Читать книгу Dr. Daniel Classic 39 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 3
ОглавлениеMit quietschenden Reifen blieb der Krankenwagen vor der Steinhausener Waldsee-Klinik stehen. Das Blaulicht blinkte gespenstisch durch die Nacht; das Martinshorn war bereits abgestellt worden. Dann wurden die Hecktüren aufgerissen, und eine Trage wurde herausgehoben. Mit einem stählernen Rasseln klappten die Räder herunter, und nun schoben der Notarzt und zwei Sanitäter diese fahrbare Trage im Laufschritt durch die beiden Flügeltüren.
»Wer ist der diensthabende Arzt?« wollte der Notarzt von der herbeieilenden Nachtschwester Irmgard Heider wissen.
»Dr. Scheibler«, antwortete sie, dann wies sie nach vorn. »Da kommt er gerade.«
»Es sieht schlimm aus«, erklärte der Notarzt dem Oberarzt der Klinik. »Starker Blutverlust. Mit Sicherheit auch innere Blutungen. Darüber hinaus Oberschenkelfraktur rechts und etliche andere Knochenbrüche. Höchstwahrscheinlich auch eine schwere Schädelverletzung. Wir haben ihr Dextran gegeben und fixiert, was nur ging.« Er machte eine kurze Pause. »Dr. Daniel kommt mit einem verletzten Mädchen im zweiten Wagen nach.«
Dr. Scheibler nickte, dann übernahm er die Patientin und schob sie in den Operationssaal hinüber.
»Irmgard«, wandte er sich an die Nachtschwester. »Trommeln Sie sofort das Team zusammen. Die sollen umgehend herkommen. Es geht um Leben und Tod.«
Die Schwester nickte und eilte hinaus. Es war fast Mitternacht, und sie wußte, daß sie sämtliche Ärzte aus dem Bett holen mußte. Doch das passierte ja nicht zum ersten Mal.
Schwester Irmgard griff nach dem Telefonhörer und wählte zuerst die Nummer des Chefarztes, Dr. Wolfgang Metzler. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er sich endlich mit verschlafener Stimme meldete.
»Hier Waldsee-Klinik, Schwester Irmgard«, gab sie sich zu erkennen. »Herr Doktor, kommen Sie bitte sofort in die Klinik. Ein Notfall.«
Dr. Metzler war mit einem Schlag hellwach, warf den Hörer auf die Gabel und zog sich in Windeseile an. Ein paar Minuten später erreichte er die Klinik. Im selben Moment hielt auch der zweite Krankenwagen, den der Notarzt schon erwähnt hatte, und Dr. Robert Daniel sprang heraus.
»Robert, um Himmels willen, was ist passiert?« fragte Dr. Metzler, als er einen ersten Blick auf das verletzte Mädchen werfen konnte, das jetzt ebenfalls eiligst in die Klinik gefahren wurde.
»Ein schwerer Verkehrsunfall am Ortseingang von Steinhausen«, gab Dr. Daniel hastig Auskunft. »Ich kam zufällig vorbei und habe Notarzt und Sanitäter gleich hierhergeschickt. Bei beiden Verletzten geht es vermutlich um Sekunden.«
Während dieser kurzen Unterhaltung hatten Dr. Metzler und Dr. Daniel schon im Laufschritt die Klinik betreten und eilten nun zum Operationssaal.
»Wolfgang, endlich!« stieß Dr. Scheibler hervor. »Komm, beeil dich, es ist schon alles für den Eingriff vorbereitet.«
Mit einem kurzen Blick erkannte Dr. Metzler, daß sich der Anästhesist Dr. Jeffrey Parker und die OP-Schwester Petra Dölling um die zuerst eingelieferte Patientin kümmerten. Außer ihnen waren auch die zweite Anästhesistin Dr. Gabriela Teirich und Dr. Daniels Sohn Stefan, der hier als Assistenzarzt tätig war, anwesend.
»Gerrit, Stefan, fangt schon an«, befahl Dr. Metzler. »Ich muß noch nach der anderen Patientin sehen. In zwei Minuten bin ich dann bei euch.«
Währenddessen hatte sich Dr. Daniel schon über das verletzte Mädchen gebeugt.
»Ganz ruhig, Claire«, flüsterte er beruhigend. »Du bist hier in den allerbesten Händen.«
»Du kennst sie?« fragte Dr. Metzler, während er sich einen ersten Überblick über die Verletzungen des Mädchens verschaffte.
Dr. Daniel nickte nur.
»Sie scheint Glück…« Dr. Metzler stockte mitten im Satz, als er sah, daß durch die dichten Locken des Mädchens ein Glassplitter ragte. Vorsichtig schob der Chefarzt die langen blutverschmierten Haare auseinander und erkannte mit Entsetzen, daß sich der Glassplitter durch die Schädeldecke des Mädchens gebohrt hatte. Trotz dieser Verletzung war sie aber bei Bewußtsein und wimmerte nur leise vor sich hin.
»Gabriela«, wandte sich Dr. Metzler an die junge Anästhesistin. »Scheuchen Sie sofort Ihren Mann aus den Federn. Wir brauchen hier einen Neurochirurgen, und Franz ist der beste, den ich kenne.«
Gabriela nickte nur, dann hastete sie zur Eingangshalle, um ihren Mann anzurufen. Keine fünf Minuten später war er zur Stelle, während Gabriela schon die Narkose eingeleitet hatte. Auch Dr. Daniel stand bereit. Er war zwar eigentlich Gynäkologe, doch er wußte, daß in diesem Fall jeder Arzt gebraucht wurde. Und um Dr. Teirich zu assistieren, würden seine Fähigkeiten auf diesem für ihn ungewohnten Gebiet sicher ausreichen.
Währenddessen hatte Dr. Metzler schon den anderen Operationssaal betreten und gesellte sich nun zu dem gut eingespielten Team.
»Wie sieht’s aus?« wollte er wissen.
»Frag nicht«, seufzte Dr. Scheibler. »Im Grunde weiß man gar nicht, wo man anfangen soll.«
Das erkannte auch Dr. Metzler, als er das Operationsfeld überblickt hatte. Der Notarzt hatte wahrlich nicht übertrieben. Um die verletzte Frau stand es denkbar schlecht, und so wurde es eine äußerst schwierige Operation, die den erfahrenen Chirurgen Dr. Metzler und Dr. Scheibler alles abverlangte.
»Blutdruck fällt«, erklärte Dr. Parker.
Dr. Metzler gab Anweisung für ein anderes Medikament, doch es schlug nicht an.
»Herzstillstand.«
»Verdammt«, knurrte Dr. Metzler. »Du kannst doch jetzt nicht aufgeben. Wir haben’s ja gleich geschafft.«
Dr. Scheibler begann mit Herzmassage, während Stefan den Defibrillator bereitmachte und Dr. Metzler dann die beiden Defibrillatorpaddel reichte. Rasch legte der Chefarzt sie auf die Brust der Verletzten.
»Zurücktreten«, kommandierte er, dann drückte er auf den Knopf, der einen kurzen Stromstoß durch den Körper der Patientin jagte, doch weder dieser noch die beiden nächsten Versuche brachten den gewünschten Erfolg.
»Ich mache sie auf«, beschloß Dr. Metzler kurzerhand. »Das Gehirn arbeitet noch. Wir haben eine Chance, sie zurückzuholen.«
Währenddessen hatte er schon den Brustkorb der Patientin geöffnet und begann nun ganz vorsichtig mit einer Massage am offenen Herzen.
»Komm schon«, knurrte er. »Du bist noch zu jung, um die Arbeit einfach hinzuschmeißen.«
»Wolfgang, Sie können aufhören, die Patientin ist tot«, erklärte Dr. Parker so behutsam wie möglich, doch Dr. Metzler nahm seine Worte gar nicht wahr. Zu verbissen kämpfte er noch um das Leben der verletzten Frau.
»Es ist vorbei, Wolfgang«, fügte Dr. Scheibler hinzu. »Ihre Verletzungen waren zu schwer. Wir konnten diesen Kampf um ein Menschenleben nicht gewinnen.«
Doch der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Ich schaffe es. Ich hole sie zurück.«
Da legte Dr. Scheibler ihm von hinten beide Hände auf die Schultern.
»Wolfi, es hat keinen Sinn mehr«, erklärte er eindringlich. »Die Patientin ist hirntot.«
Mit brennenden Augen starrte Dr. Metzler zum Monitor hin, hörte den schrillen Pfeifton, der anzeigte, daß sämtliche Körperfunktionen zum Erliegen gekommen waren, und sah die geraden Linien, die über den Bildschirm flimmerten.
»Nein«, flüsterte er verzweifelt. »Nein…«
»Zeitpunkt des Todes…« Dr. Scheibler warf einen Blick zu der großen Wanduhr. »Drei Uhr fünfundvierzig.«
Die OP-Schwester notierte die Uhrzeit für das Operationsprotokoll, dann sah sie mitleidig zu Dr. Metzler, der jetzt völlig gebrochen wirkte. Sie wußte, wie schlimm ein Exitus für jeden Chirurgen war, und auch sie selbst empfand den Tod eines Patienten im Operationssaal immer als besonders schlimm. Irgendwie hatte man danach das Gefühl, nicht wirklich alles versucht zu haben.
Jetzt legte Dr. Scheibler einen Arm um die Schultern seines Schwagers.
»Komm, Wolfgang«, bat er leise. »Wir haben getan, was wir konnten.«
»Es war nicht genug«, entgegnete Dr. Metzler. »Vielleicht…«
»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Wolfgang«, erklärte Dr. Scheibler eindringlich und bemühte sich dabei um einen festen,
energischen Ton, obwohl es ihm absolut nicht leichtfiel, so zu sprechen. Dieser Exitus nahm ihn ebenso mit wie alle anderen, die bei der Operation zugegen gewesen waren. »Die Verletzungen dieser Frau waren einfach zu schwer, und du machst dich kaputt, wenn du versuchst, dir etwas anderes einzureden. Wolfgang, wir sind Chirurgen, wir müssen mit dem Tod leben. Es tut verdammt weh, einen Patienten auf dem Tisch sterben zu sehen, und ich selbst könnte jedesmal heulen, wenn es passiert, aber wir können es nicht ändern.«
Dr. Metzler nickte, dann raffte er sich auf. »Danke, Gerrit.« Er seufzte. »Ich muß nach dem Mädchen sehen. Teirich operiert mittlerweile auch schon fast vier Stunden.«
»Ich komme mit«, meinte Dr. Scheibler entschlossen.
Sie zogen die Operationskittel aus und wuschen sich die Hände, dann eilten sie zu dem kleinen Operationssaal der Gynäkologie hinüber, wo Dr. Teirich noch immer damit beschäftigt war, das verletzte Mädchen zu retten.
»Robert assistiert«, stellte Dr. Scheibler überrascht fest, als er durch die Scheiben des Operationssaals blickte, dann schüttelte er fassungslos den Kopf. »Er ist wirklich einmalig.«
»Das kann man wohl sagen«, stimmte Dr. Metzler zu, dann wandte er sich dem Waschraum zu. »Ich werde jetzt die Assistenz übernehmen.«
»Nein, das wirst du nicht«, entgegnete Dr. Scheibler mit Nachdruck. »Die schaffen das auch ohne dich. Robert ist exzellent, das sehe ich sogar von hier aus, und außerdem haben er und Franz sich in den vergangenen Stunden aufeinander eingespielt. Es wäre Unsinn, wenn du jetzt dazwischengehen würdest.«
»Hör mal, Gerrit, ich bin der Chefarzt hier…«, begann Dr. Metzler ärgerlich, doch sein Schwager ließ ihn gar nicht aussprechen.
»Richtig, und dieser Chefarzt hat gerade eine Patientin verloren. Ich kenne dich, Wolfgang, du steckst so etwas nicht innerhalb von fünf Minuten weg – niemand könnte das. Und deshalb wirst du keinen Fuß in diesen Operationssaal setzen. Haben wir uns verstanden?«
Dr. Metzler seufzte tief auf. »Ja, Herr Oberarzt.« Dann fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch die dichten dunklen Locken. »Ich sehe ja ein, daß du recht hast, Gerrit. Wir beide sollten uns wirklich ein paar Minuten Ruhe gönnen.« Sein Blick wanderte zu dem Mädchen auf dem OP-Tisch. »Für die Kleine können wir ohnehin nichts tun. Wenn Franz Teirich ihr nicht helfen kann, dann könnte es niemand.«
*
Währenddessen kämpfte Dr. Franz Teirich mit einer beispielhaften Verbissenheit um das Leben der jungen Claire Buschmann. Es grenzte schon fast an ein Wunder, daß der eingedrungene Glassplitter das Gehirn der knapp Sechzehnjährigen nicht verletzt hatte, aber dieses spitze, rasiermesserscharfe Etwas nun herauszuoperieren, ohne bei dem Mädchen eine Hirnschädigung zu verursachen, erforderte das ganze Können und die außerordentlich große Erfahrung des Neurochirurgen.
»Ich glaube, wir haben’s geschafft«, meinte Dr. Teirich nach einer schier endlos dauernden Operation. Durch die Fenster drang bereits das Licht des anbrechenden Tages, und Dr. Daniel hatte das Gefühl, als könne er keinen Schritt mehr gehen. Allerdings war nicht nur er völlig erschöpft. Dr. Teirich und seine Frau Gabriela, die die Anästhesie gemacht hatte, waren ebenfalls am Ende ihrer Kraft.
Dr. Teirich ordnete noch an, welche Medikamente Claire bekommen mußte, dann verließ auch er hinter Dr. Daniel und Gabriela den Operationssaal.
»Das war ein hartes Stück Arbeit«, meinte er, während er sich die Hände wusch.
Dr. Daniel nickte. »Das kann man wohl sagen. Aber ich bin nur froh, daß es Ihnen gelungen ist, das Mädchen zu retten.«
Obwohl er vor Müdigkeit kaum noch aus den Augen sehen konnte, brachte Dr. Teirich jetzt ein Lächeln zustande.
»Mit Ihrer tatkräftigen Unterstützung«, ergänzte er.
Doch Dr. Daniel winkte ab. »Was habe ich schon groß getan? Das bißchen Assistenz…«
»Sie sind wirklich zu bescheiden, Robert«, fiel Dr. Teirich ihm ins Wort. »Ich glaube, Sie hätten auch einen guten Neurochirurgen abgegeben.«
Auch Dr. Daniel mußte nun lächeln. »Bei aller Freude über dieses Kompliment muß ich doch gestehen, daß mir die Gynäkologie lieber ist.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Schon gleich sechs. Meine Güte, in drei Stunden beginnt ja meine Vormittagssprechstunde.«
»Dann würde ich mich an Ihrer Stelle jetzt ganz schnell aufs Ohr hauen«, riet Dr. Teirich. »Ich werde das auch tun. Mein Dienst in der Thiersch-Klinik beginnt glücklicherweise erst heute mittag.«
Dr. Daniel nickte. »Trotz Müdigkeit muß ich erst noch nach Frau Buschmann sehen. Nach allem, was ich mitbekommen habe, war sie äußerst schwer verletzt, aber Wolfgang und Gerrit sind ja erstklassige Chirurgen.«
Er verabschiedete sich von Gabriela und Franz Teirich, dann eilte er zur Chirurgie hinüber. Auf dem Flur begegnete ihm Dr. Scheibler, und an seinem Gesicht erkannte Dr. Daniel sofort, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte.
»Nein«, stieß er hervor. »Bitte, Gerrit, sagen Sie nicht, daß…« Er brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.
»Es tut mir leid, Robert«, entgegnete Dr. Scheibler niedergeschlagen. »Wir konnten nichts mehr für die Frau tun. In ihrem Körper gab es kaum noch einen Knochen, der nicht gebrochen war. Dazu die inneren Verletzungen… Wir haben fast vier Stunden operiert, bis es zum Herzstillstand kam. Und sogar dann hat Wolfgang noch alles versucht, um sie wiederzubeleben, aber es war vergeblich.«
Dr. Daniel war von dieser Nachricht zutiefst betroffen. Er hatte Margot und Peter Buschmann gut gekannt. Schon vor Jahren war Margot bei ihm in Behandlung gewesen, weil sie und ihr Mann sich sehnlichst ein Baby gewünscht hatten, doch es hatte einfach nicht klappen wollen. Als sie dann die damals sechsjährige Claire hatten adoptieren können, schien ihr Glück vollkommen. Und nun dieser schreckliche Unfall…
»Peter… ihr Mann… war sofort tot«, erklärte Dr. Daniel stockend. »Das allein war eigentlich schon ein Schock für mich. Aber Margot auch… meine Güte…«
»Sie haben sie gekannt?« fragte Dr. Scheibler mitfühlend.
Dr. Daniel nickte. »Sehr gut sogar. Als meine Frau noch lebte…« Er stockte, weil auch die Erinnerung an Christine noch immer schmerzte, obwohl seit ihrem plötzlichen Tod inzwischen sechs Jahre vergangen waren.
Impulsiv legte Dr. Scheibler einen Arm um Dr. Daniels Schultern.
»Sie sollten jetzt ein wenig schlafen, Robert«, riet er ihm. »Sie haben Franz fast sechs Stunden lang assistiert.« Er zögerte, wagte es kaum, nach dem Mädchen zu fragen. »Wie geht es der Kleinen?«
»Sie wird durchkommen«, antwortete Dr. Daniel mechanisch, dann fuhr er sich mit einer Hand über die Augen. »Aber nun ist sie wieder allein.«
»Wieder?«
Dr. Daniel nickte. »Als Fünfjährige wurde Claire zur Vollwaise, und jetzt… jetzt steht sie zum zweiten Mal vor den Trümmern ihres Lebens. Dabei ist sie gerade sechzehn Jahre alt.«
Dr. Scheiblers Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Er hatte selbst eine schwere Kindheit gehabt und konnte daher gut nachfühlen, was in dem Mädchen vorgehen würde, wenn sie erst von diesem Schicksalsschlag erfuhr, der sie nun zum zweitenmal ereilt hatte.
»Wie verkraftet Wolfgang den Exitus?« wollte Dr. Daniel wissen und riß Dr. Scheibler damit aus seinen Gedanken.
»Schwer«, antwortete er ehrlich. »Er versucht es zwar zu verbergen, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, wie sehr er leidet. Und wenn er erst erfährt…« Dr. Scheibler stockte. »Ich fürchte, das wird ihn in ein ziemliches Tief werfen.«
»Da haben Sie zweifellos recht, Gerrit, aber ich glaube, es wird sich nicht vermeiden lassen, daß er es erfährt.« Dr. Daniel seufzte tief auf. »Ich muß jetzt in meine Praxis, aber heute mittag werde ich noch einmal nach Claire sehen.«
Damit wollte er gehen, doch Dr. Scheibler hielt ihn am Arm fest.
»Robert, darf ich Ihnen einen Rat geben?« Er wartete Dr. Daniels Antwort gar nicht erst ab. »Lassen Sie Ihre Praxis heute zu, und legen Sie sich ein paar Stunden ins Bett. Sie hätten den Schlaf dringend nötig.«
»Danke für den Rat, Gerrit, aber ich kann die Praxis nicht einfach zusperren. Es geht nicht…«
»Wenn Sie zusammenbrechen, dann wird es auch gehen müssen«, fiel Dr. Scheibler ihm ins Wort.
»Sie verstehen es ausgezeichnet, mich aufzumuntern«, erklärte Dr. Daniel mit offenem Sarkasmus.
Doch Dr. Scheibler blieb ernst. »Ich will Sie gar nicht aufmuntern, Robert, sondern Ihnen klarmachen, was passieren wird, wenn Sie mit Ihren Kräften weiterhin solchen Raubbau treiben. Sie waren gestern bis neun Uhr abends hier in der Klinik. Von dem ganzen Streß, den Sie tagsüber hatten, will ich gar nicht reden. Und nach allem, was ich weiß, waren Sie zum Zeitpunkt dieses schlimmen Verkehrsunfalls ebenfalls auf der Straße, und das war bereits gegen Mitternacht. Anschließend haben Sie dann sechs Stunden im OP gestanden – wobei die Nervenbelastung gerade in diesem Fall nicht zu unterschätzen ist. Ich will ehrlich sein, so etwas würde auch mich an den Rand meiner Leistungsfähigkeit bringen, und ich bin immerhin zwölf Jahre jünger als Sie.«
»Danke für den Hinweis auf mein Alter«, entgegnete Dr. Daniel etwas heftiger, als es seine Absicht gewesen war. »Dazu kann ich Ihnen aber sagen, daß ich mich mit meinen einundfünfzig Jahren durchaus noch nicht wie ein Tattergreis fühle.«
»Robert, warum kann ich mich Ihnen denn nicht verständlich machen? Ich mache mir doch lediglich Sorgen um Sie.«
»Das ehrt Sie, aber es ist völlig unnötig. Ich weiß schon, was ich aushalten kann.«
Danach nickte Dr. Daniel dem Oberarzt verabschiedend zu und verließ die Klinik. Besorgt sah Dr. Scheibler ihm nach.
»Warum will denn keiner auf mich hören«, murmelte er kopfschüttelnd, bevor auch er wieder an die Arbeit ging.
*
Wie recht Dr. Scheibler mit seinem Rat gehabt hatte, merkte Dr. Daniel noch am selben Vormittag. Er fühlte sich nach der durchwachten Nacht wie gerädert, und überdies schien die Patientenflut heute kein Ende nehmen zu wollen. Dazu kam, daß Dr. Daniels Gedanken immer wieder zu Claire Buschmann wanderten.Warum meinte es das Schicksal nur so schrecklich mit dem armen Mädchen?
Dann hatte sich die letzte Patientin endlich verabschiedet, und Dr. Daniel wußte, daß er jetzt aufstehen und zur Waldsee-Klinik fahren mußte, doch er war zu keiner Bewegung fähig.
Nur für einen Moment, dachte er und schloß die Augen. Er wollte gar nicht einschlafen, doch die Müdigkeit war stärker als er. Als seine junge Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau ihn wenig später so fand, verließ sie das Zimmer ganz besonders leise und schloß lautlos die Tür hinter sich.
»Was ist denn los?« wollte die Empfangsdame Gabi Meindl wissen.
»Er ist fix und fertig«, antwortete Sarina voller Mitleid. »Stellen Sie sich vor, Gabi, jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch und schläft.«
Fassungslos schüttelte die junge Empfangsdame den Kopf. »Irgendwann arbeitet er sich wirklich noch mal zu Tode. Ich möchte bloß wissen, was diesmal wieder los war. Er hat ja schon so müde ausgesehen, als er in die Praxis gekommen ist.«
Sarina nickte. »Außerdem kam er heute früh nicht aus der Wohnung, sondern von draußen.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich hat er die halbe Nacht in der Waldsee-Klinik gearbeitet.«
»Ich frage mich, wofür die eigentlich eine Gynäkologin haben, wenn bei Entbindungen doch immer wieder der Chef einspringen muß«, meinte Gabi und zeigte ihre Empörung über die Waldsee-Klinik dabei ganz deutlich. »Also allmählich…«
Es gelang Gabi nicht mehr, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment klingelte das Telefon.
»Ich habe den Anrufbeantworter ja gar nicht eingeschaltet«, erkannte Gabi ärgerlich, dann hob sie mit einem tiefen Seufzer den Hörer ab. »Praxis Dr. Daniel, gu-ten Tag.«
»Scheibler, Waldsee-Klinik«, gab sich der Oberarzt am anderen Ende der Leitung zu erkennen. »Ist Dr. Daniel noch in der Praxis?«
»Ja, schon«, antwortete Gabi gedehnt, überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte, und entschied sich schließlich dafür. Der Oberarzt war ihr sehr sympathisch, und sie hatte schon mehrmals gemerkt, daß man mit ihm gut reden konnte. »Er sitzt in seinem Büro und schläft.«
Dr. Scheibler stöhnte vernehmlich. »Er hat also nicht auf mich gehört, dabei hatte ich ihm dringend geraten, die Praxis heute vormittag geschlossen zu halten.« Er überlegte einen Moment. »Lassen Sie ihn schlafen, Fräulein Meindl, und schicken Sie ihn erst zu mir, wenn er von selbst aufwacht. Nach der vergangenen Nacht hat er den Schlaf nämlich bitter nötig.«
»Ist recht, Herr Dr. Scheibler«, meinte Gabi, verabschiedete sich und legte auf. Dann wandte sie sich Sarina zu. »Das ist wenigstens noch ein Mensch – so nett und verständnisvoll. Er hat gesagt, wir sollen den Chef besser schlafen lassen.«
»Das hätte ich sowieso getan«, erklärte Sarina entschieden. »Wenn Dr. Daniel bereits im Sitzen einschläft, muß er wirklich völlig erschöpft sein, und ihn dann aufzuwecken, wäre fast ein Verbrechen.«
*
Am späten Vormittag war Claire Buschmann zum ersten Mal aufgewacht.
»Mama«, wollte sie rufen, doch es wurde nur ein heiseres Flüstern.
Im nächsten Moment beugte sich eine hübsche schwarzhaarige Krankenschwester über sie und lächelte sie freundlich an.
»Hallo, Claire, ich bin Schwester Alexandra«, stellte sie sich vor.
»Mama«, flüsterte Claire. »Wo ist meine Mama?«
Sehr behutsam streichelte Alexandra über das schmale blasse Gesichtchen der jungen Patientin.
»Später, Claire«, meinte sie nur. »Ich hole jetzt erst mal Dr. Scheibler.«
Die Krankenschwester verließ eiligst die Intensivstation und machte sich auf die Suche nach dem Oberarzt. Sie fand ihn im Ärztezimmer der Chirurgie zusammen mit dem Assistenzarzt Dr. Stefan Daniel und dem Anästhesisten Dr. Parker.
»Die kleine Claire ist aufgewacht«, erklärte Alexandra. »Sie fragt nach ihrer Mutter.«
Die Ärzte tauschten einen kurzen Blick, dann stand Dr. Scheibler auf und folgte der Schwester zur Intensivstation.
»Hallo, Claire«, begrüßte auch er das Mädchen. »Ich bin Dr. Scheibler, aber du kannst mich auch einfach Gerrit nennen, einverstanden?«
Aus großen blauen Augen sah Claire den ausgesprochen gutaussehenden Arzt an.
»Wo ist meine Mama?« wollte sie wissen. »Und mein Papa?«
Dr. Scheibler überging die Frage vorsichtshalber. »Hast du Schmerzen, Claire?«
»Ja«, flüsterte sie. »Mein Kopf tut weh… und mein Bauch.«
Dr. Scheibler fühlte ihren Puls und kontrollierte die Temperatur, die im Augenblick ein bißchen erhöht war, aber das konnte auch eine ganz normale Reaktion auf den Unfall und die nachfolgende lange Operation sein.
»Weißt du, Kleines, du hast einen sehr schweren Eingriff hinter dir«, erklärte Dr. Scheibler. »Ich fürchte also, daß dir dein Kopf noch länger weh tun wird. Allerdings mußt du das nicht aushalten. Schwester Alexandra wird dir nachher ein Zäpfchen geben, das die Schmerzen wegnehmen wird.«
»Ja«, flüsterte Claire und hatte dabei Mühe, die Augen offenzuhalten. Die Nachwirkungen der Narkose machten sie schon wieder müde.
»Gleich darfst du wieder schlafen, Mädel«, meinte Dr. Scheibler. »Sag mir nur noch, wo dir dein Bauch weh tut.«
»Überall«, murmelte Claire.
Dr. Scheibler schlug die Bettdecke zurück und tastete gewissenhaft den Bauch des jungen Mädchens ab, doch Claire zeigte keine Reaktion, die auf Schmerzen schließen ließ. Dr. Scheibler vermutete daher eine Art seelischen Schmerz, der sicher sofort vergangen wäre, hätte man Claires Mutter herholen können.
»Arme Kleine«, meinte Dr. Scheibler mitfühlend und streichelte über die Wange des schlafenden Mädchens. »Auf dich wartet in nächster Zeit leider nicht viel Schönes.« Dann wandte er sich der Krankenschwester zu, die hinter ihm stand. »Alexandra, bringen Sie die Kleine zum Röntgen. Ich bin zwar ziemlich sicher, daß ihre Bauchschmerzen keine körperliche Ursache haben, aber wir wollen ja nichts übersehen.« Er überlegte kurz. »Lassen Sie auch den Brustbereich röntgen. Man weiß ja nie, ob ein Schmerz, wenn er überhaupt vorhanden ist, nicht vielleicht ausstrahlt.«
»Ist in Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Alexandra zu.
»Und nach dem Röntgen geben Sie ihr ein Paraxetamol-Zäpfchen. Das wird ihre Kopfschmerzen erträglicher machen.«
Dr. Scheibler warf der jungen Patientin noch einen letzten Blick zu, dann kehrte er ins Ärztezimmer der Chirurgie zurück. Eine halbe Stunde später bekam er die Röntgenaufnahmen und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
»Das darf doch nicht…«, begann er, dann eilte er zur Intensivstation und trat an Claires Bett. Vorsichtig schob er das Klinikhemd, das sie trug, nach oben und tastete gewissenhaft beide Brüste ab, in der Hoffnung, der Schatten auf dem Röntgenbild hätte vielleicht doch eine andere Ursache. Doch der Knoten in der linken Brust war deutlich zu fühlen.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Doktor?« fragte Schwester Alexandra, als sie Dr. Scheibler bei der Patientin stehen sah.
»Die Kleine muß sofort zur Mammographie«, entgegnete Dr. Scheibler ernst.
Alexandra erschrak sichtlich. »Oh, mein Gott.«
Mit einer Hand fuhr sich Dr. Scheibler durch das dichte Haar. »In den meisten Fällen sind diese Knoten harmlos, aber…« Er betrachtete den kleinen, verschwommen wirkenden Fleck auf dem Röntgenbild. »Ich will die Aufnahme so schnell wie möglich haben.«
*
Als Dr. Daniel erwachte, brach draußen schon die Dämmerung herein. Erschrocken sprang er auf, doch der Schmerz, der durch seinen Rücken fuhr, ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten.
»Ein Ledersessel ist eben doch nicht der richtige Schlafplatz«, murmelte er. »Mag er zum Sitzen auch noch so bequem sein.«
Dr. Daniel versuchte, seinen steifen Rücken zu ignorieren, und verließ sein Sprechzimmer.
»Na, Herr Doktor, ausgeschlafen?« fragte seine Sprechstundenhilfe lächelnd.
»Mein liebes Fräulein Sarina, nächstes Mal wecken Sie mich aber bitte, wenn ich mir wieder ein solches Nickerchen genehmigen sollte«, meinte er, doch seine Stimme klang dabei nicht ärgerlich. Er wußte ja, daß seine beiden Damen es nur gut mit ihm meinten.
»Wir hätten Sie gar nicht wecken dürfen«, entgegnete Sarina. »Anordnung von Dr. Scheibler. Er hat ausdrücklich gesagt, daß wir Sie schlafen lassen sollen. Im übrigen haben Gabi und ich die Nachmittagstermine abgesagt und dringende Fälle an die Waldsee-Klinik verwiesen.«
Dr. Daniel seufzte. »Nun weiß ich gar nicht, ob ich mich über so selbständiges Personal freuen soll oder nicht.«
Da lächelte Sarina. »Natürlich sollen Sie sich freuen.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es nützt niemandem, wenn Sie sich körperlich ruinieren. Außerdem möchte Dr. Scheibler mit Ihnen sprechen, sobald Sie aufgewacht sind.«
Besorgt runzelte Dr. Daniel die Stirn. »Hat er gesagt, weshalb?«
»Nein, leider nicht.«
Dr. Daniel nickte. »Also gut, dann fahre ich gleich mal zur Klinik rüber. Hoffentlich ist es nichts Unangenehmes.«
Bereits in der Eingangshalle begegnete Dr. Daniel dem Oberarzt, und an dessen sorgenvollem Gesichtsausdruck war unschwer zu erkennen, wie ernst die Sache war, über die er mit Dr. Daniel sprechen wollte.
»Robert, Gott sei Dank«, stieß Dr. Scheibler jetzt hervor. »Ich erwarte Sie schon ganz dringend.«
»Es geht um Claire, nicht wahr?« vermutete Dr. Daniel, und dann sprach er seine ärgsten Bedenken aus, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete. »Ist es durch die Operation womöglich doch zu einer Hirnschädigung gekommen?«
Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Es hat weder mit dem Unfall noch mit der Operation zu tun. Claire hat…« Er zögerte, atmete noch einmal tief durch und fuhr dann endlich fort: »Sie hat Brustkrebs.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Dr. Daniel diesen neuerlichen Schock einigermaßen verarbeitet hatte.
»Das Mädchen ist erst sechzehn«, brachte er mühsam hervor.
»Ich weiß«, entgegnete Dr. Scheibler leise. »Aber ein Irrtum ist leider ausgeschlossen. Ich habe eine Mammographie machen lassen und persönlich eine Biopsie vorgenommen. Das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchung ist eindeutig.«
Dr. Daniel, der das Mädchen schon seit vielen Jahren kannte, war persönlich zu stark betroffen, um gleich einen klaren Gedanken fassen zu können.
»Wir haben den Tumor nur durch einen Zufall entdeckt«, fuhr Dr. Scheibler fort. »Claire klagte über Bauchschmerzen, und obwohl ich dahinter eine seelische Ursache vermutete, ließ ich sie röntgen. Auf den Aufnahmen, die den Brustkorb zeigten, war ein kleiner Schatten zu erkennen und…« Er zuckte die Schultern. »Den Rest kennen Sie.«
Inzwischen war es Dr. Daniel gelungen, sich ein wenig zu fassen.
»Sie muß umgehend zu Professor Thiersch«, erklärte er. »Am besten heute noch.«
Dr. Scheibler nickte. »Dieser Meinung bin ich auch. Ich habe mit dem Professor allerdings noch nicht gesprochen, weil ich zum einen das Gespräch mit Ihnen noch abwarten wollte und zum anderen…« Wieder zögerte er einen Moment. »Franz, ich meine, Dr. Teirich hat gewisse Bedenken wegen der Kopfoperation von heute nacht. Die Erschütterungen, der die Kleine auf dem Transport nach München unweigerlich ausgesetzt wäre, könnten im schlimmsten Fall zu einer Gehirnblutung führen.«
»Das Risiko müssen wir eingehen«, entgegnete Dr. Daniel entschlossen. »Was nutzt es, wenn wir den Transport nach München hinauszögern, um eine Gehirnblutung zu verhindern, und das Mädel stirbt dann statt dessen an Krebs.« Mit unübersehbarer Hoffnung in den Augen sah Dr. Daniel den Oberarzt an. »Ist der Krebs noch im Frühstadium?«
»Ich denke schon«, antwortete Dr. Scheibler. »Allerdings ist meine Erfahrung auf diesem Gebiet nicht groß genug, als daß ich mit meiner Diagnose vollkommen sicher sein könnte. Ich war leider nur ein paar Jahre an der Thiersch-Klinik, aber der Professor wird Ihnen bestimmt mehr sagen können.«
Dr. Daniel nickte, dann wollte er sich abwenden, um vom Ärztezimmer aus gleich Professor
Thiersch zu verständigen, doch Dr. Scheibler hielt ihn noch zurück.
»Robert, es tut mir leid«, meinte er. »Ich…« Mit einer Hand fuhr er sich durch das dichte Haar. »Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Wenn wir Claires Mutter hätten helfen können…«
»Sie haben getan, was möglich war, Gerrit«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Und wenn Claire noch geholfen werden kann, dann ist es auch Ihr Verdienst. Immerhin waren Sie derjenige, der den Krebs erkannt hat.«
»Ein schwacher Trost«, murmelte Dr. Scheibler. »Meine Güte, sie ist doch noch ein Kind…«
*
Professor Thiersch war gerade im Begriff, sein Büro zu verlassen, als das Telefon klingelte.
»Was ist denn noch?« bellte er ärgerlich in den Hörer.
»Dr. Daniel aus Steinhausen möchte Sie dringend sprechen«, erklärte seine Sekretärin Herta Bogner. »Darf ich durchstellen?«
Professor Thiersch grummelte etwas Unverständliches, was Herta Bogner offensichtlich als Zustimmung deutete, denn gleich darauf war Dr. Daniel am Apparat.
»Herr Professor, es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit noch stören muß«, erklärte er, »aber ich habe hier einen wirklich dringenden Fall.«
»Ihre Fälle sind immer dringend, Daniel«, knurrte Professor Thiersch. »Also, schießen Sie schon los! Was ist es diesmal?«
»Ein sechzehnjähriges Mädchen mit Brustkrebs.«
Unwillkürlich biß Professor Thiersch die Zähne zusammen. Er gab sich zwar immer betont forsch und ruppig, doch hinter dieser scheinbar unfreundlichen Art wollte er eigentlich nur sein allzu weiches Herz verbergen. In Wirklichkeit ging ihm das Schicksal seiner Patienten nämlich sehr nahe, und gerade wenn es um Kinder oder sehr junge Menschen ging, litt Professor Thiersch ganz besonders – auch wenn er es niemals gezeigt hätte.
»Ist es sicher?« hakte er jetzt nach. »Es könnte sich ja auch um einen gutartigen Tumor handeln.«
»Dr. Scheibler hat bereits eine Biopsie vorgenommen«, entgegnete Dr. Daniel, und Professor
Thiersch wußte genau, was das bedeutete. Er selbst hatte Dr. Scheibler seinerzeit ausgebildet, daher konnte er sich auf dessen Urteil auch blind verlassen.
»Bringen Sie das Mädchen sofort zu mir, Daniel«, erklärte Professor Thiersch. »Ich bleibe in der Klinik, bis Sie hier sind.«
»Es kommt noch ein Problem dazu«, wandte Dr. Daniel zögernd ein.
»Was denn noch?« herrschte Professor Thiersch ihn an.
»Claire hatte heute nacht eine schwere Kopfoperation«, berichtete Dr. Daniel, und man hörte ihm an, wie schwer ihm jedes Wort fiel. »Sie und ihre Adoptiveltern waren in einen entsetzlichen Verkehrsunfall verwickelt, der für Margot und Peter Buschmann tödlich endete. Claire hatte einen Glassplitter im Kopf, den Dr. Teirich in einer knapp sechsstündigen Operation entfernen konnte.«
»Oh, mein Gott«, entfuhr es Professor Thiersch, denn angesichts dieser Tragödie konnte er nicht einmal nach außen hin seine Betroffenheit verbergen. Und dann faßte er einen spontanen Entschluß. »Ich komme nach Steinhausen und mache mir dort selbst ein Bild von der Situation.«
Danach legte er einfach auf, aber Dr. Daniel kannte ihn ja lange genug, um ihm wegen dieser scheinbaren Unhöflichkeit nicht böse zu sein. Langsam ließ auch er den Hörer sinken, dann erhob er sich mit einem tiefen Seufzer und ging zur Intensivstation hinüber.
Claire war wach und streckte bei seinem Eintreten die rechte Hand nach ihm aus.
»Onkel Robert!« stieß sie hervor. »Kannst du mir sagen, was mit Mama und Papa ist? Warum kommen sie nicht zu mir?« Dann erinnerte sie sich plötzlich wieder an den schrecklichen Unfall. »Oder sind sie vielleicht auch so schwer verletzt wie ich?«
Dr. Daniel zögerte. Es widerstrebte ihm, das junge Mädchen zu belügen, andererseits war Claire einfach noch nicht in der Verfassung, um die grausame Wahrheit ertragen zu können.
»Es war ein entsetzlicher Unfall«, wich er aus. »Aber ich bin sicher, daß deine Mama und dein Papa in Gedanken immer bei dir sind, Kleines.«
Claire schwieg eine Weile, dann sah sie Dr. Daniel mit ihren wachen blauen Augen forschend ins Gesicht.
»Es ist nicht nur mein Kopf, nicht wahr, Onkel Robert? Mit mir ist noch etwas anderes nicht in Ordnung.«
»Wie kommst du darauf,
Claire?« fragte Dr. Daniel zurück, um Zeit zu gewinnen.
»Der nette Doktor hat mich vorhin zweimal in die Brust gestochen. Er hat sicher gedacht, ich würde schlafen, aber ich war wach.«
Dr. Daniel schluckte schwer. »Hat es… sehr weh getan?«
»Nein«, antwortete Claire, schränkte dann aber ein: »Beim ersten Mal habe ich einen kleinen Pieks gespürt, aber beim zweiten Mal gar nichts. Sei ehrlich, Onkel Robert, was hat der Doktor da gemacht?«
Dr. Daniel wußte, daß er jetzt um die Wahrheit nicht mehr herumkommen würde. Professor Thiersch war bereits auf dem Weg nach Steinhausen, und er würde mit Sicherheit auf eine baldige Operation drängen. Spätestens dann würde man Claire gegenüber Farbe bekennen müssen.
Mit einer väterlichen Geste griff Dr. Daniel nach der Hand des jungen Mädchens.
»Ich fürchte, du mußt jetzt sehr tapfer sein, Claire«, begann er in sanftem Ton. »Du hast recht mit deiner Vermutung, daß deine Kopfverletzung nicht das einzige ist. Es kommt noch eine sehr schwere Krankheit hinzu, die mit dem Unfall allerdings gar nichts zu tun hat. Dr. Scheibler hat sie nur durch Zufall entdeckt, aber das war vermutlich sogar ein großes Glück, denn dadurch hast du die besten Chancen, wieder ganz gesund zu werden.«
Claire erschrak sichtlich. »Heißt das… ich muß sterben?«
Heftig schüttelte Dr. Daniel den Kopf. »Nein, Claire, ganz bestimmt nicht.« Erst als er es ausgesprochen hatte, wurde ihm bewußt, daß das junge Mädchen in Wahrheit sehr wohl sterben könnte. »Hör zu, Claire, in einer halben Stunde etwa kommt ein Arzt hierher, um dich noch einmal zu untersuchen. Er sieht ziemlich streng aus und gibt sich auch meistens recht unfreundlich und ruppig, aber er ist auf seinem Gebiet der Beste, den es gibt.« Er zögerte kurz. »Ich nehme an, daß er dich in seine Klinik mitnehmen wird, und dort mußt du dann noch einmal operiert werden…«
Hilflos schluchzte Claire auf. »Ich habe Angst, Onkel Robert. Was ist das für eine schreckliche Krankheit?«
Dr. Daniel kam nicht mehr dazu, ihre Frage zu beantworten, denn in diesem Moment trat Professor Thiersch bereits herein, und Dr. Daniel fragte sich einen Augenblick lang, ob er wohl hergeflogen sei. Normalerweise war die Strecke von der Thiersch-Klinik bis nach Steinhausen nämlich nicht in dieser kurzen Zeit zu bewältigen.
»Ich nehme an, das ist die junge Dame«, erklärte der Professor und bemühte sich dabei um einen etwas sanfteren Ton, weil er Claire nicht erschrecken wollte. Er sah die Angst in dem blassen Gesichtchen und ließ sich schließlich sogar zu einem Lächeln hinreißen. »Keine Sorge, Mädel, ich werde dich nicht fressen.« Dann wandte er sich Dr. Daniel zu, und unvermittelt wurde seine Stimme wieder so barsch wie eh und je. »Lassen Sie mich mit der Patientin allein, Daniel.«
Wieder schluchzte Claire auf und streckte eine Hand nach Dr. Daniel aus.
»Onkel Robert… bitte…«
»Er kann ja gleich wieder zu dir«, erklärte Professor Thiersch beruhigend, was normalerweise so gar nicht seiner Art entsprach. Aber dieses Mädchen rührte etwas in ihm an, was er bisher erfolgreich verdrängt hatte. »Mir scheint, du kennst ihn sehr gut.«
»Ja«, hauchte Claire. »Onkel Robert ist mit meinen Eltern befreundet.«
Professor Thiersch nickte nur. Anscheinend wußte die Kleine noch nicht, daß ihre Eltern nicht mehr am Leben waren. Vorsichtig schob er jetzt ihr Klinikhemd nach oben.
»Du mußt keine Angst haben«, meinte er. »Ich will mir nur deine Brust ansehen.«
»Was ist damit?« fragte Claire mit bebender Stimme, dann sah sie den Professor plötzlich aus weit aufgerissenen Augen an und konnte nur noch flüstern. »Krebs.«
Professor Thiersch erwiderte ihren Blick.
»Es sieht so aus«, entgegnete er ehrlich. »Aber Brustkrebs ist heutzutage durchaus heilbar.«
Doch Claire schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht! Meine Mutter ist auch an Krebs gestorben!«
Für Augenblicke war der Professor verwirrt. Hatte Dr. Daniel nicht vorhin gesagt, die Eltern des Mädchens seien bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen? Dann erinnerte er sich daran, daß das Wort Adoptiveltern gefallen war.