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Wie viel wir arbeiten

Olivia Kühni

Publiziert am 26.02.2018

6 Minuten

Die Arbeitszeit der Menschen hat über die Jahrzehnte deutlich abgenommen. Doch ein zweiter Blick – gerade auf die Situation der Frauen – zeigt ein differenzierteres Bild.

SOZIALES

Neun Stunden in Büro, Spital oder Schule statt zwölf in der Fabrik: Die arbeitenden Menschen in der Schweiz sind heute durchschnittlich deutlich weniger im Einsatz als zur Zeit unserer Urgrosseltern. Damit hat dieses Land eine ähnliche Entwicklung mitgemacht wie viele europäische Nachbarstaaten. Woran könnte das liegen? Weshalb sieht die Lage in den USA anders aus? Wo müssen wir vielleicht noch etwas genauer hinschauen? Dazu gleich. Zunächst zu den Daten:

1870 waren Arbeiter in der Schweiz durchschnittlich 3195 Stunden pro Jahr im Einsatz. Rund fünf Generationen später, im Jahr 2000, waren es mit 1597 Stunden noch rund die Hälfte. Ähnlich sieht die Gesamtentwicklung in elf westeuropäischen Ländern[1] aus, in der Grafik zusammengefasst unter «Europa». Überall haben die Jahresarbeitsstunden (G22) ab etwa 1910 stark, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kaum und ab 1950 wieder stärker abgenommen.

Viele Statistiken in Wochenarbeitsstunden stellen jeweils nur die Entwicklung bei den Vollzeitstellen dar. Das sorgt für eine gute Vergleichbarkeit im Laufe der Zeit, schliesst aber einiges an Realität aus. In Jahresarbeitsstunden zu rechnen, hat den Vorteil, dass Teilzeitarbeit oder unregelmässige Arbeitszeitmodelle miteinbezogen werden. Dazu später mehr.

Etwas anders hingegen sieht es in den USA aus. Dort lagen die geleisteten Arbeitsstunden mit Ausnahme der Phase von der Grossen Depression bis zur Nachkriegszeit tendenziell leicht über jenen in Europa. Seit den 1980ern stagnieren sie auf doch deutlich höherem Niveau. Bei den Ferien und Feiertagen sieht es ähnlich aus: In der Schweiz sind diese von 13 Tagen (1870) über 28 Tage (1980) auf 33 Tage (2000) gestiegen, in den USA gleichzeitig von 4 Tagen auf 22 Tage gestiegen und dann wieder auf 20 gefallen. Sind die US-Amerikaner etwa einfach fleissiger als wir? Zunächst: Die Frage muss anderesherum gestellt werden. Nicht die USA sind eine bemerkenswerte Ausnahme, wie gern angeführt wird, sondern die westeuropäischen Länder. Die Menschen hier arbeiten durchschnittlich deutlich weniger als in anderen Ländern. Vergleicht man Grossstädte weltweit, arbeiten die Menschen in Hongkong, Mexiko-Stadt, Nairobi, Tokio, Doha oder Chicago viele Hundert Stunden jährlich mehr als Zürcherinnen oder Genfer. Die Frage müsste also vielmehr lauten: Warum arbeiten wir so viel weniger als Menschen in anderen Teilen der Welt?

Reichtum und Strassenkampf

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die zu einer Erklärung dieses Phänomens beitragen können. Die zwei offensichtlichsten: Reichtum und Strassenkampf. Je mehr Wohlstand die Menschen in einem Land mit jeder Arbeitsstunde erarbeiten (die sogenannte Arbeitsproduktivität), desto weniger lange arbeiten sie. Dieser Zusammenhang ist gut belegt, doch eine abschliessende Antwort liefert das noch nicht. Dies ist politisch und historisch bedingt: Unternehmen in Europa wurden dank der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts tatsächlich immer effizienter im Erwirtschaften von Wohlstand (eben: produktiver). Gut organisierte Arbeiterbewegungen sorgten dafür, dass sich der wachsende Reichtum in kürzeren Arbeitszeiten niederschlug. In den USA hingegen war und ist die Situation eine andere: Die Staaten sind eine Gesellschaft von Einwanderern und Pionierinnen, mit harter Konkurrenz im Arbeitsmarkt, im Vergleich zu Europa schwachen Arbeiterbewegungen und einer deutlich höheren Lohnungleichheit. Letztere hat in den vergangenen Jahrzehnten in den USA noch einmal zugenommen.

Der Zusammenhang zwischen ungleichen Löhnen und langen Arbeitsstunden ist gut belegt: Am unteren Ende der Einkommensskala müssen die Menschen viel arbeiten, um zu überleben, am oberen Ende tun sie es, da sich zusätzlich geleistete Stunden deutlich mehr auszahlen, als dies in einem europäischen Land der Fall wäre. Kurz: Geringe und abnehmende Stundenzahlen sind nicht nur eine Frage der Produktivität, sondern stets ein Spiegel von Kultur und politischen Präferenzen.

Die Frauen stocken auf

Die Ergebnisse von Langzeitstudien zu den Arbeitsstunden sollte man mit Vorsicht geniessen. Die Ökonomie vergass lange Zeit den unsichtbaren, nicht quantifizierten Zwilling von Fliessbandarbeit oder Bürojob: die unbezahlte Haushaltsarbeit. Man könnte auch sagen: Sie übersah die Realität vieler Frauen. Das hat auch hier Folgen. Viele Langzeitstudien zu den geleisteten Arbeitsstunden zählen diese Stunden nicht pro Kopf in der Bevölkerung, sondern pro Arbeiter, bei Rechnungen zu Wochenstunden oft gar pro Vollzeitarbeiter. Die Methode schafft eine gute Vergleichbarkeit: Man kann Aussagen darüber treffen, wie sich die durchschnittliche Belastung von aktiven Arbeiterinnen, quasi die Arbeitsverhältnisse, über die Jahre hinweg entwickelt hat. Daraus lässt sich durchaus eine Vorstellung davon gewinnen, wie sich die Arbeitslast der gesamten Gesellschaft verändert. Allerdings ist diese Vorstellung nur dann verlässlich, wenn sich an der Erwerbsbeteiligung nichts Fundamentales geändert hat. Mit anderen Worten: Arbeitet der durchschnittliche Arbeiter neu sechs statt zwölf Stunden, hat sich die generelle Arbeitszeit in der Gesellschaft nur dann halbiert, wenn die sechs Stunden dafür nicht jemand anderes zusätzlich übernommen hat. Reduzierte Arbeitsstunden können etwas anderes bedeuten als generell weniger Arbeit: nämlich gleich viel Arbeit wie zuvor, einfach auf mehr Schultern verteilt. Was vielleicht auch eine erfreuliche Erkenntnis ist – nur eben eine andere.

G22JAHRESARBEITSSTUNDENpro Arbeiter

QUELLE: Huberman $ Minns (2007)

G23WOCHENARBEITSSTUNDEN (USA)pro Person ab 14 Jahren

QUELLE: Ramey $ Francis (2009)

Genau das ist tatsächlich zum Teil geschehen. Den beiden Ökonomen Valerie A. Ramey und Neville Francis fiel der blinde Fleck vieler Studien auf. Im Jahr 2009 begannen sie, die geleisteten Arbeitsstunden in den USA (G23) statt pro Arbeiter pro Person im erwerbsfähigen Alter umzurechnen, zusätzlich analysiert nach Geschlecht und Alter. Sie kamen zu folgenden Erkenntnissen:

—Die geleisteten (bezahlten) Arbeitsstunden pro Kopf in der Bevölkerung haben seit 1900 tatsächlich abgenommen. Die durchschnittliche Belastung der Bürgerinnen und Bürger ist insgesamt geringer geworden, jedoch nicht in dem Ausmass, wie man es angesichts der üblichen Stundenrechnungen vermuten könnte.

—Die Abnahme gilt ausserdem nicht für jede Bevölkerungsgruppe. Junge Menschen bis zur Volljährigkeit arbeiten durchschnittlich weniger als vor hundert Jahren (wegen der Schule), dasselbe gilt für Menschen ab 65 Jahren sowie Männer in sämtlichen Altersgruppen. Frauen ab 18 Jahren hingegen arbeiten durchschnittlich mehr und ab 25 Jahren sogar deutlich mehr Wochenstunden als noch um 1900.

Die Zahlen gelten für die USA und sind darum nicht zuverlässig auf die Schweiz oder andere europäische Länder übertragbar. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist jedoch auch auf dem europäischen Kontinent gestiegen. Das Fazit dürfte lauten: Nicht alle der verschwundenen Stunden haben steigender Wohlstand und politischer Kampf in eifriger Zweisamkeit geschluckt – einen Teil davon haben auch einfach die Frauen geschultert. Was wiederum nicht nur auf den Feminismus zurückzuführen ist, sondern auch auf die Art von Jobs, die in den letzten Jahrzehnten entstanden und verschwunden sind.

Bei der (unbezahlten) Haushaltsarbeit übrigens ist es genau umgekehrt: Hier haben die Männer zugelegt. Um zu wissen, wie viel zusätzliche Freizeit wir im letzten Jahrhundert tatsächlich gewonnen haben, muss man diese Arbeit natürlich miteinbeziehen. Hierzu nur so viel: Wo Mühsal wegfiel, fanden wir oft rasch wieder Neues zu tun.

DIE DATEN

Die Langzeitstudie zur Entwicklung der Arbeitsstunden stammt von Michael Huberman (Universität Montreal) und Chris Minns (London School of Economics and Political Science): «The times they are not changin’: Days and hours of work in Old and New Worlds, 1870–2000», erschienen in «Explorations in Economic History» (2007).

Ihre Daten trugen die Wirtschaftshistoriker aus einer Vielzahl von Quellen zusammen, unter anderem von der Internationalen Arbeitsorganisation und dem Groningen Growth and Development Centre der Universität Groningen sowie, insbesondere in jüngerer Zeit, von den offiziellen Ämtern der jeweiligen Staaten, in der Schweiz dem Bundesamt für Statistik.

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