Читать книгу Die Zärtlichkeit der Fische - Marie Levy - Страница 7

Die Mauer

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Als sein Gesicht aus dem grauen Meer der anderen Gesichter auftauchte, war die Langeweile zumindest für diesen Abend besiegt. Sie konnte sich Zeit lassen, seine Schönheit genießen. Er würde als Letzter gehen, er war der Barkeeper.

Sie wusste, dass sie Männer in ihren Bann ziehen konnte. Weiblichkeit, so nannten es manche. Sie nannte es Lust. Liebe war es selten, selbst wenn sie liebte. Aber sie spürte das Verlangen der Männer, sie zu berühren, ihre Wärme zu kosten, ihre Energie einzufangen. Sie spürte ihr Drängen, sie zu besitzen.

Sie wusste, sie konnte ein Traum sein, für eine Nacht, zwei Nächte, ein bisschen mehr vielleicht. Ein Traum aus vergangener Zeit, der Traum von Kind, Mutter, Hure und Geliebter. Ein jahrhundertealter Traum, den Männer von Frauen träumen, die sie nicht besitzen können. Dann würden sie die Angst vor ihrer Freiheit spüren, vor ihrer Schönheit, die die Schönheit ihrer Seele war. Angst vor ihrer Liebe und ihrer Verletzlichkeit. Angst davor, dass sie ein Mensch war, dass sie dem Traum nicht standhielt. Und sie würden gehen.

Bei diesem würde es nicht anders sein. Aber sie wollte, dass er sie begehre. Sie wollte eine Königin sein für ihn und ihm dann ins Gesicht lachen. In sein Gesicht und in alle anderen sabbernden Männergesichter, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Und sie wollte nie mehr lieben. Die Liebe war ihr Schicksal in diesem Leben nicht. Als sie sich anschickte, ihn auf sich aufmerksam zu machen, war sie auf seine Schönheit gefasst, nicht auf sein Lachen. Sie tanzte, um die Energie zu besiegen, die er in ihr weckte. Sie tanzte zu Liedern, die sie nicht mochte, machte sich lustig über sie, spielte mit ihnen, brauchte sie, um nicht zu zerspringen an Lebensfreude und Schmerz.

Und sie brauchte den Tanz, damit er sie sah. Das tat er dann auch. Und er lachte sie an. Lachte sein ganzes Licht in ihr Gesicht, seine ganze Freude an ihr. Sie wünschte sich Reggae von ihm. Aus dem Wissen, dass diese Musik sie leicht machen würde, unbeschwert, wie eine Droge. Dann tanzte sie für ihn. Sie bot ihm den Traum und sich das Vergessen. Dass seine Freundin zwischendurch hereinkam, das nahm sie kaum wahr – das war sie gewöhnt. Was er ihr erzählte und wie er hieß, das vergaß sie sofort wieder, aber sie schlief mit seinem Lachen im Herzen ein.

Später erzählte er ihr, sie hätte getanzt, als wäre sie allein auf dieser Welt. Als würde sie ganz für sich die Gesichter verspotten, die sie anstarrten. Sie hatte lächelnd dazu genickt. Schön, dass er sich etwas dabei dachte. Und so falsch lag er nicht. Für ihn war der Traum gewesen, die anderen sollten ein unstillbares Verlangen verspüren, zumindest für einen Moment. Die einzige Antwort, die sie darauf hatte, dass sie mit ihrer Seele nichts zu tun haben wollten.

Beim nächsten Mal wollte sie ihn spüren. Nicht mit ihm schlafen, nein, aber ihn fühlen, mit ihm reden, ein bisschen Freude stehlen an ihm. Sein Lachen für sie war dasselbe, aber sie war verletzbar geworden. Sie hatte Angst gehabt, er könnte nicht lachen. Als er mit ihr mitging, ans Meer, träumte sie immer noch von seinen Armen und seinen Augen. Als er ihr zwischen die Beine fasste, wurde sie zu Eiskristallen. Als wäre sie nicht mehr in ihrem Körper, nahm sie seine Bemühungen wahr, hörte sie seine Bitte, mit zu ihm zu kommen. „Du willst mich ficken“. Überrascht lauschte sie dem Klang ihrer Stimme nach. Die Eiskristalle in ihr schmerzten. Als sie dann doch mit ihm ging, dann sicherlich nicht, weil er ihr versichert hatte, er wolle sie lieben, nicht ficken. Nicht, weil er sie gebeten hatte, dieses Wort nicht zu gebrauchen. Er konnte sie nicht mehr erreichen. Sie sich selbst auch nicht. Deshalb ging sie mit.

Sein Zelt war wie ein Palast für sie. Anstatt auf der harten Erde, die sie erwartet hatte, lag sie weich zwischen Kissen und Federbett. Hier würde sie am Morgen gut erwachen. Dass sie sich wie Diebe hatten hineinschleichen müssen, um nicht seiner Freundin in die Arme zu laufen, die womöglich drinnen auf ihn wartete, vergaß sie angesichts des Wohlgefühls, das diese weiche kleine Höhle in ihr weckte.

Verwundert stellte sie fest, dass sie sich ihm jetzt öffnen konnte. Sich in seinen Geruch versenken, mit seiner Haut verschmelzen. Bis er den Rausch unterbrach. „Bitte nicht“, hatte er gesagt und ihre Hand festgehalten. Vermutlich hatte er an seine Freundin gedacht. Sie zog sich zurück, kleidete sich an – verzweifelt darauf bedacht, die Kälte noch nicht zu spüren. Sie erst zuzulassen, wenn sie mit sich allein wäre. Dann könnte sie sich in den Arm nehmen, und sich die Tränen wegmurmeln. Sie könnte sich wiegen und sich wie ein kleines Kind in den Schlaf singen. Sie könnte sich zusammenrollen und ganz auf dem Grund der Dunkelheit spüren, dass ihr Herz schlägt. Das würde ihr Trost sein.

Aber er wollte sie nicht gehen lassen. Als Pfand bot er ihr den schönsten Ort der Welt. Seinen schönsten Ort. Da ging nochmals sie mit. Auf dem Weg bereits fragte er sie nach der Liebe. „Ja“, antwortete sie ihm, „ich liebe“. Wen? „Den, auf den ich gewartet habe. Aber er erkennt mich nicht.“ Sie sah ihn nicht an dabei. Sie wollte das Lächeln nicht sehen, das das Scheitern auslöst. Das Schulterzucken auch nicht, das jeden Träumer tauft, der seinen Gefühlen eine eigene Welt zugesteht. Wahr in ihrer Art. „Auch seiner Wirklichkeit halte ich nicht stand“, hätte sie sagen können.

Welche Wohltat, davon zu sprechen. Zu jenem zu gehören, für ein paar Sekunden. Für ein paar Momente und zumindest in irgendjemandes Augen. „Was ist Liebe für dich?“, war seine nächste Frage. „Liebe ist für mich, wenn einer auf der Sonne sitzt und einer auf dem Mond. Der auf der Sonne niest und der auf dem Mond sagt Gesundheit“, scherzte sie. Tausend Fragen stellte er ihr noch, an dem kleinen Leuchtturm am Ende der Welt. Tausend Antworten gab sie ihm. Tausend Dinge erzählte er von sich, von seiner Freundin, von seinen Zweifeln, von seinen Gefühlen und von seinen Träumen. Sie hörte zu. Bis er sie plötzlich schüttelte. „Warum bist du so hart?“, sie erschrak vor seiner Wut. „Du streichelst mich“– er zeigte auf ihre Hand in seiner – „aber ich darf dir nicht nahe sein. Du bist unendlich weit weg von mir.“ Flucht war ihr erster Gedanke. Tränen der zweite. Der dritte war Gleichmut. Sie würde sich nicht mehr berühren lassen.

Doch für dieses Mal war es zu spät. Er hatte die Mauer eingerannt und sie lag unter den Trümmern begraben. Die Mauer hielt der Wärme nicht stand. Sie war gegen die Kälte gebaut – und gegen die Gleichgültigkeit.

Küssen konnte er sie zum Abschied nicht. Die Leute würden reden. Es war ein kleines Dorf. Man kannte seine Freundin. Schlimm genug, dass man sie zusammen gesehen hatte, blass von der durchwachten Nacht. „Ich werde es ihr selbst erzählen“, versicherte er ihr ein ums andere Mal, „diese Nacht ist ein Teil von mir.“ Es interessierte sie nicht besonders. Nur schlafen, schlafen, morgen würde sie die Trümmer sortieren.

Sie waren verabredet für den nächsten Abend. Sie bereitete sich darauf vor, der Fremdheit ins Gesicht zu lachen, mit der er ihr begegnen würde. Darin hatte sie Übung. Sie setzte sich die Maske auf. Dieses Mal lachte er nicht. Aber eine Zeichnung. Mond und Sonne – sie und er. Und er nieste so lange, bis sie „Gesundheit?“ fragte. Was er ihr damit sagen wollte, verstand sie nicht. Die Maske macht blind.

Wieder wollte er sie nicht gehen lassen, wollte nun, dass sie bei ihm bliebe, viele Tage, für immer. Zwischendurch kam seine Freundin herein und gab ihm einen Kuss. Da ging sie, um zurückzukommen. Nicht morgen, aber bald. Genau dann, wenn er glauben würde, es gäbe sie nicht mehr. Genau dann, wenn sie ihn nicht mehr brauchen würde.

Und genau dann kam sie wieder. Als sie sich sahen, erkannte sie sein Gesicht nicht wieder. Nur mit dem Herzen erkannte sie ihn. Ihm schien es genauso zu gehen. Lange starrten sie sich über die Köpfe der Leute hinweg an, bis sie sich begrüßen konnten. Die erschreckende Erkenntnis besiegend, dass sie sich genauso gut nie hätten wiedersehen können.

Dies war der Abend der Fröhlichkeit. Der Abend des Lachens und der flüchtigen Berührungen. Dieses Mal tanzte er für sie. Damit sie von ihm träumen könne. Und die ganze Welt sah zu.

„Was bin ich für dich“, fragte er sie danach, ohne zu wissen, dass sie die Trümmer gesprengt hatte. Hätte er ihr das Ende der Welt geboten, sie hätte es sich mit ihm angesehen. So konnte sie nur sagen: „Ich weiß es noch nicht.“ Zwischen dem Jetzt war kein Platz für Waghalsigkeiten. In dem Jetzt liebte er den Mond – und lebte mit seiner Freundin. Er brauchte viel Sicherheit. Sie brauchte den Wahnsinn, um an die Liebe zu glauben.

Dann schrieb er ihr. Schrieb ihr von der Sonne, und dass sie ihm fehle. Sie antwortete mit Liedern, die Worte hatten sich abgenutzt.

Kurz darauf rief sie ihn an. Die Langeweile hatte wieder von ihr Besitz ergriffen. Möglich, dass er immer noch ein Mittel dagegen war.

Es war schön, seine Stimme zu hören, aber nicht so schön, wie sie gehofft hatte. Es war so einfach gewesen, ihn anzurufen, so einfach und selbstverständlich, mit ihm zu sprechen, dass kein Platz mehr war für Wunder. Er nannte sie seine Königin, aber das Risiko war ihm zu groß. Er hätte nur gerne den einzigen Schlüssel zu ihrem Schloss besessen. Dass sie einem anderen gehören könnte, war ihm ein Gräuel. Dass er seine Freundin verlieren könnte, auch.

Dass sie entführt werden wollte, von dem, der in ihre Seele geblickt hatte, das behielt sie für sich. Garantie war ihre Sache nicht. „Zerstöre nicht die Mauern anderer, wenn du den Garten dahinter nicht sehen willst“, musste sie denken. Aber vielleicht war es das Wissen wert, dass sie noch zerstörbar waren.

Sie würden sich wiedersehen, vielleicht. Er würde Sicherheit wollen und sie das Ende der Welt. Vielleicht würden sie sich dann in die Augen sehen, und es würde beides unwichtig werden – möglicherweise auch nicht. Aber das war nicht ihr Problem. Sie spielte mit dem Staub der Trümmer.

Die Zärtlichkeit der Fische

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