Читать книгу Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt - Marie-Christin Spitznagel - Страница 9
Оглавление3 Gabriel
In einer riesigen Halle von überirdischer Perfektion und Schönheit saß Gabriel in einem schneeweißen Ledersessel und dachte nach. Wände und Boden der Halle waren so unglaublich weiß, dass man nicht sehen konnte, wo das eine begann und das andere endete. Keine Fuge oder Kante zerstörte das perfekte Weiß. Er saß in seinem Sessel mit geschlossenen Augen und probierte etwas aus, das ihm ein Neuzugang beigebracht hatte. Me-di-ta-tion hieß es.
Jeder Engel hatte im Himmel seinen eigenen Raum, der seiner Natur entsprach. Michael machte sich immer darüber lustig, dass Gabriels Bereich so weiß und leer war. Sein Vorstellungsvermögen gäbe wahrscheinlich nicht mehr her, sagte Michael. Gabriel hingegen war sich sicher, dass das Weiß der Reinheit und Klarheit seines Geistes entsprach. Er war kein Krieger wie seine Brüder, sondern ein Verkünder, ein Sprachrohr und die Kontaktperson für die Propheten.
Gewesen.
Früher.
Vielleicht war das auch der Grund, warum Gabriel so harmlos aussah. Sein Äußeres war der Aufgabe angepasst, mit Propheten, Heiligen oder anderweitig wichtigen Menschen zu kommunizieren. Seine langen, blonden Haare fielen in weichen Locken über seine Schultern. Sein Gesicht war markant und schön, auf eine unaufdringliche Weise. Bei seinen letzten Besuchen auf der Erde war er mit 1,90 Meter größer gewesen als die meisten Menschen. Jetzt würde ihn niemand mehr automatisch als überirdisch erkennen. Gabriel behauptete, dass ihn das überhaupt nicht störe. Aber es störte ihn doch ein bisschen.
Michael war schon vor geraumer Zeit in das Zimmer gekommen, was sowohl Jahre als auch nur wenige Minuten her gewesen sein konnte. Zeit war im Himmel ein eher fließendes Konzept. Wortlos hatte er einen Köcher mit Blitzen neben den weißen Sessel geworfen, der Gabriel gegenüber stand, und sich in Selbigen fallen lassen, um dann wortlos vor sich hinzustarren. Michael kam häufig in sein Zimmer gepoltert, schmollend wegen eingebildeter Kränkungen und gähnender Langeweile. Mal laut schimpfend, mal still grollend, bis Gabriel ihn endlich ansprach, und fragte, was denn los sei. Allmählich war dieser das Spiel leid. Aber für seinen Lieblingsbruder spielte er mit. Und weil auch er nichts Besseres zu tun hatte. Doch heute war sein Bruder anders. Eine Unruhe umgab ihn. Mehr als sonst. Er war aufgewühlter.
Drängender. Forscher.
Diese Unruhe brodelte unter seiner, nach außen zur Schau gestellten, ruhigen Oberfläche und drängte hinaus. Gabriel konnte fast die Luft um seinen Bruder herum vibrieren sehen.
«Michael, was grummelst du schon wieder?», milde lächelnd blickte Gabriel ihn an. Die Unruhe verunsicherte ihn. Noch immer fläzte sich Michael in den Sessel. Seine Beine hatte er über die linke Armlehne geschwungen, seinen Rücken an die Rechte gelehnt und seinen Ellenbogen gegen die Rückenlehne gestützt, um sein Kinn auf der Handfläche ablegen zu können. Er blickte angestrengt von seinem Bruder weg und prustete, betont gelangweilt, Luft durch die Lippen.
«Michael!», Gabriel legte etwas Strenge in seine Stimme. Seiner Meinung nach stand ihm diese Haltung ganz ausgezeichnet. «Solch ein Verhalten schickt sich nicht für Engel! Ich frage mich, wieso es ausgerechnet mir seit Abertausenden von Jahren auferlegt ist, deine Jammermiene ertragen zu müssen.»
Gabriel hatte sich eine Reaktion erhofft, eine Kleine wenigstens. Oder besser, einen klärenden Streit, eine epische Schlacht der Worte. Er mochte epische Schlachten der Worte. Er mochte den Ausspruch ‹Eine epische Schlacht der Worte› - schließlich war er der Verkünder.
‹Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden›, formulierte er lautlos in seinem Kopf vor. Das war ein solider und unaufdringlicher Einstieg, befand Gabriel. Doch sein Bruder schwieg und starrte wütend vor sich hin.
«Bruder! Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden!» - Seine Worte hatten nicht den gewünschten Effekt. Michael schien unbeeindruckt.
«Lass ab von deinen Zorn, beende dein kindisches Treiben! Sei endlich deiner selbst würdig, verdammte Hacke!» Manchmal entglitt ihm die Zunge. Gabriel tröstete sich damit, dass es, außer Michael, keiner gehört hatte, und diesem hatte er schon schlimmere verbale Ausfälle um die Ohren gehauen.
«Seit von oberster Etage eine neue Richtung vorgegeben wurde und die guten Tage des Alten Testaments abgelöst wurden von Vergebung, Nächstenliebe und Toleranz, hast du schlechte Laune und benimmst dich wie ein Kleinkind. Das ist eines Engels unwürdig! Schäme dich und besinne dich neu.» Gabriel hatte sich in Fahrt gebracht. «Du wurdest erschaffen, um Gottes Armee anzuführen», fuhr er fort. «Du hast gegen unseren gefallenen Bruder Luzifer und seine Folgschaft abtrünniger Engel gekämpft. Du hast Städte voller Sünder in einem Flammenmeer versenkt, die Plagen erschaffen und über die Ägypter gebracht, riesige Heere mit einem einzigen Schlag deines Feuerschwerts in die Knie gezwungen. Die Menschen haben in Ehrfurcht ihre Gesichter abgewandt und dich angebettelt, verschont zu werden. Jetzt sitzt du hier herum und lässt kleine Fluten und Unwetter auf die Erde niederprasseln. Es ist beschämend.» Oh ja, epische Worte. Jetzt fehlte nur noch die Schlacht.
Michael hob seinen Kopf, blitzte seinen Bruder mit stechenden Augen an. Er konnte wirklich furchteinflößend aussehen.
«Weißt du, was wirklich beschämend ist?», fuhr er auf, «Wir! - Wir sind in die Belanglosigkeit abgerutscht und alle tun so, als ob dem nicht so wäre. Wir sind Kitschfiguren in den Augen der Menschen. Putzige Glücksbringer. Sie stellen kleine, nackte, dicke Figuren mit Flügelchen auf ihre Fensterbretter. Das sollen wir sein!» Er erhob sich aus dem weißen Sessel und ging energisch auf seinen Bruder zu.
«Wir sind bedeutungslos, bestenfalls ein Witz, ein Kindermärchen. Kein Mensch achtet oder fürchtet uns mehr. Warum auch? Wir hatten seit Jahrtausenden keinen Einsatz mehr auf der Erde, es gibt nichts zu tun, nichts zu rächen, nichts zu verkünden. Wir sitzen herum und warten auf was-weiß-ich-was!»
Das war ein neuer Ton. Normalerweise quengelte Michael lediglich, dieser Zorn war neu. Wo kam der denn her? Gabriel ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, schüttelte kurz den Kopf und antwortete auf Michaels Tirade lediglich mit einer abwehrenden Geste. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel. Auf diesen neuen Ton musste er sich erst einstellen. Betont langsam spazierte er um den Schreibtisch herum, nahm den Köcher mit den restlichen Blitzen, bevor Michael die Chance hatte, etwas damit anzustellen, und öffnete die Tür zum Wandschrank. Während er sie aufräumte, musste er nicht reden und konnte sich seine nächsten Worte gut überlegen. Er entschied sich fürs Beschwichtigen.
«Sei doch nicht so eine Dramaqueen. Und vor allen Dingen, wirf nicht wieder von diesen Blitzen nicht, dass du wieder ‹ganz aus Versehen› Erdbeben und Feuersbrünste in Gang setzt. Such dir lieber eine vernünftige Beschäftigung. Dann ist dir auch nicht mehr langweilig.» Mit einem kräftigen Schwung knallte er den Schrank zu, so dass darin ein kleines Gewitter losbrach. Michael schlurfte aus dem endlos weißen Raum zum Sessel zurück und ließ sich kraftlos in das Polster sinken.
«Ewig ist eine furchtbar lange Zeit, wenn man nichts tun kann, außer zusehen, wie diese haarlosen Affen, auf die Vater so stolz ist, sich gegenseitig abschlachten», sagte Michael leise. «Und das Schlimmste ist:. Wir dürfen nicht einmal mitmachen!»
Gabriel lehnte seinen Kopf gegen die Tür des Blitzschranks. Es war ja nicht so, dass er nicht verstehen würde, warum Michael so frustriert war. Es ging ihm ja genauso. Und wenn Michael in der Nähe war, musste er sich richtig zusammenreißen, dass dieser nicht merkte, dass er an demselben Überdruss litt. Sein Bruder hatte ja Recht. Was blieb ihnen denn groß übrig, außer manchmal – heimlich, damit es keiner merkt, dass sie es sind - in kleinen Schutzengeljobs ein paar Idioten vor sich selbst zu retten, um nicht vor Langeweile wahnsinnig zu werden? Gabriel war sich ziemlich sicher, dass sein Bruder dies auch tat. Ebenso heimlich, damit niemand merkte, dass er es war, der sich sonst so laut darüber lustig machte.
Michael flüsterte: «Was bleibt uns denn übrig außer, heimlich, damit es keiner merkt, dass wir es sind, ein paar Idioten vor sich selbst zu retten und kleinere Schutzengeljobs zu übernehme, um nicht wahnsinnig zu werden?» Gabriel stockte kurz. Hatte er eben laut gedacht oder waren sein Bruder und er tatsächlich einer Meinung? Er räusperte sich und ging wieder zurück zum Sessel, um sich seinem Bruder gegenüber nieder zu setzen.
«Die anderen Engel sind der neuen Marschrichtung mit Begeisterung gefolgt. Warum kannst du das nicht?»
«Die folgen doch der Chefetage immer mit Begeisterung wie ein Haufen degenerierter Labradore.» Michael seufzte. «Aber die anderen Engel sind ja nicht das Hauptproblem! Die Menschen sind es. Sie halten sich für so einzigartig. Sie werden immer arroganter und dreister. Es ist erst wenige Jahrhunderte her, da haben sie sich ehrfürchtig, vor den Reliquien vermeintlicher Heiliger, in den Staub geworfen und ähnlich possierliche Dinge getan. Sie halten sich für schrecklich zivilisiert, weil sie verfaulte Dinosaurierreste als Energiequelle nutzen können.» Er rappelte sich hoch, sprang wieder aus dem Sessel und warf aufgebracht die Hände in die Luft. «Einige von ihnen sind paradoxerweise zudem davon überzeugt, dass es Dinosaurier nie gegeben hat. Ganze Gruppen glauben unbeirrt, während sie in riesigen, dinosaurierflüssigkeitsbetriebene
Fortbewegungsmitteln unterwegs sind, dass es Dinosaurier nie gegeben hätte und Vater die Menschheit mit einem Fingerschnipsen - Puff- aus einem humanoid geformten Lehmklumpen zum Leben erweckt hat. Das sind die Allerschlimmsten! Die sind arrogant und noch dümmer als der Rest. Erinnerst du dich daran, wie Vater die Evolution in Gang gebracht hat. Wie wunderbar das gewesen ist? Wieviel Hoffnung er für diese Menschen hatte! Nun sieh, was sie machen. Und wir dürfen nicht mal eingreifen. Und Vater? Vater ist gegangen. Von wegen ‹kleiner Urlaub›. Der dauert schon 2000 Jahre, und wir sitzen hier fest.»
Gabriel erinnerte sich genau an den Moment, an dem die Erde begann. Er hatte neben seinem Vater und all den anderen Göttern gestanden, als die Evolution ihren Anfang nahm, er hatte das Wunder der Weiterentwicklung vom ersten Einzeller miterleben dürfen. Immer wieder jagte ihm der Gedanke an diese erste, einfache Zeit voller Hoffnungen für diese junge Welt Schauer über den Rücken. Nachdem Gott die Engel geschaffen hatte, war er auf der Suche nach einer Herausforderung gewesen. Freier Wille. Engeln war er nur teilweise vergönnt. Die Erzengel waren in der Lage, auch selbst zu denken, anders als das gemeine Fußvolk. Trotzdem mussten sie in allem folgen, hatten keinen freien Willen. Das hatte Vater ausschließlich diesen haarlosen Affen zugestanden. Weil er sehen wollte, was sie damit machten, hatte er gesagt.
Michael war seinerzeit damit beauftragt, die Plagen vorzusortieren, und war in dieser Aufgabe vollkommen aufgegangen. Er hatte sich keine Gedanken gemacht über die Entwicklung auf der Erde. Zwar wunderte er sich, was sein Vater mit den Plagen wollte, aber zu diesem Zeitpunkt war das Hinterfragen von Anweisungen noch nicht bei den Erzengeln angekommen. Gabriel erinnerte sich an die Unterhaltungen, die er mit ihm geführt hatte, als wären sie gestern gewesen. Seit Jahrhunderten regte dieser sich auf und schimpfte auf die Menschen. Der Ärger seines Bruders war für Gabriel auch immer nachvollziehbar gewesen, aber heute schwang zusätzlich etwas Anderes in seinen Worten mit. Etwas, das Gabriel einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Etwas Neues.
«Gabriel», im Flüsterton riss Michael seinen Bruder aus den Gedanken.
«Ja?», fragte Gabriel leise.
«Mir ist langweilig!», Michaels Stimme war ein Flüstern. «Ich will nicht mehr hier festsitzen! Wie lange ist es her, dass ich eine Stadt verwüsten durfte, oder Feuer regnen lassen? Ich will einfach nicht mehr herum sitzen und nichts tun!»
Gabriel nickte augenrollend und blickte aufwärts, als gäbe es einen weiteren Himmel über ihnen.
«Michael», erwiderte er gebetsmühlenartig, während er sich Mühe gab, die zuckenden Lichter, die noch immer aus dem Blitzeschrank stoben, zu ignorieren, «Wir sind Diener Gottes. Uns ist nicht langweilig, und wir sitzen nicht herum und meckern. Wir sind weise, würdevoll und tun, was unser Vater uns gesagt hat, bevor er ging! Ohne zu mäkeln und ohne zu motzen.» Er machte eine kurze Pause. «Du weißt, was passiert, wenn einer von uns anfängt, mit derlei … derlei ... Sachen!», sagte er schließlich, als ihm das richtige Wort nicht einfallen wollte. Verweise auf ihren gefallenen Bruder Luzifer halfen immer, Michael in seine Schranken zu weisen. Diese beiden waren sich so unglaublich ähnlich. Lediglich war Luzifer dickköpfiger und impulsiver. Schließlich waren Luzifers Trotzanfälle legendär und hatten es in das Buch der Bücher geschafft.
«Trotzdem. Ich will nicht mehr eingesperrt sein, Gabriel!», wiederholte Michael ganz leise, ohne seinen Bruder dabei anzusehen. «Wir hängen fest, ich habe sogar Hausarrest, nur weil ich ein einziges blödes Memo nicht gelesen habe…».
«Ein blödes Memo? Du hast zwei komplette Städte ausgelöscht, Tausende Menschen verbrannt und das Meer überkochen lassen. Obwohl in dem Memo stand, dass wir ab der Geburt des Sohnes einen neuen Kurs einschlagen. Wir haben vier Propheten verschlissen, bis wir die Verweise darauf aus allen Geschichtsbüchern getilgt hatten!»
«Ich habe das Memo auf meinem Schreibtisch nicht gesehen. Es lag unter dem Feuerschwerterkatalog!» Michael unterbrach Gabriel mit lauter Stimme. Etwas leiser fügte er hinzu: «Ich liebe Feuerschwerter.»
Als Gabriel seinen Bruder ansah, konnte er dessen schmerzverzerrtes Gesicht sehen. Seine Wut verrauchte augenblicklich, er fühlte sich schlecht, dass er seinen kleinen Bruder so angefahren hatte. Schnell stand er auf, ging zu ihm hinüber und legte Michael beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ist schon gut.»
Michael schüttelte den Kopf. «Nein. Nein, Gabriel. Gar nichts ist gut. Vater ist weg, keiner weiß, wo er ist, wir sitzen hier fest, ohne echte Aufgabe. Der Sohn spielt Poker mit seinen Kumpels oder sitzt mit diesem fetten Kerl mit den großen Ohrlöchern seit Jahren unter einem Feigenbaum und meditiert. Neulich erzählte er stundenlang, dass er fast das Nirwana erreicht hätte! Er ist schon im Himmel, wozu braucht er ein Nirwana? Gabriel, es passiert nichts, und der Sohn, den wir anbeten sollen, ist ein verfluchter Hippie! Ich dreh‘ noch durch!»
Gabriel fiel nichts ein, was er als Trost hätte sagen können. Er konnte seinen Bruder viel zu gut verstehen.
«Ich wünschte auch, ich wüsste, wo er ist! Das wünschte ich wirklich. Er soll doch zurückkommen.» Mit diesen Worten lehnte Michael seinen Kopf an die Brust des Bruders, der ihm sanft über den Rücken strich. Trotz aller Streitereien, trotz ihrer Unterschiede, Michael war sein Lieblingsbruder und es brach ihm das Herz, ihn unglücklich zu sehen.
«Ja, das wünschte ich auch», sagte Gabriel leise. «Aber du weißt, dass wir ihn nicht finden können, wenn er nicht gefunden werden will.»
«Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass er zu uns kommt.»
«Hm, das wäre natürlich super. Aber wie?»
Michael machte eine Pause. Er wusste wie. Ihm wurde gesagt, wie. Im Moment musste er allerdings seinen Bruder davon überzeugen, dass sein Plan auch sinnvoll war. Der richtige Weg. Auch wenn es nicht sein eigener Plan war.