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1. Kapitel

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Auf daß ihr suchet und findet

«Da sitze ich also inmitten von Hunderten Maria-Briefen und Karten und soll eine

Auswahl der für mich besten zusammenstellen» - schreibst Du mir in aller Seelenruhe,

anstatt weiter zu wühlen in den Tiefen Deiner Schreibtischschublade.

Ich will mal für Dich hoffen, daß Du wenigstens alle beisammen und nicht welche in

jener Kiste und andere in jenem Kasten abgelegt hast. Daß in Deinem letzten

dienstlichen Führungszeugnis neben Ordnung ein Sehr gut eingetragen wurde,

steigert noch den Grad meiner Hoffnung. Wär’ doch auch wahrscheinlich nicht

so günstig, wenn Du Deine Patienten, die Dir uneingeschränkt grenzenlos vertrauen,

während der O.P. wieder falsch zusammenmontierst, nur weil Du einzelne Teilstücke

gerade nicht auffinden kannst. So was ließe sich auf Dauer bestimmt nicht verheimlichen.

Wenn ich nun schon höflich drängend dazu aufgefordert worden bin

Geschichten von uns oder so zu schreiben, dann benötige ich zumindest Material

aus dem sich ggf. und möglicherweise etwas machen ließe. Recherchieren muß auch

die beste Autorin – warum also sollte ich nicht müssen! Die wirklich guten,

die recherchieren bis kurz nach Ablauf von zwei Jahren und schreiben das eigentliche

Buch zwischen Weihnachten und Neujahr. (Da passiert ja ohnehin nicht viel.

Da wartet doch nur jeder auf Silvester.)

Falls Du, meine bisher liebe Amelie, nun Dein Zeitlupentempo nicht ein wenig in

Beschleunigung versetzt, sehe ich nicht allzu rosig für unser gemeinsames Projekt.

Bis Weihnachten ist nicht mehr lange hin ...

Daß Peter sich genau so begeistert von der Buchidee zeigt, ist angenehm zu hören und

versetzt mich in freudige Erwartung.

Daß er Dich – wie Du schreibst – mehrmals täglich bedrängt, nehme ich als Zeichen

seiner zunehmenden Spannung.

«Hast Du nun endlich die Briefe für Marichen rausgesucht?» - man höre Marichen!

«Nun mach aber mal!»

Ich suche Schatz, ich suche... «Wo ist mein weißer Pullover?»

«Hast Du die Jeans schon gewaschen?» «Geh’ doch ins Bett wenn Du so erkältet bist.»

« Wann gibt es Abendessen?» «Kommst Du Krimi gucken?»

«Machst Du dem Hund die Zecke raus?» «Hast Du überhaupt heute eingekauft?»

«Packst Du mir gleich die Reisetasche für nächste Woche?»

«Wie weit bist Du nun mit den Briefen???»

Gleich, gleich Schatz. Ich suche, ich suche...

DAS Amelie, das ist einer der Dialoge, die ich liebe! DAS wäre glatt etwas für unsere

Geschichten. Sollten wir uns überlegen, ob wir’s mit reinnehmen.

Auf jeden Fall mit reinnehmen müssen wir die Geschichte unseres Kennenlernens.

Nicht, daß eventuelle Leserinnen oder noch eventuellere Leser sich verwundert fragen,

wieso da ständig und seit nunmehr zwanzig Jahren Briefliches zwischen Jena und –

erst Mönchengladbach, dann Rath-Anhoven, jetzt Niederkrüchten hin und her

versendet wird.

Auch mit rein kommt der zweite Abschnitt der dritten Seite Deines Suchmeldungs-

Briefes. Und das jetzt gleich sofort. Da steht also zu lesen:

«Ja, wieweit bin ich mit dem Briefe-Suchen? Wieweit komme ich überhaupt?

Komme ich überhaupt weiter? Bis nachts zwei Uhr kannst selbst Du als beste Freundin

nicht verlangen, wo ich doch gegen halb sechs schon wieder aufwachen muß!

Ich soll Dir also vier oder fünf Deiner gelungensten Briefe schicken.»

(“Gelungen“ im Sinne von seltsam – wunderlich sind die alle – Anmerkung von M.)

«Du bist drollig!» (Das behauptet mein Gemahl auch des öfteren. Langsam fangich an,

das zu glauben – Anmerkung von M.)

«Weißt Du überhaupt wieviele sich da im Laufe der Zeit angesammelt haben

(Klar, weiß ich das, habdie schließlich eigenhändig auf den Postweg gebracht.

Außerdem – der Amelie-Briefe-Berg ist nun auch nicht gerade mitleidsvoll zu belächeln!

– wieder eine Anm.)

«Erinnerst Du Dich an all das, was Du mir geschrieben hast?» (Och, da laßich mich

gerne mal überraschen. Sicher nicht uninteressant – A.v.M.)

«Was hab’ ich da bis jetzt nicht alles gefunden – dicke Briefe

(faßDich doch mal kurz, sagt mein Gemahl auch des öfteren!), Zettel,

(lose Zettel? Du mußt Dich irren! Gucknoch mal auf den Absender! – A.v.M.),

Briefe ohne Umschlag (Du willst doch wohl nicht behaupten, das seien die durch meine

Schuld!?), Umschläge ohne Briefe (vielleicht begegnen die mir in meiner Schublade,

sollte dem so sein, werden sie Dir in nächster Zeit zugehen), diese und jene Karte,

von der ich bis gestern nicht wußte, das ich die gleiche noch dreimal besitze,

(drei gleiche in 240 Monaten!, willst Du im nachhinein reklamieren?), förmliche Briefe

(die Form, die habich stets bewahrt, in jedweder Lebenslage. Und am Anfang unserer

brieflichen Kontaktaufnahme, da warst Du eben noch die Frau Hansen, ähnlich wie ich

die Frau Rohmer war. Nur “lieb“, das waren wir da schon – hast Du jedenfalls stets

darübergeschrieben zur Begrüßung: “Liebe Frau Rohmer“)‚ Briefe die thematisch,

grammatisch, theoretisch und überhaupt vollends aus der Art schlugen (heißt das nicht

„grammatikularisch“?), traurige Briefe mit Tränen innendrin, besinnliches, romantisches,

und immer wieder humoriges (Amelie, wenn ich den nicht mehr hätte – meinen Humor ... ich bin demjenigen unendlich dankbar, der mir den "aufgedrückt“ hat!), Briefe für 1,-DM

später für 1,10 DM, Briefe für Strafporto (wenn die von der Post auch ständig die

Buchstaben nachwiegen!), Maxibriefe, Minibriefe auf die gerade noch die Marke

draufging, Briefe auf denen statt “Briefzentrum“ noch “Mönchengladbach, die Großstadt

im Grünen“ stand, und später dann Wegberg (ich hasse diese “Briefzentren“,

kein Mensch weiß mehr wo der andere wohnt), Briefe mit Leuchttürmen und Briefe mit

“Gemeinsam geht’s besser“ (sind echt gut, die Stempel, was?), Briefe mit Maikäfern

(die waren mir zugeflogen), Briefe mit und ohne Fehler (Phälerhaftes aus meine

Pfäder?), Briefe in Schönschrift (von mir?), Briefe in Schmierschrift (einwandfrei von

mir!), Briefe mit Umarmungen und den ausgefallensten Grüßen, Briefe mit Geschichten

(ach was?, wo ich doch eine Verfechterin von “Kurz und Bündig“ bin!), Briefe mit

spinnrigen Träumen (glaubich Dir unbesehen, kenn mich lang genug!), Briefe,

allerweltsverständlich und Briefe, die nur wir beide verstehen (ist das nicht zu und zu

schön, Amelie?!). Es waren und sind keine Tagebuch-Briefe, aber es war und ist ein

ganzer Abriß Deines Lebens in dieser Zeit.»

«Es hat geregnet, wenn die Briefe ankamen oder es hat die Sonne geschienen,

manchmal lag hoch der Schnee und es war nicht leicht bis zu unserem Haus

vorzudringen,die Jahreszeiten haben gewechselt, die Postboten haben gewechselt,

die Jahre sind vergangen – geblieben ist ein Berg an Post, entstanden ist eine

Freundschaft. Beides möchten weder ich noch Du missen und lassen es uns nicht

wegnehmen (da soll mal einer kommen!). Nähe ist entstanden, die größer nicht sein

könnte, säßen wir zweimal in der Woche im Café und würden klönen.

Nähe wird manchmal erst zu Nähe durch Ferne! Wir haben zu einer Zeit, da

Deutsch-Deutsche Verbrüderung enthusiastisch angesagt war, eine ganz unspektakuläre

Beziehung begonnen und aufgebaut, ausgebaut und beiderseitig für gut befunden.

Die Deutsch-Deutsche Begeisterung ist längst verflogen, aus vielen Gründen,

nachvollziehbaren und unverständlichen. In Wessi- und Ossimentalität (was für blöde

Begriffe) muß man heute vielleicht mehr als nach der Wende unterscheiden.

Was in diesem geeinten Deutschland passiert, beschlossen wird, gelebt wird ist oft

haarsträubend. Wohin soll das führen? Wo soll das enden? Viele Fragen, keine

Antworten.

Kommen wir zurück zu uns.

Daß wir uns Fotos geschickt haben und uns dreimal in all der Zeit für ein paar irre

Stunden hier bei uns getroffen haben, hat wider Erwarten zu keiner Beschädigung

unserer Beziehung geführt. (Die Chaos-Fahrten bei Eis und Schnee am Silvestertag

werdich im Leben nicht vergessen!)

Feststehende Begriffe wie “senkrecht stehende Deckel in Steilposition“,

der “Rohmer-Stern“, der “Hansen-Stern“ und der beidseitige Drang zum “Phählerhaften“

ziehen sich wie 3lagige rote Fäden durchs Briefdickicht.

Schnell dahin Geschriebenes wurde abgeschickt und lange Überlegtes, immer wissend,

daß es auf der anderen Seite gut aufgehoben war.

Briefe mit “allen Wassern gewaschen“ – weil Seemannsfrauen-Briefe. Briefe, die auch

die Fremdsprachenkenntnisse der anderen herausforderten und zutage förderten.

Bilder habe ich gefunden, Zeitungsausschnitte, Sterne, Kleeblätter, Stickkarten,

Seidenmalerei- und Unicefkarten. Wie ungeduldig die Briefe aufgerissen wurden,

siehst Du an den Umschlägen. Und da fand ich eben den Originalsatz der “Deckel“ –

ich weiß, Du hast ihn lange vergessen -: “Nunca suba a las tapas en la posición vertical

de estiba“!

Wieviele “Deckel“ haben wir seit damals schon umgelegt!»

Peter hat mir ein Postpaket besorgt, und den allerschönsten Aufkleber dazu – wie er

sagt. Die ersten Auswahl-Briefe werden morgen auf die Reise gehen. Vergiß’ nicht, ich

trenn’ mich ungern von ihnen und erwarte deren baldige Rückkehr.

Also, mache Deine Sache gut!

November-Grüße und vieles mehr!

Du wirst es vielleicht bemerkt haben, Amelie. Da sind mir tatsächlich zwischenzeitlich

die Anmerkungen ausgegangen. Hatte genug zu tun mit meinen Tränen ...

Bin eben viel zu sentimental, viel zu romantisch – sagt Maarten auch immer.

Aber ich glaub’, er mag das ganz gerne.

Und meine Schuld ist es schließlich nicht, daß ich als “Krebs“ auf diese Welt gekommen

bin. “Krebse“ sind nun mal so ...

Eine Anmerkung fällt mir doch noch ein: Den spanischen original Wortlaut der “Deckel“

den hab’ ich zwar im Laufe der Jahre vergessen, aber wo der steht, das weiß ich genau.

Hab’ ihn eben nachgelesen. Ja, das Buch existiert noch.

Irgendwann hat Maarten es von irgendwo mitgebracht dieses

«;LARGA TODO!» «LEINEN LOS!»

Dem bliebe nichts hinzuzufügen.

Liebe Amelie! DREI

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