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Die Elfe des Winters

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Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als es passierte. Es war der zweite Freitag im Dezember und ich saß im Zug, um über das Wochenende nach Hause zu fahren. Nach Hause. Ob sie mich dort noch vermissen? Ich saß oben am Fenster, draußen schneite es in großen Flocken und ich kam mir vor, wie in einem Tunnel aus Schnee. Die Landschaft vor dem Fenster war weiß eingefärbt. Die Häuser und die Autos hatten weiße Mützen auf, die Wiesen waren unter einer warmen weißen Decke versteckt. Und die Bäume, sie sahen alle so verschieden aus. Manche waren mit dicken, weißen Wattebällchen bedeckt, einige hatten nur wenige weiße Stellen in ihren Astgabeln, wo der Schnee vom Wind nicht verweht werden konnte. Andere sahen aus, als hätte man sie mit glitzerndem Kristallzucker beklebt und wieder andere, als hätte man sie mit einem feinen Pinsel weiß angemalt. In diesem Moment liebte ich den Winter so sehr wie noch nie in meinem Leben.

Ich bin ein Winterkind, im Januar geboren. Und fühlte mich im Winter bei Schnee und Kälte schon immer viel wohler als im Sommer mit seiner unerträglichen Hitze. Wenn der erste Schnee fiel, rannte ich hinaus und versuchte die zarten Flocken mit meinen Händen aufzufangen. Jede Schneeflocke war ein kleines Wunder und ich konnte Stunden damit zubringen, sie zu bestaunen. Doch nie hatte ich bisher eine solche Zuneigung empfunden, wie in diesem Moment.

Irgendwann stieg ich um und genoss die Berührungen der kleinen Flocken in meinem Gesicht. Es war als begrüßten sie mich. Aber das verstand ich noch nicht.

Nach zwei Stunden war ich da und stieg aus. Sonst war der Bahnhof immer gefüllt mit lärmenden Schülern und hastenden Reisenden, aber an diesem Tag war ich die einzige auf dem Bahnhof. Heute bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob der Zug für die anderen Menschen überhaupt angehalten hatte. Ich schaute mich um und einem Teil von mir wurde klar, dass dies nicht der Ort war, an den ich wollte. Ich stand auf einer kleinen Plattform, an deren Ende, oder war es ihr Anfang, eine schmale Treppe hinunterführte. Um mich herum nur Wald und nicht die vertraute Aussicht auf die Häuser meines Heimatortes. Es gab kein Ortsschild auf der Plattform, keine Straße, die von hier wegführte, nur einen kleinen Weg in den Wald hinein.

Obwohl ich nie zuvor an diesem Ort gewesen war, fühlte sich der andere Teil von mir dort sofort zu Hause. Ich folgte dem Weg in den Wald, wo sich das Schneetreiben bald abschwächte. Mit jedem Schritt, den ich ging, wurde der Teil von mir, der sich hier auskannte, immer größer und größer und ich begann mich zu verändern. Mein Rucksack und meine kleine Reisetasche verschwanden. Mein dicker Mantel löste sich in Luft auf und die Stiefel, die ich trug, verwandelten sich in weiße Schläppchen. Trotzdem fror ich nicht und spürte keine Kälte auf meiner Haut.

Nach einer Weile erreichte ich eine Lichtung, auf der eine kleine Hütte stand. Kein Schneepalast, kein Winterschloss, ein einfaches Häuschen, das auf mich wartete. Als ich hineinging, erkannte ich alles wieder, obwohl ich zuvor nie einen Fuß in das Haus gesetzt hatte. Vor dem Kamin, in dem ein warmes Feuer brannte, stand mein Lieblingssessel, die Wände waren mit Landkarten und Kalendern behangen und es roch nach frischen Plätzchen, die man gerade aus dem Ofen geholt hatte. Ich konnte nicht lange weg gewesen sein.

An einer Wand hing ein großer Spiegel, aber im ersten Moment erkannte ich das nicht und dachte, jemand wäre mit mir in dem Haus. Die Frau, die ich sah, kam mir so unbekannt vor. Und doch war ich es, die mir aus dem Spiegel entgegenblickte. Mit blass weißer Haut, weißen Haaren, blauen Augen und einem weißen Kleid, das aus Schneeflocken gewebt zu sein schien und bis zum Boden reichte, war ich nicht mehr ich selbst. Ich war zur Elfe des Winters geworden.

Seit diesem Tag sind viele Jahre vergangen. Wie viele genau? Das kann ich nicht sagen. Denn wenn mein Haus auch voller Kalender hängt, sie zeigen mir nicht, welches Jahr gerade ist oder wie die Zeit vergeht. Alles was sie zeigen, ist der Beginn des Winters an den verschiedenen Orten dieser Welt. Und irgendwo ist immer Winter.

Und überall ist er verschieden. Ich liebe den Winter in all seiner Vielfalt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber es gibt Winter, die ich noch ein wenig mehr schätze, als die anderen. Ein Winter geschaffen mit dem Dezemberwind bringt Freude in die Herzen der Menschen und auch in meins. Aber auch der Januarfrost kann einen unvergesslichen Winterabend zaubern. Wenn er es will. Er ist noch jung, viel jünger als der Dezemberwind und probiert seine Stärke noch aus.

Der Winter beginnt immer mit einem Tanz. Und je nach dem mit wem ich ihn tanze oder ob ich dabei alleine bin, kommt der Winter mit Frost, mit frühem Schnee und eisig klirrender Kälte oder sanft und leise, so dass man kaum merkt, dass er schon da ist. Als Winterelfe bin ich dafür verantwortlich, dass der Winter auch überall pünktlich beginnt. Auch der erste Schnee wird von mir gemacht. Danach kümmern sich die Schneeelfen um die weiße Pracht, wenn sie zwischen den glitzernden Sternen um die Wette tanzen.

Von Ort zu Ort, von Winterbeginn zu Winterbeginn reise ich mit dem Zug. Ich stelle mich an die keine Plattform mitten im Wald und immer kommt ein Zug und hält für mich. Für die Reisenden bin ich nicht sichtbar, nur manchmal sieht mich ein kleines Kind in seinem Augenwinkel und erinnert sich an seinen ersten Schnee. Doch ich kann alles sehen und so nutze ich die Zeit, um die Menschen um mich herum zu beobachten, in ihren Zeitungen zu lesen und ihren Gesprächen zu lauschen, um zu erfahren, wie sich die Welt verändert hat. Aber wenn ich aussteige werden ihre Worte zu dumpfen Gemurmel in meinem Kopf und bald habe ich es vergessen, da wichtigere Dinge auf mich warten. Wie ich dorthin gelange, wo der Winter beginnen soll? Das kann ich nicht genau erklären. Während ich im Zug sitze, habe ich irgendwann ein ganz bestimmtes Gefühl, kurz danach hält der Zug an und ich steige aus, wie immer allein. Manchmal ist es ein Wald, in dem ich dann stehe, manchmal der Marktplatz einer Stadt oder der Garten eines einsamen Hofes. Der Winter beginnt immer an einer anderen Stelle, aber er breitet sich so schnell aus, dass man kaum merkt, wenn man gerade noch im Herbst stand und plötzlich schon mitten im Winter.

Nur wenige Menschen haben in ihrem Leben das Glück einen Blick auf einen Tanz der Jahreszeiten zu erhaschen. Obwohl ich die Winterelfe bin, mag ich den Tanz des Sommers am liebsten. Vielleicht weil sein Tanz so ganz anders ist als der Tanz des Winters? Der Sommer ist schon alt und trotzdem tanzt er mit viel Kraft und Ausdruck seinen Reigen. Die Blätter der Bäume wechseln ihre Farben von einem frischen, frühlingshaften Hellgrün hin zu den satten kräftigen Grüntönen des Sommers. Die Vögel singen ein anderes Lied und auch der Himmel trägt nach seinem Tanz ein anderes Blau. Niemand verändert das Antlitz der Welt so wie der Sommer.

Seit einiger Zeit haben wir einen neuen Frühling. Sie ist noch zaghaft in ihrem Bemühen und so kommt auch ihr Frühling zart und leise. Es ist das erste Mal, dass ich eine neue Elfe sehe, und doch ist sie mir so vertraut wie der alte Frühlingself. Sie mag den Winter und den Schnee und oft stehen wir nebeneinander und bestaunen die ersten Schneeglöckchen, die sich durch die dicke Schneedecke gekämpft haben. Der alte Frühling war nicht so. Für ihn war der Wandel vom Winter zum Frühling oft ein Kampf, aus dem er immer als Sieger hervorging. Er brachte den Frühling oft vor seiner Zeit und viele Blüten und Früchte wurden so von mir und dem letzten Frost zunichte gemacht. Das fällt mir nicht leicht, gehört aber auch zu meinen Aufgaben als Winterelfe. Der Winter kann nicht früher enden, als es die Zeit vorgibt. Aber er dauert an manchen Orten länger als an anderen. Die neue Frühlingselfe ist ein Schatz und ich liebe ihren Frühling. Doch nicht so sehr, wie ich die weißen funkelnden Flocken, die zugefrorenen Seen und Bäche, das Knistern des Frostes und den Duft des Winters liebe.

Warum es neue Jahreszeitenelfen gibt, kann ich nur ahnen. Denn sicher ist, auch vor mir gab es den Winter. Und es wird ihn auch nach mir noch geben. Ich denke, es hat mit der Liebe zu tun, die wir für unsere Jahreszeit empfinden. Wenn sie weniger wird oder es einen Menschen gibt, der Sommer, Frühling, Herbst oder Winter mehr liebt als wir es tun, dann kann es sein, dass er oder sie einen unserer Plätze einnimmt. Und so wird eines Tages auch jemand kommen, der den Winter mehr liebt als ich. Was dann mit mir passiert? Ob ich sterbe oder in mein altes Leben zurückkehre, darüber mache ich mir keine Gedanken. Alles was jetzt für mich zählt, ist der Winter.

Mit dem Herbstelfen gehe ich oft Pilze sammeln und Drachensteigen. Er kann so wunderbare Geschichten erzählen, dass wir uns oft bei ihm treffen, an seinem Kamin sitzen und ihm stundenlang zuhören können. Nicht nur der Frühling, der Sommer und ich besuchen ihn dann, auch der Nordwind, die kleinen Blumenelfen, der Fliederduft oder die Rosenelfe kommen zu ihm und beschenken ihn mit ihren Gaben. So ist der Herbst für alle die Zeit der Ernte und des Schenkens. Und wenn er seinen Tanz beginnt, sind viele von uns da, um ihm dabei zuzusehen. Ganz anders als beim Sommer, der es nicht mag, wenn er beim Tanzen Gäste hat. Doch er weiß, dass ich seinen Tanz liebe und manchmal lässt er mich für eine Weile daran teilhaben. Einmal haben wir den Sommertanz für ein paar Schritte gemeinsam getanzt. Dieser Sommer blieb uns allen in Erinnerung als der Sommer der weißen Blüten und Früchte. Es war ein schöner und ungewöhnlicher Sommer, aber seitdem haben wir nie wieder einen Jahreszeitentanz zusammen getanzt. Dafür tanze ich um so mehr mit dem Frühling und dem Herbst und im Winter auch manchmal mit den Schneeelfen. Aber dann muss ich sehr vorsichtig sein, weil ich sonst Schneestürme verursache, denen niemand gewachsen ist und auf die sich niemand vorbereiten kann.

Wenn ich durch den Schnee gehe, spüre ich seine Kälte genauso wenig, wie die Hitze des Sommers. Auf meiner Haut sind die Berührungen der Schneeflocken und Eiskristalle warm und angenehm. Ich brauche keinen Mantel und keine Stiefel, um der Kälte zu trotzen, da ich sie mit mir bringe, wo immer ich auch hingehe. So kann man auch im Sommer Spuren des Winters entdecken, in klaren eiskalten Gebirgsbächen oder auf kühlen schattigen Flecken im Wald. Und während wir im Sommer ein Fest nach dem anderen feiern und ich froh bin, dass mir Sonne und Hitze nichts ausmachen, bekomme ich im Winter nur selten Besuch. Im Winter versammeln sich alle, auch die Menschen, vor ihren Kaminen, denken an das vergangene Jahr und machen Pläne für das Kommende. Und viele sind froh, dass sie nicht hinaus müssen in die Kälte. Trotzdem gibt es einige, die sich auf den Winter freuen. Vor allem die Kinder haben Spaß wenn es schneit und sie der Schnee einlädt zum Rodeln und zum Schneemann bauen. Und manch eines von ihnen hat ganz unverhofft einen kleinen Schneeball von mir abbekommen und so eine wilde Schneeballschlacht begonnen.

Für mich ist der Winter noch immer die schönste Jahreszeit von allen und ich hoffe, dass ich noch viele Jahre die Elfe des Winters sein werde. Wer weiß schon, was die ferne Zukunft bringt. Im Moment mahnt mich mein Kalender, dass es an der Zeit ist, den Winter in einen kleinen Ort in den Bergen zu bringen, da bleibt mir keine Zeit mehr, darüber nachzudenken.

Vielleicht siehst du mich einmal in einer sternenklaren Herbstnacht den Wintertanz tanzen oder zum Jahreswechsel über schneebedeckte Wiesen laufen. Dann zögere nicht und komme zu mir, wenn du den Mut hast. Ich habe noch so viel zu erzählen.





Von Schneehasen, Lichtkatzen und Winterelfen

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