Читать книгу Dr. Daniel Classic 42 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 3
Оглавление»Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst, tust du, was ich sage!« herrschte Vitus Sägmüller seine Tochter Trixi an. »In einem halben Jahr wirst du den Penzkofer Michel heiraten, damit hat sich’s!«
»Ich mag ihn aber nicht!« begehrte Trixi auf, und ihre hübschen dunk-len Augen sprühten dabei wahre Zornesblitze. »Der Michel ist grob und ungelenk. Mit dem kann ich bei der Hochzeit nicht mal den Brautwalzer tanzen!«
Vitus Sägmüller lachte spöttisch auf. »Als ob es darauf ankäme. Der Michel ist reich! Wenn sein Vater erst mal übergibt, dann gehört ihm der größte Hof in der ganzen Gegend.« Er reckte sich hoch. »Und uns der zweitgrößte! Geld muß zu Geld, Trixi, merk dir das!«
»Ich will aber nur einen Mann heiraten, den ich liebe«, entgegnete Trixi und warf mit einer heftigen Handbewegung ihr langes, dichtes Haar zurück. »Außerdem werde ich nächste Woche erst achtzehn! Ich will in den nächsten Jahren überhaupt noch nicht heiraten!«
Wütend donnerte Vitus Sägmüller eine Faust auf den Tisch, daß Gläser und Geschirr gefährlich klirrten.
»Du heiratest den Michel, und damit basta!« brüllte er seine Tochter an. »Mit dem alten Penzkofer bin ich schon darüber einig.« Daß es da nicht viel zu einigen gegeben hatte, weil der Penzkofer ihm wegen seiner vielen Schulden mehr oder weniger das Messer auf die Brust gesetzt hatte, verschwieg er dabei lieber. Schließlich mußte die Trixi ja nicht alles wissen. Deshalb fügte er nur noch hinzu: »In einem halben Jahr ist Hochzeit, und das ist mein letztes Wort.«
Deines vielleicht, aber meines noch lange nicht, dachte Trixi zornig, hütete sich aber, ihrem Vater noch einmal laut zu widersprechen. Abgesehen davon, daß ein Widerspruch sowieso keinen Sinn hatte. Sie mußte ihren Vater einfach vor vollendete Tatsachen stellen.
Wenn ich keine Jungfrau mehr wäre, überlegte sie.
Der Brauch, jungfräulich in die Ehe zu gehen, war zwar hoffnungslos veraltet, aber zumindest der Michel sah so aus, als würde er auf derlei Dinge noch immer großen Wert legen.
Trixi kam nicht dazu, ihren Gedankengang fortzusetzen, denn in diesem Moment sah sie durch das Fenster Michel Penzkofer auf den Hof kommen. Er hatte einen Strauß roter Rosen dabei, den er sich wie ein Stück Holz unter den Arm geklemmt hatte. Jetzt trat er ohne anzuklopfen in die Stube – ganz so, als gehöre ihm bereits der Hof.
»Grüß Gott, Bauer!« Seine Stimme dröhnte wie Donnergrollen durch den Raum. »Servus, Trixi.« Er reichte ihr die Blumen. »Da, für dich.«
»Danke, Michel«, zwang sich Trixi zu sagen.
Inzwischen war Vitus Sägmüller aufgestanden und schlug Michel seine mächtige Pranke auf die Schulter.
»Schön, daß du vorbeikommst«, meinte er. »Du willst dir sicher deine Braut anschauen, was? Ist schon ein bildhübsches Mädel, meine Tochter.«
»Ja, ja«, entgegnete Michel und betrachtete Trixi dabei wie ein Stück Vieh, das er zu kaufen gedachte.
Wenn er mir jetzt auch noch auf die Schenkel haut, um zu sehen, wie ich im Fleisch stehe, dann kriegt er ein paar solche Ohrfeigen verabreicht, daß er nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist, dachte Trixi wütend.
Doch so taktlos war Michel nun auch wieder nicht. Er wußte sehr wohl, wie man sich einem jungen Mädchen gegenüber benahm, und im Grunde fand Trixi ihn ja nicht einmal unsympathisch. Nur zum Heiraten reichte es für sie eben noch lange nicht. Sicher, die Penzkofers waren die reichsten Bauern in der ganzen Umgebung, Michel fuhr sogar einen sündhaft teuren amerikanischen Sportwagen, und beinahe jedes Mädchen aus dem Ort bekam glänzende Augen, wenn es ihn sah – wobei Trixi nicht ganz sicher war, ob die Schwärmerei dem silberglänzenden Auto oder eher Michel selbst galt. Dabei mußte Trixi zugeben, daß er ja nicht einmal schlecht aussah. Groß, breitschultrig, mit dichtem, dunkelblondem Haar und den blauesten Augen, die Trixi jemals gesehen hatte. Aber das viele Geld und sein gutes Aussehen konnten eben nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sehr von sich eingenommen war.
Michel war nämlich der festen Überzeugung, daß es für jede Frau eine Ehre war, wenn er sich herab-ließ, überhaupt mit ihr zu sprechen. Und Trixi wollte er sogar heiraten! Dafür hätte sie seiner Meinung nach vor lauter Dankbarkeit eigentlich vor ihm auf die Knie fallen müssen. Schließlich nahm der junge Penzkofer nicht jede!
»Trixi, du kannst uns eine zünftige Brotzeit herrichten«, erklärte jetzt Vitus Sägmüller. »Der Michel und ich haben noch einiges zu besprechen, bevor ihr heiraten könnt.«
Michel nickte. »Ja, ich will schon vorher wissen, was ich mir da einhandle. Könnte ja sein, daß der Sägmüller-Hof tief in der Kreide steckt, dann würde ich mir mit der Heirat nur Schulden aufhalsen.« Dabei zwinkerte er Vitus Sägmüller fast ein wenig boshaft zu, was diesem eine verräterische Röte ins Gesicht trieb, doch Trixi war über Michels Worte bereits so aufgebracht, daß sie es gar nicht bemerkte.
»Um mich geht es bei eurem Kuhhandel wohl gar nicht!« brauste sie auf. »Schließlich willst du nicht den Hof heiraten, sondern mich! Abgesehen davon, daß ich auf diese zweifelhafte Ehre gar keinen Wert lege!«
Michel grinste breit. »Ganz schön kratzbürstig, deine Trixi. Sag mal, Bauer, hast du da bei der Erziehung nicht was übersehen? Die hätte ab und zu mal den Rohrstock zu spüren bekommen müssen.«
»Scheint mir auch so«, knurrte Vitus Sägmüller und wußte dabei nicht, ob er nun auf seine Tochter oder auf die schon fast unverschämte Art von Michel wütend sein sollte.
»Keine Sorge, Bauer, die erziehe ich mir schon noch«, versicherte Michel. »Warte nur, wenn sie erst mal mit mir verheiratet ist und jedes Jahr ein Kind austragen muß. Da wird ihr die Kratzbürstigkeit schnell vergehen.«
Trixi kochte vor Wut, und sie fragte sich, wie sie für diesen ungehobelten Klotz jemals auch nur einen Anflug von Sympathie hatte empfinden können.
»Dir werde ich nie ein Kind austragen, das schwöre ich dir!« erklärte Trixi heftig, dann rannte sie aus der Stube und schlug die Tür hinter zu zu.
*
Auf dem Bergbauernhof der Gröbers tagte der Familienrat. Gemeinsam saßen sie in der geräumigen Stube – der alte Sepp Gröber, seine drei Söhne Martin, Franz und Thomas, Martins Ehefrau Claudia und die Wirtschafterin Genoveva Huber, die allgemein nur liebevoll Vevi genannt wurde und die schon so lange auf dem Gröber-Hof arbeitete, daß sie sozusagen zur Familie dazugehörte.
»Es gefällt mir zwar überhaupt nicht«, meinte der alte Gröber jetzt mit mißmutigem Gesicht, »aber ich fürchte, wir müssen uns dem sogenannten Lauf der Welt leider auch anschließen und Feriengäste aufnehmen.«
Martin runzelte die Stirn. »Aber, Vater, so schlecht steht es um den Hof doch gar nicht. Ich kenne die Zahlen ebensogut wie du…«
»Ich weiß schon, Martin, im Augenblick könnten wir uns noch ganz gut über Wasser halten, aber ich will nicht warten, bis wir wirklich in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten, und das wäre meines Erachtens nur noch eine Frage der Zeit.«
Martin senkte den Kopf. Er wußte genau, daß sein Vater recht hatte, aber auch ihm gefiel der Gedanke nicht, hier oben Fremde zu haben. Schließlich war er Bauer und kein Gastwirt.
»Die Bauern im Tal haben es da leichter«, fuhr Sepp Gröber fort. »Viele Leute kaufen Obst, Gemüse, Eier und Milch lieber auf dem Bauernhof als im Supermarkt, aber wer nimmt den weiten Weg zu uns herauf schon auf sich, nur um ein paar Eier oder einen Liter Milch zu kaufen?« Er seufzte tief auf, dann schob er ein Blatt Papier über den Tisch zu seinem ältesten Sohn. »Diese Anzeige habe ich gestern abend noch aufgesetzt.«
Martin las den Text, dann gab er das Papier an seinen jüngeren Bruder Franz weiter.
»Nicht schlecht«, urteilte er dabei, und auch die anderen Familienmitglieder schlossen sich seiner Meinung an.
»Also schön«, erklärte der alte Gröber, als er das Blatt wieder in den Händen hielt. »Dann gebe ich die Anzeige gleich noch auf.«
»Das kann ich auch machen«, bot sich Martin an, doch sein Vater winkte ab.
»Der Maxl muß neu beschlagen werden«, meinte er. »Den nehme ich bei der Gelegenheit auch gleich mit hinunter.«
»Weiß der Schmied Bescheid?« fragte Martin, weil er wußte, daß sein Vater es mit rechtzeitigem Anmelden nicht so genau nahm. Irgendwie lebte er eben doch noch in einem anderen Zeitalter, in dem auf feste Termine kein allzu großer Wert gelegt worden war.
»Nein, aber für mich nimmt sich der Bernhuber immer Zeit«, entgegnete der alte Gröber, dann stand er auf und verließ die Stube. Mit kraftvollen Schritten ging er in den Pferdestall hinüber, und dabei hätte ihm niemand seine fünfundsiebzig Jahre angemerkt. Jetzt führte er den stämmigen Haflinger-Wallach Maxl heraus und wandte sich talwärts, denn obwohl mittlerweile eine breite Privatstraße von Steinhausen zum Gröberhof hinaufführte, zog der Bauer den steilen Abstieg vom Kreuzberg immer noch vor. Es war anstrengend, vor allem, weil er das Pferd aus dem schmalen, abschüssigen Weg kurz halten mußte, aber schließlich hatte er es dann doch geschafft.
Er passierte den Parkplatz, der zur Villa des Gynäklologen Dr. Robert Daniel gehörte, dann wollte er den Weg zur Schmiede einschlagen.
»Ja, Gröber-Bauer, finden Sie auch mal wieder nach Steinhausen herunter?« fragte Dr. Daniel, der gerade aus dem Haus trat.
Der alte Gröber blieb stehen und zog am Zügel.
»Brrr, Maxl!« befahl er, dann wandte er sich Dr. Daniel zu und lächelte. »So schön es auf meinem Hof auch ist – gelegentlich muß ich mich eben doch immer mal unter die Leute mischen.«
»Das meine ich aber auch«, bekräftigte Dr. Daniel, dann sah er den Bauern prüfend an. »Glücklich schauen Sie ja nicht gerade aus. Es gibt doch hoffentlich keine Probleme auf dem Hof.«
Der alte Gröber seufzte. »Wie man’s nimmt, Herr Doktor. Wissen Sie, so ein Bergbauernhof will schon bewirtschaftet werden, und gerade in letzter Zeit sind die finanziellen Erträge doch merklich zurückgegangen.«
»Ja, das habe ich schon von verschiedenen Seiten gehört«, stimmte Dr. Daniel zu. »Aber die Familie wird der Gröber-Hof doch sicher ernähren können.«
»Natürlich! Im Moment sind wir auch noch weit von den roten Zahlen entfernt, aber ich will nicht erst bis zum letzten Augenblick warten.« Er seufzte wieder. »Wir haben uns halt jetzt entschlossen, Feriengäste aufzunehmen. Das machen ja schon sehr viele, und ein Urlaub auf dem Bauernhof kommt vor allem bei Familien mit Kindern sehr gut an.«
»Nicht nur das, Gröber-Bauer«, entgegnete Dr. Daniel. »Die Menschen haben den Wert der Natur inzwischen wieder schätzen gelernt. Und gerade unser Steinhausen ist schon eine Reise wert. Wenn Sie nur an die schönen Wanderwege denken und den idyllischen Waldsee.«
Der alte Gröber nickte ohne große Begeisterung. »Das ist ja alles richtig, Herr Doktor, aber zumindest für mich ist es eine arge Umstellung. Wenn ich mir vorstelle, daß Fremde in meinem Hof aus und ein gehen werden. Immerhin gehört mir der Hof schon in der vierten Generation, und unsere Familie war immer allein dort oben.«
Dr. Daniel konnte den Mann gut verstehen. Mit fünfundsiebzig Jahren stellte man sich nicht so einfach auf eine neue Situation ein. Und obwohl Dr. Daniel selbst eigentlich nicht davon betroffen war, ertappte er sich bei dem fast wehmütigen Gedanken, daß es auf dem Gröber-Hof ab jetzt sicher weniger gemütlich sein würde.
*
»So ein Mist«, murmelte Trixi Sägmüller und starrte beinahe verzweifelt auf das Testblättchen, das sich rosa verfärbt hatte. Das bedeutete, daß sie schwanger war – schwanger von einem Mann, mit dem sie sich nur auf ein Abenteuer eingelassen hatte und der sicher nicht im Traum daran dachte, sie zu heiraten, nur weil sie jetzt ein Kind erwartete. Abgesehen davon, daß auch Trixi ihn gar nicht heiraten wollte. Sie hatte das ja nur aus Trotz getan – um sich ihrem plötzlich so herrschsüchtigen Vater zu widersetzen und auch um Michel Penzkofer zu vergraulen.
Letzteres würde ihr nun ja mit ziemlicher Sicherheit gelingen. Michel war ganz gewiß nicht der Mann, der eine Frau heiratete, die das Kind eines anderen unter dem Herzen trug. Mit ihrem Vater war die ganze Sache weniger einfach. Er würde sie gewissermaßen durch den Fleischwolf drehen, wenn er von der ganzen Geschichte erfuhr. Immerhin hatte er erst gestern gesagt, daß Trixi und Michel das Aufgebot bestellen sollten. Dabei begriff das junge Mädchen noch immer nicht ganz, weshalb ihr Vater es mit dem Heiraten plötzlich so eilig hatte. Noch vor ein paar Monaten war das überhaupt kein Thema gewesen, und jetzt…
»Was mache ich denn nur?« fragte sie sich verzweifelt.
»Trixi!« Die Stimme ihres Vaters klang scharf. »Komm sofort herunter!«
»Meine Güte, was ist denn jetzt schon wieder?« murmelte Trixi. Sie fühlte sich ganz entsetzlich, und das hing nicht nur mit der Angst vor ihrem Vater zusammen, sondern auch mit der Schwangerschaft. Fast den ganzen Tag wurde sie von heftiger Übelkeit gequält, und seit heute früh kamen nun auch noch so eigenartige Bauchschmerzen dazu.
»Windelweich sollte man dich prügeln!« erklärte Vitus Sägmüller wütend, kaum daß Trixi die Stube betreten hatte.
Woher kann er jetzt schon wissen, daß ich ein Kind erwarte? dachte Trixi erschrocken. Ich weiß es ja selbst erst seit einer Stunden.
»Was willst du damit erreichen, Trixi?«
Erst bei diesen Worten bemerkte sie, daß auch Michel Penzkofer hier war.
»Was meinst du, Michel?« fragte sie, obwohl sie genau wußte, wovon er sprach.
»Stell dich nicht so dumm!«
herrschte Vitus seine Tochter nun wieder an. »Michel hat gesehen, wie du mit dem Habenichts aus der Post herumgezogen bist.«
»Oliver ist kein Habenichts!« brauste Trixi auf. »Er ist ein netter Kerl, und ich habe doch wohl das Recht, mich mit anderen Männern zu unterhalten, auch wenn ich den da…«, mit einer abfälligen Handbewegung wies sie auf Michel, »… heiraten muß.« Provozierend sah sie Michel an. »Aber vielleicht will er mich jetzt ja gar nicht mehr.«
Michels Augen wurden kalt. »Wenn du dich nur mit ihm unterhalten hast – warum soll ich dich dann nicht mehr haben wollen! Oder hat es zwischen euch noch mehr als nur eine Unterhaltung gegeben?«
»Rate doch mal!« verlangte Trixi schnippisch, was normalerweise gar nicht ihre Art war.
»Was fällt dir ein, in einem solchen Ton mit deinem Verlobten zu reden!« fuhr Vitus seine Tochter an und gab ihr einen derben Stoß, der Trixi taumeln ließ. Im nächsten Augenblick stand Michel vor ihr und sah sie mit seinen kalten, blauen Augen durchdringend an.
»Hör zu, du Kratzbürste«, erklärte er mit leiser, drohender Stimme. »Ich weiß ganz genau, was du vorhast, aber ich versichere dir, daß es dir nicht gelingen wird. Unsere beiden Väter und ich sind uns einig, daß der Penzkopfer-Hof und der Sägmüller-Hof zusammenkommen müssen. Also, Trixi, du kannst dich vor der Hochzeit einlassen, mit wem du willst – das wird nichts daran ändern, daß du am 3. Mai mit mir vor dem Traualtar erscheinen wirst.«
Trixis Unterlippe zitterte ein wenig, und einen Augenblick lang war sie versucht, von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, aber im entscheidenden Moment fehlte ihr dann doch der Mut dazu.
»Wie Michel dazu steht, ist mir egal«, erklärte Vitus Sägmüller zornig. »Ich jedenfalls werde dafür sorgen, daß du bis zu deiner Hochzeit keinen anderen Mann mehr anschauen wirst.«
Mit eisernem Griff nahm er Trixi am Arm, führte sie ins erste Stockwerk hinauf und schloß sie in ihrem Zimmer ein.
»Papa!« rief sie entsetzt. »Du kannst mich doch nicht drei Monate lang einsperren!«
»Ich könnte dich noch viel länger einsperren, wenn es sein müßte«, entgegnete Vitus kalt. »Allein gehst du mir jedenfalls nicht mehr auf die Straße.«
Dann kehrte er in die Stube zurück, wo Michel noch immer wartete.
»Da fehlt halt die Mutter hinten und vorne«, seufzte Vitus. »Die hätte der Trixi schon gezeigt, wo’s langgeht…, wie man sich dem Bräutigam gegenüber verhält.« Er atmete tief durch, dann reckte er sich. »Aber so wird’s auch gehen. Trixi bleibt bis zur Hochzeit in ihrem Zimmer – es sei denn, du holtst sie ab.«
Michel nickte befriedigt. »Eine gute Idee, Bauer.« Er grinste böse. »Aber mir war ja von vornherein klar, daß dir etwas einfallen würde. Immerhin steht für dich ja eine Menge auf dem Spiel, nicht wahr? Außerdem wird dieser kleinen Kratzbürste der Stubenarrest sicher nicht schaden. Ganz im Gegenteil, er wird sie vielleicht ein bißchen zähmen, und wenn sie erst mit mir verheiratet ist, werde ich sie schon hart an die Kandare nehmen. Der werde ich die Flausen gehörig austreiben.«
*
In der Fünfundzwanzig-Zimmer-Villa von Elisa Bogumil traf sich heute wieder einmal eine illustre Gesellschaft.
»Elisa, mein Liebe, Sie sehen ganz bezaubernd aus!« rief Gerlinde Ströhme und betrachtete dabei vol-ler Neid das schwarze Seidenkleid, das sich an Elisas schlanken Körper schmiegte. Im Gegensatz zu Gerlinde, die ständig mit den Pfunden kämpfte, konnte Elisa es sich erlauben, jeden Modetrend mitzumachen.
»Man tut, was man kann«, entgegnete Elisa und fügte dann mit leiser Boshaftigkeit hinzu: »Ihr neues Kleid scheint aber etwas klein ausgefallen zu sein.« Mit Genugtuung sah sie, wie Gerlinde abwechselnd rot und weiß wurde vor Zorn, dann fügte sie hinzu: »Es ist immer wieder dasselbe. Man kann sich auf die Konfektionsgrößen einfach nicht verlassen.« Sie lächelte. »Ich bin ja immer wieder auf neue froh, daß ich eine so erstklassige Schneiderin habe.«
Gerlinde schnappte hörbar nach Luft, dann wandte sie sich einem Kreis plaudernder Damen zu. Sie ärgerte sich maßlos, daß sie sich immer wieder dazu überreden ließ, auf Elisas Gesellschaften zu kommen. Allerdings traf man nur hier die High-Society von Berlin.
»Du schlimmes Mädchen«, raunte Holger Bogumil seiner Schwester ins Ohr. »Warum mußtest du zu der gu-ten Gerlinde wieder so boshaft sein?«
Elisa zog die perfekt geschminkten Augenbrauen hoch. »Weil sie mir auf die Nerven geht. Meine Güte, Holger, warum bestehst du eigentlich immer darauf, die Ströhmes einzuladen? Diese Frau ist so… so primitiv.«
»Sie ist nicht so reich wie du und hat nicht so viel Zeit, sich um ein perfektes Aussehen zu bemühen«, entgegnete Holger ernst. »Aber sie ist sehr nett, und ihr Mann…«
»Ja, ja, ich weiß, Udo Ströhme sitzt im Aufsichtsrat unserer Firma.« Sie verdrehte gequält die Augen. »Ich finde die beiden trotzdem primitiv. Schau sie dir doch an – hier in diesem Kreis. Wie zwei Dornen inmitten von Rosen.«
Holger grinste. »Das ist doch normal. Jede Rose hat Dornen.«
Elisa seufzte abgrundtief. »Holger, du bist unverbesserlich. Immer wieder umgibst du dich mit Menschen, die weit unter deinem Niveau sind.«
»Und was tust du ab morgen? Findest du nicht, daß die Besitzer eines Bergbauernhofs ebenfalls weit unter deinem Niveau sind?«
Wieder seufzte Elisa. »Ich habe mich um den Aufenthalt dort wahrlich nicht gerissen, aber Professor Stresemann ist eben der Ansicht, daß ich Höhenluft brauche.« Sie winkte ab. »Ich wollte ja eigentlich in ein exklusives Sanatorium in der Schweiz, aber du kennst ja Professor Stresemann. Er hat leider ein Faible für das Primitive.«
»Irrtum, Schwesterherz«, erwiderte Holger lächelnd. »Der Professor weiß nur sehr genau, was deiner Lunge guttut. Ein exklusives Sanatorium, in dem sich lauter so affektierte Damen herumtreiben wie du…«
»Holger! Ich muß doch sehr bitten!« fiel Elisa ihm zornig ins Wort. »Ich bin überhaupt nicht…« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach sie.
»Die rauchige Luft hier drinnen ist Gift für dich, das ist dir doch hoffentlich klar«, meinte Holger und führte seine Schwester auf die Terrasse. Hier legte sich Elisas Hustenanfall innerhalb weniger Augenblicke, aber trotzdem war Holger viel besorgter, als er es eingestehen wollte, und so wartete er nur, bis Elisa in ein Gespräch mit Gästen vertieft war, die sich ebenfalls auf die Terrasse zurückgezogen hatten.
»Du entschuldigst mich, ich habe da drinnen gerade jemanden gesehen, den ich noch nicht begrüßt habe«, erklärte Holger an seine Schwester gewandt, dann betrat er die Villa wieder und steuerte direkt auf Professor Stresemann zu, den er im Gewühl der Gäste entdeckt hatte.
»Holger.« Lächelnd klopfte ihm der Professor auf die Schulter. »Na, hat sich deine Schwester schon damit abgefunden, daß ich sie in die Einöde schicken will?«
Holger seufzte. »Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Herr Professor. Ich mache mir große Sorgen um Elisa. Gerade hatte sie wieder einen Hustenanfall.« Er zögerte. »Ich bin nicht ganz sicher, ob sie nicht doch in einem Sanatorium besser aufgehoben wäre als auf diesem Bergbauernhof ohne jegliche medizinische Betreuung.«
»Mein lieber Holger, ich kenne dich und deine Schwester bereits seit eurer Geburt«, entgegnete Professor Stresemann. »Ich habe eure sämtlichen Kinderkrankheiten behandelt und dabei gesehen, wie unterschiedlich ihr euch entwickelt habt. Du bist ein vernünftiger junger Mann geworden, aber Elisa ist so leid es mir tut, das sagen zu müssen – der Reichtum ein wenig zu Kopf gestiegen. Sieh dir nur diese Villa an, die sie allein bewohnt. Fünfundzwanzig Zimmer – für eine Person.«
Holger zuckte die Schultern. »Sie ist nun mal ein bißchen… wie soll ich sagen?«
»Sie spinnt«, urteilte Professor Stresemann ganz unverblümt.
»Herr Professor!« tadelte Holger schmunzelnd. Er mochte die sehr direkte, oftmals nicht eben bequeme Art des Arztes.
»Ist doch wahr«, grummelte Professor Stresemann. »Sie trinkt zuviel Champagner, ißt zuviel Kaviar und raucht wie ein Schlot. Und dann wunderst du dich über ihren Husten. Hör mal, Holger, deine Schwester muß lernen, sich zu mäßigen, und das wird man ihr auf dem Bergbauernhof rasch beibringen. Da gibt es frische Milch statt Champagner, herzhafte, sättigende Speisen statt Kaviar, und der Zigarettenautomat steht nicht gleich um die Ecke – abgesehen davon, daß ich ihr ein striktes Rauchverbot erteilt habe.«
»Und Sie glauben, Elisa wird sich daran halten?«
Professor Stresemann wurde ernst. »Ja, Holger, da bin ich sogar ganz sicher. Ich habe ihr nämlich gezeigt, wie ihre Lunge bald aussehen wird, wenn sie es nicht tut.«
»Meine Güte, Herr Professor, wenn es so schlimm um Elisa steht, dann muß ich mir ja erst recht Sorgen um sie machen«, meinte Holger. »Dieser Bergbauernhof…«
»Steht in der besten, würzigsten Luft, die du dir vorstellen kannst«, vollendete Professor Stresemann seinen angefangenen Satz. »Außerdem ist es kein Zufall, daß ich Elisa gerade nach Steinhausen schicken will. Es ist zwar nur ein verhältnismäßig kleiner Vorgebirgsort, aber er verfügt doch über erstklassige Ärzte, allen voran über einen gewissen Dr. Robert Daniel. Er ist Gynäkologe und darüber hinaus Direktor einer kleinen, aber ausgesprochen guten Klinik. Doch das ist nicht das einzige. Dr. Daniel verfügt auch über erstklassige Kontakte zur Thiersch-Klinik in München. Professor
Thiersch und ich haben seinerzeit gemeinsam studiert, allerdings hat er mich schnell überrundet. Er machte sein Examen schon ein paar Jahre früher als ich, und seine Doktorarbeit ist bis heute unerreichbar. Er ist wirklich ein exzellenter Arzt.«
Doch Holger war noch immer nicht vollends beruhigt. »Na ja, das ist in München, aber wenn nun etwas Akutes passiert. Ich meine… wenn Elisa auf die Schnelle einen Arzt braucht.«
Professor Stresemann schmunzelte. »Du machst dir tatsächlich ziemliche Sorgen um deine Schwester. Allerdings völlig unnötig, das versichere ich dir. Elisa wird mit Sicherheit keinen Arzt brauchen, und wenn doch… Dr. Metzler, der Chefarzt der Steinhausener Waldsee-Klinik, hat bei Professor Thiersch gelernt, ebenso der dortige Oberarzt Dr. Scheibler, und Dr. Daniel war sei-nerzeit auch Assistenzarzt unter Thiersch. Deiner Schwester wird es also zumindest in medizinischer Hinsicht an nichts fehlen.« Er zeigte ein schelmisches Lächeln. »Das einzige, was ihr fehlen wird, ist der Komfort, an den sie gewöhnt ist. Der Gröber-Hof ist nun mal kein Grand-Hotel, aber ich bin sicher, er wird Elisa sehr gut tun, auch mal etwas anderes kennenzulernen.«
*
Trixi Sägmüller hatte das Gefühl, als könnte sie die gefängnisähnliche Situation keine Sekunde mehr ertragen, doch aus dem Zimmer im ersten Stockwerk gab es kein Entrinnen. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, in der Hoffnung, irgend etwas zu entdecken, was ihr eine Flucht ermöglichen würde. Sicher, ihrem Zimmer gegenüber stand ein mächtiger Apfelbaum, aber die Entfernung zu den ersten kräftigen Ästen war einfach zu groß. Schließlich war Trixi ja kein Eichhörnchen.
»Ich will diesen Michel nicht heiraten«, murmelte sie verzweifelt. »Er wird mir mein Leben zur Hölle machen. Und ich bin doch noch so jung…«
Michels lieblose Worte hallten ihr noch immer in den Ohren. »Die werde ich mir schon erziehen. Wenn sie jedes Jahr ein Kind austragen muß, wird ihr die Kratzbürstigkeit schnell vergehen.«
Trixi vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte hilflos auf. Sie verstand nicht, warum ihr Vater plötzlich ihr gegenüber so gnadenlos war. Sicher, er war immer streng gewesen, aber jetzt…
Wie ein Schreckgespenst sah Trixi ihre Zukunft vor sich. Sie würde in diesem Zimmer eingesperrt sein bis zu ihrem Hochzeitstag, und danach… die Frau eines rücksichtslosen Mannes, der ihr jedes Jahr eine Schwangerschaft aufzwingen würde.
Der sich im Schloß drehende Schlüssel riß sie aus ihren trüben Gedanken. Rasch sprang sie auf und lief zur Tür.
»Papa, bitte, laß mich ’raus!« flehte sie, doch Vitus Sägmüller hatte nur einen Teller Suppe hineingeschoben und die Tür dann gleich wieder verriegelt.
»Kommt nicht in Frage«, erklärte er barsch. »Du bleibst gefälligst da drinnen!«
»Papa, das kannst du doch nicht mir mir machen!« Trixis Stimme überschlug sich beinahe, dabei wußte sie doch genau, daß jedes Wort vergebens sein würde. Seit Wochen bettelte sie ihren Vater nun schon darum, sie endlich herauszulassen.
»Du siehst ja, daß ich das kann«, entgegnete Vitus Sägmüller. »Du bist verlobt, Trixi! Glaubst du allen Ernstes, da lasse ich zu, daß du dich mit anderen Männern herumtreibst?« Er schwieg kurz. »Glaub ja nicht, daß es mir leichtfällt, so streng zu dir zu sein, aber diese Hochzeit muß stattfinden – um jeden Preis.« Wieder machte er eine Pause. »Heute nachmittag kannst du für eine Stunde herauskommen, wenn du mit Michel das Aufgebot bestellst.«
Das Aufgebot! Trixi erschrak zutiefst. Das bedeutete ja, daß sie in vier Wochen würde heiraten müssen. Andererseits könnte ihr auf dem Weg zum Standesamt möglicherweise doch noch die Flucht gelingen.
Diesen Gedanken verwarf Trixi allerdings ganz schnell wieder, als sie von ihrem Vater aus dem Zimmer geholt wurde, denn Michel nahm sie gleich am Treppenabsatz in Empfang. Seine Hand legte sich wie ein Schraubstock um ihren Arm, und ehe sie sich versah, saß sie schon in seinem blitzenden Sportwagen
»Na, hat dich der Stubenarrest inzwischen ein bißchen gezähmt?« fragte Michel spöttisch.
Wütend funkelte Trixi ihn an. »Nein! Auf diese Weise könnt ihr mich nicht kleinkriegen, das schwöre ich euch! Immerhin steht es mir frei, bei der Hochzeit noch vor dem Standesbeamten nein zu sagen!«
Michel bedachte sie mit einem kurzen Blick. »Das wirst du doch nicht wagen. Dein Vater prügelt dich windelweich, wenn er auch nur ahnt, daß du so etwas vorhaben könntest.« Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Komm schon, Trixi, du tust ja so, als würdest du zu einer lebenslangen Kerkerstrafe verurteilt. Du sollst mich doch nur heiraten. Jedes andere Mädchen aus dem Ort würde vor Freude deswegen einen Luftsprung machen.«
»Dann nimm dir doch ein anderes Mädchen!« fuhr Trixi ihn wütend an. »Warum muß ausgerechnet ich es sein?«
»Weil du die Tochter vom Sägmüller bist«, antwortete Michel ohne zu zögern. »Mein Vater und ich können keine Konkurrenz gebrauchen.«
Verständnislos starrte Trixi ihn an. »Was soll das heißen?«
»Ach, komm, so dumm bist du doch auch nicht.« Michel hielt sein Auto am Straßenrand an, dann wandte er sich Trixi zu. »Zwei Drittel der Bauernhöfe hier im Ort sind in meinem Besitz beziehungsweise in dem meines Vaters.«
Fassungslos schüttelte Trixi den Kopf. »Aber… der Seiler, der Brückner…«
Michel zeigte ein herablassendes Lächeln. »Die arbeiten als Pächter auf den Höfen, die ihnen einmal gehört haben. Normalerweise könnten wir den Sägmüller-Hof genauso einkassieren, denn dein Vater steht bei uns ja ganz schön in der Kreide.« Er zuckte die Schultern. »Aber außer dir gibt es hier leider keine Bauerntochter, die das Format hätte, um Penzkoferin zu werden. Außerdem ist eine Hochzeit doch eine ausgesprochen angenehme Art, um in den Besitz des zweitschönsten Hofes im Tal zu kommen.«
Zornig funkelte Trixi ihn an. »Wenn ich das meinem Vater erzähle, dann kannst du die Hochzeit ein für allemal vergessen! Er wird die Schulden zurückzahlen und…«
Michel grinste. »Irrtum, mein Täubchen. Deinem Vater ist es nämlich weit lieber, mein Schwiegervater zu werden, als womöglich nur noch als Pächter auf seinem eigenen Hof zu arbeiten.«
»Meine Güte, was bist du nur für ein mieser Kerl«, erklärte Trixi angewidert. »Normalerweise würde ich mich eher umbringen, als dich zu heiraten.«
*
Mit sieben Koffern hielt Elisa Bogumil auf dem Bergbauernhof der Gröbers Einzug.
»Was hat mir Professor Stresemann bloß angetan!« stöhnte sie und griff mit den Fingerspitzen theatralisch an ihre Schläfen. »Da sitze ich die nächsten vier Wochen buchstäblich am Ende der Welt!«
»Sie können ja wieder fahren, wenn es Ihnen bei uns nicht gefällt«, entgegnete Sepp Gröber in seiner direkten Art.
Völlig entgeistert starrte Elisa ihn an. »Was erlauben Sie sich! Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?«
Einen maßlos verwöhnten Fratz, dachte der alte Gröber, sprach es aber lieber nicht aus.
»Kommen Sie, Fräulein Bogumil«, mischte sich Claudia Gröber jetzt ein und ersparte ihrem Schwiegervater damit eine knifflige Antwort. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Elisa zog die Augenbrauen hoch. »Mein Zimmer? Meine liebe Frau Gröber, ich bin es gewohnt, über eine Suite zu verfügen.«
Mit einem freundlichen Lächeln sah Claudia sie an. »Tut mir leid, Fräulein Bogumil, aber Suiten führt der Gröber-Hof leider nicht.«
Elisa seufzte abgrundtief. »Ich sag’s ja: das Ende der Welt.« Ihr Blick wurde teilnahmsvoll. »Sie tun mir wirklich leid, Frau Gröber. Es muß doch ganz entsetzlich für Sie sein, hier in dieser Einöde leben zu müssen.«
»Ich bin in der Stadt aufgewachsen«, entgegnete Claudia. »Aber erst hier habe ich wirklich angefangen zu leben. Wissen Sie, die gute Luft hier oben, die Stille und die unbändige Freiheit, die wir alle hier genießen, ist weit mehr wert als das bißchen Komfort, das die Stadt mir bieten kann.« Sie wies zu dem Hang hinüber. »Sehen Sie, da drüben spielen meine beiden Kinder, und ich muß keine Angst haben, daß sie womöglich von einem Auto überfahren werden könnten.«
»Na ja«, meinte Elisa nur, dann folgte sie Claudia ins Haus. Ihre Koffer würdigte sie keines Blickes mehr. Sie war es gewöhnt, daß ihr irgend jemand ihre Sachen schon hinterhertrug.
»So, Fräulein Bogumil, hier sind wir«, meinte Claudia und öffnete eine Tür auf der linken Seite. »Ich bin sicher, daß Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«
Mißmutig betrachtete Elisa das breite Bauernbett, den mit üppigen Schnitzereien verzierten Schrank und den bunten Fleckerlteppich.
»Ich glaube kaum, daß ich mich hier wohl fühlen werde«, entgegnete sie ärgerlich, dann sah sie sich wie suchend um. »Wo ist denn eigentlich die Tür zum Badezimmer?«
»Toilette und Dusche sind am anderen Ende des Flurs«, antwortete Claudia und wies nach hinten. »Wir haben das extra für unsere Gäste einrichten lassen.«
»Wie nobel!« meinte Elisa, und ihre Stimme triefte dabei vor Sarkasmus, dann griff sie wieder an ihre Schläfen. »Meine Güte, wie ich das alles hier hasse! Hätte ich bloß nicht auf Professor Stresemann gehört.« Dann wandte sie sich Claudia wieder zu. »Ich bin es gewohnt, bis gegen zehn Uhr morgens zu schlafen. Anschließend dusche ich ausgiebig. Das heißt, daß Sie mein Frühstück für etwa elf Uhr richten können. Das Mittagessen nehme ich gewöhnlich gegen vierzehn Uhr ein, und abends esse ich dann nur noch eine Kleinigkeit – einen gemischten Salat, Weißbrot mit etwas Kaviar dazu.«
Claudia ließ sich nicht anmerken, was sie über ihren Gast dachte. Ihr Lächeln war gleichbleibend freundlich.
»Ich fürchte, Fräulein Bogumil, da werden Sie sich ein wenig umstellen müssen«, meinte sie. »Weißbrot und Kaviar gibt es bei uns grundsätzlich nicht. Sie sind hier auf einem Bauernhof, vergessen Sie das bitte nicht. Wir selbst frühstücken gegen sechs Uhr morgens, aber unsere Wirtschafterin wird Ihnen gern bis zehn Uhr Frühstück servieren. Danach muß sie aber das Mittagessen zubereiten. Um zwölf wird gegessen, und da können wir für Sie leider auch keine Ausnahme machen. Abends gibt es nur noch eine Brotzeit mit Wurst, Käse und Schwarzgeräuchertem – übrigens alles selbstgemacht, sogar das Brot. Aber wenn Ihnen das zu deftig ist, kann ich Ihnen auch einen Früchtequark zubereiten.«
Elisa hatte das Gefühl, als müßte sie jetzt unbedingt in Ohnmacht fallen.
»Damit bringen Sie mich aus meinem ganzen Rhythmus!« begehrte sie auf. »Ich fasse es einfach nicht! Mittagessen um zwölf! Wo gibt’s denn so etwas?«
»Bei uns auf dem Gröber-Hof«, antwortete Claudia gelassen. »Sobald mein Mann und seine beiden Brüder aus dem Holz kommen, werden sie Ihre Koffer herauftragen.«
»Wie bitte?« brauste Elisa erneut auf. »Ich soll warten, bis die aus dem Holz kommen? Ich glaube, Sie haben noch immer nicht begriffen, daß ich anderes gewöhnt bin! Der Bauer ist doch noch da! Kann der nicht…«
»Mein Schwiegervater ist fünf-undsiebzig Jahre alt«, fiel Claudia ihr ins Wort. »Sie erwarten ja wohl nicht, daß der sieben Koffer über die steile Treppe heraufschleppt.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Es kann sich höchstens noch um eine halbe Stunde handeln, bis mein Mann und seine Brüder auf dem Hof eintreffen. In der Zwischenzeit können Sie sich ja den Reisestaub abwaschen und sich ein bißchen von den Strapazen der Fahrt erholen.«
Elisa war so perplex, daß sie kein Wort der Erwiderung parat hatte. Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sich Claudia von ihr und ging nach unten.
»Na, hast du dem verwöhnten Früchtchen das Zimmer gezeigt?« wollte ihr Schwiegervater wissen.
»Ja«, antwortete Claudia, dann schüttelte sie den Kopf. »Was die sich alles einbildet. Frühstück um elf, Mittagessen um zwei und abends noch ein Stück Weißbrot mit Kaviar.«
»Diese Frau hat wohl wirklich nicht mehr alles Tassen im Schrank«, polterte der alte Gröber. »Wenn alle Urlaubsgäste so sein sollten wie die, dann gute Nacht.«
»Nein, Vater, das glaube ich nicht«, erwiderte Claudia. »Die da oben ist mit Sicherheit ein arg verwöhntes Einzelexemplar.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich wurde sie schon als Kind maßlos verzogen, und ihre Umwelt darf es jetzt ausbaden.«
*
Als das Telefon klingelte, wußte Holger Bogumil schon, wer dran sein würde, noch bevor er den Hörer überhaupt abgehoben hatte.
»Ich bleibe keinen Tag länger hier!« drang ihm dann auch schon die Stimme seiner Schwester ans Ohr. »Das sind Bauern!«
Holger lachte ganz ungeniert. »Natürlich, Schwesterherz. Oder hast du auf einem Bergbauernhof etwa andere Menschen erwartet?«
»Mach dich gefälligst nicht lustig über mich!« brauste Elisa auf. »Stell dir vor, die verlangen doch allen Ernstes, daß ich mich hier unterordnen soll! Frühstück nur bis zehn, Mittagessen um zwölf – das ist doch wirklich unzumutbar!«
»Nein, Elisa, das ist es ganz und gar nicht«, widersprach Holger und war dabei auf einmal sehr ernst. »Du bist nur verwöhnt, das ist alles. Vielleicht solltest du dich mal in die Lage dieser Leute versetzen. Sie können doch nicht jeden Feriengast individuell versorgen. Die arme Frau käme ja nie aus der Küche…«
»Das ist mir völlig egal!« fiel Elisa ihm ins Wort. »Wenn die schon Gäste aufnehmen, dann müssen sie auch dafür sorgen, daß diese sich wohlfühlen.«
»Du, meine liebe Elisa, würdest dich nirgends wohl fühlen, wo nicht jeder nach deiner Pfeife tanzt.« Holger schwieg einen Moment. »Soll ich ehrlich sein? Ich bin froh, daß es auf diesem Bauernhof einmal nicht nach deinem bezaubernden Köpfchen geht. Auf diese Weise wirst du nämlich lernen, daß auch du durchaus in der Lage bist, dich unterzuordnen.«
Sekundenlang war Elisa sprachlos, und das kam bei ihr nicht allzu häufig vor.
»Und du willst mein Bruder sein!« schleuderte sie Holger wütend entgegen, als sie die Sprache endlich wiedergefunden hatte, dann legte sie einfach auf. Noch immer aufgebracht, verließ sie die Telefonzelle und sah sich suchend um. Nicht einmal ein Taxi gab es in diesem Kaff!
Vorhin, in dem Bedürfnis, rasch wieder nach Hause zu kommen, war sie den weiten Weg vom Gröber-Hof nach Steinhausen zu Fuß gegangen, doch der Gedanke an den ebenso weiten Rückweg verursachte ihr regelrecht Übelkeit.
»Grüß Gott, Fräulein Bogumil.«
Erschrocken darüber, daß sie so unerwartet angesprochen worden war, fuhr Elisa herum und sah sich einem großen, schlanken Mann gegenüber, dessen widerspenstiges, schwarzes Haar sich nach allen Seiten drehte. Er war noch sehr jung, und sein Gesicht hatte etwas Lausbubenhaftes.
»Sie wissen nicht, wer ich bin, habe ich recht?« fragte er und riß Elisa damit aus ihrer Betrachtung.
»Stimmt. Im Augenblick weiß ich wirklich nicht…«
»Thomas Gröber ist mein Name«, stellte sich der junge Mann vor. »Wir haben uns kurz gesehen, als ich gestern abend Ihre Koffer noch aufs Zimmer gebracht habe.«
Elisa nickte nur, weil sie nicht zugeben wollte, daß sie gestern vor lauter Wut auf überhaupt nichts mehr geachtet hatte – inbesondere nicht auf die einzelnen Familienmitglieder der Gröbers. Ihr Zorn war auch jetzt noch nicht ganz verraucht, trotzdem mußte sie sich eingestehen, daß dieser Thomas ein sehr gutaussehender Mann war. Mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen wirkte er irgendwie fast südländisch.
»Stammen Sie eigentlich von hier?« fragte Elisa aus diesem Gedanken heraus.
Thomas war sichtlich erstaunt. »Ja, warum?«
Da zuckte Elisa die Schultern. »Na ja, wenn ich Sie irgendwo anders gesehen hätte, dann hätte ich Sie vermutlich für einen Italiener gehalten.«
»Ach so.« Thomas lachte. »Da liegen Sie gar nicht so falsch, Fräulein Bogumil. Meine Urgroßmutter stammte nämlich aus Sizilien und hat ihr südländisches Aussehen schon über Generationen weitervererbt.«
Mit einem neckischen Augenzwinkern sah Elisa ihn an. »Vielleicht auch das Temperament?«
»Kann schon sein«, grinste Thomas, dann wies er nach hinten. »Da steht mein Auto. Besser gesagt, das meines älteren Bruders. Soll ich Sie mit zum Gröber-Hof nehmen, oder haben Sie hier unten noch was zu besorgen?«
Elisa seufzte. »Viel zu besorgen wird es hier nicht geben. Soweit ich es bis jetzt überblicken kann, ist dieses Steinhausen doch ein ziemliches Bauerndorf.«
»Sagen Sie das nicht«, entgegnete Thomas. »Immerhin haben wir hier einen Supermarkt.« Er grinste lausbubenhaft. »Wenn Sie aber die interessantesten Neuigkeiten erfahren wollen, dann gehen Sie lieber in den Gemischtwarenladen von Amelie Hauser. Die ist so was wie das wandelnde Tageblatt von Steinhausen – nur kostenlos.«
Elisa mußte lachen, und im selben Moment stand Thomas’ Herz in Flammen. Was für eine wunderschöne Frau diese Elisa doch war! Vor allem, wenn sie so zauberhaft lach-
te!
Natürlich bemerkte Elisa den schwärmerischen Blick, mit dem Thomas sie anschaute, und sie beschloß, sich auf diesen Flirt ruhig einzulassen. Schließlich sollte der Aufenthalt hier wenigstens eine angenehme Seite bekommen.
*
Thomas Gröber hatte das Gefühl, als sei er noch nie im Leben so glücklich gewesen wie jetzt. Die unverhoffte Begegnung unten in Steinhausen hatte die Liebe in sein Herz ziehen lassen – eine Liebe, so groß und gewaltig, wie er sie niemals für möglich gehalten hätte.
Thomas ließ seinen Blick über die Berge wandern, die ihn umgaben, während vor seinem geistigen Auge ein völlig anderes Bild stand – das Bild einer wunderschönen jungen Frau.
»Elisa«, murmelte er zärtlich vor sich hin.
»Tommy!«
Thomas fuhr hoch, als er Elisas Stimme hörte, dann glitt ein glückliches Strahlen über sein Gesicht. Rasch erhob er sich und lief auf die geliebte Frau zu, dann riß er sie in seine Arme und wirbelte sie übermütig herum.
»Elisa! Schön, daß du da bist!« erklärte er, und seine Augen leuchteten… sie sangen das reinste Liebeslied.
Die junge Frau seufzte tief auf. »Ein ganz schön weiter Weg ist das bis zu dir herauf.«