Читать книгу Leb wohl, liebes Hausgespenst - Marie Louise Fischer - Страница 5
Erkundungsgang
ОглавлениеAuf der Fahrt über die Insel vergaß Monika allmählich ihren Freund Amadeus. Das heißt, um genauer zu sein, vergessen konnte sie ihn natürlich keinen Augenblick, aber ihre Gedanken beschäftigten sich nicht länger mit ihm. Zu viele neue Eindrücke stürmten auf sie ein.
Zuerst kamen sie an riesigen modernen Hotels vorbei, dann an altmodischen Häusern, die, abseits der Küstenstraße, sich halb in tropischen Parks verbargen, und endlich waren nur noch vereinzelt Villen zu sehen. Immer wieder aber auf dem kurvenreichen Weg tauchte das Meer auf, heute noch sehr wild, grau und gischtig, aber es war eben doch da und versprach Schwimmen und Sonnen an schöneren Tagen.
Monika, Norbert und Ingrid drückten ihre Nasen an die Fensterscheiben und stellten fest, daß sie die West Bay Street entlangfuhren. Über diese Straße führte auch eine normale Busverbindung. Immer wieder tauchten Haltestellen auf, an denen Einwohner, meist braune Mädchen oder Frauen, auf den Bus in die Stadt warteten. Aber sie fuhren im Hotelbus in die entgegengesetzte Richtung und ohne anzuhalten durch.
Es wurde wenig gesprochen. Die jungen Leute waren zu gespannt, Steins zu müde und die Hostess zu verärgert, um eine Unterhaltung zu führen.
Endlich, nach einer guten halben Stunde, tauchte, breit und behäbig zwischen grünen Hügeln gelagert, das South Ocean Beach Hotel vor ihnen auf.
„Da ist es!“ rief Norbert begeistert. „Gleich sind wir da!“ Sogar eine breite Auffahrt und ein weißes Tor waren schon zu sehen. Aber der Bus fuhr weiter.
„Bist du sicher, daß es das ist?“ fragte Monika. „Wir halten ja gar nicht!“
„Ich habe es nach dem Prospekt genau erkannt“, beharrte Norbert.
„Wir sind jetzt auf der Southwest Road“, verkündete Ingrid.
„Sind wir denn um die Ecke gefahren? Das habe ich gar nicht gemerkt“, sagte Monika.
„Nein. Der Name der Straße hat sich nur verändert.“
„Und die Richtung!“ fügte Norbert hinzu. „Wir schlagen anscheinend einen Bogen.“
Er hatte sich nicht geirrt. Nach einiger Zeit wurde das Hotel wieder sichtbar, nur von einer anderen Seite. Vor dem Portal warf ein kleiner Springbrunnen eine Fontäne in die Luft, und der Platz wurde von hohen Kokospalmen umsäumt.
Das gefiel den jungen Leuten natürlich sehr, und als der Bus hielt, hatten sie es eilig hinauszukommen. Aber weil sie ganz hinten saßen, mußten sie warten.
„Seht doch nur die Kokosnüsse!“ schrie Norbert, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Von denen möchte ich eine pflücken!“
„Sei nicht so laut!“ tadelte seine Mutter, und Ingrid sagte ein wenig schnippisch: „Dann versuch’s doch!“
Auch Monika starrte, wie Norbert, gebannt in die Höhe und überlegte, ob sie eine der Palmen erklimmen könnte.
Ingrid stieß sie von der Seite an. „Komm doch! Wir müssen ins Hotel!“
„Warum so eilig?“
Der Bus war inzwischen schon ausgeladen worden, und ein Hausdiener hatte das Gepäck auf einer kleinen Karre in die Halle gefahren.
„Wir müssen unsere Koffer auspacken.“
„Ach, das hat doch Zeit!“
„Aber ich will meine Kleider aushängen! Sonst sind sie am Abend zerknittert.“
„Das wäre ja schrecklich!“ Monika lachte. „Hast du etwa vor, an einer Schönheitskonkurrenz teilzunehmen?“
„Sei nicht albern!“
„Ich mache dir einen Vorschlag: du packst deinen Koffer aus, und ich erkunde das Gelände!“
„Und wo treffen wir uns?“
„Spätestens vor dem Mittagessen auf dem Zimmer. Aber ich glaube nicht, daß man hier verlorengehen kann. Wenn du fertig bist, kommst du einfach auch runter.“
Herr Stein hielt seiner Frau schon die große, gläserne Schwingtür auf, die in die Hotelhalle führte.
Norbert rannte zu ihnen hin: „Darf ich Monika begleiten? Wir wollen uns schon mal ein bißchen umtun.“
Es war Frau Stein anzumerken, daß sie ein „Nein“ schon auf der Zunge hatte, aber dann überlegte sie es sich anders und sagte: „Schwirr ab. Du würdest mir ja doch keine Hilfe sein!“
„Danke, Mutti!“ Norbert lief zu Monika zurück. „Glück gehabt!“
„Ingrid, sei lieb!“ bat Monika. „Nimm meine Handtasche und den Katzenkorb!“
„Immer ich!“
„Komm, sei nicht so! Es ist ja bloß das eine Mal!“ Monika wußte, daß ihr Verhalten der Freundin gegenüber nicht ganz fair war. Aber ihre Neugier war zu groß, als daß sie sie hätte bremsen können. „Was sehen wir uns zuerst an?“ fragte sie Norbert.
„Wir laufen um das Hotel herum!“
Das Hotel war ein zweistöckiges Gebäude, das ringsum von smaragdgrünem Rasen umgeben war. Auf allen Seiten führten Türen hinaus und hinein und auch Treppen von außen zu den Gängen im ersten Stock.
„Angst vor Einbrechern scheinen die hier nicht gerade zu haben“, meinte Monika.
„Abends wird sicher alles abgeschlossen“, sagte Norbert beruhigend.
„Aber tagsüber? Erinnere mich nachher daran, daß ich mein Geld in den Hotelsafe lege.“
„Wir müssen es noch umtauschen. Jedenfalls so viel, wie wir hier brauchen.“
„Wieso? Was haben die denn hier für eine Währung?“
„Dollars … aber Bahama-Dollars.“
„Wieso denn das?“
„Die Bahamas haben doch nie zu den Vereinigten Staaten gehört, sondern zum Britischen Imperium. Hat mir mein Vater jedenfalls erklärt. Sei 1972 sind sie selbständig, aber sie sind immer noch im Britischen Commonwealth, das ist diese lockere Vereinigung aller früher mal englischen Kolonien.“
„Aber dann könnten sie doch englisches Geld haben!“
„So englisch sind sie nun eben auch nicht mehr.“
Das Hotel war in die Breite gebaut; es bestand aus einem Hauptflügel, an den sich rechts und links zwei Nebenflügel anschlossen.
„Wie ein eckiges Hufeisen“, stellte Monika fest.
„Falls es so etwas gäbe!“ kritisierte Norbert.
Als sie um die letzte Ecke liefen, sahen sie, daß das Gebäude einen Innenhof auf drei Seiten abschloß, auf dem Tische und Stühle und Sonnenschirme standen und auch Instrumente einer Calypso-Band aufgebaut waren. Das Schönste aber war der riesige Swimmingpool, der davorlag.
Der Anblick kam für Monika und Norbert so überraschend, daß ihnen einen Augenblick der Mund offenblieb.
Monika war die erste, die die Sprache wiederfand. „Das ist eine Wucht!“ sagte sie.
An den Tischen saßen Gäste in Badekleidung und tranken Limonade aus hohen Gläsern. Dunkelhäutige Bedienstete in schneeweißer Kleidung liefen mit Tabletts hin und her. Im Wasser plantschten, schwammen und spritzten andere Gäste, und wieder andere hatten es sich auf dem ansteigenden Rasen hinter dem Pool auf Badetüchern bequem gemacht und versuchten, in dem bißchen Sonne, das hin und wieder durch die Wolken fiel, zu bräunen.
„Am liebsten würde ich gleich nach oben laufen und mir meine Badehose holen“, erklärte Norbert.
„Dann tu das doch!“
„Und du?“
„Ich habe mir vorgenommen, mich erst mal umzusehen, und dabei bleibe ich.“
Norbert zögerte. „Kann ich dich denn allein lassen?“ „Aber klar! Ich bin doch kein Baby mehr.“
„Wenn du meinst!“ Norbert lief am Swimmingpool vorbei über die Terrasse und verschwand im Hotel.
Monika war ein bißchen enttäuscht, daß er sie so ohne weiteres stehenließ. Gleichzeitig ärgerte es sie, daß es ihr einen Stich gab. Sie hatte es ja selber so gewollt. Ebensogut hätte sie sich ihm anschließen und ihr Badezeug holen können. Obwohl die Sonne kaum schien, war es warm genug, um schwimmen zu gehen.
Aber ein Erkundigungsgang reizte sie jetzt doch mehr.
Sie lief wieder um das Hotel herum, nicht zum Eingang, von dem sie hergekommen waren, sondern an einer der anderen Seiten entlang, und stieß auf eine schmale asphaltierte Straße, die zu einem kleinen Gebäude führte, das auf einem Hügel lag. Vom Prospekt her wußte sie, daß dies das Golf-Clubhaus war, das zum Hotel gehörte. Es war so vieleckig, daß es fast rund wirkte.
Rechts von der Straße lag der Golfplatz, der so weit ausgedehnt war, daß man kein Ende absehen konnte. Das Gelände war hügelig, mit kurz geschorenem Rasen bedeckt, und Monika spürte Lust, es zu erforschen. Aber sie wagte es nicht. Spieler in kurzärmeligen, bunt gemusterten Hemden, Schirmmützen auf dem Kopf, waren ernsthaft beschäftigt, die weißen Bälle zu schlagen. Monika konnte die Löcher, auf die sie zielten, nicht ausmachen, aber die kleinen harten Bälle pfiffen so scharf durch die Luft, daß sie Angst hatte, einen an den Kopf zu bekommen. Sie wunderte sich auch, daß die Spieler selber sich nicht davor zu fürchten schienen. Aber wahrscheinlich, dachte sie, kannten sie die Strecke und wußten, wieviel Abstand sie voneinander halten mußten.
Als ein kleiner Elektrowagen, in dem zwei Golfspieler mit Ledersäcken voller Schläger saßen, vom Hotel in Richtung Clubhaus fuhr, mußte sie beiseite springen. Von da an benutzte sie lieber einen Trampelpfad am Rande der Fahrbahn.
Nahe dem Clubhaus, jenseits des Golfplatzes, gab es ein flaches Stück Rasen mit vielen Löchern, die nur wenige Meter voneinander entfernt waren. Sofort kam Monika die Idee, daß sie hier mit ihren Freunden eine Art Minigolf spielen könnte. Dazu würden sie nur einen Schläger und einen Ball brauchen.
Neben einem der Löcher kniete ein großer schwarzer Mann und tat etwas, das Monika nicht sogleich begriff. Erst beim genaueren Hinsehen stellte sie fest, daß er den Rasen um das runde Loch mit einer kleinen Schere beschnitt. Sie fand das ungemein komisch und wäre fast laut herausgeplatzt. Aber dann wurde ihr klar, daß das für den Mann eine richtige Arbeit war, zu der man ihn befohlen hatte. Wenn er auch die Löcher auf dem großen Golfplatz auf diese Weise präparieren mußte, würde er am Abend wissen, was er getan hatte.
Monika wurde es warm. Sie zog ihre Jacke aus und bedauerte, daß sie sie nicht auch Ingrid mitgegeben hatte. Eine breite, geschwungene Treppe führte zum Clubhaus hinauf. Monika überlegte, ob sie nach oben steigen und versuchen sollte, eine Limonade zu bekommen. Aber sie hatte kein Geld bei sich, und aufschreiben lassen konnte sie das Getränk auch nicht, weil sie nicht einmal ihre Zimmernummer kannte. So blieb sie unten, lief um die Treppe herum und entdeckte einen Laden mit Golfzubehör. Sie überlegte, ob es sich lohnen würde, Ball und Schläger zu kaufen. Man hätte auch auf der Wiese vor dem Haus mit dem Seerosenteich einen kleinen Golfplatz anlegen können. Die Frage war nur, ob sie wirklich spielen würde. Für den Aufenthalt auf der Insel lohnte sich die Anschaffung kaum. Monika entschied, das mit ihren Freunden zu besprechen. Es war schon ganz gut zu wissen, wo sie einkaufen konnten.
Hinter dem Clubhaus gab es keine Straße, sondern nur zwei Wege, die den Hügel hinunterführten. Monika entschied sich für den schmaleren und befand sich schon nach wenigen Metern in einer blühenden Wildnis mit mächtigen Sträuchern und umrankten Bäumen. Es duftete wunderbar. Vögel sangen ud zwitscherten in den Zweigen, und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Es ging hügelauf und hügelab. Immer wieder tat sich die tropische Wildnis zu kleinen Lichtungen auf. Monika fand es herrlich. Hier würden sie die tollsten Spiele spielen können, Indianer und Verstecken und Räuber und Gendarm. Munter lief sie weiter.
Als sie im Bus den Bogen auf der Southwest Road um das Hotel gemacht hatten, hatte sie gesehen, daß das ganze Gelände von einer weißen Mauer umgeben war, niedriger als das Gebäude, so daß sie hatten Einsicht nehmen können. Diese Mauer wollte sie jetzt erreichen und an ihr entlang zum Eingang zurückkehren.
Aber nach einer Weile – sie wußte nicht, wie lange sie schon gelaufen war – verließ sie der Mut. Nach ihrer Berechnung hätte sie längst an der Mauer sein müssen. Aber so angestrengt sie auch vorausspähte, nichts Weißes schimmerte durch die Büsche. Der Weg war immer schmaler geworden.
Erst lief sie weiter, von einer gelinden Panik erfaßt. Dann zwang sie sich zur Ruhe, ging langsamer und immer langsamer und überlegte sich, ob es besser war, die eingeschlagene Richtung einzuhalten oder zurückzugehen.
Sie konnte sich nicht entscheiden. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein. Nicht einmal Amadeus war bei ihr. Er hätte ihr sofort gezeigt, wohin sie sich wenden mußte.
Aber sie wünschte ihn nicht herbei. Sie wollte ihn nicht herbeiwünschen. Es wäre doch zu lächerlich gewesen, wenn sie nicht wenigstens ein paar Tage ohne ihn hätte auskommen können! Er hatte ihr mehr als einmal das Leben gerettet – damals, als sie den baufälligen Balkon betreten und fast in die Tiefe gestürzt wäre, oder als sie auf dem Eis eingebrochen war – und sie war ihm dankbar dafür. Aber sie konnte sich doch nicht ihr ganzes Leben auf einen Kobold verlassen. Sie mußte erwachsen und selbständig werden.
Monika beschloß umzukehren. Wenn sie auf dem gleichen Weg blieb, konnte ihr gar nichts passieren. Sie mußte geradewegs zum Clubhaus zurückfinden.
Aber so einfach, wie sie es sich gedacht hatte, war das nicht. Sie kam zu Gabelungen, die sie früher nicht bemerkt hatte, mußte überlegen, ob sie die linke oder die rechte nehmen sollte.
Tapfer schritt sie weiter. Doch das Clubhaus kam nicht in Sicht. Und nach einer Weile mußte sie sich eingestehen, daß sie sich verirrt hatte.
Schreck laß nach! Fast wären ihr die Tränen gekommen. Aber sie war ja kein Baby mehr und wußte, daß in einer schwierigen Situation heulen nichts half, sondern nur überlegen. Mit Mühe unterdrückte sie den oft erprobten Ruf: „Amadeus, hilf!“ – Nein, das wollte sie nicht einmal denken. Sie mußte es allein schaffen.
Aber wie?
Beruhigend sagte sie sich, daß ihr eigentlich gar nichts passieren könnte. Spätestens beim Mittagessen würden Ingrid und die Steins sie vermissen, und sicher würde man eine Suchaktion nach ihr starten. Ganz bestimmt würde man sie finden. So wild und unberührt die Natur hier auch wirkte, mußte sie sich doch noch auf dem Gelände des Hotels befinden.
Die Nacht würde sie also sicherlich nicht im Freien verbringen müssen – aber was für eine Blamage! Frau Stein würde sich schrecklich aufregen und mit ihr schimpfen, und Ingrid und Norbert würden sie bis ans Ende ihrer Tage damit aufziehen.
Nein, sie mußte allein hier herausfinden.
Wenn es nur gleichmäßige Steine gegeben hätte oder etwas Ähnliches, mit dem sie ihren Weg hätte kennzeichnen können, damit sie wenigstens wußte, ob sie ihn schon einmal gegangen war. Aber sie fand nichts, was dazu dienen konnte.
Also ging sie langsam weiter und sah sich jeden Strauch, jeden Baum und jeden Hügel aufmerksam an.