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ERSTE ERINNERUNGEN

Es ist dunkel in meinem Kinderzimmer.

Und still. Ich bin aufgewacht und habe ein komisches Gefühl.

Ich rufe: „Mama!“

Keine Schritte im Flur – keine Antwort – Stille. Ich rufe lauter: „Mama!“

Panik kriecht in mir hoch. Meine Mutter kommt nicht.

Ich klettere aus meinem Gitterbett, gehe aus dem Zimmer in den dunklen Flur. Ich suche den Lichtschalter. Finde ihn nach einigem Umhertasten. Rufe immer wieder meine Mutter.

Sie bleibt verschwunden. Auch nachdem ich sie in allen Zimmern gesucht habe.

Ich höre mich selbst atmen. Begreife langsam: Ich bin allein. Verlassen.

Ich heule laut auf. Weine dann. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Irgendwann höre ich auf zu weinen und gehe zum Telefon.

Wahllos gebe ich eine Nummer ein und habe irgendwann sogar jemanden in der Leitung. „Weißt du, wo meine Mama ist?“, frage ich eine fremde Person.

Ich erinnere mich, wie ich mit dem Hörer am Ohr vor der Eingangstür hockte, als diese aufging und meine Mutter, auf zwei Männer gestützt, hereinkam.

Ich habe nie erfahren, was an diesem Abend genau passiert ist.

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Meiner Mutter wurde während der Schwangerschaft mit mir oft zur Abtreibung geraten. Sie war 17 und drogenabhängig.

Mit meinem Vater verband sie eine Art Hassliebe.

Auch er war jung und drogenabhängig.

Er trank viel, und es interessierte ihn nur, wo die nächste Party war. So sollte es auch bis zum Schluss bleiben.

Die Voraussetzungen, um ein Kind zu bekommen, waren schlecht – meine Mutter entschied sich aber trotzdem dafür, mich zu bekommen.

Zuerst habe ich gedacht, dass das egoistisch von ihr war, später fand ich es aber auch mutig von ihr, dass sie mich gegen den Rat ihrer Verwandten bekommen hatte.

Meine Eltern trennten sich ziemlich bald nach meiner Geburt. Meine Mutter Marianne und ich zogen zunächst in ein Frauenhaus und dann in eine eigene Wohnung.

Irgendwann hat meine Mutter wohl erkannt, dass sie es nicht schafft, ein Kind großzuziehen. Sie war sehr jung und wollte noch viel erleben. Ich war ihr im Weg.

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Sie fing an, ihre Wut darüber an mir auszulassen. Manchmal konnte sie ohne Vorwarnung vollkommen ausrasten. Dann schrie sie und schlug mich auch einige Male.

Sie gab mich zeitweise immer mal wieder zu den Eltern meines Vaters. Als ihnen die Verantwortung jedoch zu groß wurde, gab sie mich zu ihrer Mutter.

Bei meiner Oma lebte ich dann ca. eineinhalb Jahre.

Obwohl meine Oma selbst im Nachhinein sagt, dass sie einige Male zum Kochlöffel gegriffen hat, um mir den Hintern zu versohlen, erinnere ich mich komischerweise nur an eine sorgenfreie, harmonische Zeit. Ich erinnere mich nicht an Besuche meiner Mutter, obwohl meine Oma sagt, dass sie regelmäßig stattfanden.

Im Gedächtnis ist mir geblieben, wie meine Großmutter sich um mich kümmerte.

Dass sie mir abends die Haare kraulte, bis ich einschlief. Dass sie Essen kochte, das ich mir wünschte. Dass sie mir Säfte in Babyflaschen an einer langen Schnur vom Balkon herabließ, wenn ich im Sandkasten spielte und Durst hatte.

Während ich spielte, feierte meine Mutter wilde Partys. Sie nahm immer wieder Heroin, experimentierte mit anderen Drogen, hatte verschiedene Typen.

Irgendwann hat sie mir erzählt, dass sie sehr krank sei. Sie habe Aids.

Ich merkte, dass es eine wichtige und ernste Sache war. Was ich genau damit anfangen sollte, wusste ich aber nicht.

Dinge, die mich bedrückten, obwohl ich ihre Bedeutung nicht verstand, habe ich immer schon einfach jedem erzählt. Als wenn dadurch die Last kleiner würde, die ich tragen musste.

Also habe ich eines Tages im Bus „Meine Mama hat Aids!“ gerufen. Betretenes Schweigen und Blicke zum Boden waren die Antwort.

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Erst später habe ich von meiner Mutter erfahren, dass sie selbst nicht genau wusste, wie sie sich mit HIV infiziert hatte. Da sie und mein Vater drogenabhängig waren, haben sie sich wahrscheinlich durch eine Spritze angesteckt.

Alle hofften, dass ich mich nicht infiziert hatte. Ich wurde einige Male untersucht, und es stellte sich dabei heraus, dass ich gesund war.

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Kurze Zeit später muss Marianne Günther auf einer Party kennengelernt haben. Er war auch heroinabhängig, immer auf Drogen und ein Riesenchaot. Meine Mutter erzählte mir, dass sie ihn gerettet hatte, als er sich eine Überdosis gespritzt hatte und bereits blau angelaufen war. Sie rief im letzten Moment den Krankenwagen.

Sie verliebten sich ineinander, aber ihr ganzes Leben war total chaotisch, denn die Sucht brachte sie immer wieder körperlich an ihre Grenzen. Ihnen war klar, dass sie ihr Leben ändern mussten, wenn sie sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollten.

Sie fühlten sich wie zwei Menschen, die im Sumpf versanken und keine Möglichkeit fanden, einander zu helfen.

Kurze Zeit später veränderten beide ihr Leben drastisch. Wie das passierte, haben sie mir ungefähr so erzählt:

Beide liefen verpeilt durch die Gegend, auf der Suche nach irgendwas oder auch gar nichts. Sie waren zugedröhnt und liefen über einen Platz, in dessen Mitte ein großes Zelt stand.

Irgendwer sprach sie an: „Hey, kommt doch mal mit rein. In diesem Zelt könnt ihr den Sinn des Lebens erfahren.“

Unschlüssig und verwundert gingen die beiden mit. Der Abend veränderte ihr Leben komplett. Denn hier hatten beide das Gefühl, die Hilfe zu bekommen, die sie so dringend suchten.

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Das Zelt war ein Missionszelt der Baptisten, und es wurde über Gott gesprochen. Obwohl Marianne und Günther erst kurze Zeit zusammen waren, versprachen sie einander, an Gott zu glauben und mit ihm zu leben.

Sie hörten auf, Drogen zu nehmen, und gaben das Rauchen auf. Wie sie das geschafft haben, weiß ich nicht. Dann suchten sie sich eine gemeinsame Wohnung und wollten mich zu sich holen.

Meine Oma gab mich widerwillig wieder her. Sie hatte die Vormundschaft für mich, und ihre Bedenken waren groß. Aber sie war überzeugt, dass ein Kind zu seiner Mutter gehört und ließ mich gehen. Da sie im selben Ort wie meine Mutter wohnte, versprach sie, uns oft zu besuchen. Das tat sie auch, sodass ich sie nicht sehr vermisste.

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Ich erinnere mich daran, wie Günther und Marianne Dinge aussortierten, die ihrer Meinung nach nicht mehr in ihr Leben passten. Berge von Büchern und Schallplatten wanderten in den Müll. Als ich mich darüber wunderte, sagten sie: „Diese Sachen gehören nicht zu einem Leben mit Gott.“ Marianne und Günther heirateten schnell und planten, Kinder zu bekommen.

Günther sorgte mit seinem Arbeitsplatz bei der Müllabfuhr für unseren Lebensunterhalt. Nach ziemlich genau 9 Monaten kam dann Noah zur Welt. Ich war gerade 5 Jahre alt geworden.

Meine Welt stand Kopf. Es ging nicht mehr nur um mich. Ein Baby und ein neuer Mann waren da, und ich musste meine Mutter teilen. Das war alles zu viel für mich.

Ein paar Mal lief ich von zu Hause fort. Ich erinnere mich, wie ich mir einmal, da muss ich ungefähr 6 Jahre alt gewesen sein, meinen Wecker auf 4 Uhr morgens stellte. Ich packte mir einen Laib Brot und eine Flasche Wasser ein. Eine Freundin wollte mit mir zusammen ausreißen. Die wollte ich morgens abholen. Doch meine Freundin hörte mein Rufen unter ihrem Fenster nicht und verschlief unsere Verabredung.

Und alleine traute ich mich nicht weiter. So kehrte ich wieder nach Hause zurück. Auch später schnappte ich mir häufig mein Fahrrad und fuhr einfach los.

Wenn ich gefunden wurde oder wiederkam, hagelte es Ohrfeigen und Vorwürfe.

Aber daran konnte ich sehen, dass sich meine Mutter ernsthafte Sorgen um mich gemacht hatte. Es zeigte mir, wie lieb sie mich hatte und wie wichtig ich ihr war. Irgendwann lief ich nicht mehr fort. Ich fand mich mit meinem neuen Leben ab und gewann meinen Bruder lieb. Günther nannte ich bald „Papa“.

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Allerdings blieb immer das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören. Ich hatte einen anderen Nachnamen, Marianne und Noah hatten Günthers Nachnamen.

Für sie war es ein Neuanfang, und ich war vom alten Leben übrig geblieben.

Irgendwie erinnerte ich sie immer daran, dass es auch dieses Leben einmal gegeben hatte. Ich passte nicht in ihren neuen Alltag, und deshalb kämpfte ich um Aufmerksamkeit.

Ich wollte dazugehören. Vor allem meiner Mutter wollte ich gefallen und tat deswegen immer sehr erwachsen. Ich erledigte kleine Aufgaben wie Einkäufe für sie.

Sie nannte mich immer „meine Große“, und ich war sehr stolz darauf.

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Seit meine Mutter und Günther zusammenlebten, zogen wir dreimal um. Ich beklagte mich nicht darüber. Ich ließ immer wieder Freunde zurück und suchte mir neue.

Das letzte Jahr vor der Schule blieb ich zu Hause. Ich war in drei verschiedenen Kindergärten gewesen und konnte mich im letzten nicht mehr richtig einleben. Nun verbrachte ich viel Zeit mit meinem kleinen Bruder.

Hin und wieder machte sich die Krankheit meiner Mutter schon bemerkbar. Wenn sie erkältet war, nahm es sie sehr mit. Sie hatte oft hohes Fieber und musste sehr aufpassen, dass sie alles richtig auskurierte.

Zu der Zeit konnte sie aber noch so gut mit der Krankheit leben, dass wir sie im Alltag oft vergaßen.

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In unserem Alltag spielte der Glaube eine große Rolle. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, an anderen Wochentagen trafen wir uns zu Gebetsstunden, die auch oft bei uns zu Hause stattfanden. Mein Stiefvater Günther war in der christlichen Gemeinde, in die wir gingen, zum Prediger geworden. Auch meine Mutter war nun sehr gläubig.

Sie dachte, alle Antworten auf ihre Fragen in der Bibel zu finden. Sie glaubte auch, dass Gott sie gesund machen würde. Wahrscheinlich brauchte sie diesen Glauben, um nicht völlig durchzudrehen. Denn die Angst vor der Krankheit stand immer im Raum.

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Oft wirkte meine Mutter unausgeglichen, ihre Launen ließ sie weiter an mir aus.

Ich kassierte so viele Ohrfeigen, dass ich irgendwann bei jeder Handbewegung zusammenzuckte.

Marianne war eine cholerische Frau, die immer wieder Wutausbrüche hatte. Sie schlug auf Möbel ein, an denen sie sich gestoßen hatte. Wenn ich etwas tat, das ihr nicht passte, schlug sie zu.

Eines Abends am Abendbrottisch, ich war 7 Jahre alt, träumte ich vor mich hin und hing irgendwelchen Gedanken nach.

Wie aus dem Nichts schlug sie mir ins Gesicht. Vollkommen erschüttert fragte ich sie, warum sie mich geschlagen habe. „Guck nicht wie dein Vater“, gab sie mir zur Antwort. In solchen Momenten habe ich sie gehasst, weil sie etwas in mir hasste. Ich weiß bis heute nicht sicher, woher dieser tiefe Hass rührte, den sie meinem Vater gegenüber empfand.

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Als mein Vater erfahren hatte, dass meine Mutter HIV-positiv getestet worden war, ließ er sich lange Zeit nicht untersuchen. Er ging der Gewissheit aus dem Weg und wollte nicht herausfinden, was er im Inneren wahrscheinlich schon längst wusste. Erst Jahre später ließ er sich testen. Da erfuhr er, dass er auch an Aids erkrankt war. Und dann musste auch er irgendwie mit der endgültigen Gewissheit leben, dass ihm der Tod jeden Tag ein Stück entgegenkam.

Er änderte sein Leben nicht, wie meine Mutter es getan hatte. Er blieb Alkoholiker, war zeitweise heroinabhängig und rauchte gerne und viel Marihuana.

Das alles habe ich erst vor Kurzem von einem alten Bekannten erfahren. Mein Vater wurde mir in meiner Kindheit vorenthalten.

Er rief manchmal an, wenn er getrunken hatte und er mich plötzlich vermisste. Vielleicht traute er sich auch erst dann, anzurufen.

Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit ihm sprach oder mich mit ihm traf. Sie wimmelte ihn oft ab. Daher kannte ich ihn kaum, und das macht mir auch heute noch viel aus.

Ich glaube, dass ich ihm viel ähnlicher bin als meiner Mutter, aber Gewissheit werde ich niemals haben.

Es tat damals weh, zu wissen, dass er am Telefon ist und mich sprechen wollte, dass ich es aber einfach nicht durfte. Egal, wie besoffen er gewesen wäre, ich hätte ihn sprechen wollen. Er war mein Vater, und ich liebte ihn, ohne zu wissen, warum.

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Meine Mutter verhinderte den Kontakt, soweit es ging. Ein paar Mal hatte ich ihn doch treffen dürfen, aber ich erinnere mich leider kaum noch an diese seltenen Momente.

Marianne hielt mir vor, dass ich so sei wie er. In diesen Momenten bekam ich die Verachtung zu spüren, die sie ihm gegenüber empfand.

„Du hast so hässliche Finger wie er“, sagte sie öfter. Ganz beiläufig und verletzend. Ich fühlte mich von ihr verraten und erniedrigt. Ich mache ihr heute keine Vorwürfe mehr deswegen. Sie hatte diese böse Krankheit in sich und wusste sicher oft nicht, wohin sie mit der wachsenden Verzweiflung sollte.

Oft verwandelt sich Angst in Wut. Heute kann ich es nachvollziehen.

Die Vergangenheit kann ich dadurch aber nicht verändern. Sie hat mich geprägt.

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Aber Marianne hatte auch eine ganz andere Seite. Sie konnte warmherzig sein und war gegenüber allem aufgeschlossen. Sie war sehr ehrlich und lachte laut und viel. Wenn ich schlecht träumte, legte ich mich zu ihr ins Bett, und aller Schrecken war vergessen.

Oft erzählte sie mir von ihrem früheren Leben – wie sie als Teenager in Berlin mit Heroin in Berührung kam und auf den Strich ging.

Sie wollte immer offen zu mir sein, und das schätze ich auch heute noch an ihr.

Ich genoss es, dass mich meine Mutter wie eine Freundin behandelte. Genau das wollte ich nämlich gerne für sie sein. Es machte mich stolz, dass sie mich nicht wie ein kleines Kind behandelte, sondern mir diese „erwachsenen Dinge“ erzählte.

Abgestürzt

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