Читать книгу BURNOUT - Krise. Hoffnung. Neubeginn. - MARIA K HILL - Страница 5

POWERFRAU AM ENDE

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Auch diese Nacht verbrachte ich wie unzählige Nächte davor: ich träumte wild durcheinander und schreckte viel zu oft aus meinen Träumen hoch. Gedankenblitze an noch zu erledigende Aufgaben oder Themen, die mich beschäftigten. Manchmal war es auch ein beklemmendes Gefühl oder diffuse Traumszenarien, die mich aus einem oberflächlichen Halbschlaf rissen. Meistens gelang es mir, wieder in einen unruhigen Schlaf zu fallen, ohne jedoch die so dringend nötige Erholung zu finden.

Im Morgengrauen summte Christians Wecker. Ich hörte, wie er leise im Dunkeln aufstand um mich nicht zu wecken. Dann war ich offensichtlich noch einmal fest eingeschlafen, denn ich erwachte erst, als Christian sich auf meine Bettkante setzte. Vollständig angezogen und den Duft seines Parfums um sich verbreitend beugte er sich zu mir herunter, um sich von mir zu verabschieden. Er nahm mir noch einmal das Versprechen ab, zum Arzt zu gehen und ihn sofort danach anzurufen.

Mein Wecker klingelte um 6.30 Uhr, doch ich blieb wie erschlagen liegen. Dann fiel mir ein, dass ich nicht sofort aufstehen musste. Die Arztpraxis würde erst um 8.00 Uhr besetzt sein. Aus Pflichtgefühl schrieb ich noch im Bett eine Nachricht an meinen Chef und meine Mitarbeiter um alle Termine abzusagen. An diesem Tag würde ich nicht ins Büro kommen.

Müde quälte ich mich dann doch aus dem Bett und ging ins Bad. Noch im Pyjama setzte ich mich mit einer Tasse Kaffee zu Daniel an den Frühstückstisch. Dieser schaute für einen kurzen Gruß von seinem Müsli und dem Sportteil der Tageszeitung auf.

„Morgen, Mama!“ Er bemerkte wohl meine ungewohnte Kleidung und blickte verwundert ein weiteres Mal zu mir auf. „Was ist los? Musst du heute nicht ins Büro?“

„Mir geht es nicht so gut. Ich arbeite heute von hier.“

„Was hast du? Bist du krank?“

Ich wusste nicht genau, was ich darauf antworten sollte und griff daher zu einer Notlüge.

„Ich habe Kopfschmerzen und mit meinem Magen stimmt auch etwas nicht. Ich bleib’ heute besser hier.“

„Du Arme, das tut mir leid!“

Daniel war bereits aufgestanden, hatte die Zeitung achtlos zusammengelegt und räumte seine Müslischale in die Spülmaschine. Wie immer war er in Eile. Während er sich seine Jacke überwarf und nach seiner Schultasche griff, informierte er mich noch:

„Ich muss jetzt los. Heute wird’s sicher später. Wir haben noch ein Spiel gegen die Dreizehner. Mach’s gut und gute Besserung. Ciao!“

Die Tür fiel ins Schloss. Jetzt musste ich nur noch warten, bis die Praxis besetzt sein würde, dann konnte ich anrufen.

Frau Dr. Ingrid Weiss kannte mich als Patientin bereits seit einigen Jahren und wusste, dass ich nur in Ausnahmefällen um medizinische Hilfe bat. Immer dann, wenn mein Körper versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen und ich wegen einer starken Erkältung, Rückenbeschwerden oder Magenschleimhautentzündung wirklich nicht mehr arbeiten gehen konnte. Meistens hatte ich die Dauer der empfohlenen Krankschreibung noch heruntergehandelt um möglichst schnell wieder einsatzbereit zu sein. Bei meinem letzten Besuch wegen eines grippalen Infekts hatte sie mich gewarnt.

„Ihr Körper bremst Sie aus, Sie müssen auf ihn hören und unbedingt langsamer machen!“

Ich hatte die mahnenden Worte damals allerdings nur mit müdem und fiebrigem Lächeln quittiert.

Nun saß ich im hellen Sprechzimmer der Ärztin. Wo sollte ich beginnen? Wie sollte ich nun meine Symptome beschreiben? Auf einmal kam ich mir lächerlich vor. Sollte ich nicht einfach wieder gehen? Nein, ich brauchte Hilfe... In diesem Moment betrat Frau Dr. Weiss, eine großgewachsene Ärztin Mitte fünfzig, das Sprechzimmer und streckte mir ihre Hand entgegen.

„Ich grüße Sie. Wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?“

Ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und Tränen in meinen Augen brannten. Unzusammenhängend begann ich zu stammeln:

„Ich kann nicht mehr...ohne Energie... keine Kraft mehr... immer weinen... fürchterlich... nicht mehr stark... ich kann nicht mehr schlafen... bin so müde... ich möchte nie wieder aufwachen... ich will nicht mehr... ich sehe keinen Sinn mehr... Ich kann nicht mehr! Ich brauche Hilfe!“

Sicherlich war nur die Hälfte davon verständlich, da meine Sätze von heftigem Schluchzen unterbrochen wurden. Der Damm schien gebrochen und die mühsam aufgebaute Fassade bröckelte. Alles das, was ich während der letzten Monate unterdrückt oder ignoriert hatte und was ich noch am Wochenende aus reiner Disziplin krampfhaft zurückhalten konnte, brach nun aus mir hervor. Jetzt ging nichts mehr. Frau Dr. Weiss reichte mir wortlos eine Box mit Papiertüchern und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie wusste, dass es am besten war einfach abzuwarten.

Langsam beruhigte ich mich und war schließlich sogar in der Lage, die ruhigen Fragen der Ärztin nach physischen Symptomen zu beantworten. Zu meiner eigenen Überraschung musste ich viele Fragen bejahen. Schlafstörungen? Massiv. Seit wann? Seit mindestens acht oder neun Monaten – oder vielleicht doch schon seit dem vorletzten Urlaub? Kopfschmerzen? Ja. Wie oft? Mindestens einmal pro Monat. Magen-Darm-Beschwerden? Im Grunde vertrug ich kein Essen mehr ohne Probleme. Verspannungen und Rückenbeschwerden? Ein Dauerbegleiter. Selbst mein Fitness-Programm konnte inzwischen wenig zur Linderung beitragen.

So gingen wir gemeinsam eine lange Liste durch: Schwindel, Menstruationszyklus, Herzrhythmus, Beklemmungen, Angstzustände usw. Probleme im Job oder in der Familie? Stress? Frau Dr. Weiss machte sich Notizen und blickte schließlich von der Patientenakte auf.

„Ihre letzte große Untersuchung liegt noch nicht lange zurück. Daher kann ich physische Ursachen beinahe ausschließen. Trotzdem werden wir natürlich sofort mit einigen Untersuchungen beginnen, um ganz sicher gehen zu können. Für die Untersuchungen, die ich hier nicht durchführen kann, werde ich Sie an Kollegen überweisen.“

Ich nickte und folgte den Anweisungen der Ärztin. Die anschließenden Routine-Untersuchungen und die langen Wartezeiten ließ ich geduldig über mich ergehen. Mir war klar, dass man mich zwischen die bereits terminierten Patienten geschoben hatte. Schließlich saß ich noch einmal im Sprechzimmer. Die Ärztin studierte die Notizen in meiner Akte, klappte diese dann zu und rückte ihre Brille zurecht.

„Soweit ich das nach Ihren Schilderungen und den ersten Untersuchungsergebnissen einschätzen kann, vermute ich, dass sie unter einer Erschöpfungsdepression, verbunden mit akutem Schlafmangel leiden. Zuerst müssen wir dafür sorgen, dass Sie wieder schlafen können. Das ist das wichtigste! Wissen Sie, dass Schlafentzug sogar eine Foltermethode ist? Sie müssen sich wirklich ausruhen und lernen abzuschalten...“ Sie machte eine Pause und fuhr dann leise fort. „Ich habe den Verdacht, dass es sich bei Ihnen um ein Burnout-Syndrom handelt. Entweder steuern Sie direkt darauf zu, oder Sie haben die Grenze bereits überschritten. Das kann ich so noch nicht feststellen. Ich möchte daher gerne die fachliche Meinung eines Kollegen einholen, bevor wir die endgültige Diagnose stellen.“ Sie blickte mir fest in die Augen. „Waren Sie schon einmal bei einem Psychologen oder Psychotherapeuten?“

„Nein...“

„Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie an einen kompetenten Kollegen überweise, der uns helfen wird, schnell zu einer Diagnose zu kommen?“

„Ja, natürlich.“ Ich war verwirrt. Psychologe?

„Es wird allerdings nicht leicht sein, so kurzfristig einen Termin zu bekommen. Doch lassen Sie mich mal überlegen... Ziehen Sie eine Dame oder einen Herrn vor?“

„Mir wäre es lieber, mit einer Frau sprechen zu können.“

„Gut. Am liebsten würde ich Sie zu Frau Dr. Hansen schicken. Ich rufe sofort an... wenn ich das persönlich mache, tut sie mir vielleicht den Gefallen. Wir kennen uns von gemeinsamen Fortbildungen her.“

Sie griff zum Telefon und begann eine Nummer zu wählen. Ich hörte dem Gespräch nicht zu. Meine Gedanken schweiften ab. Was hatte Frau Dr. Weiss gesagt? Burnout. Depression. Bei der aktuellen Präsenz in den Medien hatte ich natürlich einiges darüber gelesen oder gehört. Und jetzt sollte ich davon betroffen sein? Das konnte nicht sein. Irgendwie passte das gar nicht zu meinem Selbstbild von einer starken erfolgreichen Karrierefrau und Mutter... Doch ich konnte meinen Gedankengang nicht weiter verfolgen. Denken fiel so schwer. Sich zu konzentrieren kostete unendlich viel Kraft... Frau Dr. Weiss hatte den Hörer aufgelegt und lächelte mich an.

„Freitag um zehn Uhr hat Frau Dr. Hansen noch einen Termin frei. Hier sind ihre Kontaktdaten.“ Sie reichte mir eine Visitenkarte.

„Danke. Wie geht es dann weiter?“

„Nun, Sie werden diese Woche nicht arbeiten. Sie bleiben zuhause. Ich möchte Sie bitten, sich nicht mit beruflichen Themen zu beschäftigen. Schalten Sie Laptop und Telefon aus. Kümmern Sie sich nur um sich selbst.“

Ich nickte zögerlich.

„Ich habe bereits angewiesen, hier in der Praxis verschiedene Termine für Sie zu reservieren um die noch fehlenden Tests durchzuführen. Bei meinen beiden Kollegen hier vereinbaren Sie bitte jeweils Termine für diese Untersuchungen hier.“ Sie gab mir zwei Überweisungsscheine. „Meine Damen am Empfang werden Ihnen die Liste der Untersuchungstermine aushändigen.“

„Danke.“ Mechanisch steckte ich die Unterlagen ein.

„Das Ziel für diese Woche sollte sein, alle Untersuchungen abzuschließen. Dann haben wir Anfang nächster Woche die nötigen Befunde und können mögliche physische Ursachen feststellen oder auszuschließen. Außerdem müssen wir dringend Ihre Schlaflosigkeit in den Griff bekommen. Ich verschreibe Ihnen diese Tropfen, die sie bitte wie folgt einnehmen werden.“ Sie schrieb die Formel auf das Rezept.

„Ein Schlafmittel? Muss das sein? Ich würde lieber ohne...“

„Diese Tropfen sind auf pflanzlicher Basis und absolut harmlos. Versuchen wir es erst einmal damit, Ihnen dabei zu helfen wieder erholsamen Schlaf zu finden.“ Als sie jedoch mein Zögern bemerkte, fuhr die Ärztin mit Nachdruck fort: „Ihr Körper streikt! Er muss sich regenerieren. Schlafen zu können ist eine wichtige Voraussetzung. Ich rate Ihnen dringend abzuschalten und zu entspannen!“

„Aber wie macht man das...?“

„Das müssen Sie für sich herausfinden. Jeder Mensch ist anders und entspannt oder regeneriert auf unterschiedliche Weise. Sie müssen selbst herausfinden, was für Sie und Ihren Körper gut ist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich darum zu kümmern. Es ist essentiell für Ihre Gesundheit. Sehen Sie zu, dass sie runterkommen und abschalten können. Entspannen Sie sich und lernen Sie wieder zu schlafen!“ Frau Dr. Weiss lächelte mich an. „Kein Stress, kein Druck. Versprochen? Halten Sie bitte den Untersuchungsplan ein und nehmen Sie die Termine bei den Kollegen wahr. Am Freitag haben Sie ihre erste Sitzung bei Dr. Hansen und am kommenden Montag sehen wir uns zur Besprechung der Ergebnisse wieder hier. Natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, wenn Sie Fragen haben!“ Sie streckte mir die Hand entgegen. „Hier ist Ihre Krankmeldung. Bitte halten Sie sich an meine Empfehlung. Gehen Sie raus in die Natur, genießen Sie die Sonne und lassen Sie es sich gut gehen! Alles Gute!“

„Auf Wiedersehen, Frau Doktor.“

Ich verließ das Sprechzimmer. Am Empfang erhielt ich die versprochenen Unterlagen und dann trat ich durch die Praxistür ins Freie. Wie in Trance bewegte ich mich zu meinem Auto. Das nächste, was ich bewusst registrierte, war, dass ich mich in der Garage ihres Hauses befand. Wie war ich dorthin gekommen war? Ein beunruhigendes Gefühl. Ich zog den Schlüssel ab, stieg aus und betrat das Haus. Drinnen schaute ich mich um und setzte mich schließlich an den Esstisch. Ich fühlte mich fremd im eigenen Haus und sogar im eigenen Körper.

Erschöpfung... Depression... Burnout... Psychologe... Abschalten... Runterkommen... Entspannen... Was jetzt?

Ich griff zum Telefon und wählte Christians Mobilnummer. Er antwortete sofort.

„Hallo mein Schatz! Gut das du anrufst, ich war schon ganz unruhig. Was hat Frau Dr. Weiss gesagt?“

Ich erzählte ihm von der vorläufigen Diagnose, von den bevorstehenden Untersuchungen und dem Termin bei der Psychologin. Wieder konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. So etwas Dummes, ich war doch sonst nicht so eine Heulsuse. Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Stille.

„Hm. Ich hatte vermutet, dass Vitamin- oder Eisenmangel hinter deiner Energielosigkeit und Dauermüdigkeit stecken. Aber Erschöpfung und Burnout...? Was kann man da machen?“

Ich bemerkte Christians Unsicherheit und hörte auch den sorgenvollen Klang seiner Stimme.„Ich weiß es auch noch nicht. Ich denke, wir müssen das Gespräch mit der Psychologin und die finale Diagnose abwarten.“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Dann warten wir eben die Untersuchungsergebnisse ab. Aber du siehst bitte zu, dass du in dieser Woche wirklich abschaltest und nichts tust. Hör auf deine Ärztin und lass den Computer aus. Stell dein Smartphone ab, hörst du? Lass’ mal alle Fünfe gerade sein.“

„Weißt du, ich glaube, dass ist gerade mein Problem. Ich meine, Fünfe mal gerade sein zu lassen...“

„Gerade deswegen sollst du es ja machen.“

„Wenn ich nur wüsste, wie das geht...“

„Das wirst du schon herausfinden. So schwer kann das doch nicht sein. Genieße deine freie Woche und nutze die Zeit für dich. Mach was Schönes. Oder mach einfach mal gar nichts.“

„Ich glaube, das habe ich noch nie gemacht.“

„Dann wird es wirklich Zeit, dass du damit anfängst. Du bist doch stark, du schaffst das schon. Du bist schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Außerdem hast du doch noch mich! Ich helfe dir!“

„Danke. Ich weiß momentan nur, dass sich etwas ändern muss. Ich muss auch erst einmal verarbeiten, was ich eben gehört habe. Lass uns heute Abend noch mal telefonieren, okay?“

Wir verabschiedeten uns und legten auf. Nachdenklich blieb ich am Tisch sitzen.

Ich, die Powerfrau, die immer alle Aufgaben bewältigen konnte, die jahrelang mit ihrem Sohn alleine im Ausland gelebt und gearbeitet hatte. Ich, die verantwortungsvolle Positionen in internationalen Unternehmen bekleidete und ganz nebenbei auch noch eine fünfköpfige Patchwork-Familie inklusive Wochenendbeziehung und pubertären Teilzeit-Kids managte. Ich sollte auf einmal nicht mehr in der Lage sein, das alles zu schaffen? Warum denn nicht?

Dann dachte ich an die Mahnungen von Christian und meinen Eltern: Abschalten und mehr an mich denken. Auch Frau Dr. Weiss hatte mir dringend dazu geraten. Abschalten. Ich wusste wirklich nicht, wie man abschaltete. Wenn mich ein Thema beschäftigte, dann ließ es mich selten los. Oft galt ihm mein letzter Gedanke am Abend vor dem Einschlafen, dann träumte ich manchmal sogar davon und am nächsten Morgen war es sofort wieder präsent.

Wenn ich allerdings früher in die Welt eines Buches eingetaucht war, dann hatte ich alles um mich herum vergessen können. War das der Zustand den man mit ‚abschalten’ meinte? Doch bereits seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich kein Buch mehr gelesen. Selten konnte ich mich mehr als eine halbe Seite lang konzentrieren. Oft bemerkte ich erst am Ende eines Kapitels, dass meine Augen nur mechanisch den Zeilen gefolgt und meine Hände nur automatisch Seite um Seite weitergeblättert hatten. Doch der Inhalt des Textes oder dessen Bedeutung war nie wirklich in meinen Verstand vorgedrungen.

Und dann war da noch diese wahnsinnige Müdigkeit, die mich fertig machte. So energielos und lustlos kannte ich mich nicht. Irgendetwas war wirklich nicht in Ordnung. So konnte es nicht weitergehen. So konnte ich nicht weitermachen. So wollte ich nicht weiterleben. Ich begann zu begreifen, dass sich etwas ändern musste. Offensichtlich hatte ich wirklich ein Problem.

Aber wie würde es jetzt weitergehen? Was sollte ich nur tun? Was kam jetzt auf mich zu? Würde ich wieder zu meinem alten ICH und meinen alten Kräften zurückfinden? Ich fühlte erneut Panik in mir aufsteigen, meine Kehle wurde eng und meine Augen füllten sich schon wieder. Verzweifelt und hilflos ließ ich den Tränen freien Lauf. Ich ließ es einfach geschehen. Ich weinte hemmungslos bis irgendwann der Tränenfluss von allein versiegte und ich ganz allmählich wieder zur Ruhe kam.

Dann putzte ich mir ein letztes Mal gründlich die Nase und richtete mich mit einem tiefen Seufzer ganz gerade auf. Ein neuer Gedanke machte sich in mir breit: Okay, ich hatte ein ‚Problem’, ich hatte sogar eine ärztliche Bestätigung dafür. Doch mein ‚Problem’ wurde bereits von Fachleuten analysiert. Physische Ursachen würde man entweder ausschließen oder behandeln können. Höchst wahrscheinlich würde ich mich mit den Themen Erschöpfung, Depression und dem Begriff ‚Burnout’ auseinandersetzen müssen. Aber ich war mit meinem Problem nicht mehr alleine. Es gab fachkundige Menschen, die mir helfen konnten. Ich durfte mich jetzt fallen lassen. Ich musste nicht mehr stark sein um mich und andere zu schützen.

Nachdem ich sowohl meinen Chef als auch meine Mitarbeiter über die vorläufige Krankmeldung informiert hatte, schaffte ich es tatsächlich, meinen Laptop nicht mehr zu öffnen. Ich schaltete sogar mein Smartphone aus. Es kostete mich einiges an Überwindung mich wirklich aktiv aus dem beruflichen Geschehen auszuklinken. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Wichtige Projekte waren am Start um die ich mich kümmern musste. Die vereinbarten Deadlines bereitetes mir Sorgen, denn in meinem Team gab es niemanden, der sich dieser Dinge annehmen konnte. Außerdem war da noch mein Vorgesetzter, dessen Verhalten von Tag zu Tag merkwürdiger wurde... Aber momentan war ich nicht in der Verfassung, mich auch noch mit Themen im Job zu befassen. Zuerst musste ich wissen, was mit mir los war.

Ich verbrachte den größten Teil der restlichen Woche bei Ärzten oder in deren Wartezimmern, um die von Frau Dr. Weiss angeordneten Untersuchungen durchführen zu lassen. Zwischen diesen Terminen war ich zuhause. Zeitweise wanderte ich unruhig und planlos durch die Räume, Radio und Fernsehgerät blieben ausgeschaltet und Bücher blieben geschlossen. Dann wieder saß ich stundenlang reglos in einem Sessel oder am Tisch und starrte leer vor mich hin. Nur sehr selten gelang es mir, meine Gedanken einigermaßen zu sortieren um wirklich nachdenken zu können. Erschöpfungsdepression. Burnout. Was bedeutete das? Mein Gehirn arbeitete beinahe unablässig, doch ich konnte meine eigenen Gedanken oft nur wie durch einen dicken Schleier wahrnehmen. Noch nicht einmal zu mir selbst konnte ich wirklich durchdringen. Ich war mir beinahe fremd geworden. Und ich fühlte mich leer und unendlich müde. Erschöpfung. Schlafmangel. Die pflanzlichen Tropfen von Frau Dr. Weiss hatten leider noch keine Wirkung gezeigt. Nach wie vor schleppte ich mich durch den Tag und sank abends völlig erschöpft ins Bett nur um mich am nächsten Morgen nach einer unruhigen Nacht erneut todmüde zu erheben.

Der erste Termin bei der Psychologin. Meine Nervosität stieg. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde und war daher ziemlich skeptisch. Gleichzeitig hoffte ich auf Hilfe für mein Problem.

Im Vorzimmer einer hellen und freundlichen Praxis musste ich noch etwas warten. Aus dem Sprechzimmer drangen leise Stimmen. Auf einem kleinen Beistelltisch türmte sich ein interessanter Mix aus aktuellen Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazinen zusammen mit einigen Fachzeitschriften der Psychologie. Nach einer Weile öffnete sich die Tür hinter der ich das Sprechzimmer vermutete und ein durchaus normal aussehender Herr trat heraus. Er nickte mir kurz zu, griff nach seinem Mantel und verschwand durch die Praxistür nach draußen. Ich musste innerlich über mich selbst lachen, als ich meine Erleichterung bemerkte. Offenbar war ich doch nicht frei von Vorurteilen gegenüber Patienten einer psychotherapeutischen Praxis.

Beruhigt konnte ich dann feststellen, dass Frau Dr. Katrin Hansen eine sympathisch wirkende, modisch gekleidete Frau war. Freundlich begrüßte sie mich und bat mich in ihr frisch gelüftetes Sprechzimmer. Keine Couch! Ich atmete insgeheim ein weiteres Mal auf. Nur eine Untersuchungsliege mit hellem Lederbezug, wie man sie in vielen Sprechzimmern finden konnte, stand an einer Wand. Frau Dr. Hansen ging um ihren Schreibtisch herum und deutete auf einen bequemen Stuhl ihr gegenüber. Der Kunstdruck eines modernen Gemäldes und ein farblich passender Tulpenstrauß rundeten das angenehme Bild ab.

Meine anfängliche Nervosität hatte etwas nachgelassen. Doch als Dr. Hansen sich nach meinem Befinden erkundigte, schnürten aufsteigende Tränen erneut meine Kehle zu. Mist! War ich überhaupt nicht mehr in der Lage, nüchtern über ein Problem – über mein Problem – zu sprechen? Ich berichtet, dass ich mich seit einer Woche in diesem tränenreichen Zustand befand ohne zu wissen weshalb. Es sei sonst nicht meine Art mich weinend fremden Leuten zu erklären. Die Ärztin stellte mir einige Fragen. Sie erkundigte sich nach meiner aktuellen beruflichen und familiären Situation und nach meiner persönlichen Geschichte. Im Anschluss an die ausführliche Anamnese und unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse, die Frau Dr. Weiss in der Zwischenzeit bereits geschickt haben musste, konnte Dr. Hansen die vermutete Diagnose der Kollegin bestätigen. Also doch. Erschöpfungsdepression. Burnout. Besondere Bedeutung maß auch sie der Tatsache bei, dass ich seit Monaten keinen erholsamen Schlaf finden konnte. Auf die Frage, ob die Kollegin mir bereits ein Medikament verschrieben hätte, holte ich die Tropfen aus meiner Handtasche hervor.

„Oh, die sind aber sehr natürlich“, rief die Ärztin aus. „Haben diese Tropfen etwas verändert? Können Sie nun besser schlafen?“

„Nein, ich habe bisher noch keine Änderung bemerkt.“

„Dann sollten wir in ihrer Situation anders vorgehen. Ich schreibe Ihnen folgendes Mittel auf. Bitte erschrecken Sie nicht über die Information auf dem Beipackzettel. Sie werden nur einen Bruchteil der hier empfohlenen Dosis einnehmen. Haben Sie bereits Erfahrung mit der Einnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln?“

„Nein. Ehrlich gesagt habe ich Bedenken, sie zu nehmen.“

„Das brauchen Sie nicht. Wir müssen Sie zum Schlafen bringen. Dazu braucht Ihr Körper eine Anschubhilfe.“

Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit mir nun weitergehen sollte.

„Frau Hansen, meine Krankschreibung läuft heute aus. Soll ich am Montag wieder ins Büro gehen?“

Ich bemerkte, dass mein Herz schneller zu klopfen begann. Schon die Vorstellung bereitete mir körperliches Unbehagen. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich den Atem anhielt.

„Nein, das empfehle ich überhaupt nicht. Ich gehe nicht davon aus, dass eine Rückkehr an Ihren Arbeitsplatz kurzfristig möglich sein wird. Meine Kollegin wird Ihre Krankmeldung am Montag verlängern und die nächsten Schritte den physischen Teil betreffend mit Ihnen besprechen. Wir beide werden uns um die psychische Seite Ihres Problems kümmern!“ Mit Nachdruck fuhr sie fort: „In dieser Verfassung können Sie auf keinen Fall arbeiten gehen. Wir müssen ihren Körper dazu bringen, sich zu erholen und Ihren Geist dazu, abschalten zu können. Damit uns das gelingt, müssen wir verstehen, was oder welche Umstände Sie in diese Lage gebracht haben.“

„Können Sie mir sagen, wie lange so ein Prozess in etwa dauern wird?“

„Nein. Denn das hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Außerdem ist es noch viel zu früh, um diesbezüglich eine Prognose abgeben zu können.“ Sie öffnete ihren Kalender im Computer. „Wann können Sie nächste Woche kommen?“

„Wenn ich weiter krankgeschrieben bin, natürlich jederzeit.“

Als ich mich draußen vor der Praxis in der warmen Frühlingssonne wiederfand, brummte mein Kopf. So viele Fragen auf die ich noch keine Antwort hatte! Ich fühlte mich matt und erschöpft. Nur noch nach Hause.

Am Abend berichtete ich Christian von meinem Besuch bei der Ärztin. Auch mit Daniel sprach ich in einem ruhigen Moment über meine aktuelle Situation, auch wenn ich selbst nicht allzu viel dazu sagen konnte. Doch Daniel war mit seinen schulischen und außerschulischen Aktivitäten beschäftigt und schien sich nicht über die ausweichenden Antworten seiner Mutter zu wundern.

Am darauf folgenden Montag saß ich wieder im Sprechzimmer von Dr. Weiss und lauschte den Ausführungen der Ärztin. Mögliche physische Ursachen konnten ausgeschlossen werden, andere Tests wiederum hatten die stressrelevanten Werte bestätigt. In Übereinstimmung mit der Kollegin bestätigte sie nun die Diagnose Burnout endgültig.

Überrascht stellte ich fest, dass die positive Nachricht, körperlich gesund zu sein, nicht die erwartete Erleichterung brachte. Die Alternative ‚psychische Ursachen’ bereitete mir weitaus größere Sorgen. Burnout. Das war im wahrsten Sinne des Wortes schwer zu begreifen. Obwohl ich mich mit diesem Gedanken während der vorangegangenen Woche durchaus bereits befasst hatte, schockierte mich die endgültige Diagnose. Wie betäubt saß ich da und hörte nicht mehr richtig zu. In meinem Kopf war nichts als eine große Leere.

Nur langsam drang die Stimme der Ärztin wieder zu mir durch. Erst als sie mir eine Box mit Papiertüchern entgegenhielt, bemerkte ich, dass mir offensichtlich wieder Tränen über das Gesicht rollten. Frau Dr. Weiss sprach beruhigend auf mich ein während sie mir die Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit aushändigte und mich mit weiteren Informationen versorgte.

„Ich bin keine Burnout-Spezialistin, aber ich weiß, dass es Kliniken gibt, die sich auf Erschöpfungsdepressionen und Burnout spezialisiert haben.“ Sie nannte einige Namen. „Es wird nicht ganz einfach sein, dort unterzukommen. Falls sie das überhaupt möchten... Ansonsten kann ich Ihnen Yoga, Thai Chi, Qigong oder Meditation im Allgemeinen empfehlen. Welche Entspannungsmethode für Sie funktioniert, müssen Sie selbst herausfinden. Die weiteren psychotherapeutischen Maßnahmen vereinbaren Sie bitte direkt mit Frau Dr. Hansen. Auch diese Therapie wird Ihnen sicher gut tun. Erholen Sie sich! Nehmen Sie sich eine Auszeit und...“, sie zögerte, „... wenn ich Ihnen noch einen persönlichen Rat geben darf? Versuchen Sie es zusätzlich mit Coaching. Das ist eine moderne Methode der Hilfe zur Selbsthilfe. Ein Coach kann ergänzend zur Psychotherapie ganz andere Aspekte zu Tage bringen. Zum Beispiel kann er Ihnen Wege aufzeigen sich wieder auf die eigenen Stärken zu besinnen. Er unterstützt Sie dabei, Ihre Kräfte mobilisieren und sich neue Ziele setzen zu können. Und vor allem arbeitet er mit Ihnen an Verhaltensmustern, damit Sie zukünftig in schwierigen Situationen wieder handlungsfähig sein können. Sie werden sehen, das wird schon wieder! Wenn Sie Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen. Ich wünsche Ihnen gute Besserung!“

Ich konnte nicht antworten, daher nickte ich nur. Zuviel Information war in zu kurzer Zeit über mich hereingeschwappt.

BURNOUT - Krise. Hoffnung. Neubeginn.

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