Читать книгу Weihnachtliche Begegnungen - Marianne Brugger - Страница 4
Der zündende Funke
ОглавлениеAn einem der Abende im Advent, derer es schon so viele für sie gegeben hatte, saß Hanne in ihrem alten verschlissenen Lehnstuhl und sah versonnen dem züngelnden Feuer im Kamin zu. Die Flammen fraßen sich in die grob gespaltenen Holzscheite. Ab und zu barst ein Scheit mit einem lauten Knall, oder ein kleiner, vom Feuer abgespalteter Holzspan verfing sich nach einem kurzen, zischenden Flug am schwarzen Kamingitter. Hanne fühlte sich wohl, genoss die Stille und die behagliche Wärme des Feuers. Einen Augenblick lang war sie mit ihren Gedanken ganz im Hier und Jetzt, bis der Gedanke an Weihnachten sie jäh aus diesem tiefen Frieden riss.
Weihnachten! Ihre Tochter Liane hatte sie, wie schon die Jahre zuvor, eingeladen, das Weihnachtsfest mit ihrer Familie zu verbringen. Hanne war die Halbherzigkeit, mit der die Einladung ausgesprochen worden war, nicht entgangen. Es stimmte ja: Entspannt und fröhlich war die Atmosphäre beim letzten Weihnachtsfest nicht gewesen. Eigentlich verständlich. Ihre Enkel waren längst aus dem Alter heraus, in dem man mit Begeisterung alte Weihnachtsweisen anstimmte und mit leuchtenden Augen den Christbaum bestaunte. Wahrscheinlich feierten die Kinder das Weihnachtsfest nur ihr zuliebe so wie in vergangenen Tagen, mutmaßte Hanne. Ja, Weihnachten, schon oft hatte das Fest nicht gehalten, was es zu versprechen schien.
Hanne schloss die Augen und dachte an das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. So genau und klar sah sie alles vor sich, als wäre es gestern gewesen. Sie sah die junge Hanne, sah ihre erste Bleibe nach dem Krieg, wie man ihr, der Mutter mit drei Kindern, ein kleines Zimmer zuwies, das mit zwei Betten, dem kleinen Kohleofen in der Ecke und dem großen Bauernschrank gänzlich ausgefüllt war. Verschämt stand die Bauersfrau vor ihr, in der Hand einen alten Topf und einen Wasserkessel.
„Vielleicht können Sie das gebrauchen?“
Hanne begriff diese Frage als Aufforderung, der Küche fernzubleiben, und bereitete fortan ihr karges Mahl auf dem Kohleofen zu.
Öd und unwirtlich erschien ihr der Landstrich mit seinen vom Ostwind geduckten Bäumen, herb der Menschenschlag. Seit einer Woche wohnten sie nun schon auf dem abgelegenen Bauernhof am Rande der Albhochfläche.
„Sie werden es gut bei der Familie haben, 's sind Christenmenschen“,
hatte der Bürgermeister des nächstgelegenen Dorfes gemeint.
„Einquartierung?“
Mehr empört als fragend hatte der Bauer geklungen, nachdem der Bürgermeister sein Anliegen vorgebracht hatte. Die unfreiwilligen Herbergsleute hatten schon vor Ankunft der Flüchtlinge sehr beengt gewohnt. Zusammen mit der alten Mutter und einer unverheirateten Schwester bewohnten sie mit den vier jüngsten ihrer Kinder einen jener Bauernhöfe, die typisch für die Gegend waren. Der an das Wohnhaus angebaute Stall war um etliches geräumiger als das Wohnhaus selbst. Wie anders war da ihr eigenes Haus in Schlesien gewesen, um wie viel reicher der Boden.
Schon seit Wochen graute der jungen Frau vor Weihnachten. War ihr angst und bang vor dem Tag, an dem sie mit leeren Händen vor ihren Kindern würde stehen müssen. Vergebens hatte sie für die Weihnachtstage auf eine Sonderzuteilung von Lebensmitteln gehofft. Und nun war er da, der Heilige Abend, der eigentlich keiner war. Schon morgens erklärte sie ihren Kindern:
„Das Christkind kann heuer leider nicht zu uns kommen, es muss sich erst mal um die vielen Menschen kümmern, die immer noch kein Dach über dem Kopf haben. Es muss nach den Flüchtlingen sehen, deren Ochsengespann auf der Flucht liegengeblieben ist, und ihnen warme Decken und etwas zu essen bringen. Aber das macht nichts“, versuchte sie ihre Kinder aufzumuntern. „Wir feiern Weihnachten nächstes Jahr am Heiligen Abend nach. Dann freuen wir uns doppelt und dreifach, wenn das Christkind wieder zu uns kommt.“
Entschlossen schenkten sie dem Tag keine Aufmerksamkeit, außer dass sie alle Jesus Christus für ihr Leben dankten und dafür, dass er sie so wohlbehalten hierher gebracht hatte. Sie tat, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Entsprechend verhielten sich die Kinder: Sie stritten sich andauernd und lärmten furchtbar in dem kleinen Zimmer. Vergebens versuchte Hanne, sie zur Räson zu bringen. Die Kinder, die sonst immer so vernünftig und folgsam waren und sie nur wissend ansahen, wenn sie ihnen abends nur einen kleinen Batzen, aus Schneewasser und Mehl geformt, zu essen geben konnte. Ja, Schnee, davon gab es hier reichlich. Schon den ganzen Tag verdeckte das Schneegestöber die Sicht auf die weite Flur und das dahinterliegende Dorf. Schon den ganzen Tag blies der Wind so heftig, dass sie ihre Kinder mit ihren dünnen, verschlissenen Jacken nicht vor die Tür schicken konnte.
Der Wind legte sich erst am späten Nachmittag. Langsam, fast unmerklich, senkte sich die Nacht über den kleinen Weiler. Jetzt, da es draußen stiller wurde, meinte sie die Streitereien der Kinder nicht mehr ertragen zu können. In dem Bewusstsein, sie um den Heiligen Abend betrogen zu haben, floh sie ins Freie.
Draußen war es nun nahezu windstill, hell und klar die Nacht. Das Mondlicht brach sich im Schnee, verklärte die sonst so karge Landschaft. Hannes Blick schweifte zurück zum Haus und blieb an der Stalltür hängen. Einem Impuls folgend ging sie auf das verwitterte Holztor zu, zog den schweren Riegel zurück, und zwängte sich durch den schmalen Spalt.
Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel, nahmen die vom Mondlicht beleuchteten Schatten Gestalt an. Unbeeindruckt von der stillen Besucherin kauten die Kühe friedlich weiter, nur der Ackergaul stampfte leicht. Hanne ging zu dem Pferd, tätschelte dessen Hals. Max hatte es nicht gern gesehen, wenn sie den Arbeitstieren zu viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er hatte auch die Kinder mit fester Hand geführt. Wie immer, wenn sie in letzter Zeit an Max dachte, schnürte es ihr den Hals zu, kroch ihr die Angst den Rücken hinauf. Zu lange schon hatte sie nichts mehr von ihm gehört, und sie wusste nicht, ob er überhaupt noch am Leben war. Zwar war durch den harten Alltag die große Liebe, die sie einst füreinander empfunden hatten, längst aufgezehrt. Aber das Bewusstsein, ihn an ihrer Seite zu haben, hatte ihr Sicherheit gegeben – seltsamerweise auch während der Wirren der Kriegsjahre, als er längst schon an der Ostfront kämpfte.
Jetzt, da sie allein war, gestattete sie sich das Weinen, fiel die bleierne Starre, die sie den ganzen Tag auf den Beinen gehalten hatte, von ihr ab. Von Weinkrämpfen geschüttelt, hörte sie nicht, wie die Stalltür leise geöffnet wurde. Als sich die schwere Hand des Bauern auf ihre Schulter legte, schrak sie auf. Berührt von ihren offenbarten Gefühlen, vermied er es trotz der schützenden Dunkelheit, sie anzusehen und brachte unbeholfen, mit ungewöhnlich hoher Stimme, sein Anliegen vor.
„Meine Frau hat mich geschickt. Ich soll Sie mit den Kindern zu uns in die Stube holen. Essen ist heut’ genug für alle da.“
Stumm, lediglich zustimmend nickend, war Hanne der Einladung gefolgt. Sie hatte ihre Kinder an die Hand genommen und in die warme, matt beleuchtete Stube geführt. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, rückten die Bauernkinder zusammen, schafften für Hannes Kinder Platz auf der Holzbank. Hanne wurde ein Stuhl zugewiesen. Um den Tag angemessen zu würdigen, hatte man ein weißes, besticktes Tischtuch aufgelegt und mit dem guten Geschirr gedeckt. Ein kleiner Tannenbaum, geschmückt mit wenigen Glaskugeln und bereits abgegriffenem Lametta, zierte die Ecke bei der Ofenbank.
„Heuer langt’s nicht zum richtigen Weihnachtsessen, wir müssen zufrieden sein mit dem Fleischeintopf“,
gab die Bauersfrau den Gästen lächelnd zu verstehen und teilte reihum die dampfenden, randvoll gefüllten Teller aus. So wohl wie an diesem Abend in der warmen Stube bei den Quartiersleuten hatte sich Hanne schon lange nicht mehr gefühlt. Auch die Kinder genossen das gute Essen und die entspannte Atmosphäre bei Tisch. Nur die Ähne, die unverheiratete Schwester des Bauern, lauschte unbeteiligt den Gesprächen, wo viel von „früher“ und „bei uns“ die Rede war. Doch trotz all der Erinnerungen – Hanne war gern der Aufforderung nachgekommen, von ihrer Heimat zu erzählen – kam keine Schwere und Wehmut auf. Die liebevolle Aufmerksamkeit der Bäuerin ließ sie einen Abend lang ihre schlimmen Befürchtungen vergessen.
Ein Windstoß, der in den Kamin fuhr und das Feuer zum Flackern brachte, holte Hanne wieder in die Wirklichkeit zurück. Eine Weile saß sie noch versonnen in ihrem Lehnstuhl, spann den Faden vom Gestern zum Heute. Schon seit Langem fühlte sie sich wohl in der neuen Heimat. Es waren jetzt andere auf der Flucht, auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe. Es waren jetzt andere, die auf sich allein gestellt waren oder sich kein Weihnachtsessen leisten konnten. Mit ihrer reich beringten Hand schlug sie die wärmende Wolldecke, die über ihrem Schoß lag, zurück, stand entschlossen auf und ging zum Telefon. Nun wusste sie, was zu tun war. Sie wusste, wie sie Weihnachten verbringen würde.