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Der Säugling

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Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, habe ich schon kurz nach dem Umzug angefangen, auf Ungerechtigkeit sensibel zu reagieren. Alles war fremd. Die Sprache, in der ich zu sprechen angefangen hatte, konnte niemand verstehen und zwischen mir und dem Ort, wo ich verstanden und geliebt worden war, lagen plötzlich ganze Länder. Der erste Urlaub kam viele Jahre später. Doch da war mir die Heimat schon fremd geworden. Meine Welt war verdreht und ich konnte nur noch ahnen, dass ich die Menschen, die ich hatte zurücklassen müssen, liebte. Es gab keine Gewissheit, denn mittlerweile hatte ich ihre Sprache verlernt.

In der Zwischenzeit war ich zurechtgekommen. Nie besonders gut, denn die Fremde machte mir Angst. Sie kam mir schrill vor. Und meine Stimme war sehr leise, bis sie irgendwann ganz verklang. Ich wurde still, weil Francesco es befahl. Und von da an war die stumme Wut meine ständige Begleiterin. Ich war die wütende Fremde, die unbeachtet blieb und die sich irgendwann selbst in der Fremde verlor. Dennoch gab es mich. Irgendwie ahnte ich, dass ich existierte. Jemand hatte einen Samen in mich hinein gepflanzt und ich wusste, eines Tages würde sich meine Geduld auszahlen. Dann könnte ich sprechen. Dann könnte ich sagen, dass ich da bin und leben will.

Heute ist dieser Tag gekommen. Und ich weiß nicht, warum ich es ausgerechnet jetzt und ausgerechnet Ihnen erzähle. Schließlich kenne ich Sie kaum und doch vertraue ich Ihnen aus irgendeinem Grund. Natürlich kenne ich Ihren Namen und Ihr Gesicht. Doch schon was Sie beruflich wirklich machen, und ob Sie Familie haben oder alleinstehend sind, entzieht sich meiner Kenntnis.

Ich hätte nie gedacht, dass es in unserer Gesellschaft möglich ist, jemanden wertzuschätzen, von dem man so wenig weiß. Sie haben mein vollstes Vertrauen. Lange Zeit wusste ich nicht, wie es sich anfühlt, jemandem zu vertrauen. Francesco habe ich vertraut. Er war aufmerksam. Als ich noch sprechen und lachen konnte, hat er einen meiner kleinen Monologe mit einem Kassettenrekorder aufgenommen. Ich war so ein hübsches Kindergartenkind und auch lustig! Aber danach habe ich nicht mehr gelacht. Die erste große Ungerechtigkeit meines Lebens heißt Francesco. Ja, das ist sein richtiger Name. Ich habe kurz überlegt, ob ich Ihnen einfach einen anderen Namen nennen soll. Doch vielleicht würden Sie meine Wut dann nicht so gut verstehen können. Haben Sie einen Francesco in Ihrem Leben? Er musste nie für seine Tat büßen. Keiner hat Francesco angeklagt. Deshalb tue ich es jetzt. Er heißt Francesco! Alle Welt soll es erfahren! Und warum hätte ich ihm nicht vertrauen sollen, wo er doch der Freund von Mutter war?

Unser beider Beziehung ist ein bisschen so, wie es am Anfang zwischen mir und Francesco gewesen ist. Auch von ihm wusste ich außer seinem Namen nicht viel und ich habe ihm vertraut.

Lange, bevor ich Sie kennengelernt habe, fing ich an, nach Gott zu fragen. Daran muss ich gerade denken. Auch mit Gott ist es so, wie es zwischen uns beiden ist und auch, wie es zwischen mir und Francesco anfangs war. Außer dem Namen weiß ich nicht viel über Gott, aber doch ein bisschen mehr als über Sie oder über Francesco.

An der Vertrauensfrage bin ich allerdings seit Francesco immer wieder gescheitert. Durch ihn habe ich die Hölle sehr früh kennengelernt. Zuerst habe ich so viel mit ihm spielen und lachen können. Es war das Recht auf meine kindliche Existenz, das er mir in der ersten Zeit noch zugestanden hat. Danach hat er mich an ein existenzielles Minimum gebracht. Wie kann ich es Ihnen beschreiben? Stellen Sie sich vor, jemand, der größer und stärker ist als Sie, drückt Ihren Kopf unter Wasser, um Sie danach mit aller Wucht in die Ecke eines kahlen Raums schleudern.

Irgendwie hat Francesco sich meiner bemächtigt und ich bin ihn nie wieder losgeworden. Auch nicht, nachdem Mutter ihn rausgeschmissen hat. Meine stumme Wut konnte sie nicht verbannen. Ich wurde die wütende Fremde, die niemand bemerkte, weil sie so still war. Von da an blieb mir nichts mehr verborgen. Ich entwickelte also schon von Kindesbeinen an einen extremen Sinn für Gerechtigkeit, sonst hätte ich diese Sache, die ich Ihnen eigentlich erzählen möchte, vermutlich ganz lässig hingenommen. Aber durch Francesco war ich sensibel geworden für die Missstände dieser Welt und bereit, sie zu bekämpfen. Francesco verlor sein Gesicht und wurde zu einem Dämon, der sich immer und immer wieder vervielfältigte. Den Rest der Kindheit verbrachte ich nun damit, alleine gegen Dämonen anzukämpfen. Sie waren überall. Ab und an ging ich als stolze Siegerin aus einem solchen Kampf hervor und dann belohnte ich mich für meine Tapferkeit gerne mit einem Brausebonbon, das Zunge und Lippen färbte.

Auch heute bekomme ich noch Appetit, wenn ich etwas als ungerecht empfinde. Meinen Mut zur Veränderung könnte man also als ein Relikt dieser frühkindlichen Geschmacksorientierung bezeichnen. Aber es hat sich etwas verändert. Sehen Sie, meine Belohnung sind jetzt diese frischen Leipziger Lerchen. Ich fühle mich in diesem Augenblick schwach und verwundet, wie so oft nach einem Kampf, aber zum ersten Mal nicht wie eine einsame Heldin, die aus eigener Kraft gesiegt hat. Schauen Sie doch nicht so besorgt. Ich habe zwar eine Grenzerfahrung gemacht, fange aber an, Worte zu finden.

Dass es Grenzen gibt, wusste ich natürlich schon als Kind. Aber Francesco hatte sie verrückt. Und danach hatte er mir verboten zu sprechen. Können Sie sich vorstellen, wie meine Schlachtfelder aussahen? Strenge Lehrer, hänselnde Schüler, katastrophale Mathematiknoten, hinter allem lauerte eine von Francescos Fratzen. Aber ich konnte nicht darüber reden. Ich konnte niemanden erklären, wie ungerecht ich alles fand. In der Schule beneidete ich jene, die sich durchsetzen konnten. Gleichzeitig beschuldigte ich sie insgeheim, meine Ideen gestohlen zu haben. Denn obwohl ich nicht aussprechen konnte, was ich dachte, gab es mich ja. Wenn es hart auf hart gekommen wäre, hätte ich vermutlich doch nicht mit den dominanten Persönlichkeiten tauschen wollen. Vielleicht hätte es mir nicht gelegen, mich in den Mittelpunkt zu stellen. Ich weiß es nicht. Francesco hat verhindert, dass ich mich ausprobieren konnte. So entwickelte ich mich zur scharfsinnigen Beobachterin. Sobald etwas Ungerechtes geschah, solidarisierte mich mit den Schwächeren. Manchmal entstand auf diese Weise eine richtige Freundschaft im Lager der Unterdrückten. Und manchmal blieb es bei der moralischen Unterstützung, die ich Schwächlingen durch Blicke und Gesten zukommen ließ. Fühlte ich mich selbst ungerecht behandelt, war der Kampf intensiver. Hier und da gesellte sich selbstverständlich auch jemand zu mir. Und wenn sich niemand aus Fleisch und Blut fand, der mir beistand, kamen die Freunde meiner Fantasie mir zu Hilfe. Nach jeder gewonnenen Schlacht gab es zur Belohnung etwas für die Sinne: Ein färbendes Brausebonbon, dem wiederum meine Backenzähe zum Opfer fielen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Sie fragen sich, weshalb ich mit dem Sieg etwas, was den Mundbereich farblich neu gestaltet, verbinde? Es hängt mit seiner breiten Funktionsweise zusammen. Doch ich möchte nicht langweilig erscheinen und deshalb nur kurz erwähnen, dass der Mund als solcher die erste Überlebensquelle darstellt. Es existiert ja sogar ein Begriff, der meine Theorie untermauert: Der Säugling! Würden wir in der ersten Zeit unseres Lebens etwas anderes tun, als saugend Nahrung aufnehmen, hätte sich das in der Wortfindung sicherlich niedergeschlagen. Hat es aber nicht. Der Säugling empfindet einen Sieg über eine ihm unangenehme Situation – und in den meisten Fällen bekämpft er sein Hungergefühl - indem er sich sattsaugt und erobert sich so regelrecht Zug um Zug das Recht auf seine Existenz. Ich finde das durchaus nicht dramatisch formuliert. Denken Sie doch nur daran, was geschähe, wenn der Säugling nicht saugen würde.

Da ich mich weiterentwickelt habe, ist das Saugen eine Nebentätigkeit meines Mundes geworden, aber er ist ein zentraler Punkt geblieben. Sie verstehen sicher, was ich damit meine. Die Sprache, das Privileg der Menschheit, wird im Mundbereich geformt. „Am Anfang war das Wort!“, schon mal gehört? Ich behaupte, in diesem Satz liegt mehr Kraft als in einem Hammer, der einen Felsen zertrümmert. Und heute … ich weiß nicht, vielleicht hat Gott heute eine neue Welt für mich erschaffen. Ich sitze hier und rede und rede. Ach, Sie sind wirklich sehr geduldig. Möchten Sie etwas von der süßen Lerche?

Aus dem Säuglingsalter herausgewachsen, machte ich die ersten Definitionsversuche. Mit mehrfachen Silbenklängen wie „Mama“ erhielten Gefühle einen Namen. „Mama“ konnte sowohl „Ich habe Hunger“ bedeuten als auch „Ich hab dich lieb.“ Oder es war einfach der Versuch, die Muskelpartien des Mundbereichs zu trainieren. Dann erst kamen die kleinen Sätze dazu, die sich so wunderbar dazu eigneten, die vielen unsichtbaren Dinge, aus denen ich bestand, für andere erlebbar zu machen. „Ich will Ball!“ Ja, solche Sätze, die meinen Mitmenschen die Gelegenheit gaben, mehr über mich zu erfahren und mir Platz zu machen.

Als Francesco meine Stimme hörte, war er entzückter als Erwachsene es sein sollten. Vielleicht wollte er, dass ich nur mit ihm sprach, sonst hätte er mir ja nicht verboten, irgendwem etwas zu sagen. Ich war nicht einfach nur ein braves, sondern ich war ein ausgeliefertes Mädchen. Die Gewalt der Stille hatte sich meiner bemächtigt, denn für die Gefühle, die ich durch Francesco kennenlernte, gab es keine mehrfachen Silbenklänge und auch keine kurzen Sätze. Ich war noch da, ein Minimum von mir existierte noch. Aber niemand verstand, dass „Mama“ jetzt eine andere Bedeutung hatte. Es meinte nun „Rette mich!“ oder „Warum hast du mich verlassen, mein Gott?“

Sie merken sicher, worauf ich hinaus will. Aus mir wurde ein schüchternes Schulkind, eine introvertierte Jugendliche und das sind nun einmal nicht die besten Karrierebedingungen. Immerzu überfiel Francescos Fratze mich und immerzu war diese übermächtige Wut da, die ich allein bekämpfen musste. Nach solchen Ausbrüchen steckte ich mir mal zum Trost, mal aus Triumpf diese färbenden Brausebonbons in den Mund. Später fing ich an, Lippenstifte auszuprobieren und erhielt somit Einzug in ein völlig anders System. Sie werden verstehen, wie ich das meine, wenn ich Ihnen von meinem Traum erzählt habe.

Darin habe ich übrigens entgegen meiner sonstigen Art einmal versucht, mit Worten gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen. Wenn ich genauer über diesen Traum nachdenke, erkenne ich, wie blitzschnell sich Komponenten zusammenstellen und wie aus einem unschuldigen Wunsch eine Gier werden kann.

Nichts anderes als Unschuld liegt doch auch in dem Verlangen eines Säuglings. Er ist noch nicht in der Lage ist, sich selbst von der ihn umgebenden Welt zu trennen. Mit seinen Schreien gibt er kund, dass er an einem Mangel leidet ohne zu wissen, dass Andere dies nicht, oder nicht zeitgleich mit ihm tun. Er ahnt, dass er laut schreien muss und wir interpretieren sein Schreien. Wir sagen, es fräße sich in unsere Köpfe hinein und fordere uns auf, zu handeln. Ja, es ist interessant, dass die menschliche Natur stets mit Fürsorglichkeit auf Säuglingsschreie reagiert hat, beziehungsweise noch reagiert und immer reagieren wird. Mit diesen Gedanken über Vertrauen und Fürsorge, oder ich drücke es lieber anders aus: Mit Gedanken über die Liebe in der Ewigkeit bin ich aus meinem Traum erwacht.

Sollten Sie jetzt denken, dass ein unerfüllter Kinderwunsch dahinter steckt, muss ich Sie enttäuschen. Meine Überlegungen zielen natürlich auf etwas Kindliches ab, sind aber viel globaler. Der Säugling begreift in den ersten Jahren seines Lebens, dass er nicht bis zum Tod in einer Umgebung universeller Fürsorge lebt. Sie geben mir doch Recht, oder? Auch wenn sie in meinem Fall zu extrem gewesen ist, die Leiderfahrung, sie kommt und nimmt ganz selbstverständlich ihren Platz ein - in jedem Leben. Bei dem einen mehr, bei dem anderen früher, doch das Leid verschont niemanden.

Um es zu verdrängen, fangen wir früh damit an, die Welt in mundgerechte Stücke zu teilen. Wir entwickeln unsere ersten Vorlieben, wenn wir außer der Muttermilch noch andere Nahrung zu uns nehmen. Da wird uns langsam klar, dass ein Mangelgefühl nicht einfach nur in der Magengegend existieren kann, sondern auch in unserer Vorstellung. Wir fangen an, uns nach Dingen zu sehnen, mit denen wir uns beschäftigen können, wenn wir satt sind. Wir werden gierig nach dem, was andere haben. Und so entstehen die Bedürfnisse, nach denen wir unser Leben ausrichten. Allerdings lernen wir auch die Bedeutung solcher Worte wie Contenance kennen, denn die Gesellschaft formt den Charakter. Sie gibt vor, wie viel Erziehung notwendig ist, um ein normgerechter Mensch zu werden.

Schauen Sie sich doch nur mal diesen dickbäuchigen Mann an, der gerade aus der Straßenkehrmaschine dort drüben steigt. Man sagt ja, dass es Menschen mit unterschiedlichen Interessen geben soll. Wofür könnte sich dieser Mann im orangenen Anzug jemals wirklich interessiert haben? Astronomie vielleicht? Es gibt nur wenige Jungs, die den Sternenhimmel langweilig finden. Selbst wenn er gar nicht so hoch hinaus gewollt, sondern mehr für die Natur vor seiner Haustüre geschwärmt hätte, ist ihm das von Nutzen? Dienstleister werden gebraucht. So einer ist er geworden. Er sorgt dafür, dass Sie und ich auf einen sauberen Marktplatz schauen können. Aber haben Sie bemerkt, wie mürrisch er gerade herübergeschaut hat? Das ist der nostalgische Blick, zu dem auch die heruntergezogenen Mundwinkel gehören. Der Blick, der in einer einzigen Sekunde sagen kann, wie viel besser doch alles war, früher im Kommunismus. Da haben die ersten kindlichen Neigungen auch nicht viel gezählt, aber die Gleichheit der Genossen, die hat einander verbunden. Leipzig trägt jetzt zwar den Beinamen Klein-Venedig, doch der Arbeitsplatz bis zur Rente ist weg. Wozu südländisches Flair in Sachsen, fragt dieser Blick. Weshalb trinken Sie und ich einen Cappuccino, während er sich noch mit Blümchenkaffee begnügen muss? Cappuccino mit süßen Lerchen, Sie haben ja so recht, es ist eine Wonne hier zu sitzen! Was meinen Sie, war er auch einer von denen? Jetzt hat er schon wieder so streng in unsere Richtung geguckt. Vermutlich soll das bedeuteten, dass er immer auf der falschen Seite steht, immer auf der Seite der Ausspionierten und dass die Motive für die Kontrolle zwar nicht mehr nur politisch, dafür aber viel monströser seien. Das globale Wirtschaftsmonster habe den kommunistischen Drachen verschlungen wie die Schlange einen Elefanten. Gegen die subtilen Methoden von heute seien die der Stasi doch ein Kinderspiel gewesen, sagen seine Augen. Früher wollten sie wissen, ob er dem Gedankengut treu war, heute kann er dem Feind noch nicht einmal mehr ins Gesicht sehen, denn er hat sich aufgelöst in unzählig viele Microchips und fährt auf unsichtbaren Datenautobahnen, registriert, speichert und gibt weiter, was jeder Tag für Tag so macht. Jetzt steigt der Mann von der Stadtreinigung wieder in seine Straßenkehrmaschine. Der Anzug leuchtet auch noch in weiter in Entfernung. Wie gut, dass wir beide noch eine Weile hier sitzen und die schöne Atmosphäre genießen können. Einfach nur so, weil der Zufall uns an den gleichen Tisch geführt hat. Es ist selten geworden, dass ein, von einem virtuellen Netz umwobener Mensch auf naive Weise einem anderen, ebenfalls virtuell Umwobenen etwas von sich erzählen möchte. Naiv deshalb, weil Instinkte, in dieser auf Informationen basierenden und von Vernunft gelenkten Welt, so gut wie überflüssig geworden sind. Verstehen Sie, was ich meine? Unser Gespräch ist total verrückt. Ich kenne Sie nicht. Sie sagen ja auch nicht viel. Trotzdem tut es gut, mit Ihnen zu reden. Es ist regelrecht himmlisch. Während ich Ihnen gleich von meinem Traum erzähle, dreht sich der Wahnsinn dieser Welt um seine eigene Achse. Wir beide, wir springen von dem Irdischen ab, wie Kinder von den Metallsitzen eines alten Kettenkarussells, weil wir keine Lust mehr haben auf den lauten Rummel. Was für ein ruhiger Moment. Sie sitzen mir gegenüber und ich weiß, wie Sie heißen, sonst nichts. Und Sie hören mir zu, lächelnd.

Bei einer Tasse Kaffee habe ich heute Morgen versucht, die Ereignisse meines Traums zu sortieren. Ehrlich gesagt, bin ich nicht weit gekommen, denn mir fehlte die Zeit, intensiver über den Zusammenhang zwischen den Erlebnissen des Traums und denen meines Alltags nachzudenken. So wurde die Tasse leer und ich musste mich auf den Weg machen, bevor ich ihn auch nur ansatzweise hätte deuten können. Deswegen staunte ich dann über das, was tatsächlich passiert ist. Ich ging, wie gewöhnlich in die Kanzlei, in der ich seit einigen Monaten einen Minijob habe. Bei diesem Wort läuft mir übrigens stets ein kalter Schauer über den Rücken und instinktiv erinnert es mich an den schon erwähnten Satz: „Am Anfang war das Wort!“ Dieses Wort könnte in meiner Vorstellung niemals Minijob heißen. Es stimmt mich versöhnlicher, wenn es wie Säugling klingt. Minijob war, ist und bleibt für mich ein Ausdruck, über den ich mich empöre und den ich am liebsten wie einen Räuber fangen und einsperren möchte. Schon die Zusammenstellung von Job und Mini löst bei näherer Betrachtung eine Pein in mir aus. Das Wort Job ist doch keine neuzeitliche Erfindung, vielleicht sehen Sie das ähnlich. Es hat sich aus einem Laut entwickelt, der mit einer Tätigkeit zu tun hat, die wir mit unserem Mund tun: schlucken oder verschlingen. Genaueres kann ich Ihnen natürlich nicht dazu sagen. Ich rate Ihnen aber, einen Sprachwissenschaftler Ihres Vertrauens zu fragen. Oder, wenn Sie keinen kennen, fragen Sie Gott. Sie lachen? Ja, das war auch lustig gemeint. Wie gesagt, heute hat Gott scheinbar meine Welt neu erschaffen und ich kann wieder witzig sein. Doch zurück zu diesem Unwort: Minijob. Wer etwas verschlingt, der hat den Mund voll, der ist gesättigt, dessen Grundbedürfnis ist gestillt und der kann seine geistigen Tätigkeiten entfalten. Heute machte ich mich also auf den Weg zu einem Job, der mich niemals sättigen kann, denn ihm ist die Komponente Mini staatlich verordnet worden. Nicht nur Politiker, sondern auch Arbeitgeber und Journalisten sind begeistert von dieser Wortkreation und interpretieren sie als nahezu göttliche Idee. Sie gehen auch soweit, vorauszusagen, so das Geld dieses Landes gerecht aufteilen zu können. Nun, Sie wissen selbst, was wir als Gesellschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten durchgemacht haben. Deswegen möchte ich mir an dieser Stelle langatmige Erläuterungen über die Auswirkungen der Ölkrise, die etliche Jahrzehnte zurückliegt, ersparen.

Interessanter ist, dass der Postbote heute erstaunlich viele, große Umschläge brachte. Es gehört zu meinen Aufgaben, die Post zu öffnen, sie zu ordnen und der Rechtsanwältin vorzulegen. Und nachdem ich die Briefe des Tages geöffnet hatte, brach ich in lautes Lachen aus und mir fiel augenblicklich wieder ein, was ich geträumt hatte. Ich hielt Bewerbungen in den Händen. Da die Rechtsanwältin mir mit keiner Silbe gesagt hatte, dass sie beabsichtigte, ihr Team zu vergrößern, empfand ich diese Entdeckung als Affront. Die Bewerbungen beleidigten mich ganz persönlich, weil sie mir schlagartig die Ausbeutung meiner Arbeitskraft und die Willkür, der ich ausgesetzt war, verdeutlichten. Den Job habe ich ja erst seit Kurzem und bin somit jederzeit austauschbar. Darüber hinaus kränkten sie meinen Gerechtigkeitssinn.

Glücklicherweise gelang es mir, an den Schluss meines Traums zu denken. Das war eine Wiederbelebungsmaßnahme, die ich an meiner eigenen Person durchführte. Keine einfache Sache also! Sie können sich gerne vorstellen wie es ist, zwei Dinge gleichzeitig zu empfinden: zum einen eine Ohnmacht und zum anderen einen Handlungsdrang. Die Unkenntnis darüber, wie ich auf diesen Affront reagieren sollte, stand der Schlussszene meines Traums gegenüber.

Mit diesen Bewerbungen hielt ich einen Beweis für die Sittenwidrigkeit der neuesten Arbeitsmarktreformen in den Händen. Sie verstehen hoffentlich, wie notwendig es war, Ehre und Moral wieder herzustellen, damit ich diesen Schock überwinden konnte. Der Gedanke als Stellvertreterin der ausgebeuteten Bürgerschicht mit den Trümmern, die nach meiner Offensive übrig bleiben würden, ein neues Fundament zu bauen, trieb mich in einen Rausch. Aus dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, konnte ich nur herauskommen, indem ich etwas tat.

Als Francesco mich für seine Zwecke benutzt hatte, konnte ich nichts tun, denn ich war ein Kindergartenkind. Doch heute, als ich in der Kanzlei der Rechtsanwältin saß, war die erste Idee, den Impuls der Bundesregierung ernst zu nehmen und durch ein eigenes Unternehmen Kapital zu erwirtschaften, um nicht länger unverschämt hohe Kosten zu produzieren. Denn die, so habe ich den Kanzler verstanden, haben ja erst dazu geführt, dass so viele Menschen seit so langer Zeit keine Arbeit mehr haben: die hohen Kosten! Weil er sich besonders gut wie ein Revolutionär in Szene setzen kann, werden seine Veränderungsvorschläge derzeit übereilig umgesetzt. Zu Hause sitzend und Däumchen drehend, dabei dem Staat auf der Tasche liegend, so betrachtet der Kanzler das Volk. Dem wolle er ein Ende machen und deshalb: die Minijobs und die Miniunternehmer. Also, warum soll ich nicht bei diesem Irrsinn mitmachen und auch eine Unternehmerin werden, wenn mein Job schon auf der Kippe steht? Ich würde allerdings als etablierte Arbeitgeberin keine Minijobs vergeben. Mir gefällt die Vorstellung, dass Menschen sich mit Hilfe ihres Jobs jederzeit den Mund vollstopfen können. Doch das ist ein anderer Traum.

Die Rechtsanwältin ließ sich heute Morgen ungewöhnlich viel Zeit für ihr Erscheinen. Und da mir das, was ich in den großen Umschlägen entdeckt hatte, nicht gefiel, beschloss ich, mir ebenfalls mit dem Arbeitsbeginn Zeit zu lassen. So ging ich in die Küche, um bei einem Espresso, meine Gedanken zu sortieren.

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