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12. Kapitel

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Am nächsten Morgen, bereits um fünf Uhr, noch ehe sich Frau von Rênal zeigte, hatte Julian von ihrem Manne einen dreitägigen Urlaub erhalten. Wider sein eignes Erwarten empfand er das Bedürfnis, sie noch zu sehen. Ihre hübsche Hand kam ihm in den Sinn. Er ging in den Garten hinunter. Frau von Rênal ließ lange auf sich warten; aber wenn Julian wirklich verliebt gewesen wäre, so hätte er erspäht, daß sie hinter der halbgeschlossenen Jalousie eines der Fenster im ersten Stock, die Stirn an die Scheibe gedrückt, nach ihm Ausschau hielt. Ungeachtet ihres Gelöbnisses entschloß sie sich schließlich, im Garten zu erscheinen. Ihre gewöhnliche Blässe war den lebhaftesten Farben gewichen. Die harmlose Frau war sichtlich erregt. Der Wille, sich zu beherrschen, und ein Anflug von Zorn hatten die Sonne ihres Madonnengesichts., die sonst hoch über den Alltagsdingen strahlte, verscheucht.

Julian schritt hastig auf sie zu. Bewundernd sah er ihre schönen Arme, die durch den eilig übergeworfenen dünnen Schal schimmerten. Ihre Haut, nach der aufgeregten Nacht gegen Licht und Luft empfindlicher denn je, leuchtete im frischen Morgen. Die schlichte Schönheit, die so viel inneres Leben verriet, ergriff Julian. Solche Frauen gab es im unteren Volke nicht. Er fühlte, daß eine Saite in seinem Herzen vibrierte, an die bis dahin nie etwas gerührt hatte. Versunken in den Anblick der Reize, an denen sich seine Augen gierig weideten, dachte er gar nicht daran, daß er einen freundlichen Empfang erwartet hatte. Dann aber war er über die eisige Kälte, die ihm unverkennbar zuteil ward, um so mehr betroffen, witterte er doch dahinter die Absicht, ihn in sein Plebejertum zurückzudrängen.

Das Lächeln der Lust erstarb auf seinen Lippen. Er erinnerte sich des Ranges, den er in der menschlichen Gesellschaft einnahm, insbesondere in den Augen dieser vornehmen und reichen Dame. Im Moment lebte in seinen Mienen nichts mehr denn Hochmut und Groll gegen sich selbst. Er empfand heftigen Verdruß, daß er seinen Aufbruch um mehr als eine Stunde hinausgeschoben hatte, um dafür einen so demütigenden Empfang zu ernten.

„Nur ein Tor ärgert sich über die Welt!“ tröstete er sich. „Ein Stein fällt, dieweil er schwer ist! Soll ich ewig ein Kind bleiben? Wann werde ich endlich die treffliche Gewohnheit annehmen, diesen Leuten von meiner Seele nur gegen ihr Geld zu geben? Wenn ich will, daß sie – und damit auch ich – Respekt vor mir haben, dann muß ich ihnen begreiflich machen, daß ich armer Kerl zwar der Sklave ihres Mammons bin, daß ich mit meinem Herzen aber himmelhoch über ihrer frechen Selbstgefälligkeit throne, unsagbar erhaben über die armseligen Zeichen ihrer Gnade oder ihrer Geringschätzung.“

Während diese Gefühle in der Seele des jungen Lehrers wogten und wühlten, gewann sein zuckendes Gesicht die Mienen gekränkten Stolzes und wilder Empörung. Frau von Rênal erschrak zu Tode darüber. Die tugendhafte Kälte, die sie sich für die Wiederbegegnung vorgenommen hatte, wich dem Ausdruck der Teilnahme, eines Mitgefühls, das die Verwunderung über den sichtlichen Umschwung in Julian noch vertiefte. Die leeren Redensarten, die man sich am Morgen über das Befinden und das schöne Wetter zu sagen pflegt, kamen beiden nicht über die Lippen. Julian aber, dessen Hirn keineswegs durch Leidenschaft verwirrt war, fand sofort ein Mittel, Frau von Rênal zu zeigen, daß er an Freundschaft zwischen ihnen nicht recht glaube. Von der kleinen Reise, die er vorhatte, sagte er kein Wort. Er grüßte und ging.

Während sie ihm noch nachsah, niedergedrückt durch den düsteren Hochmut, der ihr aus seinem am Abend zuvor so liebenswerten Gesichte entgegengelodert war, kam ihr ältestes Söhnchen hinten aus dem Garten gelaufen, umschlang sie und berichtete ihr:

„Mutter, wir haben Ferien! Herr Julian verreist.“

Frau von Rênal stand das Herz still. Sie war tief unglücklich ob ihrer Tugendhaftigkeit und mehr noch ob ihrer Schwäche. Dies neue Ereignis nahm all ihr Denken in Beschlag. Die bedachtsamen Vorsätze, die sie in der vergangenen schrecklichen Nacht gefaßt, verflogen in alle vier Winde. Jetzt galt es nicht mehr, einem inniggeliebten Verliebten zu widerstehen. Sie sah sich in Gefahr, ihn auf ewig zu verlieren.

Sie mußte am Frühstück teilnehmen. Um ihr Herzeleid zu vollenden, redeten Herr von Rênal und Frau Derville fortgesetzt von Julians Abwesenheit. Er argwöhnte hinter der kategorischen Art, in der ihn Julian um Urlaub gebeten hatte, einen besonderen Anlaß:

„Ohne Zweifel hat dieser Bauernjunge das Angebot von irgend jemandem in der Tasche. Aber diesem Irgendjemand, und wäre es auch Valenod, wird wohl der Appetit vergehen, wenn er hört, daß er sich damit seine jährlichen Ausgaben um zweihundert Taler erhöht. Der Bursche wird sich gestern in Verrières eine Bedenkzeit von drei Tagen ausbedungen haben, und heute ist das Kerlchen in die Berge gelaufen, damit er mir nicht Rede und Antwort zu stehen braucht. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, daß man sich die Unverschämtheiten eines ärmlichen Tagelöhners gefallen lassen muß!“

Frau von Rênal dachte bei sich: „Wenn schon mein Mann, der gar nicht weiß, wie tief er Julian verletzt hat, der Meinung ist, daß er uns verlassen wird: was soll ich dann erst glauben? Ach, es ist alles entschieden!“

Um wenigstens ungestört weinen zu können und Frau Dervilles Fragen zu entgehen, gab sie vor, heftige Kopfschmerzen zu haben, und legte sich zu Bett.

„So sind die Weiber!“ polterte Herr von Rênal gewohntermaßen. „Ewig ist an diesen komplizierten Maschinen etwas nicht im Schwunge.“ Spöttisch ging er von dannen.

Während Frau von Rênal alle Qualen der schrecklichen Leidenschaft erduldete, zu deren Opfer der Zufall sie gemacht hatte, wanderte Julian frohgemut durch die Schönheit der Gebirgslandschaft.

Der Weg führte quer über den langen Bergrücken im Norden von Vergy. Langsam ansteigend, kroch dieser Pfad durch den mächtigen Buchenwald in schier endlosen Zickzacks zum Kamm des Höhenzuges hinauf, der den nördlichen Hang des Doubstales bildet. Nach einigem Steigen blickte der Wanderer über die unbedeutenderen Erhebungen auf dem südlichen Flußufer hinweg bis weit hinein in die fruchtbaren Ebenen von Burgund und Beaujolais. Wenngleich das Gemüt des ehrgeizigen jungen Menschen für Naturschönheit wenig empfänglich war, so konnte er doch nicht umhin, von Zeit zu Zeit stehenzubleiben, um dem großartigen Fernblick Beachtung zu gönnen.

Endlich erreichte er den Gebirgskamm, den er auf einem Paß überschreiten mußte, um in das entlegene Tal zu kommen, in dem der Holzhändler Fouqué, sein Freund und Altersgenosse, wohnte. Julian beeilte sich durchaus nicht. Er spürte keine Sehnsucht, Menschen zu sehen. Auch den Freund nicht. Hockend wie ein Raubvogel zwischen den nackten Felsen, die den Gebirgszug langhin krönen, konnte er weithin jeden Menschen bemerken, der sich der Höhe genähert hätte. In der Mitte einer beinahe senkrecht emporragenden Felswand erspähte er eine kleine Höhle. Er kletterte hinauf.

„Hier können mir die Menschen nicht wehe tun!“ rief er aus, und seine Augen leuchteten.

Er kam auf den Einfall, sich die Freude zu machen, seine Gedanken niederzuschreiben. Das war ihm andernorts zu gefährlich. Ein viereckiger Felsblock diente ihm als Pult. Sein Bleistift flog über das Blatt. Was um ihn war, sah und hörte er nicht. Endlich bemerkte er, daß die Sonne hinter den fernen Bergen von Beaujolais zur Rüste ging. Da fragte er sich: „Warum sollte ich nicht hier übernachten? Brot habe ich bei mir. Ich bin frei!“

Beim Klange dieses großen Wortes jubelte seine Seele. In seinem Heuchlertum hätte er sich selbst bei seinem Freunde Fouqué nicht frei gefühlt. Den Kopf auf beide Hände gestützt, lag er in seiner Höhle. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so glücklich gefühlt. Von Träumereien bewegt, schwelgte er selig in seiner Freiheit. Ohne daß er darauf achtete, erstarben allmählich die letzten Schimmer der Dämmerung. Im Schöße der ungeheuren Finsternis dichtete seine Phantasie an den Dingen, die er dermaleinst in Paris zu erleben sich ersehnte. Vor allem erstand in seiner Seele die Gestalt einer Frau, die viel schöner war und viel geistvoller als alle die Frauen, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Er würde sie leidenschaftlich lieben und von ihr wieder geliebt werden. Er würde sich nur auf kurze Zeiten von ihr trennen und nur um Ruhm zu erringen und immer liebenswerter zu werden.

Ein junger Mann, mitten im grauen Alltag des Lebens und Treibens einer Großstadt aufgewachsen, wäre an dieser Stelle seines Traumdaseins, selbst wenn er Julians Einbildungskraft gehabt hätte, von Ironie ergriffen und ernüchtert worden. Der Drang nach großen Taten wäre zu nichts zerronnen vor der banalen Weisheit: „Lässest du deine Geliebte allein, beim Teufel, so riskierst du, daß sie dich zwei- bis dreimal täglich betrügt!“ Der Bauernsohn Julian hingegen wähnte, ihm fehle zu Heldentaten nur die gute Gelegenheit.

Inzwischen war es stockfinstere Nacht geworden. Bis zu dem kleinen Dorf, in dem Fouqué hauste, hatte er noch zwei Stunden zu laufen. Ehe er die kleine Höhle verließ, machte er ein Feuer an und verbrannte sorgfältig alle seine Kritzeleien.

Sein Freund war höchst erstaunt, als Julian nachts ein Uhr an seine Tür klopfte. Fouqué war dabei, seine Geschäftsbücher nachzutragen. Er war überlang, nicht besonders wohlgestaltet, und hatte grobe, harte Züge, dazu eine Riesennase; aber in dieser abstoßenden Hülle barg sich viel Güte.

„Du hast dich wohl mit dem Bürgermeister überworfen, daß du hier so plötzlich hereinschneist?“ fragte er.

Nicht ohne Vorbehalt erzählte Julian, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.

„Bleibe bei mir!“ schlug ihm Fouqué vor. „Du kennst Herrn von Rênal, Herrn Valenod, den Landrat Maugiron, den Pfarrer Chélan. Du kennst also die Eigenart der Leute unsrer Gegend und kannst mich bei den Versteigerungen vertreten. Das Rechnen verstehst du besser als ich. Du könntest mir die Bücher führen. Mein Handel geht vorzüglich. Ich werde allein nicht mehr fertig, aber ich habe Angst, einen Gauner zum Teilhaber zu bekommen. Deshalb muß ich manches schöne Geschäft schwimmen lassen. Vor vier Wochen habe ich dem Michaud aus Saint-Amand zweitausend Taler zu verdienen gegeben. Ich hatte ihn sechs Jahre nicht gesehen und traf ihn zufällig auf der Holzauktion in Pontarlier. Diese zweitausend Taler hättest du ebensogut einstecken können, oder wenigstens tausend. Wenn ich dich nämlich an jenem Tage bei mir gehabt, so hätte ich auf den ganzen Holzschlag feste geboten, und die andern hätten ihn mir bald gelassen. Werde mein Kompagnon!“

Dies Angebot verstimmte Julian und dämpfte seine tollen Ideen. Während des Nachtmahls, das sich die beiden Freunde gleich Helden Homers selbst bereiteten, weil Fouqué einsam lebte, bewies er Julian an der Hand seiner Geschäftsbücher, wie ertragreich sein Holzhandel war. Fouqué hielt ungemein viel von der Klugheit und Gewissenhaftigkeit seines Freundes.

Als Julian endlich allein in seiner bretterwandigen Dachkammer war, sagte er sich: „Wahrlich, hier könnte ich mir ein paar tausend Taler verdienen und später mit ihrer Hilfe den Beruf des Priesters oder den des Soldaten ergreifen, je nachdem, was dann in Frankreich gerade Mode ist. Das kleine Vermögen, das ich mir hier zusammenscharrte, würde mir dereinst manches kleine Hindernis aus dem Wege räumen. Auch hätte ich hier in den Bergen Muße genug, meiner grauenhaften Ignoranz in den Dingen, die die höhere Gesellschaft beschäftigen, ein wenig abzuhelfen. Fouqué will nicht heiraten, aber er klagt, daß ihn das Alleinsein unglücklich mache. Es ist also klar: wenn er sich einen Teilhaber nimmt, der ihm kein Kapital ins Geschäft bringt, so tut er dies in der Erwartung, daß ihn selbiger nie wieder verläßt...“

Mißmutig rief Julian aus: „Soll ich meinem Freund etwas vormachen?“

Und er, dem Heuchelei und purer Egoismus die Scheidemünzen waren, mit denen er jeden Schritt vorwärts bezahlte, fand seltsamerweise den Gedanken unerträglich, einen lieben Menschen auch nur im geringsten zu kränken. Mit einemmal erhellte sich sein Gemüt. Es fiel ihm ein Grund ein, das Angebot ausschlagen zu können. „Aber natürlich!“ sagte er sich. „Es wäre Schlappheit von mir, sieben oder acht Jahre zu vertrödeln. Dann wäre ich achtundzwanzig. In diesem Alter hatte Napoleon bereits das Größte vollbracht! Wenn ich mir auf obskure Weise ein bißchen Geld zusammengeschachert habe, indem ich auf die Holzversteigerungen renne und ein paar subalternen Halunken um den Bart gehe, wer weiß, ob ich dann noch das heilige Feuer in mir habe, ohne das keiner berühmt wird.“

Am Morgen erklärte er dem braven Fouqué, der den Eintritt seines Freundes in das Geschäft bereits für eine abgemachte Sache hielt, kaltblütig: er fühle sich so stark zum heiligen Stand berufen, daß erden Vorschlag ablehnen müsse.

Fouqué war starr. „Aber bedenke doch“, wandte er ein, „ich will dich als Teilhaber aufnehmen, oder wenn dir dies lieber ist, gebe ich dir ein festes Gehalt von viertausend Franken im Jahre. Willst du wirklich zu deinem Bürgermeister zurück, dem du nicht mehr wert bist als der Dreck an seinen Stiefeln? Wenn du dir ein paar tausend Taler erübrigt hast, wird dich niemand hindern, in das Priesterseminar einzutreten. Mehr noch: ich verpflichte mich, dir die beste Pfarre im ganzen Lande zu verschaffen ...“ Fouqué begann leise zu reden. „Ich liefere nämlich das Brennholz an Herrn***, Herrn***, Herrn***. Ich liefere ihnen die allerbeste Ware, berechne ihnen aber nur den Preis der geringsten Qualität.“

Julian ließ sich durch nichts umstimmen, so daß ihn der Freund schließlich für etwas verrückt hielt.

Im Morgengrau des dritten Tages nahm er Abschied von Fouqué und verbrachte den ganzen Tag in den Felsenklüften oben im Gebirge. Er fand seine kleine Höhle wieder, aber nicht seinen Seelenfrieden. Den hatte ihm Fouqués Angebot geraubt. Wie Herkules stand er am Scheidewege – nicht zwischen Laster und Tugend, sondern zwischen einem wohlgesicherten Durchschnittsdasein und dem Heldentum seiner Jugendträume.

„Wirkliche Festigkeit fehlt mir“, gestand er sich in tiefstem Weh über den Zweifel an sich selbst. „Ich bin nicht aus dem harten Holze der großen Männer geschnitzt, wenn ich fürchte, daß mich ein halbes Dutzend Jahre Broterwerb um die göttliche Energie bringt, durch die der Mensch das Außergewöhnliche schafft.“

Stendhal - Rot und Schwarz

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