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Kapitel 4

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Derweil in einer Stadtrandsiedlung von Berlin. Immer wieder stellte sich Bernd Fischer die gleiche Frage: Welches Schicksal trieb die geheimnisvolle Unbekannte dazu, sich die Pulsadern aufzuschneiden?

Seit er die Mitbewohnerin aus dem achten Stock regungslos in der Badewanne fand, ging ihm die Unglückliche nicht mehr aus dem Kopf. Bei den wenigen zufälligen Begegnungen, meistens im Fahrstuhl, weckte sie jedes Mal sein Interesse. Gegen seinen Willen. Er wunderte sich selbst darüber, denn die Frau tat eigentlich nichts, was ihn dazu veranlasst hätte. Außer, ihn absolut zurückhaltend, mit einem kurzen, flüchtigen Lächeln zu bedenken. Es ärgerte ihn, doch trotzdem reichte dieses Lächeln aus, um ihn für Augenblicke zu verzücken. Nie hätte er gewagt, sie anzusprechen.

Von der Damenwelt hielt er sich fern, lehnte weiblichen Kontakt kategorisch ab. Fischer hatte genug mit sich selbst zu tun. Er fokussierte sich auf sein Leben. Es bescherte ihm die Aufgabe, sich nach der Scheidung neu zu ordnen, mental und finanziell wieder auf die Beine zu kommen und seine innere Balance wiederzufinden. Frauen hätten dabei nur gestört, so viel war klar.

Deshalb wählte der Versicherungsfachmann die Einsamkeit inmitten einer menschenfressenden Anonymität, hinter der sich Großstädte wie Berlin so gern verstecken. Trabantensiedlungen, Molochs des sozialen Wohnungsbaus wie in Marzahn, das Märkische Viertel oder die Gropiusstadt.

Rückblicke in Baukünste vergangener Jahrzehnte, deren Hochhäuser potenzielle Selbstmörder anlocken. Wie Ikarus durch die Lüfte schweben. Daraus wird allerdings nichts, wenn man vom zehnten Stock wie ein nasser Sack in die Tiefe stürzt.

Er fühlte sich wohl, so völlig zurückgezogen am Stadtrand zu leben.

So wie Yakido.

Seit Wochen drängte es Fischer, sie, deren Leben er rettete, zu besuchen.

Fischer setzte seine Überredungskünste ein, denn er wollte unbedingt erfahren, wohin der Ambulanzwagen die Hoffnungslose brachte. Nach etlichen Telefonaten erhielt er endlich die ersehnte Auskunft: die Adresse der Klinik.

Er fühlte sich unsicher, ob bereits der richtige Zeitpunkt dafür gekommen wäre. War sie soweit über den Berg, um Besuch von ihm, einem Fremden, zu empfangen? Wie würde sie auf ihn reagieren?

Fischer verspürte ein Ziehen in der Magengegend. Er wusste genau, weshalb er die Unbekannte mit dem sanften Lächeln nie angesprochen hatte. Diese Frau strahlte auf ihn etwas aus, was ihm hätte gefährlich werden können.

In Yakidos Zimmer läutete das Haustelefon. Sie erschrak. Augenblicklich riss sie den Hörer von der Gabel.

„Ja bitte?“

„Hier ist Larissa. Frau Schwarz, für Sie hat sich Besuch angekündigt. Gegen 16.00 Uhr möchte Sie ein Mitbewohner aus Berlin beehren.“

„Mitbewohner aus Berlin?“, wunderte sich Yakido.

„Wer soll denn das sein?“

„Na, der Herr Fischer! Der Mann, der den Notarzt rief. Er sagt, Sie würden ihn kennen.“

Yakido vermochte sich nicht an einen Mitbewohner Namens Fischer zu erinnern. Auch an keine anderen Nachbarn aus dem Wohnhaus. Wie auch? Sie suchte keinen Kontakt zur Außenwelt, verließ die Wohnung nur selten.

Allein in dieser fremden Stadt, in einem anonymen Hochhauskomplex, fixierte sie sich einzig auf diesen einen Mann an ihrer Seite. Sie klammerte sich an ihn wie eine Klette. Nur, weil er ihr eine vermeintliche Zukunft versprach. So lange, bis er Yakido wegwarf wie einen alten Wischlappen.

„Was will er?“

Yakidos abweisende Stimme war nicht zu überhören. Larissa zuckte instinktiv mit den Schultern, dabei sprach sie weiter ins Telefon.

„Sie einfach nur besuchen. Einen netten Nachmittag mit Ihnen verbringen. Weiter nichts!“

Larissa verstand die Abneigung der Patientin nicht. In einem sanfteren Ton als bisher fügte sie hinzu:

„Nun freuen Sie sich doch! Für heute ist leider Regen angesagt, sonst hätte ich Ihnen einen Spaziergang im Park vorgeschlagen.“

„Und nun, wohin soll ich anstatt dessen mit diesem Herrn Fischer gehen?“

„Was halten Sie denn von unserer Cafeteria? Wir servieren dort einen herrlichen Latte Macchiato!“

„Wie Sie meinen. Danke Larissa. Das ist eine gute Idee.“

Yakido legte auf. Der Blick in den Spiegel zeigte ein aschgraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen. Hastig kniff sie sich in ihre Wangen, um keinen farblosen Eindruck zu hinterlassen. Aus der Schublade der Kommode fingerte sie ein schwarzes Band aus Samt hervor, um das lange Haar zu einem Zopf zu binden.

Yakido wählte einen Tisch in Fensternähe. Dort saß sie bereits, als Bernd Fischer die in einem freundlichen hellbeige eingerichtete Cafeteria betrat. Er blieb ein wenig orientierungslos am Eingang stehen, blickte sich suchend um. Sobald er Yakido entdeckte, steuerte er zielstrebig auf sie zu. Hinter dem Rücken verbarg er einen kleinen Strauß gelber Herbstastern.

„Frau Schwarz?“, sprach er sie zögernd an.

Yakido starrte aus dem Fenster, beobachtete die Regentropfen, die klatschend gegen die Fensterscheiben prasselten. Nun drehte sie sich langsam um, behutsam darauf bedacht, ihre Abneigung gegen diesen Nachmittagsbesuch zu verbergen. Beim Anblick Fischers rasten augenblicklich ihre Gedanken, suchten in ihrem Erinnerungsvermögen.

Wo habe ich diesen Mann schon mal gesehen?

Fischer schien ihre Gedanken zu erraten.

„Wir sind uns einige Male im Fahrstuhl begegnet. Erinnern Sie sich an mich?“

Fischer erschrak über die blasse, wie durchsichtiges Seidenpapier scheinende Haut, die Yakidos Wangen bedeckte. Vielmehr jedoch über ihren stumpfen Blick, der mit leeren Augen auf ihm ruhte.

„Ja, ich erinnere mich“, erwiderte sie leise.

„Was wollen Sie hier?“

„Darf ich Platz nehmen?“

Er blieb weiterhin höflich, ihre Teilnahmslosigkeit irritierte ihn jedoch.

„Ich habe für uns einen Latte Macchiato bestellt. Die Schwester sagte mir, der wäre sehr lecker und Sie würden dieses Getränk mögen.“

Pause. Betretene Stille. Yakido sagte kein Wort, sah Fischer nur ausdruckslos an. Er fühlte sich unbehaglich, wusste nicht, wie er einen Zugang zu dieser Frau finden sollte. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, ein Gespräch zu beginnen. Zur Überbrückung reichte er ihr den Blumenstrauß.

„Danke“, entgegnete sie matt.

„Die sind schön.“

Gemeinsam tranken sie ihren Kaffee. Sie schwiegen. Tausend Worte kreisten durch Fischers Gehirn. Tausend Worte, die er ihr gern sagen wollte. Dann endlich brach es aus ihm heraus.

„Wer hat Ihnen das angetan?“

„Wer hat mir was angetan? Was meinen Sie? Was soll das?“

Yakido verstärkte sofort ihre Abwehrhaltung. Sie fühlte sich von der direkten und völlig unerwarteten Frage regelrecht bedroht.

„Warum wollten Sie nicht mehr leben?“

Yakido erstarrte. Niemand besaß das Recht, in ihrem Leben zu wühlen, geschweige eine Rechtfertigung von ihr zu erhalten. Was bildete sich dieser Kerl ein?

„Was geht Sie das an? Was verdammt geht Sie das an?“

Yakido verlor die Beherrschung. Ihre Stimme wurde lauter. Fischer stocherte in ihrem wunden Punkt herum. Sie begann zu schreien.

„Was wollen Sie von mir? Spazieren hier einfach so herein und fragen mich, warum ich nicht mehr leben wollte? Das geht Sie verdammt noch mal einen Scheißdreck an! Verschwinden Sie, ich will Sie hier nicht mehr sehen. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist! Lassen Sie mich in Ruhe!“ Yakidos Stimme überschlug sich, sie war außer sich vor Wut. Ruckartig stand sie auf, dabei kippte der Stuhl nach hinten und polterte auf den Boden. Die übrigen Gäste der Cafeteria wohnten entgeistert dem Geschehen bei, einige wurden bereits unruhig.

„Hauen Sie endlich ab! Verschwinden Sie!“

Wutentbrannt drehte Yakido Fischer den Rücken zu, während sie hastig zum Ausgang eilte.

Larissa, die sich mit gemischten Gefühlen, dabei nichts Gutes ahnend, in der Nähe der Patientin aufhielt, stürmte herbei. Energisch bedeutete sie dem Besucher, zu gehen. Sie ergriff Yakido am Arm.

„Kommen Sie, Frau Schwarz. Beruhigen Sie sich. Herr Fischer wird unser Haus wieder verlassen und Sie nicht weiter belästigen. Das verspreche ich Ihnen.“

Entschlossen schob sie Yakido in den Flur und begleitete sie zu ihrem Zimmer.

„Hier, nehmen Sie das. Das wird Sie beruhigen und Sie werden ein wenig schlafen.“

Larissa reichte ihrem Schützling eine Beruhigungstablette. Danach schob sie einen Stuhl im Zimmer zurecht, klopfte auf das Sitzkissen und bedeutete der Patientin, sich dort nieder zu lassen. Yakido nahm Platz. Widerwillig schluckte sie die weiße Pille.

„Das wird schon wieder, Frau Schwarz“

Die Pflegerin tätschelte vertraulich Yakidos Arm.

„Ich muss wieder weiter, habe noch mehr Schäfchen, die ich hüten muss!“

Sie zwinkerte mit den Augen, was ihrem kantigen Gesicht einen spitzbübischen Ausdruck verlieh.

„Ich werde Sie nun allein lassen. Wenn Sie mich brauchen, Sie wissen ja, wo Sie drücken müssen!“

Lächelnd verließ die gute Seele das Zimmer, zeigte gleichzeitig auf den Klingelknopf neben dem Lichtschalter und zog die Tür hinter sich zu. Zur Kontrolle blieb sie noch einen Moment auf dem Flur stehen, horchte angestrengt an der Zimmertür.

Stille erfüllte den Raum, welcher Yakido nun seit einiger Zeit anstelle der kärglichen Wohnung in der Stadtrandsiedlung ein mehr oder weniger gemütliches Domizil bot.

Yakido gab keinen Laut von sich. Bewegungslos blieb sie auf dem Stuhl sitzen, wohl wissend, dass Larissa noch horchend vor der Tür stehen würde.

Jetzt nur nicht weiter auffallen! Ganz ruhig bleiben.

Die Wirkung der Tablette ließ Yakido gleichmütig werden, weshalb sie sich ohnehin allmählich beruhigt hatte. Bedächtig wartete sie, bis sich Larissa von der Zimmertür entfernt hatte. Sie steuerte die weiße Kommode an, die sich der Klinikeinrichtung perfekt anpasste, und zog die oberste Schublade auf.

Unter bunten Tüchern lugte ein Foto hervor, das einzige, welches sie damals mitnehmen konnte. Es zeigte ein lächelndes Mädchen auf dem Schoß der Mutter sitzend. Ein unbeschwertes Kind, inmitten einer trügerischen Friedlichkeit nebst Harmonie. Ein falsches Zeugnis der Vergangenheit.

„Das bin ich nicht“, hörte sie sich flüstern.

„Das bin nicht ich.“

Vorsichtig verstaute sie das Erinnerungsstück wieder in der Schublade. Müde sank sie auf das Bett. Die Aufregung des Tages hinterließ ihre Spuren. Die Beruhigungstablette tat das Übrige.

Yakido sehnte sich nach todesähnlichem Schlaf, der ihre Erinnerungen für immer aus ihrem Gedächtnis löscht. Bleischwer senkten sich ihre Lider, doch ihre Augen blieben nicht von ihnen bedeckt. Ein nervöses Flimmern hielt sie wach.

„Okay, du verhasster Dämon. Komm, schlag zu. Führen wir unsere eigene Therapie durch. Lass uns spielen, quäle mich. Spielen wir Vergangenheit. Ich halte dich aus, du verdammter Teufel!“

Sie straffte ihre Muskeln und begann, sich zu konzentrieren. Yakido schärfte ihr Bewusstsein, versuchte, sich eines der verhassten Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen. Begierig, die einstige Qual erneut zu durchleben. Wohin würde der Dämon sie führen, wenn nicht wieder in die Enge der kalten, feuchten Wohnung? Der muffige Geruch der Möbel und Gardinen stieg ihr bereits in die Nase.

„Komm schon, lass mich nicht so lange warten!“

Endlich fiel Yakido in einen anderen Bewusstseinszustand, ähnlich wie der in Trance. Mit aller Anstrengung versetzte sie sich in die damaligen Handlungsabläufe, bewegte sich in ihnen, als führte sie Regie. Sie befand sich wieder in ihrem Mädchenzimmer, fernab in Hamburg, an dem Ort, den sie seit Kindertagen zu hassen lernte.

Träum süß stirb schnell

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