Читать книгу Simple Wahrheiten und warum ihnen nicht zu trauen ist - Marianne Gronemeyer - Страница 9
Wachstum schafft Arbeit
Оглавление„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder … Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heilig gesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott … haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht.“1
Wer diesen Text heute in prekärer Lage, also von Arbeitslosigkeit bedroht oder betroffen, liest, der wird ihn frivol oder zynisch finden. Als ob, was verzweifelte Angewiesenheit ist, nur eine verirrte Neigung, eine fehlgeleitete Begierde, kurz eine ‚seltsame Sucht‘ sei. Als sei das die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise der Arbeit, dass wir so verteufelt vernarrt in sie sind, dass wir so versessen darauf sind, Arbeit zu verrichten, statt dem edlen Müßiggang zu frönen; und als sei die Arbeit nur deshalb so knapp, weil sich alle so nach ihr drängeln. Dabei wird, andererseits, den Arbeitsuchenden von den modernen Zynikern ganz anderes eingeschärft: „Wer Arbeit will, der kriegt auch welche.“ Was nun also: Ist die Mehrheit der modernen Lohnsklaven arbeitssüchtig oder arbeitsscheu?
Aber ist Lafargue (Sozialist und Marx’ Schwiegersohn) denn wirklich ein Zyniker? Oder können wir mit seiner Hilfe einige der unumstößlichen Satzwahrheiten in Frage stellen, welche uns tagtäglich als die Quintessenz der ökonomischen Vernunft eingebläut werden? – Einer besonderen Abteilung von Vernunft übrigens, die sich im allgemeinen Bewusstsein längst als die Vernunft schlechthin etabliert hat. Was sind das für Doktrinen, die, allen Ungereimtheiten zum Trotz, allen so selbstverständlich gültig erscheinen, dass niemand mehr Anstoß daran nimmt?
Die Glücksversprechen, mit denen die so genannte ökonomische Vernunft aufwartet, sind im Wesentlichen auf sechs ziemlich dreiste Behauptungen gegründet:
1 Es ist zuerst die Behauptung, dass Arbeit verehrungswürdig, weil heilig sei.
2 Dann das Versprechen, dass Wachstum Arbeit schaffe.
3 Drittens, dass nur Innovation unsere Lage verbessern könne, weil sie Wachstum fördere und folglich Arbeit schaffe.
4 Viertens, dass Wachstum und Innovation der Königsweg in die ungeahnten Möglichkeiten einer offenen Zukunft seien.
5 Fünftens, dass die Verschärfung der Konkurrenz dazu führen werde, dass sich die Besten und das Beste durchsetzen und dass unsere ‚Eliten‘ nur im Konkurrenzkampf bewährt und gehärtet werden können.
6 Und schließlich sechstens, dass Bildung die Grundlage des ökonomischen Erfolges und deshalb eine ‚Investition in die Zukunft‘ sei.
Die Heiligung der Arbeit
Lafargue sagt der Arbeit nach, sie sei die „Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung“. Das mag in dieser zugespitzten Form ein Spezifikum der Zeit der Frühindustrialisierung gewesen sein, aber gleichwohl ist doch den allermeisten auch heute die Arbeit eine solche Last, dass sie sie von der eigentlichen Lebenszeit als Zeit des Nicht-Lebens abziehen. Das Leben findet außerhalb der Arbeit statt, wenn es denn stattfindet. Und trotzdem steht ‚Arbeit‘ den Umfragen zufolge an der ersten Stelle der Lebenshoffnungen. Was macht die Lohnarbeit so attraktiv, dass niemand auf die Idee verfällt, sie zu ächten, wie man einst die Sklavenarbeit ächtete, nicht einmal die, die sich abrackern, um ein karges Entgelt als Tausch für ihre verlorene Lebenszeit einzuhandeln, und noch weniger die, denen der Zugang zur Arbeit überhaupt verweigert wird? Niemand würde es wagen, auf die Arbeit zu pfeifen. Denn sie ist heutzutage nahezu die einzige Möglichkeit, sein Auskommen zu finden. Eigentlich garantiert nur verrichtete Lohnarbeit den Lebensunterhalt. Also könnte man meinen, dass die Verehrung, die die Arbeit genießt, gar nicht ihr selbst gilt, sondern dem Lohn, der dabei abfällt. Das würde aber nicht erklären, warum diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess herausfallen, sich nicht nur materiell geschädigt, sondern vor allem ausgestoßen fühlen, nicht mehr zugehörig. Warum also löst Arbeitslosigkeit solche dramatischen Sinnkrisen aus?
Arbeit ist knapp oder besser: sie ist künstlich verknappt und wird tagtäglich rarer. Man braucht sich nur die mit düsterer Stimme vorgetragenen Nachrichten über Firmenzusammenlegungen und die sie begleitende ‚Freisetzung‘ der Arbeitenden zu Tausenden zu vergegenwärtigen, um diese Tendenz allen anderslautenden Beschwörungen zum Trotz für unumkehrbar zu halten. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der alles, was knapp ist, in höchstem Ansehen steht, während das überreichlich Vorhandene naserümpfend für minderwertig erklärt wird. Das führt zu der perversen Situation, dass die Verehrungswürdigkeit der Arbeit in dem Maße steigt, in dem sie immer knapper wird, obwohl durch diese Verknappung der Arbeits- und Leistungsdruck und die zeitliche Beanspruchung für den einzelnen immer mehr anwachsen, obwohl also moderne Arbeitsverhältnisse immer mehr Ähnlichkeit mit überwunden geglaubter Sklavenhalterschaft annehmen.
Während ich dies schreibe, kommt der lange und ungeduldig erwartete Techniker des Telefon-Störungsdienstes ins Haus, um den Schaden, den ein Blitz angerichtet hat, zu beheben. Er kommt gewissermaßen im Laufschritt. Den ihm angebotenen Kaffee akzeptiert er beinah widerwillig und kippt ihn hastig hinunter, während er schon mit fliegenden Händen die notwendigen Verrichtungen erledigt. Er wirkt geradezu schweißgebadet und macht – das sei zu seiner Ehre gesagt – es dennoch möglich, freundlich zu bleiben, ja uns sogar bei der Diagnose weiterer Schäden zu helfen, die ihn wegen der strikten Auftragsaufteilung und -erteilung gar nichts angehen oder angehen dürfen. Ihm unterläuft bei seiner hastigen Arbeit ein Fehler, den er mit einem nervösen Blick auf die Uhr korrigiert. Sein Kommentar: „Je schneller das gehen muss, desto ineffektiver werde ich.“ Nach Erledigung seines Auftrages hetzt er zu seinem Auto, um weitere Kundenaufträge ‚abzuarbeiten‘. Er ist gewiss ein guter und verständiger Techniker, und ich habe enormen Respekt davor, dass er es sich leistete, sich um unsere Belange zu kümmern, die ihn nur in noch größere zeitliche Bedrängnis brachten. Als er fortfährt, frage ich mich, wie lange der Mittvierziger das noch durchhalten kann, und ich bin gar nicht mehr so sicher, dass die körperliche Zermürbung der Arbeitenden ein Spezifikum der Frühindustrialisierung war. Dennoch wird auch dieser gejagte Techniker in den Chor derer einstimmen, die die Arbeit als das höchste Gut besingen. Denn noch einmal: Je knapper und zugleich zwingender die Arbeit wird, desto heiliger und unantastbarer steht sie da.
Spätestens an diesem Punkt müsste die Frage nach den Profiteuren dieser irrigen Anschauung ins Spiel kommen. Aber so sehr verbindet sich schon jetzt mit dem Besitz eines Arbeitsplatzes die Vorstellung, einer Elite anzugehören, dass sich diese mickerigen Eliten der niederen Ränge hineinphantasieren in die Zugehörigkeit zu den ‚Happy few‘ und deshalb ihre ‚Privilegien‘ mit Zähnen und Klauen gegen die ,Habenichtse‘ verteidigen. Und die wiederum verfügen nicht über so viel Definitionsmacht, dass sie den Spieß einfach umdrehen und daran erinnern könnten, dass in der antiken Gesellschaft überhaupt nur derjenige den Bürgerstatus erwerben, also Ansehen genießen konnte, der nicht zur Verrichtung von schwerer Arbeit genötigt war. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich dies als das neue Selbstbewusstsein der Arbeitslosen durchsetzen würde, statt dass sie beschämt und gedemütigt ein möglichst unauffälliges Schattendasein führen, das Schattendasein der viel zu vielen, die ihrer Vielheit wegen nicht nur nichts wert, sondern eine gesellschaftliche Zumutung sind. Sie wären dann zwar immer noch materiell schlecht dran, aber sie könnten selbstbewusst eine neue kritische Öffentlichkeit begründen, in der sie sogar den im Arbeitsprozess drangsalierten und vollständig erpressbaren Mitbürgern die kritische Stimme der nicht mehr Erpressbaren leihen könnten. Darin könnten sie übrigens von den Alten unterstützt werden, die auch keine Arbeit mehr zu verlieren haben: eine große Koalition der nicht-erpressbaren Nichteinverstandenen.
Ich bin mir vollständig darüber im Klaren, dass ich mir mit diesem Szenario den Vorwurf des Sozialromantizismus einhandele. Also: Mit welchen liebgewordenen Denkgewohnheiten müssten wir noch brechen, um dieser abwegigen Vorstellung zur Glaubwürdigkeit zu verhelfen? Wir müssten uns abgewöhnen, den Arbeitslosen das ihnen vom Noch-Sozialstaat gewährte karge Salär zu missgönnen, wir müssten aufhören, sie ihres Nichtstuns wegen scheel anzusehen. Tatsächlich hätten wir allen Grund, die Nicht-Arbeiter fürstlich zu honorieren2, denn sie schädigen die Gesellschaft bei weitem weniger als diejenigen, die ihre Arbeitskraft in den Dienst des großen ‚Weltverbesserungsprojekts‘ der Moderne stellen, das in Wahrheit unsere Lebensgrundlagen vollständig zerstört. Aber ebenso tatsächlich gehört es natürlich zu den Spielregeln in der modernen Gesellschaft, gerade denjenigen Macht, Autorität und Erfolg zuzuerkennen, die die Gesellschaft am nachhaltigsten schädigen, die den meisten das meiste vorzuenthalten vermögen. Wir müssten also die Verteilung von Schaden und Nutzen neu bedenken.
Schädigend in diesem Sinn sind nicht nur die 220 Reichsten der Welt, die sich den halben Globus unter den Nagel gerissen haben, nicht nur die Tausende von Wissenschaftlern, die ihren Lebenssinn und ihren Ruhm darin suchen, fieberhaft die militärischen Vernichtungspotenziale zu raffinieren; auch nicht nur die ‚exzellenten Köpfe‘ in den Biotechnologien, die die Menschen und alles, was sonst wächst und gedeiht, aller Kreatürlichkeit berauben, um sie zum Rohstoff ihrer hybriden Konstruktionsabsichten zu machen; und auch nicht nur die neuen Zyniker im großen Agrobusiness, die eine Apokalypse des Hungers vorbereiten, indem sie das Saatgut so manipulieren, dass es nach einer Ernte tot, also nicht mehr keimfähig ist und Jahr für Jahr neu gekauft werden muss bei diesen Herren der Erde. Wohlgemerkt, sie alle stehen in hohem gesellschaftlichem Ansehen.
‚Schädlinge‘ sind jedoch auch die Betreiber jener Professionen, die nach wie vor moralisch einen guten Ruf genießen, die Repräsentanten der Dienstleistungsberufe, die heilenden, lehrenden und helfenden Berufe eingeschlossen, die sich schmeicheln, nichts als segensreich zu sein in ihrem Wirken, während sie in Wahrheit eine „entmündigende Expertenherrschaft“ (Ivan Illich) aufrichten, die die Menschen um Verfügungsgewalt über ihre eigenen Belange bringt. Ich muss mich nur in meiner eigenen Lebensgeschichte umsehen, um mich darüber zu entsetzen, wie viele von den Lebens- und Sterbensverrichtungen, die in meiner Kindheit noch ganz selbstverständlich in der Verfügung von jedermann und jederfrau waren – von der Reparatur der Dinge des täglichen Bedarfs über die Kurierung von Kinderkrankheiten bis zum Sterbebeistand –, heute in die Zuständigkeit von so genannten Experten fallen, die sie als Dienstleistungsware feilbieten und jeden Versuch, davon keinen Gebrauch zu machen, nicht nur mit professioneller Strenge entmutigen, sondern sogar scharf sanktionieren.
Kurzum: Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass beinahe alles, was heute berufsmäßig an Arbeit verrichtet wird, schädigend ist, und zwar durch die Bank. Tatsächlich müssen nicht die Arbeitslosen sich die Sinnfrage stellen lassen, sondern die Arbeitenden, und sorgfältige Selbstprüfung würde sie mit einem eher bestürzenden Eindruck von der Sinnhaftigkeit ihres geschäftigen Tuns konfrontieren.
Kommt noch hinzu, dass die Arbeitslosen, ihrer bescheidenen Alimentierung wegen, die schlechteren Konsumenten sind, und auch das macht sie, wiederum gegen den Richtungssinn der ökonomischen Propaganda, zu ‚besseren‘, will sagen verträglicheren Menschen. Denn ohne Frage verhält sich, aufs Große und Ganze und auf lange Sicht gesehen, derjenige am freundlichsten gegenüber den Nachkommen, der am wenigsten von dem verbraucht, was sich nicht von selbst erneuert.
Wäre aber so die Ehre der Arbeitslosen wiederhergestellt, dann bliebe immer noch zu fragen, wie sie ihre zunehmende materielle Misere verbessern könnten. Die einzige Antwort, die mir einleuchtet, lautet: ‚Eigenarbeit‘. Eigenarbeit, das heißt, den Geldbedarf und die Geldabhängigkeit zu mindern durch eigenes Tun und durch die Schaffung unmittelbar nützlicher Gebrauchsgüter für den eigenen oder den nachbarschaftlichen Bedarf. Es wäre ein anderer Gebrauch als der ‚Ein-Euro-Arbeitsdienst‘ von der überreichlich vorhandenen Zeit der Arbeitslosen zu machen. Die viel zu viele Zeit wird von den Arbeitslosen ja in der überwältigenden Mehrheit der Fälle gerade als peinigend und peinlich empfunden und die Pflicht, sie totzuschlagen, als noch belastender als die Maloche. Aber in ihr könnte eine reelle Chance stecken. Denn Arbeit an sich ist ja keineswegs knapp – im Gegenteil, sie liegt überall herum, man muss sie nur in Angriff nehmen. Knapp ist nur die bezahlte Arbeit, könnte man meinen. Und so scheint es doch nahe liegend, die notwendigen Verrichtungen, in denen man sich als Lohnarbeiter durch andere vertreten ließ, die wiederum damit ihren Lebensunterhalt verdienten, wieder selbst in die Hand zu nehmen; und sei es auch aus Ungeübtheit zunächst ein wenig stümperhaft. Aber Vorsicht, so einfach ist das nicht.
Welche Möglichkeiten zur Eigentätigkeit und zur Minderung des Geldbedarfs gibt es denn in den Bereichen Nahrung, Kleidung, Wohnung, Mobilität und Bildung in den modernen Gesellschaften überhaupt? Die deprimierende Antwort: Die konsumistische Gesellschaft hat die beiden in ihr favorisierten Existenzweisen, nämlich Produktion und Konsumtion, so totalisiert, dass beinahe jede andere nicht von Warenproduktion und Warenkonsum beherrschte Tätigkeit erstorben ist. Nicht zuletzt dadurch, dass es schlichtweg kaum noch Eigenarbeit gibt, die ihren Einsatz lohnte. Jede Eigenarbeit wird durch Billigprodukte von vornherein ins Unrecht gesetzt oder entmutigt. Einige Beispiele dafür:
Meine Großmutter konnte noch aus zwei oder drei aufgerebbelten Pullovern einen neuen stricken, der nichts kostete. Der war keinesfallls modisch, aber warm, praktisch und haltbar. Heute kann man keinen gekauften Pullover mehr aufrebbeln. Und die Wolle, um einen zu stricken, kostet das Dreifache von einem modischen Fertigteil aus chinesischer oder indischer Produktion.
Die Bauern führen Klage, dass sie Milch nicht mehr zu dem Preis produzieren können, den die Käufer im Supermarkt dafür entrichten müssen.
Man kann so beschwerlich und asketisch reisen, wie man will, es wird immer noch teurer sein als ein Last-Minute-Schnäppchen vom Reiseanbieter auf Luxusniveau.
Es ist nicht mehr einfach, mit seiner Hände und seines Hirnes Arbeit etwas herzustellen, das nichts oder weniger kostet, als was im Supermarkt der Billigangebote zu haben ist. Ernüchtert und illusionslos ist also festzustellen, dass die Eigenarbeit in der konsumistischen Gesellschaft nahezu chancenlos ist, und doch plädiere ich dafür, alle Anstrengungen der Phantasie und alle Kraft des Gedankens darauf zu richten, wie wir uns denn aus dem Würgegriff der großen Erpressung befreien können, die uns mit dem Arbeitsplatzargument jegliches Wohlverhalten und jegliche Unterwerfung abnötigen kann. Und Freiheitsspielräume können wir nur zurückgewinnen, wenn wir unseren Geldbedarf einschränken, auch wenn es so scheinen mag, als würden wir Unabhängigkeit durch mehr Geld gewinnen. Mehr Geld hält uns aber in der barbarischen Logik dessen gefangen, was der Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker George Steiner beschwört, wenn er warnend sagt: „Ein Faschismus des Geldes und der Medien regt sich in Europa.“3
Warum die Bäume nicht in den Himmel wachsen
,Wachstum‘, das erweckt Erinnerungen an Frühlingsduft, es gemahnt an den Samen, der der Erde anvertraut wird und das Wunder einer fruchttragenden Pflanze hervorbringt. Aber natürlich wissen wir auch, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, irgendwann sind sie ausgewachsen, sie haben ihr Maß. Nicht so das Wachstum, das tagtäglich in den Wirtschaftsnachrichten herbeigefleht wird. Es hat sich vollkommen von der Frage nach dem guten Leben und dem rechten Maß emanzipiert. Wachstum wird sich selbst zum Ziel. Wer die Frage stellt, was denn wachsen solle, damit es besser bestellt wäre um unsere irdische Existenz, der wird die verblüffende Auskunft erhalten, dass das Wachstum wachsen müsse. Kleinliche Erwägungen über Schädlichkeit oder Nützlichkeit des Produzierten müssen zurückstehen gegenüber der Wachstumsforderung, die absoluten Vorrang genießt. Alles, was zunimmt, ist per se im Recht. Und so können sich die Produzenten von Tretminen, von gen-verseuchten Nahrungsmitteln, von Babywindeln und Sahnetrüffeln gleichermaßen als Menschheitsbeglücker fühlen, solange sie Wachstumsraten vermelden, die aber denen, die ihres Arbeitsplatzes wegen darauf hoffen, auch nichts nützen. Denn das ist ja der große Etikettenschwindel, dass Wachstum Arbeitsplätze schafft. Im Gegenteil: Wachstum vernichtet Arbeitsplätze. Ungebremstes Wachstum und Beschleunigung aller Arbeitsvollzüge bedingen sich gegenseitig. Beschleunigung aber ist jenseits einer bestimmten Schwelle nur dadurch zu erreichen, dass menschliche Arbeitskraft, die wie alles Ding ihre Zeit, also ihr Tempo hat, durch Maschinenkraft ersetzt wird. Und da wir um der Optimierung und der Beschleunigung willen längst nicht mehr in erster Linie solche Maschinen einsetzen, mit denen wir arbeiten, sondern solche, die immer perfekter statt unserer und gänzlich ohne menschliches Zutun arbeiten, wird durch die Maschinerie immer mehr menschliche Arbeit entbehrlich. Der Preis ist hoch: nicht nur, dass dadurch immer mehr Menschen für überflüssig erklärt werden, sondern auch, dass die Maschinerie einen so unvorstellbaren Energieeinsatz fordert, dass die Quellen in absehbarer Zeit zu versiegen drohen und das Klima kollabiert. Ein Reisfeld gegebener Größe bringt in industrieller Bewirtschaftung nach amerikanischem Muster den vierfachen Ertrag eines in Indonesien traditionell bewirtschafteten, aber es erfordert den 350fachen Energieeinsatz; und ein in Deutschland hergestelltes Kilogramm Brot braucht zu seiner Verfertigung einen Liter Erdöl.4
Innovation ist schöpferisch
Der Begriff ,Innovation‘, darüber belehren mich meine Wörterbücher, war noch bis vor wenigen Jahren nahezu ausschließlich im Gebrauch für die wundersamen Selbstheilungskräfte der Pflanzen, die ein abgestorbenes Glied durch Neuaustrieb ersetzen können. Im ökonomischtechnischen Kalkül meint Innovation den umgekehrten Prozess, es wird etwas Neues in die Welt gesetzt, damit etwas absterbe, damit man das Alte ausmerzen kann. Innovation dient der systematischen Veraltung, der Verüberflüssigung, der Ausmusterung der gegenwärtigen Bestände, die immer nur augenblicksweise für tauglich befunden werden und sofort wieder zur Überbietung und Optimierung anstehen.
Ihre Vorwärtsbewegung kann die moderne Gesellschaft sich nur als ,Weg von …‘ vorstellen, nein, noch drastischer: als ,Weg damit!‘ Sie verwirft das Gestrige und stößt es ab wie einen unbrauchbar gewordenen Rest. So entsteht Müll, Zivilisationsmüll; Erfahrung, Tradition, soziale Verbindlichkeiten, unmoderne Dinge, überholte Technik: ,Weg damit!‘ Diese Devise macht nicht bei den Dingen Halt, sie hat längst auch die Menschen im Visier. Immer größere Anteile der Gesellschaftsmitglieder werden mit der harten Realität konfrontiert, dass es auf sie nicht nur nicht ankommt, sondern dass sie, für überflüssig erklärt, nur noch ein eingeschränktes Daseinsrecht geltend machen können. Dennoch: Jede so genannte Innovation, unabhängig von ihren Zielsetzungen, wird mit einem Gütesiegel versehen und das umso mehr, je rasender der von ihr in Gang gesetzte Verschleiß ist. Dabei steht außer Frage, dass alle heutzutage getätigten Innovationen, auch die so genannten sozialen, nur den einen Zweck verfolgen, den äußerst störanfälligen ,Faktor Mensch‘ aus der geölten Maschinerie auszuklinken, ihn maschinell oder verfahrensmäßig zu ersetzen, ihn bestenfalls als Funktionspartikel im Apparat zu dulden. Nicht eine technische oder soziale Innovation, die nicht die Ersetzbarkeit, die Austauschbarkeit, die Überbietung des Individuums im Sinn hätte: vom Menschenersatz bis hin zum Ersatzmenschen.
Wachstum weitet die Zukunft
Von Zukunft ist allenthalben die Rede, von den ungeahnten Möglichkeiten, die in ihr schlummern, wenn wir nur nicht müde werden in dem Bestreben, zukunftsfähig zu werden. Das Teuflische daran ist, dass, wo sich die zu machende Zukunft so machtvoll in den Köpfen festgesetzt hat, die Gegenwart, das Hier und das Jetzt, ihr gegenüber vollkommen belanglos erscheint und gleichzeitig die Gegenwart der kommenden Generationen schon jetzt gänzlich verplant und mit Beschlag belegt ist. Zukunft als das, was ungemacht und ungeplant auf uns zukommt, soll ausgelöscht werden. Alle Anstrengung von heute gilt einer präzise angepeilten und dann auch realisierten Zukunft, und das Gegenwärtige ist jeweils nur die Vorstufe, die Voraussetzung, die notwendige Bedingung des Grandioseren, das erst folgen soll. Alles hört auf, seinen Daseinszweck, sein Ende in sich selbst zu haben. Es wird zum Mittel für weitere vorläufige Optima erniedrigt.
Diese Zukunft ist gerade nicht offen. Sie bewährt sich daran, „dass es so kommt wie man denkt, weil man kann, was man will“5. Sie ähnelt nicht einem gewundenen Pfad, der an jeder Wegbiegung mit neuen Überraschungen aufwartet, sondern einer vierspurigen Autobahn, die sich über alle Besonderheiten des durchquerten Geländes souverän hinwegsetzt. Zukunft enthält eben nicht mehr die Möglichkeit des ganz Anderen und Unvorhersehbaren, sondern sie ist beschränkt auf die Raffinierung des Gegenwärtigen. Durch dies unendlich gesteigerte Raffinement hofft man einen qualitativen Sprung zu erreichen, so dass sich, was heute sonnenklar als das Falsche erkennbar ist (wenn auch die Falschheit des Falschen unter Vergewaltigung der Vernunft beharrlich geleugnet wird), durch Verfeinerung irgendwann zum Richtigen mausert, nach dem „moralischen Grundsatz: Wir irren uns empor“6.
Konkurrenz kürt die Besten
Die Konkurrenz spielt Nullsummenspiele. Der Erfolg des Einen ist die Niederlage des Anderen, mehr noch, je mehr Niederlagen ich anderen zufüge, desto besser stehe ich da. Mein Erfolg bemisst sich im täglichen Wirtschaftskampf gerade nicht nach der Qualität der erzeugten Produkte, sondern nach der Zahl der aus dem Felde geschlagenen Konkurrenten. Je härter die Konkurrenz, desto mehr werden der Notwendigkeit, auf diesem Schlachtfeld zu siegen, alle Ziele, alle Inhalte, und alles Gemeinwohl geopfert. Eine Vergleichgültigung unvorstellbaren Ausmaßes findet statt. Es kommt nurmehr darauf an, wie ich mich ins Bild setze. Unter dem Konkurrenzdruck wird Imagepflege zum ersten Erfordernis, weshalb viele Unternehmen längst mehr Geld in die Werbung und Akzeptanzforschung stecken als in die eigentliche Produktion. Aber nicht nur Unternehmen, auch Politiker und Kirchenführer, Künstler, Entertainer und Wissenschaftler strampeln sich ab in diesem Metier, um in die ‚Bestsellerlisten‘ zu gelangen, sich besser zu verkaufen als andere. Der Konkurrenzkampf kürt nicht die Besten und das Beste, sondern die Raffiniertesten und Skrupellosesten, die die Verführungs- und Verdummungskünste am virtuosesten beherrschen. Und er befördert nicht das beste Produkt, sondern dasjenige, dem mit Hilfe raffiniertester Werbestrategien der Nimbus, dass es beneidenswert mache, verpasst werden konnte.
Bildung ist die Grundlage des ökonomischen Erfolgs
Das hätten sie gern, die ökonomischen Eliten, dass sie sich ihres Reichtums wegen gebildet wähnen dürften, so wie einst die Calvinisten am Reichtum ihre Aussicht auf himmlische Glückseligkeit ablesen wollten. Dass die Bildung darüber entscheidet, wie gut sich ein Land in der Weltmarktkonkurrenz platziert, darüber ist man sich spätestens seit der unsäglichen PISA-Studie landauf, landab einig.
Tatsächlich muss man ein ganz anderes Bedingungsgefüge für wahrscheinlich halten. Nicht Bildung ist die Grundlage des ökonomischen Erfolgs, sondern krassester Unverstand, schreiende Unvernunft und moralische Bedenkenlosigkeit.
Es ist gerade die Dummheit, verstanden als bösartige Verweigerung des Gedankens, die die Bedingung der Entstehung von Reichtum ist. Was bedauerlicherweise nicht den Umkehrschluss zulässt, dass die Armen notwendigerweise klug seien.
Zur Bildung gehört das Nachdenken, die Zeit für Um- und Abwege, das Bedenken der Folgen des Gedachten, die Kritik und die Kritik der Kritik, das Schlendern und Flanieren, die Umkehr und der Neuanfang, die verzweifelte Einsicht, der ungegängelte Dialog, die Ziellosigkeit der Gedankenwege, die Lust am folgenlosen Experimentieren, der beharrliche Zweifel und vieles mehr. Zur Bildung und zur Erkenntnis gehört es, dass man ihr im Kreis von Freunden und nicht im Umfeld von Konkurrenten nachgeht. Sobald ich meine Bildung mit dem scheelen Blick auf den beargwöhnten Nebenbuhler ‚vorantreibe‘, habe ich die Möglichkeit, mich zu bilden, Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen, bereits verspielt. Die Neugier, der Durst nach Erklärung, Einsicht und Sinn weicht dann dem eisernen Willen zu siegen, Vorteil zu ergattern und Position zu gewinnen. Folglich: Bildung und kapitalistische ‚Vernunft‘ schließen einander kategorisch aus.
Was kost’ die Welt?
Wie aber ist es möglich, dass die ökonomische Unvernunft sich so unangefochten als Vernunft behaupten kann? Wie ist es möglich, dass Wachstum, Innovation, Arbeit und Konkurrenz sich in der opinio communis so unbestritten als das Rettende, als der Königsweg in eine lebenswerte Zukunft festsetzen konnten? Wie kommt es zu dieser gespenstischen Dynamik, die mit dem Gutsein und Gutwerden der Welt und ihrer Bewohner gar nichts mehr zu tun hat? Die Antwort auf diese Frage kann kurz ausfallen. Sie braucht nur vier Buchstaben: GELD. Die Unterstellung, es könne alles, was von dieser – und jener – Welt ist, mit einem Geldwert belegt werden, macht alles miteinander vergleichbar, gegeneinander austauschbar, durcheinander ersetzbar, in seiner Verwertbarkeit kalkulierbar und in seinem Daseinsrecht bestimmbar. Die Geldbewertung macht die Beliebigkeit zum Prinzip.
Geld, das ursprünglich selbst ein materielles Ding war, „wird zum Realsymbol aller Güter, für die es in den Tausch gegeben werden kann. Gibt es erst einmal das Geld, dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext. Es lässt sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette, eine Grabrede oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die Welt insgesamt in ein (etwas) verwandelt, das nach seinem Wert taxiert und darum auch verwertet werden kann … Das Geld dringt in jeden noch so verborgenen Winkel der Welt, es kann alles mit allem verbinden, so disparate Dinge wie eine Bibel und eine Flasche Branntwein.“7 Indem alles solchermaßen bewertet wird, unterliegt es einer radikalen Entwertung. Das heißt, es wird seiner Einzigartigkeit, seiner Besonderheit, seiner Gültigkeit und Sinnhaftigkeit entkleidet. An ihm gilt nur, was sich als Geldwert realisieren lässt. Diese Vergeldlichung macht auch nicht Halt vor dem Menschen. Sie schätzt längst auch nicht mehr nur den ‚Wert‘ seiner Arbeitskraft ab. Sie ist eingewandert in die privatesten Belange und dreht sich im Wesentlichen um die Frage, wie viel man sich denn die unprofitablen Gesellschaftsmitglieder noch kosten lassen will, kann oder soll.
Aber diese Geldwerte, die allem und jedem angeheftet werden, sind nicht real, sie haben keine Wirklichkeit, sie konstituieren eine Gespensterwelt, die wie ein Verhängnis auf der Welt der realen Dinge und Wesen liegt und eine von der Wirklichkeit losgelöste Eigendynamik hat, eine Eigendynamik, die unter dem Imperativ Wachstum und Innovation steht, koste es, was es wolle; Wachstum bis zur völligen Erschöpfung unserer selbst und unserer Lebensgrundlagen: des Feuers (der Energie), des Wassers, der Erde und der Luft.
‚Was kost’ die Welt?‘, diese Frage hat ein Stab von Wissenschaftlern der Elite-Universität Stanford in Kalifornien wörtlich genommen. Die klugen Köpfe haben ausgerechnet, was das so genannte Ökosystem wert sei, und sind dabei auf die erstaunliche Summe von 33 Trilliarden Dollar gekommen. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine Quadratmeile Ozean mit 60 000 Dollar zu Buche schlägt.8 Man muss natürlich solchen offenbaren Unsinn nicht ernst nehmen, nur ist er eben außerordentlich wirkmächtig und repräsentiert die ‚ökonomische Vernunft‘, die sich machtvoll Geltung verschafft.
Diese daseinslosen Geldwerte verfügen trotz oder gerade wegen ihrer Leere über die Macht, die Wirklichkeit in sich einzusaugen und sich höchst wirksam an deren Stelle zu setzen. Es bedarf aller Anstrengung des widerborstigen Gedankens, um sich von dieser Logik mit ihren tödlichen Folgen nicht ganz und gar irremachen zu lassen.
Vom Arbeiter zum Unternehmer
Nur in der Logik des Geldes konnte die Arbeit zu dem werden, was sie heute – noch! – ist, zur Ware. Allerdings stellen wir jetzt fest, dass sie noch weiter herunterkommen kann. Ihre Warenförmigkeit ist noch nicht das Endstadium ihrer Verunstaltung: Der Techniker, der meine Telefonanlage reparierte, ist schon nicht mehr nur ein Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft einem Unternehmer gegen einen schäbigen Gegenwert verkauft. Er gehört bereits dem neuen Typus des „Arbeitskraft-Unternehmers“ an. Der Arbeitskraft-Unternehmer darf sich schmeicheln, zur Unternehmerkaste zu gehören. Er ist Unternehmer seiner selbst. Ihm wird Autonomie versprochen, und er glaubt, was er glauben soll, dass er sein Arbeitsschicksal ganz in die eigene Hand nehmen könne. Was sind aber die wirklichen Beweggründe derer, die eine so genannte Existenzgründung versuchen (obwohl sie, genau genommen, natürlich auch vor ihrer Existenzgründung schon existieren, aber offenbar auf eine gesellschaftlich nicht anerkannte Weise)? Wie verfallen sie darauf, Unternehmer zu werden und sich ‚selbstständig‘ zu machen?
Nun, die nahe liegendste Antwort wäre: aus Unternehmungslust, aus Freiheits- oder Unabhängigkeitsdrang, aus Risikofreude oder um ihre Chance auf dem Markt der Möglichkeiten nicht ungenutzt zu lassen. Es mag wohl die Eine oder den Anderen geben, für die diese Beweggründe zutreffen, insbesondere dann, wenn sie aus gesicherten Verhältnissen auf brechen, ausgestattet vielleicht mit einem soliden Startkapital, mit einer Top-Ausbildung und unternehmerischem Enthusiasmus sowie einer Prise Skrupellosigkeit gegenüber den möglichen gesellschaftlichen und ökologischen Folgen ihrer Unternehmungen.
Aber das Gros derjenigen, die heute zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft werden, hat andere Beweggründe. Sie antizipieren ihre Verüberflüssigung, ihr Ausgeschieden-Werden aus dem Arbeitsprozess. Oder aber sie sind bereits für überzählig erklärt worden und müssen nun aus eigener Anstrengung das Gegenteil beweisen. Sie müssen attraktiv werden für diejenigen, die sie als Arbeitnehmer nicht mehr brauchen konnten. Sie müssen selbst herausfinden, wie sie ihre Brauchbarkeit auf eigene Rechnung wieder herstellen können. Ihnen wird Eigenverantwortung, wie es heißt, zugemutet. Sie müssen dem Eroberungszug der Maschinenwelt immer eine Nasenlänge voraus sein und herausfinden, wo die immer spärlicher werdenden Aufgaben, die noch nicht von Maschinen bewältigt werden können, zu finden sind. Aber dank der Innovationen, die allenthalben gefordert werden, werden immer mehr genuin menschliche Tätigkeiten von diesen störanfälligen Arbeitskräften abgezogen. Und so gibt es einen Wettlauf zwischen dem um seine Verwendungsfähigkeit kämpfenden Menschenwesen und dem immer schneller Terrain gewinnenden Maschinenwesen.
‚Ick bün all hier‘, das ist die tägliche Botschaft des Apparats an Menschen, die sich des Tauschwertes ihres Arbeitsvermögens gestern noch einigermaßen sicher sein konnten. Die Maschine ist effizienzüberlegen und hat gesiegt. Dass sie auch nicht umsonst arbeitet, sondern einen unersättlichen Energiebedarf hat und uns die Luft zum Atmen und das Wasser gegen den Durst streitig macht, wird dabei als ‚Kollateralschaden‘ angesehen.
Die nun zur ‚Verantwortlichkeit‘ berufenen ‚Arbeitskraft-Unternehmer‘ werden in die unablässige Selbstoptimierung hineingenötigt, um ihr Daseinsrecht zu behaupten, das heißt ihrer Überflüssigkeit zu entgehen. Was noch nicht allzu lange her von Seiten der Sozialwissenschaften als entfremdete Lohnarbeit im Dienste eines von ihr profitierenden, den Mehrwert abschöpfenden Unternehmers angeprangert wurde, erscheint heute derselben Soziologenzunft als eine soziale Hängematte, in der sich die Arbeitnehmer, versehen mit tariflich verbrieften Sicherheiten und Garantien, allzu behaglich eingerichtet haben. In diesen nun für kontraproduktiv erklärten Arbeitsverhältnissen bleiben, bedingt durch die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, an den Unternehmern zu viel Fürsorgepflichten hängen, die sie in ihrem Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt ins Hintertreffen bringen. Diese Fürsorgepflichten werden nüchtern unter dem Stichwort ‚Lohnnebenkosten‘ abgehandelt.
Und so wird nun die Selbstsorge zum Leitmotiv der neuen Erwerbspersonen. Jeder soll seines Glückes Schmied sein und darin neue Möglichkeiten der Gestaltungsfreiheit und der Erweiterung von Handlungsspielräumen wittern. Der Übergang wird beschrieben als einer vom alten Typus des Arbeitnehmers zum neuen, den modernen Verhältnissen angepassten Typus des Arbeitskraft-Unternehmers.9 Und tatsächlich firmiert dieser Übergang unter dem Begriff der „Autonomisierung“ und „Subjektivierung“ von Arbeit.
Hier wird nun dem Autonomie-Begriff wirklich Gewalt angetan und diejenigen, die mit der Verheißung von Autonomie ermuntert werden sollen, werden betrogen. Wer ‚autonom‘ handelt, der handelt in eigenem Namen. Aber genau das ist den ‚Arbeitskraft-Unternehmern‘ verwehrt. Dass hier der schöne Schein bemüht wird, geben sogar die Befürworter der neuen Arbeitsformen unumwunden zu. Ich lese: „Es geht dabei nicht um wirklich neue ‚Freiheiten‘ für die Betroffenen, in einem emphatischen Sinn …, sondern um betrieblich bewusst eingeräumte Gestaltungsspielräume, die im Interesse der Unternehmen genutzt werden sollen, mit meist … klaren Grenzen und bei erheblich steigendem Leistungsdruck. Trotzdem sind das Ausmaß und die Qualität der neuen Möglichkeiten nicht selten erstaunlich. Ziel der Betriebe ist zum einen die Reduktion der Kosten; vor allem aber ist das Ziel eine erweiterte Innovativität und Flexibilität der Mitarbeiter, also eine steigende Leistungsqualität.“10
Nun, was ist hier über die Autonomie des neuen Erwerbstätigen gesagt? Dass sich daraus für ihn ein erheblich gestiegener Leistungsdruck ergibt, nicht ein Ansporn, der aus eigenen Zielsetzungen kommt, nicht die Mühe und Anstrengung, die man auf sich nimmt, um einer guten Sache zum Gelingen zu verhelfen. Autonomie heißt hier, dass ich mich mit Haut und Haaren fremder Zielsetzung verschreibe. Was aber ist die fremde Zielsetzung? Dass ich weniger Kosten verursache und dass ich immer verfügbarer werde. Daran soll ich mit Handlungsspielraum tatkräftig mitwirken. Früher wurden die Arbeiter wenigstens noch ausgebeutet, heute müssen sie auch das noch selber machen. Ich fühle mich an einen Satz von Günther Anders erinnert, der mich vor Jahren wie ein Keulenschlag getroffen hat. „Die zum Tode Verurteilten“, schreibt Anders, „konnten frei entscheiden, ob sie bei ihrer letzten Mahlzeit die Bohnen lieber süß-sauer oder salzig zubereitet haben wollten.“ Das ist die Art von Freiheit, die sich in diesem Zusammenhang den Begriff der Autonomie ausgeliehen hat.
„Seid Subjekte, lautet der neue Befehl, der in den westlichen Gesellschaften allenthalben ertönt …“11 – aber nur, so muss man hinzufügen, damit ihr als ganze Person in Dienst gestellt werden könnt. Die ganze Person soll ,ihren Horizont auf den des Betriebes reduzieren‘. „Die Subjektivität, die sich in diesem Rahmen entwickelt, ist das Gegenteil einer freien Subjektivität … Es bleibt hier kein physischer oder psychischer Raum, der nicht durch die Unternehmenslogik besetzt wäre …“12 Und diese Unternehmenslogik ist zu allem Überfluss inhaltsleer, so dass, wer ihr Folge leistet, noch nicht einmal sagen kann, ob er dafür oder dagegen ist, ob er contre coeur oder im Einverständnis mit den fremden Zielen, die ihm aufgenötigt sind, handelt. Ich kann gegen Waffenproduktion oder Atomkraft sein, aber nicht gegen Wachstum und Innovation, und genau darauf werden die neuen Erwerbstätigen ja verpflichtet.
Was also gehört zu den Obliegenheiten des neuen Typus des Arbeitskraft-Unternehmers? Ich lasse mich wieder bei meinen Kollegen von der Soziologie belehren: „Sie müssen zunehmend ihre Fähigkeiten und Leistungen … zweckgerichtet und kostenbewusst aktiv herstellen … Zum anderen müssen sie ihre Fähigkeiten und Leistungen zunehmend auf betrieblichen und überbetrieblichen Märkten für Arbeit aktiv vermarkten. Konkret: Sie müssen sicherstellen, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen gebraucht, gekauft und effektiv genutzt werden.“ Und weiter: „Nur wer seine Fähigkeiten kontinuierlich anpasst“ und dafür sorgt, dass sie vom Betrieb „profitabel genutzt werden können (und dafür sorgt, dass man das auch sieht), nur der hat in neuen Systemen eine Chance.“
Aber es geht nicht nur um den Erwerbstätigen selbst, die Familie und das soziale Umfeld wird mit in Haft genommen: „Nur wer als Mitglied einer dynamischen Projektgruppe in der Lage ist, seinen gesamten Alltag flexibel und gut organisiert auf die Erfordernisse des Teamprozesses auszurichten, kann hier noch mithalten. Wer etwa während einer Stressphase auf feste Arbeits- und Urlaubszeiten pocht, wird nicht lange bleiben. Arbeitszeiten (und alles andere auch) müssen geschickt nicht nur mit den Kollegen, sondern auch mit der Familie und den Freunden koordiniert werden. Und während des Projektes muss immer schon der nächste Auftrag … und vielleicht sogar ein neuer Job vorbereitet werden.“13 Das heißt: Wir können nur den brauchen, der sein Leben fest im Griff hat. Das Leben im Griff haben bedeutet darüber hinaus, für seine Gesundheit ,eigenverantwortlich‘ Sorge zu tragen, denn Krankheit kann sich der Arbeitskraft-Unternehmer ebenso wenig leisten wie den gebuchten Urlaub. Wer in der Stressphase durch Krankheit ausfällt, hat zu erkennen gegeben, dass er den Belastungen nicht gewachsen und folglich unzuverlässig ist. Er steht also unter Gesundheitspflicht, und das, obwohl die strikteste Selbstdisziplinierung und Selbstausbeutung, die er sich auferlegen muss, nicht sehr gesundheitsförderlich ist.
Und noch einmal: das alles nicht im Dienste eigener Zielsetzungen, sondern solcher Ziele, die seine Selbstschädigung, Schaden für die Gattung und für die zukünftigen Generationen nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern programmatisch verfolgen.
Unser neuer Unternehmer muss also viel mehr zu Markte tragen als seine Arbeitskraft, nämlich sich selbst mit Haut und Haar inklusive seiner Familie und allem, was sein ist. Er ist sein eigener Herr, nur zwei Vorgaben stehen eisern fest: das Ziel, das ihm gesetzt ist, und der Zeitpunkt, zu dem das makellose Resultat seiner unternehmerischen Bemühungen vorzuliegen hat. „Wie Sie das machen, interessiert uns nicht.“ Und so wird ihm die volle Verantwortung angedreht für die Markttauglichkeit seiner Offerte. Er muss sich auf dem Laufenden halten, sein Angebot den Erfordernissen des Marktes mit seismographischem Spürsinn anpassen, er muss sein eigener Zeitmanager sein und seine Gesundheit stabil halten, er muss seine vollkommene Mobilität gewährleisten und seine Familie bei Laune halten, er muss sein ganzes Leben in den Dienst der pünktlich zu erledigenden Aufgabe stellen, mit seinen Ersparnissen die Zeiten schlechter Auftragslage überbrücken und für sein Alter vorsorgen. Wer dies Metier perfekt beherrscht, kann sogar mit ansehnlicher Entlohnung rechnen. „Viele genießen zunächst die … Rolle des high performer, vor allem in jungen Jahren macht die Probe auf die eigene Belastbarkeit noch Spaß. Auch wer allmählich ahnt, dass das Tempo der ersten Berufsjahre nicht durchzuhalten ist, mutet sich und den nahe stehenden Menschen den Verzicht auf freie Zeit in der Hoffnung zu, irgendwann werde die Balance gelingen. Gefangen im Selbstbild des Könners, fühlt man sich lange als ‚Herr der Lage‘, verdrängt Zeitdruck und Stress wie eine peinliche Krankheit, aber schon in mittleren Jahren wächst die Angst …“14
Aber damit nicht genug. Es gehört zu den Pflichten des solchermaßen an seine Leistungsgrenze Gezwungenen, auch noch ein guter Konsument zu sein. Denn was wäre das Wachstum, der unablässig gesteigerte Ausstoß von Waren und Dienstleistungen ohne den fordernden und unersättlichen Konsumenten und dessen Kaufkraft. Dem neuen Arbeitskraft-Unternehmer in seiner prekären Lage ist recht eigentlich Bescheidenheit als Ausweg aus seiner Misere nicht gestattet, obwohl er doch nur mit einer Verminderung seines Geldbedarfs seine zeitliche und kräftemäßige Überlastung reduzieren könnte. Aber unter der Wachstumsforderung ist nur ein üppig konsumierender Bürger ein guter Bürger. Ein deutlich gesenktes Konsumniveau, etwa in der Automarke, mit der er seinen Status signalisiert, würde wiederum seine Chance auf dem Markt enorm verringern, zu sehr wäre er vom Hauch des Scheiterns umweht. Er sitzt also in jeder Hinsicht in der Falle.
Vom Glanz und der Autonomie des neuen Kleinstunternehmers ist wenig übrig. Und die Verantwortung, die ihm da angedient wird, ist ein Fluch und eine Illusion zugleich. Er soll verantworten, was er nicht entscheiden kann, und entscheiden, was nicht in seiner Verfügung ist. Ich kann den neuen Typus des Erwerbstätigen betrachten, wie ich will, ich sehe ihn immer nur in der Falle zappeln, während ihm gleichzeitig bedeutet wird, er solle sich im aufrechten Gang üben, denn das sei, was man von ihm erwarte.
Das alles ist wahrlich Grund genug, in Lafargues Verdikt über die Arbeit einzustimmen. Aber die Konsequenz, die er daraus zieht, nämlich ein „Recht auf Faulheit“ zu proklamieren, will ich nicht mitvollziehen. Faulheit können wir uns ja heute nur als das Komplement zur Arbeit vorstellen, als ein vollkommen erschöpftes Nichtstun. Aber daraus entsprießen dem Menschen keine Kräfte, Kräfte wachsen ihm vielmehr aus dem Tun, aus dem Tätigsein zu. Schon Goethe wusste, dass die reife Persönlichkeit aus dem „tätigen Weltumgang“ erwächst, und George Steiner ahnt, dass uns ohne diesen tätigen Weltumgang buchstäblich das Lachen vergeht, denn der Augenblick des großen Lachens entspringe aus überstandener Mühsal und aus dem Gelingen einer selbstgesetzten Aufgabe zum eigenen Nutzen und zum Wohle anderer.