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Eine Berlinerin - mit schwäbischem Herzen
ОглавлениеDer Liebe wegen sind schon zu früheren Zeiten Frauen nach Aichschieß gekommen, aber meist haben sich dadurch weder das Umfeld noch die daraus erwachsenden Aufgaben so umfassend geändert wie bei Frau Irene Gläser.
Als die junge, aus einem Berliner Vorort stammende Irene Ellgring im Jahr 1939 von ihrem Mann Robert in Aichschieß als Braut eingeführt wurde, ahnte sie noch nicht, dass der damals ca. 400 Seelen zählende Ort einmal ihr Lebens- und Wirkungskreis werden würde. Doch schon damals gefiel ihr das hübsche, trauliche Dorf ausgesprochen gut. Nicht nur die riesigen Kastanienbäume vor der Kirche, auch die Kandeln (Straßenrinnen), die nicht nur Regen, sondern ab und an auch Spätzlewasser führten, sowie die schöne Landschaft zogen sie in ihren Bann. Auch das bäuerliche Leben und die fremdartigen Sitten und Gebräuche begeisterten sie. Selbst das stündliche Glockenläuten ist ihr in guter Erinnerung, obwohl sie dadurch – das Haus ihrer Schwiegereltern befand sich direkt unterhalb der Kirche – des Öfteren aus dem Schlaf gerissen wurde.
Das Zimmer, das sie damals bei den Schwiegereltern zugewiesen bekam, war der Sitte entsprechend fernab von den Männergemächern. Noch heute vermag sie dem angenehm süßlichen Duft ihres Schlafraums nachzuspüren, den die mit Dörrobst gefüllten Säcke dauerhaft verströmten. Auch hat sie den Fronmeister noch vor Augen, der durchs Dorf ging und rief: „Morga wird g´fraunat!“ (gefront). Auf Nachfrage erklärte man ihr, dass jeder arbeitsfähige männliche Einwohner verpflichtet sei, für die Gemeinde kostenlose Hand- und Spanndienste zu leisten. Das hieß für den Einzelnen entweder ein Fuhrwerk zur Verfügung zu stellen, oder Hand an allgemeine Arbeiten, wie z.B. die Ausbesserung von Feldwegen, zu legen. Nach dem Bau des Aichschießer Gewerbegebiets wurde diese Verordnung nicht mehr zur Anwendung gebracht, da solche Arbeiten nun, infolge der zu entrichtenden Gewerbesteuer, gegen Lohn vergeben werden konnten.
Obwohl als Städterin an das Landleben nicht gewöhnt, half sie bei allen landwirtschaftlichen Arbeiten, besonders gerne aber beim Beerenpflücken. Auch während des Krieges war sie fleißig bei der Beerenernte dabei und opferte dafür sogar ihren kostbaren Urlaub.
Irene Ellgring, später Gläser
An den 12.12.1937, den Tag, als sie ihrem Robert zum ersten Mal begegnete, erinnert sich Irene Gläser gern. Sie lernte den jungen Unteroffizier in Fliegeruniform in einem Tanzlokal beim Flugplatz Berlin-Fürstenwalde kennen. Sie, die fesche 18-jährige technische Angestellte, war gleich von zweien zum Englischen Walzer aufgefordert worden. Dass sie dem Schwaben den Vorzug gab, bereute sie nie. War es Zufall oder Bestimmung? Manchen mag es zu gefühlsbetont anmuten: Just als das junge Paar die Tanzfläche betrat, wurde der Schlager „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ aufgespielt. Das Resultat dieses ersten Treffens ist bekannt: Verlobung im Jahr 1939, 1941 die Hochzeit, Geburt der Tochter Gabriele im Jahr 1944 und 1947 die des Sohnes Martin.
In späterer Zeit beim Tanz
Über verschlungene Wege – sie wohnte in der russisch besetzten Zone von Berlin – erhielt sie im August 1945 die Nachricht, dass ihr Mann aus der englischen Internierung entlassen worden war und sich bei ihren Schwiegereltern in Aichschieß befand. Sofort machte sie sich, zusammen mit ihrem Vater, auf den Weg, zu Fuß, die einjährige Tochter im Kinderwagen. Nach sieben gefahrvollen Tagen, erschöpft, aber zum Glück unbeschadet, erreichte sie völlig entkräftet den künftigen Wohnort.
Übermäßig erfreut über die weiteren Esser am Tisch waren die Schwiegereltern nicht, krank und ausgehungert wie die beiden waren. Auch schrie die Kleine viel, schrie die erlebte Not und Entbehrung aus ihren Lungen.
Trotz leichter gesundheitlicher Probleme half die junge Frau im nachfolgenden Frühjahr bei allen in der Landwirtschaft anfallenden Arbeiten aus.
Bei Engpässen halfen Gläsers selbst später noch aus
Die Aichschießer nahmen Irene Gläser überaus freundlich auf, wohl auch, weil sie die Frau ihres geschätzten Robert war, dessen spontane Einfälle schon in seinen jungen Jahren für manches Aufsehen gesorgt hatten. So war er mehrere Male mit seiner „Ju“ so tief über den Heimatort geflogen, dass „die Milch sauer wurde“ und seine Eltern beinahe buchstäblich vom Kirschbaum gefallen wären.
Des Schwäbischen nicht mächtig, war sie des Öfteren auf die Übersetzerdienste ihrer Schwiegermutter angewiesen. Da diese vor ihrer Heirat als Köchin beim Prälaten in Stuttgart in Stellung gewesen war, sprach sie einen gepflegten, verständlichen Dialekt. Unverständlich war für die Berlinerin am Anfang nicht nur die Aussprache, sondern auch der Sprachgebrauch, doch mit der Zeit lernte sie verstehen, dass halten – „heben“, anheben – „lupfen“, gehen – „laufen“... bedeutete.
Manches blieb unausgesprochen, konnte nicht nachvollzogen werden. Als ihre Schwiegermutter sie einmal aufforderte: „Erzähl doch mal, wie es euch in Berlin ergangen ist!“ und sie antwortete: „Ach, das kann ich gar nicht erzählen, das war so furchtbar“, meinte diese: „Denkst du, wir haben nichts durchgemacht? Mir haben die Franzosen auch vier Hühner erschossen.“
Irene Gläser, aufgenommen im Jahr 1946
1946 wurde Robert Gläser Bürgermeister, 1947 seine Frau Irene seine Sekretärin. Nun zogen sie an einem Strang, beruflich wie privat. Die Gespräche griffen über, auch bei Tisch wurde „erörtert“. So wusste die Sekretärin Bescheid und konnte auch Entscheidungen während der Abwesenheit ihres Mannes treffen – zwar rechtlich nicht bindend, aber doch manches auf unbürokratische Weise voranbringend.
Bereits als Neuling in Amt und Würden wusste ihr Mann mit dem hiesigen Menschenschlag umzugehen und entwickelte schon nach kurzer Zeit eine gewisse Beharrlichkeit. So hatte der Architekt Kallhardt, der bereits das Schanbacher Rathaus geplant hatte, seine Bitte, doch auch den Auftrag für das Aichschießer Rathaus zu übernehmen, abschlägig beschieden. Nach der Währungsreform suchte Robert Gläser den Architekten mit einer Flasche besten Kirschgeistes im Arm nochmals auf, und konnte nach der gemeinschaftlichen Dezimierung des Inhalts derselben doch noch einen Erfolg verbuchen.
Viele große Aufgaben standen in der Nachkriegszeit an, die dank des gesunden Eichenbestands im Gemeindewald finanziert werden konnten. Die Hauptstraße, die bei den Einheimischen aufgrund ihres Zustandes „Schweizerkässtraße“ genannt wurde, musste saniert werden. Der Bau eines „Leichenhäusles“ wurde zwingend notwendig, da die Überbelegung in den Häusern – die ehemals ca. 430 Aichschießer Bürger hatten über 200 Zuwanderer aus den Ostgebieten aufnehmen müssen – es nicht zuließ, die Toten wie gewohnt in den Häusern aufzubahren. Der Bau des Rathauses, der Schule und der Flüchtlingssiedlung mussten auf den Weg gebracht werden.
Doch trotz des abverlangten hohen Arbeitseinsatzes im Amt fiel die Entlohnung mager aus. Als „ungelernter“ Bürgermeister erhielt Robert Gläser in den ersten Jahren lediglich 137,50 RM, später dann stolze 200 DM. Auch seine Frau Irene musste sich mit wenig begnügen. Zu ihrem Monatslohn von 60 DM kam nach dem Rathausneubau eine Vergütung fürs Putzen desselben in Höhe von 27 DM hinzu. „Genau genommen waren wir bitterarm damals“, erinnert sie sich, „aber die Arbeit haben wir trotzdem mit Freude gemacht“.
Da alle drei Aichwalder Bürgermeister nicht als solche ausgebildet, sondern „Bauernschultes“ waren, wurde ihnen in finanziellen Angelegenheiten ein Verwaltungsaktuar beigestellt. Irene Gläser führt dazu in ihren privaten Erinnerungen aus: „Dieser (der Verwaltungsaktuar) kam in unregelmäßigen Abständen mit seinen Gehilfen vom Landratsamt und hielt die Rechnungsakten auf dem Laufenden, stellte mit dem Bürgermeister den Haushaltsplan auf, beriet ihn, und die Gehilfen saßen derweilen da und machten die Eintragungen der Rechnungsbelege in das geheiligte Sachbuch...“ Später, als der pensionierte Bürgermeister Hahn aus Esslingen den Posten des Aktuars ausfüllte, brachte dieser dem Ehepaar Gläser die Grundzüge der kameralistischen Buchführung bei, so dass sie mehr und mehr Aufgaben eigenständig erledigen konnten.
Ihr Mann Robert war, wie Irene Gläser es ausdrückt, ein Mann, der mit dem Volke sprach und den hiesigen Sprachgebrauch zeitlebens hochhielt. Gar manches Mal bedauerte er, dass er sich die deftigen Aussprüche, die früher hier üblich waren und in den alten Sühnebüchern nachzulesen sind, nicht leisten konnte. Auch hier hält Irene Gläser fest: „Da wimmelt es nur so von Liebkosungen wie: Du bist der allerliedrigschte Lomp vom ganzen Oberamt; da wird vom Schullehrer gesprochen: Du versoffener Lomp; Scherenschleifer, Lausbua, Bettsaicher, Hurabua, Schindmäre...
Auch der Vater von Robert Gläser musste sich einmal vor dem Sühnerichter, dem Aichschießer Schultheiss Kissling, verantworten. Eine Frau hatte ihn angezeigt, weil er gesagt habe „sie sei ein faules Mensch“. Sein Vater bestritt dies energisch, er habe nur gesagt, „sie solle machen, dass sie ihren faulen Arsch nore bringt.“
Im Schreiben hatte sich Irene Gläser früh geübt. Einige Beiträge, die sie als junges Schulmädchen geschrieben hatte, wurden veröffentlicht; einer davon ist in einem Heimatbuch zu finden. Später beschrieb sie sehr eindrücklich die verschiedenen Vorkommnisse und Erlebnisse von und mit dem „Schultes“ Gläser und hielt Geschichtliches für das Aichschießer Heimatbuch fest.
Nicht festgehalten hat sie bislang jene Momente, die ihr das Gefühl vermittelten, durch Unwissenheit ins Fettnäpfchen getreten zu sein. So legte sie einmal als frischgebackene Bürgermeistersekretärin einen Botengang nach Krummhardt auf einen Sonntagmorgen, da die Arbeit es ihr nicht erlaubt hatte, wochentags dieser Pflicht nachzukommen. Nichts ahnend von den hier teilweise gebräuchlichen sonntäglichen Sitten, klopfte sie bei dem Briefempfänger an und traf, als die Tür geöffnet wurde, auf eine große Familie, die sich um einen langen Tisch zur sonntäglichen Andacht versammelt hatte.
Der in der Gemeinde Aichschieß-Krummhardt vorherrschende Lebensstil war damals – durch die Not bedingt – einfach und meist von einer Frömmigkeit geprägt, die kein Abweichen von der Norm zuließ. In vielen Häusern war als alleiniges Buch die Bibel vorhanden. Vor dem zweiten Weltkrieg war man in der Gemeinde Aichschieß - Krummhardt evangelisch, man hatte lediglich einen einzigen Katholiken aufzuweisen. Spaßeshalber hatte dieser mehrmals auf Gleichstellung mit seinen Glaubensbrüdern und daher auf dem Bau einer Kirche bestanden, mit dieser Forderung aber immer nur gut gemeintes Gelächter geerntet. Doch durch die Flüchtlinge und die späteren Neubürger änderte sich die Situation. Irene Gläser betont heute noch mit Stolz, dass alle Kirchengemeinden, die in Aichschieß nach dem Krieg eine Kirche bauten, von der Gemeinde gleichermaßen mit Zuwendungen bedacht wurden.
Im Rückblick drängen sich Frau Gläser auch Erinnerungen profanerer Art auf:
Das Bad auf der Tenne inmitten des Kuhstalls. Die ehrliche Verwunderung des Schwiegervaters über das vierzehntägliche Baden der jungen Familie Gläser: „Ihr müsst schön dreckig sein, wenn ihr dauernd baden müsst.“
Und dann im Jahr 1949: Die erste eigene Wohnung und das erste eigene Badezimmer im neu erbauten Rathaus, das in Ermangelung eines eigenen zum Schauobjekt vieler Neugieriger wurde.
Nicht vergessen ist auch das Waschen der Schmutzwäsche auf der Straße. Wie früher in Aichschieß oftmals üblich, wusch auch sie bei gutem Wetter die Wäsche im Freien vor dem Haus der Schwiegereltern. In der kälteren Jahreszeit verlegte die Familie Gläser den Waschtag in den hinteren Teil des Stalls. Mit der Fertigstellung des Rathauses wurde das Waschen für sie und viele Aichschießer Frauen komfortabler. Da der dort befindliche öffentliche Waschraum die hierfür benötigte Wanne, einen großen Tisch und auch eine Waschkesselanlage enthielt, entfiel – neben der Raumnot – das Transportieren dieser Gerätschaften zum jeweiligen Waschplatz.
Auch für die Flüchtlingsfrauen, die sich beim Waschen oftmals mit einem großen Topf auf dem Kohleofen hatten behelfen müssen, war der für jedermann zugängliche Waschraum eine große Erleichterung. Die im Jahr 1950 probeweise aufgestellte „Waschmaschine“ mit sich drehendem Flügelrad erfreute sich großen Zuspruchs, so dass die Gemeindeverwaltung bereits nach kurzer Zeit beschloss, diese käuflich zu erwerben.
Selbst die neue Volksschule, eingeweiht im Jahr 1952, brachte nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Erwachsenen Neuerungen mit sich, da sie neben den Unterrichtsräumen die öffentlichen Wannen- und Brausebäder beherbergte. Viele Aichschießer gönnten sich fortan den Luxus eines komfortablen Voll- oder Duschbads im Schulhaus. Für das moderne Badevergnügen war nur eine geringe Gebühr zu entrichten: ein Wannenbad kostete achtzig und das Brausebad lediglich vierzig Pfennige.
Alles, was man zu tun und lassen hatte, war in der Nachkriegszeit noch genauestens festgelegt; auch das Zusammenleben der Geschlechter war ein anderes. Irene Gläser war von einigen Reglements ausgenommen. So war es zu jener Zeit üblich, dass nach den öffentlichen Gemeinderatssitzungen, während derer „amtlich verhalten“ diskutiert wurde, noch eine Nachsitzung im Rössle stattfand, bei der das Besprochene noch einmal heftig nachdiskutiert wurde. Dabei wurde nicht nur geduldet, dass die als Protokollführerin fungierende Sekretärin an den „Nachsitzungen“ teilnahm, sondern auch, dass sie, gleichwohl der anwesenden Diskutanten, ein alkoholisches Getränk zu sich nahm. Als sich jedoch einmal eine Aichschießer Bürgerin dazu überreden ließ, sie bei einem solchen Gang ins Rössle zu begleiten, löste dies bei deren Ehemann große Missbilligung und sieben Tage Schweigen aus. Da half auch nicht, dass sich die heftig von ihrem Mann gescholtene Frau darüber beschwerte, dass es Frau Gläser ja auch erlaubt sei, in eine Gaststätte zu gehen. Die Antwort des erbosten Ehemannes, eine Frau habe in der Wirtschaft nichts zu suchen – bei Frau Gläser sei das ein anderer Fall, da sie von der Stadt käme – entsprach der allgemeinen Auffassung.
Bei der Bürgermeistergattin wurde auch respektiert, dass sie auf ein gepflegtes Äußeres Wert legte und dies durch Lippenstift und rot lackierte Fingernägel unterstrich. Zwar rügte ein Gemeinderat einmal: „Du Irene, deine route Fengernägel g´fallet mir aber gar net“, doch mit ihrer schlagfertigen Antwort: „Mir deine schwarzen auch nicht“ war dies abgetan.
Robert und Irene Gläser in festlicher Kleidung
Das Gefälle zwischen Stadt und Land war damals viel ausgeprägter als heutzutage. Nicht nur durch Sitten und Kleidung unterschied man sich. So hielt mancher Städter erstaunt sein Auto an, wenn er die Tochter der Familie Gläser beim „Ausschellen“ antraf. Mit Hilfe der Schelle (Glocke) verschaffte sich das Mädchen Gehör und vermeldete mit lauter Stimme die neuesten Ortsnachrichten. Die Gläser-Sprösslinge – nach der Tochter Gabriele übernahm für kurze Zeit ihr Bruder diesen Dienst – hatten das Ausschellen von dem zu einem Aichschießer Original mutierten Büttel Johannes Trautwein übernommen. Von ihm ist überliefert, dass er einmal – sein „Schellgang“ hatte ihn über die Aichschießer Wirtschaften geführt – bei der Station Waldeck Schwierigkeiten hatte, die Nachrichten ordnungsgemäß zu verkünden. Nach dreimaligem, nicht zum Erfolg führenden Anlauf, „hicks“, vermeldete er: „Le-lecket me am Arsch, i komm morga wiedr!“
Solcherlei Verhalten wurde bei dienstbeflissenen Amtspersonen durchaus geduldet. Bei der Erinnerung an solche Begebenheiten schmunzelt Frau Gläser heute noch; haben ihr doch auch jene Begebenheiten sowie das Tun und Lassen der „Schurwälder Originale“ das Leben auf dem Schurwald nicht nur lebens-, sondern auch liebenswert gemacht.
Der außergewöhnliche Humor von Bürgermeister Gläser ist sprichwörtlich. Seine Frau Irene stand ihm diesbezüglich nicht nach und verschaffte sich mit ihrer allseits bekannten Berliner Schlagfertigkeit Respekt. So trat ihr ein Krummhardter Gemeinderat anfangs mit großer Skepsis entgegen und verhehlte seine Gesinnung nicht, als er zu ihr sagte: „Du Berlinerin, du bisch ja bloß a Uffpfropfte“. Mit ihrer Berliner Schlagfertigkeit ausgestattet, konterte sie sofort: „Tatsächlich hab’ ich hier schon gelernt, dass man nur ein edles Reis auf einen minderwertigen Stamm aufpfropft“. Von Stund an änderte sich die Gesinnung dieses Gemeinderats der „Berlinerin“ gegenüber grundlegend.
Einfach war die gemeinsame Dienstzeit nicht immer. Als Ehefrau hatte sie auch belastende Umstände und amtliche Entscheidungen mit zu tragen, litt mit bei Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen von „Amts wegen“. Schwer war für das Ehepaar Gläser die Zeit, als über die „Hoss-Pläne“ und die Gemeindereform äußerst kontrovers diskutiert wurde. Nicht nur die Auseinandersetzungen, auch die daraus resultierenden Intrigen, machten dem Bürgermeisterehepaar gleichermaßen zu schaffen. Ebenfalls krisenreich und wohl am meisten belastend war für beide jedoch die Zeit, als Robert Gläser sich für den jetzigen Standort der Aichwalder Grund- und Hauptschule einsetzte. Wenn schon nicht im „oigene Flecka“, hätte sie nach der in Aichschieß vorherrschenden Meinung zwischen Aichschieß und Schanbach, also „näher dra“ gebaut werden sollen.
Auch das so enge Zusammenleben im Amt und zu Hause war nicht immer einfach. Trotzdem möchte sie diese Zeit nicht missen, weder beruflich noch privat. Nach eigenem Bekunden war sie trotz mancher misslicher Umstände „glücklich und zufrieden mit meinem Robert bis zum Schluss.“ Dankbar ist sie ihrem Robert auch dafür, dass er nicht nur ihre Person, sondern auch ihre Meinung schätzte.
Ihre Aufgaben als Sekretärin und Gattin gingen des Öfteren ineinander über. Zeitlebens stand sie nicht nur als Gattin, sondern auch als Sekretärin trotz mancher „innerbetrieblicher Kontroversen“ voll hinter ihrem Robert. So war dieser wieder einmal mit dem Gemeindepfleger geschäftlich beim Küfer in Schnait gewesen, damals einer der zuverlässigen Abnehmer der starken „Aichschießer Eichen“. Dem besonderen Geschäftsgebaren beim Holzhandel nicht abgeneigt, hatten sowohl der Bürgermeister als auch sein Gemeindepfleger ordentlich dem dargebotenen Wein zugesprochen. In ihrer Rolle als treu sorgende Gattin ließ Irene Gläser beide Verhandlungspartner, der späten Rückkehr entsprechend, nicht nur ausschlafen, sondern verteidigte sie in ihrer Funktion als Sekretärin auch gegenüber dem Verwaltungsaktuar, der – unangemeldet – ebendiese Amtspersonen zu sprechen wünschte. Ihr entschiedenes Auftreten und die Drohung, ihm künftig keinen Kaffee mehr anzubieten, verhinderten, dass er den Tatbestand des „Spätschlafes“ ins Amtsprotokoll aufnahm.
Die Sekretärin waltet ihres Amtes
Die späte Verwirklichung ihres Jungmädchentraums – gerne wäre sie Reiseleiterin geworden – konnte Irene Gläser mit ehrenamtlichem Engagement verknüpfen. Weil sie älteren Mitbürgern ein wenig Abwechslung bieten und kostengünstiges Reisen ermöglichen wollte, organisierte sie ab Mitte der sechziger Jahre Ausflugsfahrten für Senioren. Um die Seniorenreisen weit möglichst erschwinglich zu gestalten, übernahm Frau Gläser, wie sie betont, zu ihrer eigenen Freude, nahezu fünfundzwanzig Jahre lang die Planung, Organisation und Reiseleitung derselben. Ihr Mann Robert stand ihr, wenn nötig, mit Rat und Tat beiseite. Vor allem stellte er sich – öffentliche Reden überließ sie mehr als gerne ihrem Mann – als „Sprachrohr“ zur Verfügung.
Aufgrund des hohen Alters einiger Mitreisender – ein Herr aus Schanbach war sechsundneunzig Jahre alt – standen mitunter auch außergewöhnliche Aufgaben an. Neben dem Begleitdienst zum Krankenhaus oder zu Ärzten war Frau Gläser beispielsweise bei der Suche nach einem verlorenen Gebiss und bei anderen Reisewidrigkeiten behilflich. Zwar wurde das Ehepaar Gläser bei den Ausflügen kostenfrei gehalten, sie hatten aber zuvor alle Reiseziele auf eigene Kosten abgefahren und erwandert. Um Zeit und Kosten zu sparen, verfuhr Frau Gläser nach dem Beispiel des Obst- und Gartenbauvereins und ließ neben Tischen und Bänken auch Verpflegung und Getränke mitnehmen. Frohgelaunt standen oder saßen die Reisenden nun mittags im „Grünen“ an einer langen, mit einem weißen Tischtuch gedeckten Tafel und ließen sich die mitgebrachten Getränke und das vorbereitete Vesper munden. Die Ausflüge, die als so genannte Kaffeefahrten begannen, wurden wunschgemäß immer weiter ausgebaut, bis hin zu einer vierzehntägigen Reise nach Mallorca.
Obwohl Schanbach im Jahr 1967 einen „gelernten Schultes“, Herrn Bürgermeister Peter Kuhn, bekam, wurde infolge der zunehmenden Verwaltungsaufgaben für die Gemeinden Aichelberg und Aichschieß die Einsetzung eines hauptamtlichen Fachbeamten erforderlich. Für diesen Posten hatte sich Herr Heinz Dreher beworben. Irene Gläser erinnert sich noch gut an den 7. Juli 1969, den Tag, als dieser seinen Dienst antreten sollte. Über Telefon erhielten sie die Nachricht, dass Herr Dreher am vorausgegangenen Wochenende im Walsertal abgestürzt und tödlich verunglückt sei.
An seiner statt kam der junge Inspektor Richard Hohler nach Aichschieß und verwaltete – bis zu seiner Wahl zum Bürgermeister der neu gegründeten Gemeinde Aichwald am 1.10.1974 – als Amtmann die Gemeinden Aichschieß und Aichelberg. Nach Gründung der Gemeinde Aichwald und der Einsetzung von Herrn Hohler zum Bürgermeister, waren die drei ehemaligen „Schultes“ weiterhin als Amtsverweser für ihre Gemeinden tätig.
Nicht nur Frau Gläser trat dem neuen Mitarbeiter Hohler mit Wohlwollen gegenüber. Ihrer Meinung nach hatte dieser nur einen Fehler: „Dass er keinen Kaffee mochte und ich meine diesbezüglichen Talente an diesem Rathauskollegen nicht austoben konnte.“
Irene Gläser war noch bis zum Jahr 1977 für die Gemeinde Aichschieß als Sekretärin tätig; sie war ein Jahr länger als ihr Mann im Amt.
Aufgenommen anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit
Heute, nach dem Tod ihres Mannes Robert im Jahr 1998, lebt sie zurückgezogen in ihrem Haus in Aichschieß. Sie genießt den großen Garten, den sie großteils noch selbst bearbeitet und erinnert sich gern an die Zeit, als Aichschieß noch fernab vom städtischen Leben war und neben seiner Beschaulichkeit einige unvergessliche schwäbische Originale aufzuweisen hatte.
Anmerkung: Irene Gläser verstarb am 20. Dezember 2009