lächeln, was ihr jedoch gründlich mißlang. »Du mißt diesem Rosenstrauß zuviel Bedeutung bei. Es ist nichts weiter als eine belanglose Aufmerksamkeit, ein Abschiedsgruß vielleicht.«

»So wirst du dich mit ein paar wohlgesetzten Zeilen in aller Form dafür bedanken.«

Christina zögerte, dann stand sie auf.

»Nein, Helene, das werde ich nicht tun.«

Sie ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Helene de Ravoux sah mit wissenden Augen hinter ihr her.

Arme Christina, dachte sie bedrückt, dir wird auch nichts erspart.

*

Angelika kam wenig später herunter. Sie sah den Rosenstrauß, warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Es gab auf Rothenstein viele schöne Rosen, und wenn Prinzessin Angelika sich auch über die Größe des Straußes ein wenig wunderte, so deutete doch nichts darauf hin, daß er nicht aus eigener Gärtnerei stammte.

Sie frühstückte und schlenderte später in Begleitung von Puck unlustig durch den Park. Dabei dachte sie über das Fest vom Vortage nach. Jede einzelne Minute ging sie durch, und je länger sie nachsann, desto mehr festigte sich in ihr das Bewußtsein, vom König selbst geliebt zu werden.

Gegen Mittag war sie endlich zu der Überzeugung gelangt, der König habe dieses Fest eigens zu ihren Ehren gegeben, und nur ihre unvernünftigen und unvorsichtigen Worte hätten ihn gezwungen, sich von ihr zu distanzieren. Er hatte sich so viel um Mama gekümmert. Sprach das nicht auch für seine Liebe zu ihr, der Prinzessin Angelika? War die Bevorzugung von Mama durch den König nicht das sicherste Zeichen dafür, daß es ihm mit seiner Liebe zu ihr selbst ernst war. Denn wem sonst hätte er auf diesem Fest alle Ehren erweisen sollen als der Mutter der Frau, die er liebte und die er zu ehelichen gedachte.

Als sie mit ihren Überlegungen so weit gekommen war, schien die Sonne wieder heller zu strahlen, und sie hörte auch wieder den Gesang der Vögel.

Sie lachte und tollte mit Puck durch den Park und ahnte nicht, daß Christina am Fenster stand und ihr von oben her zusah.

»Sie scheint es sich doch nicht allzusehr zu Herzen genommen zu haben, Helene«, sagte Christina und drehte sich lächelnd um. »Es war eben doch nichts weiter als mädchenhafte Schwärmerei.«

Helene de Ravoux schwieg. Sie hätte gern geglaubt, was Christina da sagte, aber eine innere Stimme warnte sie, die Dinge nicht ganz so leicht zu nehmen.

Und sie täuschte sich nicht. In eben diesem Augenblick hatte unten im Park Prinzessin Angelika beschlossen, am nächsten Morgen in aller Frühe wie gewohnt zum einsamen Blockhaus im königlichen Forst zu reiten.

Wenn Rudolf sie wirklich liebte, dann würde er sie dort wie immer erwarten.

*

Täglich kam ein Strauß roter Rosen für Christina de Roussillon, und deren Verwirrung wuchs von Tag zu Tag. Kaum mochte sie Helene de Ravoux noch in die Augen sehen, die irgend etwas von ihr zu erwarten schien.

Christina freute sich über die Rosen, sie war glücklich, wenn sie kamen, und wartete jeden Morgen ängstlich auf den Boten, der sie ihr brachte und stets mit einem fürstlichen Trinkgeld belohnt Schloß Rothenstein wieder verließ.

Längst war sich Christina darüber klar, daß diese Rosen ein Zeichen der Liebe und der Werbung waren, aber neben aller Freude darüber ängstigten diese sie zugleich, wenn sie an Angelika dachte.

»Wollte der König nicht abreisen aus Wertach?« fragte Helene sie eines Tages direkt.

Christina de Roussillon nickte nur schwach und wandte den Blick ab.

»Er scheint seine Absicht geändert zu haben«, fuhr Helene erbarmungslos fort.

Christina starrte auf das Muster des wertvollen Teppichs, aber sie antwortete nicht.

»Christina«, sagte Helene da weich, »so geht es doch nicht weiter! Es muß etwas geschehen. Du nimmst die Rosen entgegen und weckst im König dadurch Hoffnungen, die du nicht erfüllen willst, oder?«

Die Marquise schüttelte den Kopf.

»Nein, das will ich nicht, Helene.«

»Ich habe noch einmal nachgedacht«, fuhr Helene de Ravoux nach einer Weile fort, »und ich bin nicht mehr so sicher, daß es richtig ist, wenn du das Glück, das dir die Hand reichen will, verschmähst um Angelikas willen. Eines Tages wird Angelika ihr Herz für einen anderen Mann entdecken, eines Tages wird sie heiraten und dich verlassen, und du wirst einsam und allein zurückbleiben. Bedenke das bei allen deinen Handlungen. Vielleicht ist es dann zu spät für ein großes Glück, denn du gehörst zu den Frauen, Christina, die nur einmal und nur einen Mann in ihrem Leben lieben können, sei es nun ein König oder ein Bürger.«

»Ich weiß es ja, Helene«, sagte Christina gequält, »und ich gestehe dir auch ein, den König zu lieben. Und ich weiß auch, daß ich nie aufhören werde, ihn zu lieben.«

»Dann solltest du dich nicht selbst deinem Glück entgegenstellen.«

»Meine Liebe kann für den König nur Unheil nach sich ziehen, Helene. Sie kann ihn Macht und Krone kosten. Was ist das für eine Liebe, die den Mann des Herzens zu einem solchen Opfer zwingen will? Könnte mir denn daraus ein Glück erwachsen?«

»Es bleibt die Frage, ob er ohne dich glücklich sein kann, Christina.«

Die Marquise lachte unfrei auf.

»Der König hat mich nur zweimal in seinem Leben gesehen, so groß kann seine Liebe zu mir also nicht sein, wenn diese überhaupt existiert.«

»Die Rosen sprechen eine deutliche Sprache. Es ist nicht zu übersehen. Und vergiß nicht, ein König hat nur wenig Möglichkeiten, um eine Frau zu werben, wenn er wirklich liebt.«

»Mag sein, Helene, aber kann ich denn ernsthaft sein Unglück wollen? Und nicht nur das seine, wie du weißt.«

»Aber so kann es auch nicht weitergehen.«

»Es wird auch nicht so weitergehen, Helene. «

Endlich hatte sich Christina de Roussillon zu einem Entschluß durchgerungen.

*

Tags darauf fuhr die Marquise nach Schloß Wertach und ließ sich bei Rudolf melden. Der König empfing sie sofort.

Mit ausgestreckten Händen und einem Lächeln kam er ihr erfreut entgegen.

»Endlich, Christina! Ich hatte fast jede Hoffnung aufgegeben.«

Christina war in tiefem Knicks zusammengesunken, jetzt richtete sie sich wieder auf und schaute Rudolf an. Sie erbebte innerlich unter seinem liebevollen Blick, der ihr deutlich sagte, wie es um sein Herz bestellt war. Aber sie riß sich zusammen.

»Ich wäre nicht gekommen, wenn Eure Majestät mich nicht dazu gezwungen hätten.«

»Gezwungen?«

Christina nickte fest.

»Eure Majestät schicken mir täglich rote Rosen…«

»Wirklich?« Fältchen bildeten sich um seine guten Augen.

»Nun, Eure Majestät können der Spender dieser Blumen sein.«

»Ich hoffte, Ihnen eine Freude zu machen, Marquise. Tat ich das nicht?«

Christina errötete. »Nein, Majestät«, sagte sie klar und hell. »Eure Majestät versprachen mir, Wertach zu verlassen.«

»Und das hätte Sie gefreut, Marquise?«

Ein Schatten flog über Rudolfs Gesicht.

Christina schwieg.

»Ich muß Sie berichtigen, Marquise«, fuhr Rudolf langsam fort und umfaßte sie mit einem liebevollen Blick, »ich hatte auf Ihre Bitten hin und um Prinzessin Angelikas willen die Absicht, aus Wertach abzureisen, versprochen aber hatte ich es Ihnen nicht.«

»Läuft das nicht auf das gleiche hinaus, Majestät?«

»Das kommt auf den Standpunkt an, Marquise. Das Glück begegnet den Menschen so selten, und noch seltener wird es von ihnen erkannt. lm Grunde ist das Unglück der Menschen nichts weiter als eine Reihe verpaßter Gelegenheiten. Das gilt ganz besonders für einen König, dem das Glück in der Liebe ohnehin nur selten hold ist. Für ihn gibt es nichts als die Staatsräson. Wollen Sie einem König verübeln, das Glück, das ihm plötzlich in Gestalt einer bezaubernden Frau lächelt, festzuhalten?«

»Eure Majestät sagten eben, es sei schwer, das Glück zu erkennen. Sind Eure Majestät sicher, daß es das Glück ist, das Eurer Majestät lächelt, und nicht das Unheil?«

»Kann mir von Ihnen wirklich Unheil kommen, Marquise?« lächelte Rudolf da fein.

Aber Christina lächelte nicht zurück. Todernst sah sie ihm in die plötzlich aufmerksam werdenden Augen. Sie wurde sehr blaß, als sie antwortete:

»Ja, Eure Majestät, ich bin das Unheil für Sie. Eure Majestät sollten mich meiden wie keinen anderen Menschen sonst auf dieser Welt.«

Rudolf wurde unvermittelt ernst und trat einen Schritt zurück.

»Wollen Sie mir das nicht näher erklären?«

»Ich bitte Eure Majestät, nicht darauf zu bestehen. Ginge es nach mir und meinen Wünschen, so wäre ich längst abgereist, zurück nach Roussillon.«

Eine Weile starrte Rudolf düster und überlegend auf den nun gesenkten Frauenkopf. Dann wurde sein Blick wieder weicher, und seine Hand zuckte leicht, als wolle er sie auf die goldene Haarflut legen. Aber er ließ sie wieder sinken und sagte statt dessen: »Wollen Sie mir eine Frage ehrlich beantworten, Marquise?«

»Wenn ich es kann…«

»Ist der König Ihrem Herzen gleichgültig, Christina?«

Die Marquise erbebte unter dem Ton seiner Stimme. Von ihm erneut bei ihrem Vornamen genannt zu werden, ließ sie für Sekunden schwach werden. Sie hob den Blick ihrer schönen Augen offen zu ihm empor.

»Nein, Eure Majestät, der König ist mir nicht gleichgültig.«

»Dann gibt es nichts, was für mich wichtiger ist auf dieser Welt.«

»Es gibt etwas, und deshalb bitte ich Eure Majestät, darauf zu verzichten, mir Rosen zu schenken.«

Rudolf ging langsam zu seinem breiten Schreibtisch. Eine Hand auf die blanke Platte gestützt, sah er sie an und sagte ruhig: »Ich habe es immer besonders genossen, sehr früh am Tage durch den Forst zu streifen. Es war für mich die Erholung, die ich brauchte. Doch seit einigen Tagen wird mir der Streifzug zur Qual, da ich allein und einsam bin und auf die Begleitung einer bezaubernden Frau verzichten muß. «

»Eure Majestät sprechen von Prinzessin Angelika.«

»Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie, Christina, einem einsamen König auf seinen Spaziergängen Gesellschaft leisten würden.«

»Eure Majestät handeln nicht edel an mir. Eure Majestät üben mit dieser Bitte einen Zwang auf mich aus, indem Sie meine Liebe zu Angelika ausnutzen.«

»Es ist ein eigen Ding mit dem Glück, Christina. Manche Menschen erkennen es nicht, manche lassen es vorübergehen, und dann gibt es Menschen, die muß man zu ihrem Glück zwingen. Sie gehören dazu, Marquise.«

»Majestät!« bat Christina mit ersterbender Stimme.

»Ich habe, bevor ich Sie kannte, Christina, eine Frau geliebt, wie nur ein Mann eine Frau lieben kann. Und ich war fest entschlossen, ihretwegen notfalls auf den Thron zu verzichten, denn sie war das Glück meines Lebens. Aber eines Tages erhielt ich von ihr einen Abschiedsbrief, aus dem ich entnehmen mußte, daß sie ihr Herz einem anderen geschenkt hatte. Damals folgte ich in meiner grenzenlosen Erbitterung dem Wunsch meines Vaters und heiratete eine ungeliebte Frau, die Mutter des jetzigen Thronfolgers. Es war ein Fehler. Zu spät erst stellte ich Nachforschungen an und erfuhr, daß die Frau meiner Liebe das Land verlassen hatte, ohne zu heiraten, und ruhelos in der Welt umherstreifte.

Einmal habe ich den Worten einer liebenden Frau getraut und nicht begriffen, daß sie nur ein Opfer brachte. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal begehen.

Fast zwanzig Jahre regiere ich nun dieses Land, und ich bin dessen so müde geworden, um ihm noch einmal eine Liebe zu opfern. Und der Thronfolger wartet nur darauf, an meine Stelle zu treten. Bedenken Sie auch das, Christina, wenn Ihr Herz für mich schlägt.«

Christina ließ den Kopf noch um ein weniges tiefer sinken.

»Mein Herz gehört Eurer Majestät, aber ich werde den König niemals erhören.«

»Wir werden sehen«, entgegnete Rudolf leichthin, »ich habe Geduld.«

Christina wußte später nicht zu sagen, wie sie nach Rothenstein zurückgekommen war. In ihr tobte ein Sturm von Gefühlen und versetzte sie in heillose Verwirrung. Hoffnung und Verzweiflung stritten in ihr. Süß und schmerzlich zugleich war es für sie, die Liebe eines Königs zu besitzen.

Doch da war Angelika.

Und da war das Unheil, das über dem Haupt des Königs schwebte, ein Unglück, das von Rudolf abzuwenden nur sie, Christina, in der Lage war.

Ihre Liebe würde sie ihm zum Opfer bringen müssen.

Sie weinte, als sie daran dachte.

*

»Die Gräfin von Bärwalde ist auf ihr Schloß zurückgekehrt«, sagte der Kammerherr des Königs, »ich dachte, es würde Eure Majestät interessieren.«

Rudolf ließ die Jagdbüchse sinken, die er gerade geprüft hatte.

Gloria!

Gloria von Bärwalde!

Stieg die Vergangenheit wieder herauf? Hatten seine Worte zu Christina sie heraufbeschworen? Hatte Glorias ziellose Wanderung ein Ende genommen, war sie zur Ruhe gekommen?

Er dachte mit Wehmut und Zärtlichkeit im Herzen an vergangene Zeiten, horchte in sich hinein, aber nichts als Trauer um Unwiederbringliches war in ihm.

Trotzdem beschloß er, sie aufzusuchen. Er wollte sie wiedersehen, mußte mit ihr sprechen nach so vielen Jahren. Er mußte wissen, ob sie noch unglücklich war, denn er fühlte sich schuldig.

Zwei Stunden später stand er einer schlanken mittelgroßen Frau mit kastanienbraunem Haar gegenüber, die seinen forschenden und erstaunten Blick ruhig erwiderte.

Rudolf brauchte einige Zeit, um sich zu fassen.

Nein, das war nicht die Frau, die er einmal geliebt hatte. Vor ihm stand eine völlig Fremde.

»Eure Majestät haben mich niemals geliebt«, sagte Gloria von Bärwalde mit einiger Mühe, »Eure Majestät sind einer Komödie zum Opfer gefallen.«

»Gräfin, wägen Sie Ihre Worte! Ich dulde nicht, daß man das Andenken, das ich an eine Frau hege, beschmutzt. Sie hat mich geliebt, wer immer es auch gewesen sein mochte, der sich Ihres Namens bedient hat, Gräfin von Bärwalde. Und sicherlich nicht ohne Ihr Wissen.«

»Zunächst schon«, gab Gloria zurück und wich seinem Blick aus. »Sie war meine beste Freundin und lernte Eure Majestät auf einem Maskenfest im königlichen Schloß kennen. Sie verliebte sich Hals über Kopf in den Thronfolger, der Eure Majestät damals noch waren, aber sie hatte niemals Hoffnung, seine Liebe zu erringen, noch weniger seine Hand.«

»Und doch errang sie beides«, murmelte Rudolf.

Gloria von Bärwalde überhörte es.

»Aus Furcht vor ihrer eigenen Liebe nannte sie meinen Namen als den ihren und wagte später, als sie die Liebe Eurer Majestät besaß, nicht mehr, dies zu berichtigen. Sie fürchtete, Eure Majestät könnten sich enttäuscht über diese kleine harmlose Lüge von ihr abwenden. Sie liebte Eure Majestät zu sehr.«

»Mein Gott!«

»Eure Majestät wissen selbst am besten, wie es dann weiterging.«

»Aber Sie, Gräfin, weshalb spielten Sie dieses Spiel mit? Weshalb reisten Sie zu dem gleichen Zeitpunkt ins Ausland, da ich in Ihrem Namen den entsetzlichen Brief erhielt?«

»Ich wußte nichts davon. Meine Abreise hatte mit dem allen nicht das geringste zu tun. Es war reiner Zufall, dieses Zusammentreffen. Später erst erfuhr ich diese Zusammenhänge, aber da hatte meine Freundin bereits einen anderen geheiratet, und ich hielt es daher nicht mehr für richtig, Eure Majestät zu informieren.«

»Ich verstehe! Und wie war ihr richtiger Name?«

»Eure Majestät sollten die Vergangenheit ruhen lassen.«

»Ich werde die Vergangenheit nicht aufrühren, Gräfin, nur wissen will ich, ob sie glücklich geworden ist. Ich habe sie geliebt«, fügte er leiser hinzu.

Gräfin von Bergwalde zögerte, dann gab sie sich einen Ruck.

»Eure Majestät liebten Christina von Rothenstein, die jetzige Marquise de Roussillon.«

Rudolf erstarrte, als habe der Blitz vor ihm eingeschlagen, denn auch Christina de Roussillon war nicht die Frau, der vor fast zwanzig Jahren sein Herz gehört hatte.

*

»Nicole«, sagte Prinzessin Angelika ärgerlich zu ihrer Zofe, »wer hat nur den Auftrag gegeben, all diese vielen Rosen ins Schloß zu bringen? Es ist ja bald kein Platz mehr dafür da. Außerdem…«

»Aber diese Rosen sind nicht von Rothenstein. «

»Nicht? Wo kommen sie denn her?«

»Jeden Morgen wird ein Strauß Rosen von Wertach herübergebracht.«

»Vom König?« Angelika hielt den Atem an und preßte beide Hände gegen die Brust. Zarte Röte stieg in ihr feines Gesichtchen, und ihre Augen begannen zu leuchten

»Das weiß ich nicht«, sagte Nicole, »ich weiß nur, daß die Rosen für…«

»Schon gut, Nicole!« Angelika wirbelte die überraschte und verwirrte Zofe herum. »Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Ich weiß es ja, oh, ich weiß es ja nur zu genau. Lassen Sie mich jetzt allein, Nicole. Oh, warum hat man es mir nur nicht früher gesagt? Als wenn man mir das hätte verheimlichen können. Diese Unmengen von Rosen mußten mich ja eines Tages stutzig machen. Er hat das gewußt, er hat das bestimmt vorausgesehen. Mein Gott, wie bin ich glücklich.«

Nicole ging nach einigem Zögern kopfschüttelnd hinaus. Da sollte sich nun einer auskennen. Wie konnte sich die junge Prinzessin nur so über die Rosen freuen, die für die Marquise abgegeben wurden. Ein kompliziertes Seelenleben mußten die hohen Herrschaften schon haben

Angelika tanzte indessen in ihrem Zimmer herum, den heftig zappelnden Puck an sich gepreßt.

»Jetzt weiß ich es ganz genau, daß er mich liebt«, lachte und weinte sie zu gleicher Zeit, »es konnte auch nicht anders sein. Oh, wie bin ich glücklich!«

Dann blieb sie stehen, und Schuldbewußtsein zeigte sich auf ihrem Antlitz.

»Er wird auf mich gewartet haben im Blockhaus«, sagte sie ernsthaft zu Puck, der ihr zuhörte, als verstünde er sie. »Und ich bin nicht gekommen, weil Michael sich einfach nicht abschütteln läßt. Aber das hat ein Ende. Ich werde Michael morgen früh ganz einfach die Wahrheit sagen. Dann wird er endlich einsehen, daß seine Werbung um mich keinen Zweck hat. Puck«, rief sie wieder und tanzte herum, »der König liebt mich! Ist es nicht wie ein Wunder?«

Aber der Hund antwortete ihr nicht, er begann nur leise zu winseln.

»Du bist dumm, Puck«, meinte Angelika da ärgerlich, »der König liebt mich doch!« Sie ließ den Hund zu Boden.

Puck verkroch sich eilig und beleidigt.

Sein kleines Hundehirn verstand die Menschen nicht so recht. Weshalb nur mußten sie einen armen, hilflosen Hund immer so heftig an sich drücken, daß alle Knochen schmerzten, wenn sie sich freuten.

»Michael«, rief Angelika zornig, »weshalb willst du nicht begreifen? Weshalb machst du mir das Leben so entsetzlich schwer? Es könnte doch so schön sein.«

Michaels helle Augen verdunkelten sich ein wenig, aber er lächelte ungerührt.

»Ich begreife dich vollkommen, meine liebe Angelika, aber das Leben mache ich dir nicht schwer, das besorgst du ganz allein, indem du unerfüllbaren Träumen nachhängst und jeden, der dich herausreißen will, mit wildem Groll bedenkst. «

»Ich träume nicht«, entgegnete sie wütend, »es ist Wirklichkeit, was ich erlebe!«

»Das bildest du dir ein, während du am wirklichen Leben glatt vorbeirennst. Wie ist es nur möglich, daß ein so kluges und bezauberndes Geschöpf wie du ein so riesiges Brett vor seinem reizenden Köpfchen haben kann.«

»Michael, du wirst unverschämt. Du redest mit mir wie mit einer Dienstbotin. Ich verbitte mir das! Ich bin eine Prinzessin de Roussilion.«

»Ich würde mir niemals erlauben, so zu einem Dienstboten zu sprechen, aber eine solche würde sich wohl auch nie einreden, von einem König geliebt zu werden.«

Angelika verschlug es den Atem. So grob hatte Graf Michael noch nie mit ihr geredet, und als sie ihn jetzt ansah, glaubte sie Zorn in seinen Augen zu erblicken, und das erschreckte sie.

Bisher war er stets geduldig und liebenswürdig gewesen, von einer anderen Seite kannte sie ihn überhaupt nicht.

»Du bist ein Scheusal!« rief sie ärgerlich aus. »Nie, nie werde ich dich lieben können! Du bist gemein und widerlich!«

Ein wenig blasser wurde das schmale Antlitz des jungen Mannes, aber er blieb an ihrer Seite.

»Mag sein, daß meine Liebe dir zuwider ist, deshalb werde ich doch nicht zulassen, daß du in dein Unglück rennst, eben weil ich dich liebe, ob es dir nun paßt oder nicht. Du wirst dich damit abfinden müssen.«

Angelika hielt nur noch mit Mühe die blanken Zornestränen zurück.

Wenn sie Michael nicht bald los wurde, würde es zu spät werden für einen Ritt zum Holzhaus im königlichen Forst.

»Laß mich allein«, zischte sie ihn an, »ich will dich nicht mehr sehen! Ich will dich überhaupt nie, nie wiedersehen! Ich hasse dich!«

»Das ist ein Fortschritt«, meinte er ungerührt, »liegen Haß und Liebe doch so dicht beieinander, daß man sie kaum noch unterscheiden und schon gar nicht voneinander trennen kann. Wer weiß, eines Tages erwachst du vielleicht doch noch aus deinem irrsinnigen Traum und erkennst dann, daß Liebe ist, was du für Haß gehalten hast.«

»Das wird niemals passieren!« entgegnete sie heftig, und erschrocken schoß ein Hase vor ihr quer über den Weg, so daß sie Mühe hatte, ihr Pferd zu halten. Das brachte sie halbwegs zur Besinnung.

»Ich habe Zeit, ich kann es abwarten«, meinte Michael von Seebach ruhig. Was seine Beherrschung ihn kostete, ahnte sie nicht. Am liebsten hätte er das ganze entzückende Persönchen genommen und kräftig über das Knie gelegt, nicht nur, weil Angelika ihn selbst so quälte, auch für das, was sie Christina antat, die er zutiefst verehrte.

Angelika hatte indessen eingesehen, daß sie so nicht weiterkam. Sie begann zu schmeicheln und zu schnurren wie ein Kätzchen.

»Michael«, säuselte sie lieb, »schau, weshalb streiten wir uns?«

»Das fragst du mich?«

»Das frage ich dich. Du bist doch ein Mann, und ein Mann muß doch erkennen, wenn er verloren hat. Du mußt mir einfach glauben, daß meine Liebe erwidert wird.«

»Und woraus schließt du das? Woher weißt du das so genau?«

»Weil ich täglich rote Rosen erhalte, Michael. Kannst du mir eine andere Erklärung dafür geben als die der Liebe?«

»O ja, das kann ich!« nickte er grimmig. »Rote Rosen erhält nämlich die Marquise vom König und nicht du. Das solltest du eigentlich wissen, oder hast du schon ein einziges Mal eine Zeile mit den Rosen erhalten? Sind sie dir etwa übergeben worden?«

Angelika hielt ihr Pferd an, sie war sehr blaß geworden.

»Sag das noch einmal, Michael!« stieß sie mit zitternder Stimme hervor, únd in ihren Augen lag ein Ausdruck, vor dem er erschrak.

»Es tut mir leid, Angelika«, entgegnete er, »ich hätte es dir wohl nicht in dieser Form sagen dürfen, aber du hast mich gereizt. Es ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber wie kann ein Mann, der liebt, unberührt zusehen, wie die Frau seines Herzens sich an einen anderen hängt, der gar nichts von ihr wissen will.«

»Geh, Michael!« erklärte Angelika da leise und ernst, und ein Ton lag in ihrer Stimme, der ihn gehorchen ließ. »Ich will dich wirklich nie mehr wiedersehen. Selbst wenn du recht hast, du hättest es mir nicht sagen dürfen, wenn du mich wirklich liebtest. Das hättest du mir nicht antun dürfen.«

»Angelika!« bat er.

»Laß mich allein! Ich will mich davon überzeugen, ob du recht hast. Du brauchst keine Angst zu haben, eine Prinzessin de Roussillon hat sich noch niemals lächerlich gemacht, nicht einmal vor einem König. Geh jetzt, ich habe noch etwas zu erledigen. So geh doch schon, wenn du ein Herz in der Brust hast! «

Stumm wendete Graf Michael sein Pferd und ritt langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er hielt die Lippen fest aufeinandergepreßt und schaute sich nicht nach ihr um. Ihm war elend zumute, elend und unglücklich. Hatte er sie nun für immer verloren?

Angelika wartete, bis er hinter einer Baumgruppe verschwunden war, dann trieb sie ihr Pferd an.

*

»Christina«, sagte in eben diesem Augenblick Rudolf zur Marquise de Roussillon, »wer sind Sie?«

Christina wurde blaß. Sie stand ihm hochaufgerichtet in seinem einsamen Blockhaus gegenüber.

Fast gegen ihren Willen war sie hierhergeritten, getrieben von ihrer Sorge um Angelika und ihrer Sehnsucht nach seinem Anblick, seiner Stimme, seiner Nähe.

Und jetzt stand er vor ihr mit so sonderbar traurigem und forschendem Blick und stellte ihr eine Frage, deren Sinn sie nur dunkel ahnte.

»Ich verstehe Eure Majestät nicht«, erwiderte sie innerlich zitternd. Er wandte sich von ihr ab und ging zum Kamin. Eigenhändig legte er ein Scheit nach, stocherte dann in der Glut herum und sagte dabei. »Es ist noch nicht so lange her, daß ich Ihnen von einer Frau erzählte, die vor langer Zeit einmal mein ganzes Herz besaß. Erinnern Sie sich daran?«

Christina nickte stumm und sah vor sich hin. Sie hatte sich kraftlos in einen Ledersessel sinken lassen und preßte die Hände zusammen.

»Bisher wußte ich nicht, daß ich sie unter falschem Namen gekannt hatte. Seit gestern weiß ich ihren wahren Namen.«

Rudolf richtete sich aus der gebückten Haltung auf und sah Christina wieder an.

»Ich erfuhr ihn von Gloria von Bärwald, die eine Freundin von ihr gewesen war. Die Frau meiner Liebe heißt in Wirklichkeit Christina von Rothenstein, jetzige Marquise de Roussillon. Sind Sie diese Frau, Christina?«

Christina war totenblaß geworden. Sie hielt die Augen geschlossen, als wage sie nicht mehr, seinem Blick standzuhalten. Dann schlug sie beide Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu schluchzen.

»Christina!« rief er und zog ihre Hände vom Gesicht herab. »Sie wissen, daß Ihnen mein Herz gehört. Ich liebe Sie zu sehr, um Ihnen eine unehrenhafte Handlung zuzutrauen. Aber eine Erklärung sind Sie mir schuldig. Sehen Sie das?«

»Majestät!« bat Christina hilflos und hob den Blick.

Vor dem Leid und der Verzweiflung, die ihm daraus entgegenschlug, zuckte zurück. Er ließ ihre Hände los.

»Majestät, verzichten Sie auf eine Erklärung, ich bitte Sie darum!«

»Darauf kann ich nicht verzichten, Christina. Was auch immer geschehen mag, ich muß wissen, was aus jener Christina von Rothenstein wurde, die ich liebte und deren Namen Sie jetzt tragen. Ich habe ein Recht auf eine Erklärung aus Ihrem Mund, Christina.«

Ergeben ließ Christina wieder den Kopf sinken. Sie rieb jetzt ihre Hände aneinander, als sei ihr kalt, und tatsächlich lief ein Schauer nach dem anderen über ihren zarten Rücken, als habe sie Schüttelfrost.

»Ich trage nicht den Namen Christina von Rothenstein, Majestät«, sagte sie langsam, »ich habe mich niemals eines anderen Namens bedient als meines eigenen. Ich bin die Schwester des Mannes, der Christina von Rothenstein geheiratet hat, also eine echte de Roussillon. Die Gleichheit unserer Vornamen ist nichts als Zufall.«

Rudolf richtete sich erleichtert auf. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

»Und weshalb dieses Täuschungsmanöver, Christina?« fragte er zärtlich.

»Ich gab vor Jahren ein Versprechen.«

»Wem, Christina?«

»Bitte, Majestät, ersparen Sie mir die Antwort! Es kommt nichts Gutes von ihr! «

Rudolf sann vor sich hin.

»Ist es wegen Angelika?« fragte er dann weiter, und als Christina stumm nickte, fuhr er fort: »Wollten Sie ihr den Makel eines unehelichen Kindes ersparen, Christina? Denn da Sie den Namen de Roussillon tragen, Ihren Mädchennamen, so waren Sie wohl nie verheiratet.«

»Ich war niemals verheiratet«, gab Christina zu, und fester wurde ihr Blick, »aber ich gab auch niemals einem Kind das Leben.«

Rudolf fuhr zurück, und eine schreckliche Ahnung kam ihm, die ihm den Atem nehmen wollte.

»Sprechen Sie, Christina!« bat er erregt. »Jetzt müssen Sie mir alles sagen. Ich befehle es Ihnen als König.«

Da richtete sich Christina auf. Ihre Verzweiflung wich tiefer Mutlosigkeit.

»Angelika ist die Tochter Christina von Rothensteins«, sagte sie leise.

»Mein Gott! Berichten Sie mir alles, bitte!«

»Sie wissen es besser als ich, Majestät.«

»Nicht alles, Christina, aber ich beginne zu ahnen.«

»Nun denn, ich kannte Christina von Rothenstein aus meiner Zeit in einem Schweizer Internat. Wir hatten gemeinsam ein Zimmer und wurden gemeinsam erzogen. Später fuhr sie nach Rothenstein zurück und ich nach Roussillon. Lange Zeit hörte ich nichts mehr von ihr, dann stand sie eines Tages auf Roussillon vor mir. Sie war in erbärmlichem Zustand und erzählte mir eine unglaubliche Geschichte. Sie hatte den Thronfolger ihres Landes geheiratet, im Ausland, heimlich und ohne Wissen des Königs, und hoffte auf eine nachträgliche Anerkennung. Aber der König klärte sie über die Folgen dieser Ehe auf und verlangte von ihr die stille Trennung von seinem Sohn. Nach langen inneren Kämpfen hatte sie nachgegeben und war heimlich abgereist, nicht ohne dem Thronfolger – Ihnen, Majestät! – einen Brief zu hinterlassen, in dem sie sich zu einem anderen bekannte, der niemals existierte.«

Rudolf barg erschüttert das Gesicht in beiden Händen.

»Und meinem Vater gelang die Annulierung dieser Ehe, und ich glaubte diesem Brief«, stöhnte er erbittert auf.

»Ganz recht, Majestät. Ich nahm Christina von Rothenstein auf, und mein Bruder gab ihr seinen Namen. Er hatte sie vom ersten Augenblick an lieb, aber sie gehörte ihm wohl nie an. Fünf Monate nach der Eheschließung gebar Christina ein Mädchen und gab ihm den Namen Angelika.«

»So ist Angelika…«

»Die Tochter Eurer Majestät.«

Rudolf war in einen Sessel gesunken und bedeckte die Augen mit der Hand. Lange saß er so in tiefem Schweigen. Dann stand er auf und zog Christina dicht zu sich heran.

»Und warum, Christina de Roussillon«, fragte er leise und zärtlich, »warum wolltest du mir davon nichts sagen?«

Nun, da die Wahrheit heraus war, war Christina ganz ruhig.

»Aus zwei Gründen«, erwiderte sie. »Ich fürchtete die Reaktion Angelikas, und ich fürchtete für den König einen Skandal. «

»So wolltest du mit deinem Schweigen die beiden Menschen schützen, die du am meisten liebtest. Ist es so, Christina?«

Christina nickte stumm.

»Ein Skandal ist nur«, fuhr er ernst fort, »wenn ein Vater nichts von der Existenz seiner Tochter erfährt. Nie hätte ich von Christina gelassen, hätte sie mir nicht den verhängnisvollen Brief geschrieben.«

»Sie wußte das. Sie hat Sie bis zu ihrem Ende geliebt.«

»Sie ist…«

»Sie starb ein halbes Jahr nach Angelikas Geburt. Woher nahm sie mir das Versprechen ab, mich um Angelika zu kümmern. Das fiel mir um so leichter, als ich das Kind von Herzen liebte. Angelika hat nie erfahren, daß ich nicht ihre Mutter bin. Die Täuschung war leicht. Außerdem versprach ich der Sterbenden, dafür zu sorgen, daß Angelika das heimatliche Schloß erhalten bliebe. Christina hat die Heimat sehr geliebt.«

»Und deshalb kamst du mit Angelika hierher. Deshalb batest du mich, Wertach zu verlassen. Du fürchtetest die Liebe der Tochter zum Vater und konntest selbst Rothenstein nicht verlassen.«

Christina nickte.

»Arme Christina!« sagte Rudolf leise und zärtlich. »Was mußt du gelitten haben.«

»Majestät! «

»Schweig still, Christina. Laß jetzt allein dein Herz sprechen. Was fürchtet es noch von meiner Liebe?«

»Das Unheil eines Skandals, Majestät.«

»Glaubst du im Ernst, ich würde jetzt noch mein Kind verleugnen? Ich war mit Christina von Rothenstein nach Recht und Gesetz verheiratet, Angelika ist mein leibliches Kind, soll ich da nicht zu Angelika stehen? Und zu der Frau meiner Liebe? Zu dir, Christina, denn ohne dich gibt es für mich kein Glück mehr auf dieser Welt. Willst du, daß ich noch einmal so unglücklich werde wie vor vielen Jahren? Hast du aus unser aller Leid nicht gelernt, daß es Wertvolleres gib als die Macht der Krone?«

»Ich bitte Eure Majestät…«

»Mein Volk würde mir sehr verübeln unehrenhaft an den zwei Frauen zu handeln, die ich liebe, an dir und Angelika. Soll ich meinem Volk aus falschen Rücksichten die Prinzessin vorenthalten?«

Christina schüttelte den Kopf.

»In wenigen Jahren wird der Thronfolger, mein Sohn, die Last der Krone auf seine Schultern nehmen. Willst du so lange auf mich warten, wenn es nötig ist, Christina?«

Da sah sie ihn mit aller Liebe an, die in ihr war.

»So lange du willst, Rudolf«, sagte sie.

Aufjubelnd riß der Mann die zierliche Frau in seine Arme und bedeckte ihren roten Mund mit leidenschaftlichen Küssen.

Plötzlich schlug die Tür des Blockhauses zurück. Auf der Schwelle stand eine leichenblasse Angelika.

*

Michael war ganz in Gedanken versunken nach Rothenstein zurückgeritten.

Als er es merkte, war es zur Umkehr zu spät, und so entschloß er sich, wenigstens Christina seine Aufwartung zu machen. Es ging wohl auch schlecht anders.

Er war dann sehr erstaunt, auf Rothenstein seine Eltern anzutreffen.

»Was machst du hier, Papa?« fragte er in seiner ersten Verblüffung, obwohl ein Besuch der Seebacher auf Rothenstein durchaus nichts Ungewöhnliches war.

»Ich nehme Rothenstein für dich in Besitz«, knurrte Richard von Seebach grimmig.

Michael war sofort hellwach und richtete sich unwillkürlich höher auf.

»Was soll das heißen, Papa?«

»Das soll heißen, daß die Damen de Roussillon versuchen, dich um dein Erbe zu prellen. Christina ist nicht die Mutter von Angelika, und Angelika erfüllt nicht die Bedingungen des Rothensteinschen. Testaments, wonach Christina von Rothensteins Kind frühestens neun Monate nach der Eheschließung geboren sein darf, um Erbe des ganzen Komplexes zu werden. Angelika aber wurde bereits fünf Monate nach der Hochzeit ihrer Mutter mit dem Marquis de Roussillon geboren. Du allein bist der rechtmäßige Herr auf Rothenstein und darfst den Titel eines Fürsten führen.«

Michael war blaß geworden.

»Papa«, sagte er mit unheimlicher Ruhe, »du hast einen Fehler gemacht.«

»Was meinst du?«

»Du hast vergessen, daß das nicht deine, sondern meine Angelegenheit ist, und ich verzichte auf Rothenstein zugunsten Angelikas, weil ich sie liebe.«

»Michael«, stieß Cäcilie hervor, »du bist wahnsinnig! Du kannst doch nicht so eine – ich meine…«

»Mama«, fuhr Michael immer noch erschreckend ruhig fort, »warst du es nicht, die mir davon erzählte, Christina von Rothenstein sei die Favoritin des damaligen Kronprinzen und jetzigen Königs gewesen?«

Cäcilie schlug sich beide Hände vor den Mund.

»O Gott!« sagte sie.

»Und wenn nun Angelika die Tochter des Königs sein sollte, Papa?« Michaels Augen blitzten.

Richard von Seebach fuhr zurück.

»Daran habe ich nicht gedacht«, bemerkte er kleinlaut.

»Aber ich zum Glück«, erwiderte Michael grimmig, »und gebe der Himmel, daß es mir gelingt, ein Unglück zu verhüten. «

Er machte auf dem Absatz kehrt und Sekunden später donnerten die Hufe seines Pferdes in Richtung auf den königlichen Forst, dorthin, wo eine schneeweiße Angelika dem König und Christina gegenüberstand.

»So ist das also«, sagte Angelika nach einer Weile mit seltsam tonloser Stimme, »so ist das also! Deshalb durfte ich den König nicht lieben, Mama. Oh, wie erbärmlich das ist!«

»Angelika«, rief Christina, »so höre doch erst!«

»Ich will nichts hören, und ich will auch nichts mehr sehen.«

Angelika drehte sich um und rannte, blind vor Tränen, davon, ohne auf den Weg und Steg zu achten. Ihr war, als würde ihr Herz ganz langsam in lauter winzige Stücke zerrissen.

Sie hörte nicht auf die Hufe hinter ihr.

Christina versuchte Angelika nachzulaufen. Da kam Michael heran. Christina lief ihm keuchend entgegen.

»Michael«, rief sie verzweifelt, »Michael, Angelika… sie ist… suche sie, ich bitte dich, du liebst sie doch. . . sie ist…«

»Ich weiß«, erwiderte Michael ruhig. »Ich werde sie diesmal zurückbringen Christina. Ich verspreche es!«

Christina streckte die Hand aus, als er davonpreschte. Da fühlte sie sich von den starken Armen Rudolfs umfangen.

»Sei ganz ruhig, mein Lieb!« sagte er. »Wenn jemand Angelika jetzt helfen kann, dann ist es wohl Michael von Seebach. Die Liebe vermag so viel. Warum sollte sie Leid nicht heilen können? Denke doch an uns und unsere Liebe. Hab’ Vertrauen!«

Christina schmiegte sich in seine Arme und fühlte sich sonderbar geborgen. Sie wußte, daß sie die Last nicht mehr würde tragen müssen.

*

Angelika war zum Seerosenteich gelaufen. Ihr Pferd hatte sie völlig vergessen.

Am Ufer warf sie sich auf den weichen Boden und barg laut schluchzend das Gesicht in beiden Armen. So lag sie noch, als Michael von Seebach sie fand.

Er stieg vom Pferd und berührte sacht ihre Schulter.

»Angelika«, sagte er weich und zärtlich, »geliebte, bezaubernde, dumme Angelika! «

Sie fuhr empor, zornig und verweint zugleich.

»Bist du nun glücklich, da du über mich lachen kannst?« rief sie schrill. »Ist es dir nun eine Genugtuung, mich so entsetzlich erniedrigt zu sehen?«

Michael nahm sie sanft in beide Arme und wiegte sie wie ein Kind hin und her.

»Wann wäre jemals eine Tochter dadurch erniedrigt worden, daß sie ihren Vater zärtlich liebt?« sagte er behutsam und hielt sie ganz fest, als sie zu zittern begann.

»Michael, was meinst du damit?«

Vorsichtig die Worte wählend, begann er, ihr zu erzählen. Angelika hörte ihm atemlos zu.

»Du hast gefühlt, daß er dein Vater ist, Angelika«, erklärte Michael schließlich. »Deshalb warst du so unbeirrbar in deiner Liebe und übersahst mich dabei«, konnte er nicht unterlassen hinzuzufügen.

Angelika schnaufte ein wenig. Er lachte und reichte ihr sein Taschentuch. Sie trocknete sich die Tränen und schaute ihn an, als sähe sie ihn zum erstenmal.

Sie betrachtete sein schmales gebräuntes Gesicht und blickte ihm in die guten Augen, in denen all seine Liebe zu ihr geschrieben stand.

»Michael«, meinte sie leise, »ich habe dir wohl sehr weh getan?«

»Es geht.« Er stand auf und zog sie zu sich empor. »Es ist nicht nötig, daß du dir auf dem feuchten Rasen einen Schnupfen holst. Angelika. Was soll der König von einer verschnupften Prinzessin denken.«

»Es ist so sonderbar«, murmelte Angelika vor sich hin, »eigentlich sollte mich das alles doch sehr erregen, aber ich fühle nichts als eine merkwürdige Erleichterung, als sei jetzt endlich alles so, wie es sein soll. Ich kann sogar ohne Groll an Mama denken. Ja, ich gönne ihr sogar das Glück. Wie muß ich sie denn jetzt nennen?«

»Ich würde bei Mama bleiben. Wenn mich nicht alles täuscht, wird sie doch bald deine Stiefmutter.«

»Tatsächlich? Oh, wie töricht war ich! Und wie sehr habe ich Mama zu danken für alle ihre Liebe und Güte. Wenn sie es mir doch nur gesagt hätte.«

»Sie hat das Beste gewollt.«

»Wie du, Michael.«

Angelika schaute ihn merkwürdig an, und sein Herz begann auf einmal rasend zu klopfen.

»Wirklich? Ich denke, du willst mich nie wiedersehen? Dann verlasse ich dich jetzt am besten.«

Aber schon streckte sich ihre kleine Hand aus und hielt ihn fest.

»Nein, bleib, Michael, und verzeih mir! Ich war dumm. Es tut mir sehr leid.«

»So hast du mich doch lieb, kleine Angelika?«

Hilflos blickte sie ihn an.

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie, als habe sie Angst, es könne sie jemand hören, »ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, daß ich dich niemals verlieren möchte. Ich kann mir ein Leben ohne dich einfach nicht mehr vorstellen. Wenn das die Liebe ist…? Du mußt Geduld mit mir haben, Michael.«

»Soviel du willst, Angelika, wenn du mich nur ein wenig magst.«

»Ja«, erwiderte sie träumerisch, »ich habe es nicht gewußt, aber ich mag dich sehr gern. Und ich glaube, ich werde dich eines Tages sehr lieben, Michael.«

Er nahm ihr Gesichtchen zwischen seine beiden Hände und küßte ganz zart ihre jungen roten Lippen. Sofort danach ließ er sie los, als habe er schon zuviel gewagt.

Wie gut er mich versteht, dachte Angelika.

»Komm, Angelika«, hörte sie ihn da sagen, »der König wartet darauf, seine Tochter in die Arme schließen zu können.«

Angelika lächelte.

Hand in Hand liefen sie über die blühende Wiese, zwei glückliche junge Menschen, die endlich zueinandergefunden hatten.

Fürstenkrone Box 15 – Adelsroman

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