Читать книгу Die Gentlemen-Räuber - Marianne Paschkewitz-Kloss - Страница 6
ОглавлениеKarlsruhe, 13. Juli 2010
Vielleicht ist es ja einfacher, eine Bank zu überfallen, als in meinem Alter noch einmal eine Existenz aufbauen zu wollen.
Nur in Momenten größter Selbstzweifel war Wiebke imstande, derlei Gedanken zu entwickeln. Für gewöhnlich neigte sie nicht zu Sarkasmus. Trotzdem entdeckte sie diese unangenehme Eigenschaft zunehmend an sich. Sie schrieb es ihrer Ungeduld zu. Warum auch, zum Teufel, wollte dieses Telefon einfach nicht klingeln? Unablässig trug sie es bei sich, als wäre es angewachsen. Seit zwei Wochen richteten ihre Ohren sich permanent auf das schwarze, rechteckige Ding, aber es schwieg. Am liebsten hätte sie es gegen die Wand gepfeffert. Würde es auch nur ein einziges Mal ertönen, wüsste sie, dass sie irgendjemand wahrgenommen hatte, da draußen in der ihr fremd gewordenen Welt der Redakteure.
Nervös blies sie den Rauch ihrer Zigarette über die betonierte Balkonbrüstung. Unter ihr lag die Stadt im sommerlichen Morgendunst, am Horizont zeichnete sich die Schwarzwaldsilhouette blass ab. Am Abend zuvor hatte sie das Panorama noch in bestechender Klarheit bewundert und erst danach ihr neues Ein-Zimmer-Appartement mit separater Küche, Tageslichtbad und kleiner Diele im zwölften Stock detailliert in Augenschein genommen. Bis dahin hatte sie es nur von Ablichtungen und einer ausführlichen Beschreibung des Vermieters in einem Internetportal gekannt. Die Anmietung war ihr mit erstaunlich wenig Aufwand gelungen, andererseits fand sie ihre Vorgehensweise äußerst gewagt. Nach der Besichtigung hatte sie deshalb erst einmal erleichtert aufgeatmet. An die Höhe allerdings musste sie sich trotz des gigantischen Ausblicks noch gewöhnen.
Sie musterte die Umgebung zu ihren Füßen. Vom hübsch bepflanzten Innenhof des Häuserquartiers unter ihr schweifte ihr Blick über die weitläufige Stadt. Irgendwo da unten, mutmaßte sie, hielten sich all diese Personalleiter versteckt, von denen sie einen Anruf, wenn möglich eine Zusage, ersehnte. Dabei hatte sie bis gestern noch von einer Punktlandung in Karlsruhe geträumt. Ankommen und losarbeiten, so hatte sie es sich in ihrem grenzenlosen Vertrauen auf ihre Heimatstadt ausgemalt, als sie ihre Bewerbungen vor drei Wochen von Hamburg aus losgeschickt hatte. Karlsruhe schien ihr der sichere Hafen, in den zu retten es sich lohnte. Die Stadt war ihr in allen Facetten vertraut und als Residenz des Rechts der optimale Wirkungskreis für eine Polizei- und Gerichtsreporterin. Nach 20 Jahren wieder hier zu leben, gliche einem Déjà-vu, stellte sie sich vor. Jetzt, im Morgenlicht, sah sie ihre Felle davonschwimmen. Vermutlich traf zu, was sie allen Adressaten inzwischen insgeheim unterstellte: Sie war ihnen zu alt.
Wiebkes Fantasie spielte verrückt. Immer tiefer verstrickte sie sich in ihren Argwohn. Was, wenn sie ihr überhaupt nicht antworten durften, überzeichnete sie, wenn in den Büros der Ressortchefs Piktogramme, Verbots- oder Tabuschilder aufgestellt waren, auf denen ein silberhaariges Strichmännchen oder -weibchen mit einem dicken roten Querbalken abgebildet war? Neue Mitarbeiter ab 55 nicht erlaubt!
Sie schalt sich selbst, weiße Mäuse zu sehen. Wie kam sie dazu, ihren potentiellen Arbeitgebern eine derartige Albernheit anzudichten? Altersdiskriminierung bei Medien, deren vordringlichste Aufgabe es war, kritische Aufklärer zu sein? Würde dadurch nicht jeder Artikel, der gegen die Altersproblematik auf dem Arbeitsmarkt anschrieb, ad absurdum geführt, journalistischer Berufsethos nicht sogar in den Grundfesten erschüttert? Andererseits, so führte sie entschuldigend ins Feld, hatte sie das Leben gelehrt, dass es nichts gab, was es nicht gab.
Sie drückte die heruntergebrannte Zigarette in ihren runden, aufklappbaren Taschenaschenbecher, wischte eine Ascheflocke vom Emaildeckel, den ein Bar-Motiv aus den Fünfzigerjahren zierte, und ging durch den hellen Wohn- und Schlafraum zurück in die Küche. Die provisorische Schlafstätte auf dem Fußboden und den Wust unausgepackter Kartons übersah sie geflissentlich.
Auf der kurzen Esstheke, die in den schmalen Schlauch ihrer hochglänzenden, weißen Einbauküche hineinragte, lag ein Stapel Zeitungen, den sie in Allerherrgottsfrühe an einem
Kiosk in der Nähe des Rathauses besorgt hatte. Den Weg dorthin schaffte sie zu Fuß in weniger als fünf Minuten. Sie wohnte zentral an der vierspurig ausgebauten Kriegsstraße, der wichtigsten Ost-West-Achse der Stadt. Über eine Fußgängerbrücke konnte sie diese problemlos überqueren.
Wiebke rutschte auf das lederne Polster des Barhockers. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der rechten Hand unters T-Shirt, um den Hosenknopf unterhalb ihres eingeschnürten Bauchs zu öffnen. Gelöst nippte sie an ihrem Kaffee und griff nach der Zeitung, die obenauf lag. Ihre Augen huschten über die Schlagzeilen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Versonnen sah sie aus dem Fenster, das über die gesamte Breite der Küchenzeile reichte, und verweilte an den prächtigen, alten Bäumen im gepflegten Park des Bundesgerichtshofs. Intuitiv suchte sie das Fenster im Erbgroßherzoglichen Palais, hinter dem bis in die Nacht hinein Licht gebrannt hatte. Ihr kam der Pförtner in den Sinn, der ihr damals stets die neuesten Urteile in dicken Kuverts ausgehändigt hatte. Immer einen lustigen Spruch auf den Lippen, dieser Charmeur. Damals, dachte sie. Damals war ihr die Arbeit zugeflogen.
Vielleicht zermarterte sie ihr Hirn völlig umsonst, versuchte sie sich zu beruhigen. Es gab banalere Gründe für die Nichtbeantwortung von Bewerbungen. Formfehler, Zeitdruck, Krankheit, weiß der Teufel was. Wieder waren da die nagenden Zweifel. Hatte sie sich womöglich zu uninteressant oder ungeschickt beworben? Verwunderlich wäre es nicht, zog sie selbstkritisch in Erwägung, denn während sie ihre Bewerbungsmappen zusammengestellt hatte, befand sie sich in miserabler Verfassung. Es war in der Endphase ihrer Hamburger Ära, da lebten Martin und sie bereits getrennt von Tisch und Bett in der gemeinsamen Wohnung. Betrachtete sie diese Zeit rückblickend, stellte sie sich vor, dass sich so das schleichende Siechtum eines Sterbenden anfühlen musste. Wiebke fand den Vergleich angemessen, denn in all den Wochen war sie vollkommen abgestumpft. Sie fühlte nichts mehr. Nicht den Sonnenschein, nicht den kühlen Wind, nicht die pulsierende Lebendigkeit der Weltstadt, nicht sich selbst. Ihr Leben war nichts mehr als eine leere Hülse.
„Ich habe mich verliebt.“ Wie pubertär dieses Geständnis aus Martins Mund im ersten Moment geklungen hatte! Und doch steckte es am Ende wie eine Klinge in ihrem Herzen, zerstörend, zutiefst verletzend.
Konzentrier dich auf deine Bewerbungen!, ermahnte sie sich und richtete sich mit einem Ruck auf. Gewiss hatte sie eine der vielen Warnungen in den Jobratgebern nicht ernst genug genommen und etwas formuliert, das sie besser nicht so formuliert hätte. So manche Empfehlung war ihr zugegebenermaßen gegen den Strich gegangen, auch einige dieser neunmalklugen Binsenweisheiten. Durfte sie dem Ganzen Glauben schenken, müsste es gerade ihr besonders leicht fallen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und Ablenkendes zu ignorieren. Diese Fähigkeit, so wurde an einer Stelle allen Ernstes versichert, nehme im Alter zu. Wie lachhaft. Dennoch führte Wiebke den unbefriedigenden Stand der Dinge auf ihr Unvermögen zurück. Ihre Hoffnung auf einen Ehemaligenbonus, gewissermaßen der Strohhalm, an den sie sich klammerte, konnte sie vermutlich auch knicken. War sie wirklich so naiv zu glauben, dass sich in den heutigen Führungsriegen noch irgendjemand an die Polizei- und Gerichtsreporterin Wiebke Wolant von vor 20 Jahren erinnerte? Sachlich betrachtet lag eine ganze Generation dazwischen.
Eine Stunde später hatte sie den Zeitungsstapel durchgearbeitet. Alle Blätter titelten an diesem Morgen mit der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Entlassung eines Straftäters aus der Sicherungsverwahrung erneut abgelehnt und damit einmal mehr die Sicherheit der Allgemeinheit über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestellt hatte. Wiebke verfolgte das juristische Tauziehen mit beruflicher Neugier, es tangierte ihren Themenkreis um Kriminalistik und Strafjustiz.
In diesem Zusammenhang war sie auch auf einen Banküberfall gestoßen, der am Vortag in Karlsruhe verübt worden war. Am ausführlichsten berichtete die Oberrheinische Tageszeitung als auflagenstärkste Regionalzeitung darüber. Neuer Coup der Gentlemen-Räuber bei alter Bank / Phantome wieder aktiv, titelte sie. Nach der Lektüre aller Berichte in verschiedenen Ressorts war Wiebke klar, dass es sich um Wiederholungstäter handeln musste. Einem Mann und einer Frau. Betroffen war eine kleine Bankfiliale, Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, die Beute belief sich auf einige tausend Euro. Bemerkenswert fand sie, dass es sie noch gab: Bankräuber des alten Schlags, die sich zeigten und Barkasse bevorzugten. Sich obendrein wie Bonnie und Clyde gerierten, aber allem Anschein nach unblutig. Trotzdem riskant. Soweit sie wusste, lag die Aufklärungsquote bei diesen Raubdelikten doch recht hoch. Waren ein paar Tausender das wert? Im Cyberspace ließ sich das Geschäft doch längst eleganter über die Bühne bringen. Moderne Bankräuber operierten geräuschlos im World Wide Web, bei weitaus geringerem Risiko und potentiell höherer Beute. Offenbar lebten diese Gentlemen-Räuber außerhalb der modernen Computerwelt. Wie alt wurden sie geschätzt? Wiebke fand dazu keine Angaben.
Am späten Vormittag rang sie sich endgültig durch. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, entschied sie, muss der Berg eben zum Propheten. Die Redaktionsliste steckte zusammengefaltet und griffbereit in ihrer Brieftasche neben Personalausweis und Führerschein. Sie behandelte das Papier wie eine Eintrittskarte in eine geschlossene Gesellschaft. Jeden dieser Ignoranten würde sie jetzt behelligen. Schuldeten sie ihr nicht schon aus Höflichkeit eine Antwort?
Wiebke hielt inne. Da war er wieder, dieser schleichende Anfall von innerer Hitze, der ihr vom Oberkörper bis unter die Haarwurzeln kroch, ihr den Schweiß ins Gesicht trieb. Die Unberechenbarkeit dieses lästigen Altersphänomens nervte sie am meisten. Eine ihrer silbern durchwirkten, brünetten Locken fiel ihr schlaff ins Gesicht. Wiebke setzte sich auf die Couch und wartete darauf, dass ihr Körper wieder auf Normaltemperatur herunterkühlte. Sie strich über die Armlehne ihres rindsledernen Erbstücks mit den unvollzähligen Nietenbeschlägen, das sie bei nächster Gelegenheit wie einen Kinosessel vors Panoramafenster rücken würde. Kritisch betrachtete sie ihre Handoberfläche. Waren es noch Sommersprossen oder schon Altersflecken, die sie übersäten? Sei’s drum.
Nachdem sie sich im Bad erfrischt und ein Glas Leitungswasser getrunken hatte, fühlte sie sich insoweit gestärkt, als dass sie ihren Rundruf von Neuem starten konnte. Sie wählte Nummer um Nummer und erreichte keinen der gewünschten Ressortleiter. Beim sechsten Versuch bestätigte ihr unerwartet eine hektische Männerstimme, dass sie richtig verbunden und er ihr Ansprechpartner sei. Bedauerlicherweise suchten sie derzeit keine Redakteurin, teilte er ihr emotionslos mit. Alternativ böte sich eventuell eine freie Mitarbeit an.
„Liegen uns Arbeitsproben vor?“, wollte er wissen.
„Das ist etwas schwierig“, wich sie aus.
„Wieso das?“, hakte er argwöhnisch nach.
Sie zögerte kurz. Dann erklärte sie ihm mit ruhiger, dunkler Stimme, dass sie zehn Jahre beruflich pausiert habe. Den Bruchteil einer Sekunde hatte sie noch die Formulierung etliche Jahre in Erwägung gezogen – tatsächlich waren es 20 – doch es wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen.
„Gute Frau“, prustete er los, „ stehlen Sie mir bitte nicht die Zeit. Wie soll das funktionieren? In diesem Beruf muss man dranbleiben, anders geht das gar nicht. Ich kann Ihnen bei Ihrer Suche nur Glück wünschen.“
Dann war die Leitung tot.
Wiebke rang um Fassung. Eine Absage hatte sie ins Kalkül gezogen, nicht jedoch eine derartige Abfuhr. Schamvoll malte sie sich aus, wie er nun lauthals im Kreis seiner Kollegen über sie herzog: Stellt euch mal vor, da wollte sich eine Hausfrau bewerben!
Gute Frau. Wie war das zu verstehen? Despektierlich oder typisch badisch? Sie war sich nicht sicher. Trotz allem war sein alternativer Vorschlag, frei mitzuarbeiten, durchaus zu ihr vorgedrungen. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht, ärgerte sie sich. Vor lauter Sicherheitsbestreben hatte sie diese Form der Berufsausübung völlig ignoriert. Dabei hatte sie vor 20 Jahren nichts anderes gemacht, und zwar erfolgreich.
Sie änderte ihre Gesprächsstrategie nun dahingehend, dass sie bei jedem Telefonat auch ihr Interesse an einer freien Redak-
tionstätigkeit bekundete. Wie sich nach einer Stunde herausstellte, mit kläglichem Erfolg. Der Markt an freien Mitarbeitern war offensichtlich gesättigt. Jedenfalls im Dunstkreis jener Regionalzeitungen und Agenturen, für die sie einst geschrieben hatte, war nichts zu holen. Vielleicht lag es ja tatsächlich an der Insolvenz eines privaten Landessenders, auf die sie von einem Ressortleiter hingewiesen worden war.
„Viele Redakteure von dort tummeln sich jetzt auf dem freien Markt“, hatte er sie wohlmeinend gewarnt.
Dies bestätigte sich denn auch in einer ersten Bilanz ihrer Bemühungen. Die meisten Adressen waren durchgestrichen, wenige mit WW gekennzeichnet, was für Wahlwiederholung stand. RR hatte sie sich hinter die Kontaktdaten des zuständigen Ressortleiters bei der Oberrheinischen Zeitung notiert.
Der Rückruf kam abends gegen 19 Uhr.
„Wiebke Wolant!“
„Ansgar Schroeder, Oberrheinische Tageszeitung“, meldete sich eine ältere, sonore Stimme mit unverkennbar norddeutschem Akzent. Sie erinnerte Wiebke an einen Tagesschausprecher. „Ich sollte zurückrufen.“
„Ja, das ist sehr freundlich!“ Ihre dunkle, warme Stimme war nicht weniger markant. „Lassen Sie mich gleich mit der Tür ins Haus fallen: Ich bin an einer Mitarbeit in ihrer Redaktion interessiert.“
„Das sind derzeit ziemlich viele. Kommt darauf an“, antwortete Schroeder gedehnt. „Worüber schreiben Sie bevorzugt?“
„Ich war ... ich meine, ich bin Polizei- und Gerichtsreporterin.“
„Ist selten, dass das eine Frau macht.“ Wiebke hörte feine Atemzüge. Ob er rauchte? „Kommen Sie morgen um zehn zu mir in den Verlag“, sagte er knapp und legte auf.
Ein freundlicher Pförtner wies ihr am nächsten Morgen zur verabredeten Zeit den Weg durch das Verlagsgebäude in der Innenstadt. „Herrn Schroeder finden Sie im zweiten Obergeschoss, links auf der Stirnseite. Da drüben ist ein Fahrstuhl.“
Sie nahm die Stufen durchs enge Treppenhaus des schmucklosen, verlebten Baus aus der Nachkriegsmoderne – ein sicheres Zeichen ihrer Nervosität, denn normalerweise vermied sie unnütze Fußwege. Auf dem letzten Treppenabsatz hielt sie inne. Unverwechselbar schallte Schroeders Stimme über das Stockwerk. „Herrgott, Ulli! Einen schlechteren Zeitpunkt konntest du dir für deine Krankmeldung nicht aussuchen. Du krank, unser Chefreporter auf Fortbildung. Mir bricht die halbe Redaktion weg. Ist dir das klar? ... Mach, dass du auf die Beine kommst. Tschüss.“ Lautstark knallte er den Hörer auf.
Die Bürotür stand offen. Wiebke spannte ihren Körper unter dem dunkelblauen Hängerkleid, nestelte am Stoff unterhalb ihres Gesäßes. Sie tat es zur Kontrolle. Das Missgeschick mit dem verfangenen Saumzipfel in ihrem Slip nach einem Toilettenbesuch hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Alles war in Ordnung. Aus besonderem Anlass hatte sie sich sogar dezent geschminkt, ein wenig Rouge aufgelegt.
Als sie das Verlagsgebäude zum letzten Mal betreten hatte, war sie Anfang 30 und im landläufigen Sinne wohl auch attraktiv. Hochgewachsen, schlank, ein brünetter Lockenkopf mit dunklen, ausdrucksvollen Augen. Jetzt verdichtete sich die Farbe Silbergrau auf ihrem Kopf. Wiebke betrachtete das Alter als einen natürlichen Prozess der Reife und hatte dafür in ihrem eitlen Hamburger Umfeld häufig genug Befremden ausgelöst. Es focht sie nicht an.
Mit leichtem Schwung klopfte sie an die offene, weiß lackierte Tür und schaute nach links in den Raum.
„Herr Schroeder?“
„Ja?“ Schroeder saß über einer aufgeschlagenen Zeitung.
„Mein Name ist Wiebke Wolant.“ Sie betrat das Zimmer, das ein wuchtig schwarzer Schreibtisch dominierte. Schroeder, groß und breitschultrig, thronte in einem hochlehnigen, schwarzen Bürosessel. Hinter ihm strahlte das hellgelbe Karlsruher Schloss durchs Fenster wie die feudale Kulisse seines Herrschersitzes, vielleicht aber auch nur wie eine kitschige Fototapete.
„Ach ja, Frau Wolant“, empfing er sie verwirrt, „nehmen Sie doch Platz.“ Er musterte sie unverhohlen, was sie in Verlegenheit brachte. „Nun, Frau Wolant, Hanseaten, wie ich einer bin, pflegen nicht um den heißen Brei zu reden.“
„Das ist mir bekannt“, lächelte Wiebke zustimmend. Schroeder schaute verblüfft. „Ich habe in den letzten 20 Jahren in Hamburg gelebt“, bekannte sie.
„Das ist ja großartig! Dann sind wir ja gewissermaßen Hanseaten unter sich.“ Vertraulich beugte er sich zu ihr vor. „Worüber haben Sie denn in der Vergangenheit berichtet, Frau Wolant?“
Wiebke spürte ein leichtes Kribbeln. „Hauptsächlich über größere Kriminalfälle und spektakuläre Strafprozesse. Auch über weitreichende BGH-Entscheidungen“, sagte sie mit fester Stimme.
Schroeder überlegte kurz. „Ich muss gestehen, dass ich das Hamburger Zeitgeschehen, zumindest das kriminalistische, nicht sonderlich verfolge.“
Hatte er sie missverstanden? Vorsichtshalber ließ sie es so stehen: „Kein Problem.“
„Dann darf ich unterstellen, dass auch komplexe Themen und deren permanente Nachverfolgung Ihnen keine Mühe bereiten.“
Schroeder fuhr sich nervös durchs schlohweiß-gewellte Haar.
Sie nickte. Ihr Blick hatte sich auf seinem Schreibtisch verfangen, genauer: auf einem Glas Kakao und einem üppig belegten Heringsbrötchen, das noch jungfräulich auf einem Frühstücksteller lag. Der Geruch von Zwiebeln war ihr längst in die Nase gestiegen.
„Gut, dann passen Sie mal auf: Wir haben hier im Südwesten seit 15 Jahren eine Serie von Banküberfällen, die wohl alle auf das Konto ...“
„ ... der Gentlemen-Räuber gehen“, fiel sie ihm ins Wort.
„Ach, Sie sind ja gut informiert. Dann wissen Sie vermutlich auch, dass es weit und breit keine Tatverdächtigen gibt. Die Polizei hat nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen. Die Geschichte ist so dubios, dass schon das Gerücht umgeht, bei den Bullen selbst gebe es eine lecke Stelle, denn dieses Pärchen ist bis jetzt durch jede Ringfahndung geschlüpft. Vorgestern hat es hier wieder zugeschlagen, ein anderes Mal waren sie im Mannheimer beziehungsweise Heidelberger Raum zugange oder in irgendeinem Nest in der Pfalz. Die Kripo hatte sogar schon mehrere Sendeplätze bei Tätern auf der Spur, die nichts brachten. Tausende Fahndungsplakate. Und eine acht Mann starke Ermittlungsgruppe – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! – kriegt nichts auf die Reihe!“
Er atmete tief ein.
„Das wäre ja noch akzeptabel, wenn die Täter besonders raffiniert oder brutal vorgingen. Aber nichts! Die tragen nicht einmal Sturmhauben, sondern lächerliche Perücken, Brillen und Mützen! Die beiden treten zwar mit Pistolen auf, geben sich aber trotzdem äußerst höflich. Gelegentlich verschicken sie sogar Entschuldigungsschreiben an die geschädigten Banken. Ist das nicht dreist? Dafür bekommen sie auch noch den Ehrentitel ›Gentlemen-Räuber‹ verliehen. Gibt es sowas?“
Wiebke faszinierte die Wortgewalt des Ressortchefs, der
innehielt. Erwartete er Beifall?
„Um es kurz zu machen, Frau Wiebke: Ich möchte, dass wir Druck machen in dieser Sache, die ganze Raubserie nochmal unter die Lupe nehmen, nach Schwachstellen suchen, dieser sogenannten Ermittlungsgruppe auf die Finger schauen. Es geht nicht an, dass die Leute insgeheim schon Sympathien für dieses seltsam höfliche Gangsterpaar hegen und über die Polizei spotten.“ Sein Blick ruhte auf ihr. „Es ist Ihr Job, Frau Wiebke, dieses Blatt zu wenden!“ Wieder hatte er sich versprochen. Schroeder schlug mit beiden Handflächen auf die Schreibtischplatte und sah sie herausfordernd an.
Einen Moment herrschte Stille. Wiebke wollte gerade zu einer Antwort anheben, da schnitt ihr Schroeder das Wort ab: „Fast hätte ich es vergessen: Haben Sie ein paar Arbeitsproben dabei?“
Ihr wurde heiß. Die Glut kroch ihr über die Brust zum Hals bis zu den Haarwurzeln. Sie spürte den kalten Schweiß, der ihr Gesicht benetzte, ihre Nackenhaare anfeuchtete. Sie war in doppelter Hinsicht schockiert, von Schroeders Begehren und dieser befremdlichen Hitzeattacke. Mechanisch griff sie nach ihrer Handtasche, die an der Stuhllehne baumelte, und ließ wieder von ihr ab.
„Tut mir leid ...“ Ihre Stimme hing in der Luft, sie rang nach Worten. Da winkte Schroeder fahrig ab: „Ist jetzt auch nicht so wichtig, leiern Sie umgehend Ihre Recherche an. Knöpfen Sie sich den Ermittlungschef vor. Ich brauche Ergebnisse! Unser Archiv ist im Keller, besorgen Sie sich Material.“
Sie suchte den richtigen Tonfall und antwortete hölzern: „Ja, dann melde ich mich, sobald ein Interviewtermin feststeht.“ Dabei streckte sie Schroeder mechanisch die Hand entgegen. „Danke“.
Sie verließ das Verlagsgebäude mit einem Bündel alter Berichte. Kaum war sie außer Sichtweite des Pförtners, steckte sie sich eine Zigarette an.
Sechs Tage waren seit jenem Tag, an dem Schroeder sie beauftragt hatte, vergangen. Seitdem wartete sie auf einen Terminvorschlag des Pressesprechers im Polizeipräsidium. Wiebke hatte inzwischen keine Zweifel mehr: Herr Schmittke ließ sie zappeln. Schon der Umstand, dass sie ihre Interviewanfrage schriftlich einreichen musste, war aus ihrer Sicht reine Hinhaltetaktik. Obendrein die Bitte, eine Kopie ihres Presseausweises mitzusenden, Schikane. Schließlich ging es nicht um einen akkreditierungspflichtigen Termin in einem Bundesgericht. Permanent vertröstete er sie mit dem Hinweis, der Chef der Ermittlungsgruppe sei schwer greifbar. Und täglich erreichte sie Schroeders stereotype, ungeduldige Anfrage, wann sie nun liefern könne.
Wieder wählte sie die Nummer des Polizeisprechers. Einmal mehr versuchte er abzuwiegeln. Er habe immer noch keine Rückmeldung vom Leiter der Ermittlungsgruppe erhalten. Es täte ihm leid.
„Dann tut’s mir auch leid“, konterte Wiebke kurzentschlossen, „denn ich werde die Story nun ohne Stellungnahme des Ermittlungschefs schreiben. Mutmaßungen lassen sich da kaum vermeiden.“
Schmittke beschwichtigte. „So eilig kann es doch nicht sein.“
„Morgen ist Abgabe“, drückte sie aufs Tempo.
„Frau Wolant, es nützt doch nichts, wenn Sie Druck machen“, ereiferte sich Schmittke.
Wiebke wartete schweigend ab.
„Ich werde sehen, was ich machen kann.“ Seine junge Stimme klang verunsichert. Keine fünf Minuten später klingelte ihr
Telefon. Der Ermittlungschef stehe ihr am nächsten Morgen zur Verfügung, lautete seine „gute Nachricht“.
Irgendwie hatte sie ihn sich anders vorgestellt. Dennoch, sein Äußeres passte zu seiner Stimme. Sie schätzte ihn auf Mitte 30. Könnte dein Sohn sein, dachte Wiebke, als er ihr sportlich lässig in der Eingangshalle des Präsidiums entgegenkam. Er trug einen modischen blauen Anzug mit Krawatte, sein frecher Haarschnitt war sorgfältig mit Gel in Form gezupft. Der psychologische Effekt ihres Alters und wohl auch ihrer Größe blieb nicht aus. Fast schüchtern bat ein wesentlich kleinerer Schmittke darum, ihm zu folgen. Ohne sich auch nur einmal zu vergewissern, ob sie Schritt halten konnte, eilte er durch die alte Sandsteinburg, deren Stilmix Wiebke auch im Schnelldurchgang wieder beeindruckte. Ein Sakralbau des späten Historismus, wie aus der Zeit gefallen. Nichts hatte sich verändert, seitdem sie hier ein- und ausgegangen war. Vielleicht der Dresscode, denn niemals war Wiebke ein derart gestylter Pressereferent unter diesem Dach begegnet.
Kriminalhauptkommissar Erol Stabhäuser wartete bereits am Konferenztisch eines spärlich eingerichteten Besprechungszimmers. Ein Bär mit graumeliertem, fast drahtartigem, kurzem Haar im verwaschenen Polohemd. Er bat Wiebke, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Schmittke setzte sich neben den Kommissar. An der Seite des Riesen schrumpfte er zu einem Zwerg.
„Sie möchten also die ganze Raubserie der Gentlemen-Räuber in einem Artikel aufarbeiten“, konstatierte Stabhäuser emotionslos und fixierte Wiebke über seine tiefgesetzte, randlose Lesebrille.
„Da benötigen Sie aber eine ganze Zeitungsseite“, kicherte Schmittke und sah auf seinen Stahlchronometer.
„In der Tat möchten wir den Fallkomplex als solchen einmal beleuchten“, bestätigte Wiebke, ohne darauf einzugehen.
„Wir haben eine Liste aller Überfälle für Sie vorbereitet“, tat Schmittke wichtig und schob ihr drei dicht beschriebene Din-A4-Seiten über die graue Tischplatte, „und hier“, er zog eine CD-Rom aus seiner Sakkotasche, „Täterfotos und Phantombilder.“
„Vielen Dank.“ Wiebke überflog die chronologisch aufgestellte Liste. Überfall eins bis 20 im Zeitraum 1995 bis 2010 ...
„Also, Frau Wolant, ich denke, dass ich bei der weiteren Aufarbeitung nicht mehr benötigt werde“, verabschiedete sich Schmittke und raunte Stabhäuser zu: „Wir sehen uns in der Kantine.“
Während Wiebke die übrigen Seiten flüchtig querlas, zupfte Stabhäuser an einer Metallecke des dicken, schwarzen Ordners, der vor ihm lag. Klack, klack, klack ...
„Wieso ist die Raubserie eigentlich nicht beim Landeskriminalamt angesiedelt?“, fragte sie unvermittelt. „Der Aktionsradius der Täter ist doch eindeutig überregional. Weite Teile Nordbadens, der Süd- und Vorderpfalz sind betroffen.“
„Da müssen Sie schon das LKA fragen“, antwortete Stabhäuser ungerührt.
Die Frage, ob die Raubserie schon immer von der Karlsruher Kripo bearbeitet worden sei, verneinte er. „Mal ermittelten auch die Kollegen in Heidelberg oder in Mannheim und Ludwigshafen. Seit 2008 haben wir den Fall wieder auf dem Tisch.“
„Wie hoch ist denn die bisherige Gesamtschadenssumme? Die offiziellen Zahlen scheinen wenig realistisch zu sein. Auch beim letzten Überfall war nur von einigen Tausend Euro die Rede.“
Stabhäuser schaute verdutzt. „Ich kann Ihnen keine anderen Zahlen nennen.“
„Können oder wollen Sie keine anderen Zahlen nennen?“
„Können wir es dabei belassen?“
„Eigentlich nicht. In Anbetracht der Dimension der Bankraubserie sollte der Tatbestand nicht länger verniedlicht werden. Aus welchem Grund?“ Wiebke sah ihn herausfordernd an.
Stabhäuser schwieg und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Draußen, vom Flur, waren Schritte zu hören, von Weitem hallte Gelächter.
Wiebke wiederholte: „Wie hoch ist der Schaden, den die Gentlemen-Räuber bislang verursacht haben?“
„Ich kann Ihnen dazu keine Angaben machen.“ Stabhäuser starrte auf die Tischplatte. „Die Banken haben es nicht gern, wenn wir konkrete Summen nennen“, brummte er.
„Insgesamt sechsstellig? Siebenstellig?“
„Zweites“, murrte Stabhäuser unwillig.
„Niedrig oder hoch siebenstellig?“ Wiebke wurde energisch.
„Herrgott! 1,9 Millionen.“
Wiebke verzog keine Miene und notierte die Summe. Ihr war klar, dass sie den Ermittlungschef soeben in einen Konflikt gestürzt hatte. Aber: War er den Banken verpflichtet? Natürlich ging es vordergründig immer um die Verhinderung von Nachahmungstätern. Sie wollte das Argument auch nicht von der Hand weisen. Nur in diesem Fall wog das Ausmaß der strafbaren Handlungen in ihren Augen schwerer.
Als Wiebke aufblickte, hatte Stabhäuser demonstrativ die Arme verschränkt. Sie interpretierte es als Warnung: Bis hierher und nicht weiter. Instinktiv steuerte sie um und dachte: Lass ihn was erzählen, gib ihm die Oberhand. Frag ihn, wie er das Täterpaar nach Stand der Ermittlungen charakterisieren würde. Vielleicht hatten sie ja einen Profiler hinzugezogen.
Darauf ging Stabhäuser ein: „Wenn man das Puzzle unserer Ermittlungsarbeit betrachtet, verdichten sich viele Teilchen zu einem Indiz. Danach vermuten wir, dass unsere Täter unter Umständen gar nicht von der Beute leben und deshalb auch nicht im kleinkriminellen Milieu zu suchen sind.“
„Nicht von der Beute leben? Wie ist das zu verstehen?“
Stabhäuser nahm seine Brille ab und legte sie auf den Aktenordner. Er sah Wiebke bedeutungsvoll an. „Ganz einfach, Frau Wolant: Wenn Sie 1,9 Millionen durch 15 Jahre teilen, dann kommen sie auf ein Jahreseinkommen von etwa 126.000. Für ein Familieneinkommen ist das wahrlich nicht schlecht. Je nach Anspruch aber auch nicht zu üppig. Wenn Sie einen gehobenen Lebensstil pflegen, zu dem ein schönes Haus, schicke Autos, gutes Essen und mehrere Urlaubsreisen im Jahr gehören – die Täter sind wohlbemerkt immer braungebrannt –, dann ist das sehr am Anschlag. Das schreiben Sie aber bitte nicht, das ist nur unter der Hand.“
Warum hat er dann nicht einfach die Klappe gehalten?, regte sich Wiebke auf. Unter den Tisch fallenlassen kam gar nicht in Frage. „Dann müssen wir zu einer Sprachregelung finden“, forderte sie. „Geben Sie mir bitte ein zitierfähiges Profil.“
Stabhäuser stierte zur Decke und feilte allem Anschein nach an einer passenden Formulierung. Er klopfte auf den Tisch. „Sagen wir mal so: Die Profile der beiden passen eher auf gutbürgerliche, sozial angepasste Personen, vielleicht sogar selbstständige Leute, die netten Nachbarn von nebenan.“
Da das Gespräch nun in ruhigen Fahrwassern verlief, richtete Wiebke ihr Interesse auf Fahndungshinweise aus der Bevölkerung. Über die Jahre war eine Fülle aufgezeichneter Bilder der Banküberfälle veröffentlicht worden. Zunächst bestätigte Stabhäuser, dass es darauf jede Menge Hinweise gegeben habe.
„Und tatsächlich keine heiße Spur darunter?“
Das Donnerwetter kam aus heiterem Himmel. „Ja, schauen Sie sich das Fotomaterial doch mal an!“, dröhnte er. Wie Sie sehen, sehen Sie – genau: Nichts! Die sind grottenschlecht, eigentlich skandalös. Miese Auflösung und in einem unvorteilhaften Winkel aufgenommen. Diese Videoaufzeichnungen beeindrucken die Täter nicht im Geringsten. Die schlendern da ganz entspannt in die Bank hinein! Nicht maskiert, nur lapidar mit Perücke, Brille, Mütze. Mittlerweile richten sie nicht einmal mehr ihre Waffen auf die Bankangestellten, sondern zeigen sie nur noch am Hosenbund vor. Ich sage Ihnen: die Banken sparen am falschen Ende.“ Der Wutausbruch Stabhäusers war die denkbar ungünstigste Ausgangssituation für einige Fragen, die noch offen waren. Beispielsweise jene nach verwertbaren DNA-Spuren. Die Täter klauten doch bei fast jedem Überfall ein Mitarbeiterfahrzeug zur Flucht und ließen es ein kurzes Stück später stehen. Diesen Aspekt schenkte sie sich, jedoch auf keinen Fall die Frage nach konkreten Verdächtigen.
„Kein Kommentar.“
„Wurden Ihre Ermittlungen durch richterliche Beschlüsse unterstützt?“
„Selbstverständlich.“
Wiebke erkannte an seinem erschrockenen Blick, dass es ihm herausgerutscht war. Es gab also Verdächtige. Noch während sie Verdächtige! Richterliche Beschlüsse, TK-Überwachung, Durchsuchung? in ihren Block notierte, hörte sie Stuhlbeine übers Parkett kratzen. Stabhäuser hatte sich in Lebensgröße vor ihr aufgebaut und murmelte fast unverständlich: „Tja, ich muss jetzt wieder, ich hab noch zu tun. War nett, Sie kennengelernt zu haben, Frau Wolant. Ach, und ...“, Stabhäuser zögerte, „... das, was ich über die Banken gesagt habe, streichen Sie am besten.“
Steht Deutschlands längste Bankraubserie vor Aufklärung? Bereits auf dem kurzen Fußweg bis zum Hochhaus feilte sie an einer Schlagzeile. An einer rotgeschalteten Fußgängerampel rief sie Schroeder an.
„Her damit, alle Fotos und 120 Zeilen Text. Um 18 Uhr ist Redaktionsschluss. Wird der Aufmacher“, lautete seine knappe Durchsage.
Verkrampft wie eine Anfängerin saß sie nun vor ihrem Laptop am runden Esstisch. Ihre Ellenbogen bohrten sich ins Pinienholz. Sie knetete die Finger, faltete die Hände, drückte sie gegen die Nase, runzelte die hohe Stirn, starrte Löcher in die Wand.
Das weiße Worddokument auf dem Bildschirm strahlte jungfräulich, der Cursor blinkte erwartungsvoll. Sie suchte nach einem passenden Einstieg in ihre Story. Die Zeitanzeige auf ihrem Computer lief gnadenlos weiter. 13:08, 13:09, 13:10 ...
In der ungeklärten Raubserie der sogenannten Gentlemen-Räuber hegt die Polizei ... Wiebke markierte den Text, mit einem Tastendruck war er auch schon wieder gelöscht.
13:28, 13:29, 13:30 ...
In der ungeklärten Gentlemen-Bankraubserie gibt es offenbar eine heiße Spur. Wie der Leiter der Karlsruher Ermittlungsgruppe, Kriminalhauptkommissar Erol Stabhäuser, gegenüber unserer Zeitung bestätigte, bestehe konkreter Anfangsverdacht ...
Sie tippte, löschte, sichtete ihre Notizen, wühlte in den wild verstreuten Archivkopien, tippte aufs Neue.
17:38, 17:39. Schnell! Noch einen guten Schluss, befeuerte sie sich. ...
Die Belohnung für sachdienliche Hinweise wurde zwischenzeitlich auf 50.000 Euro erhöht.
Wiebke klickte Speichern und Schließen.
Wo war die CD? Hektisch wühlte sie in ihrem Wildlederbeutel und schob den blanken Datenträger ins Laufwerk. Schmittke hatte ihr eine Auswahl von vier Täterfotos und sechs Phantombildern in Druckqualität auf die Scheibe kopiert. Schroeder wollte alles.
Flugs schrieb sie einen kurzen Begleittext in die E-Mail, hängte ihren Text an und lud das Bildmaterial hoch. Und: Senden.
17:55. Mit dem letzten Klick fühlte sie sich, als habe sie eine Schlacht gewonnen.
Sie erhob sich mit steifen Beinen, drückte ihre Wirbelsäule durch. Irgendwie fühlte sie sich ausgelaugt. Es gelüstete sie nach Kaffee und einer Zigarette. Der italienische Espressokocher stand noch ungereinigt auf dem Herd der aufgeräumten Küche. Da erklang Big Ben, der Klingelton ihres Handys.
Wiebke sprang zum Tisch. „Ja, hallo!“, rief sie ins Handy.
„Wolant, wo bleiben Sie denn?“ Schroeder.
„Es ist alles raus“, versicherte sie entspannt.
„Bei uns ist nichts eingegangen.“
„Ich schau mal auf den Rechner.“ Wiebke prüfte den Postausgang. „Irgendetwas stimmt nicht mit der Internetverbindung! Mein Rechner sendet immer noch“, murmelte sie verwundert.
„Bringen Sie das schleunigst in Ordnung“, drängte Schroeder mit wenig sonorer Stimme.
Wie die Schlange aufs Kaninchen starrte Wiebke auf die Übermittlungskontrolle. Endlos sauste der Leuchtstreifen über das Prüffeld. Stumm schritt die Minutenanzeige der Computeruhr fort. 18:08. Nichts tat sich.
Die Zeit drängte. Sollte sie vielleicht alles auf einen USB-Stick ziehen und schnell zu Fuß zum Verlag bringen? Nein, wie blamabel.
Unbemerkt war der Leuchtstreifen am unteren Rand der Maske verschwunden. Verkrampft betätigte sie die Maus, klickte auf das Ausgangsfach. Tatsächlich: Gesendet.
Big Ben.
„Mensch, Wolant!“, grollte Schroeder am anderen Ende.
„Was machen Sie eigentlich, Sie verstopfen uns ja den kompletten Eingang!“
„Wie, ich verstopfe den Eingang?“
„Wie viele Megabyte haben Sie uns denn geschickt?“, wollte Schroeder ungehalten wissen.
„Keine Ahnung“, gestand Wiebke kleinlaut.
„Ja, das ist mir klar. Dann merken Sie sich für die Zukunft: Fotos mit hoher Auflösung stückeln, stückeln, stückeln!“ Schroeders Worte klangen dramatisch. Anstelle eines Grußes setzte er ein scharfes: „Mensch!“