Читать книгу Der Frauenarzt - Unterhaltungsroman - Marie Louise Fischer - Страница 5

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Vera Hartwig war ahnungslos, strahlend und beschwingt, als sie am Morgen mit ihren Eltern zum Standesamt fuhr.

Sie saß hinten in dem mit Blumengirlanden geschmückten Wagen neben ihrer Mutter, die kein Auge von der blühenden Schönheit ihrer Tochter lassen konnte und immer wieder sanft ihre Hand streichelte.

„Wollen wir nicht rasch in die Klinik schauen und Klaus abholen? Ach ja, bitte!“ Vera beugte sich vor, legte ihre schmale bräunliche Hand auf die Schultern des Fahrers. „Halten Sie vor dem großen Tor, Herr Schmitz, ja?“

„Kommt nicht in Frage, fahren Sie weiter, Schmitz!“ entschied der Professor, der vorn neben dem Fahrer saß. „Getrennt marschieren und vereint schlagen . . . das gilt nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Hochzeit!“

„Es bringt Unglück, wenn der Bräutigam die Braut vor der Trauung im Hochzeitsstaat sieht, das weißt du doch, Liebling“, sagte Claudia Hartwig.

„Schade!“ Vera ließ sich in die Polster zurücksinken und schwieg während der weiteren Fahrt.

Der Fahrer hatte den Wagen vor dem Standesamt, einem schönen alten Haus in der Hofgartenstraße, gestoppt, stieg jetzt aus und öffnete die Türen.

Er half zuerst der jungen Braut heraus, und als sie — leichtfüßig in ihren kleinen weißen Atlasschuhen — auf den Bürgersteig sprang, ging ein Raunen durch die Zuschauer, eine kleine Gruppe Neugieriger, die sich wie fast immer zusammengefunden hatte.

Vera richtete ihren Schleier, lächelte nach allen Seiten. Sie trug ein Kleid aus echten Brüsseler Spitzen, das die schmale Taille, den kleinen festen Busen und die hübschen geraden Schultern betonte, um dann in einen weiten, schwingenden Rock auszulaufen. Auf ihrem schwarzen schimmernden Haar saß eine weiße Spitzenkappe, an der ein Myrtenkranz und der lange hauchdünne Schleier befestigt waren. Sie sah zauberhaft aus, und sie wußte es, aber das störte den Eindruck nicht — Vera Hartwig war an Bewunderung gewöhnt, und sie genoß sie mit der Naivität eines verwöhnten Kindes.

Sie hätte sich gern noch länger dem staunenden Publikum gezeigt, aber ihr Vater schob seine Hand unter ihren Arm und führte sie in das Standesamt.

„Warum denn?“ schmollte Vera. „Klaus muß doch jeden Augenblick kommen.“

„Du wirst noch genug Gelegenheit haben, dich zu präsentieren“, sagte Professor Hartwig. „Denk an die kirchliche Trauung mit all den vielen Menschen und an das Galadiner im Parkhotel! Erst wenn wir die standesamtliche Trauung überstanden haben, geht es ja richtig los.“

„Auch wieder wahr“, gab Vera zu. „Wieviel Uhr ist es, Mutti?“

„Fünf Minuten vor.“

„Dann könnte Klaus doch eigentlich schon hier sein! Vielleicht ist er drinnen?“

Vera riß ohne weiteres die Tür zum Trauungszimmer auf.

Der Raum war bis auf einen Mann im dunklen Anzug, der ganz vorn hinter einem Tischchen saß, leer.

„Oh, pardon!“ rief Vera.

Der Standesbeamte erhob sich, verbeugte sich leicht. „Macht gar nichts“, sagte er lächelnd, „Sie sind für neun Uhr aufgeboten, nehme ich an? Dann treten Sie doch, bitte, ein!“

Vera folgte etwas zögernd dieser Aufforderung, Professor Hartwig und seine Frau schritten gemessen nach.

„Mein Bräutigam ist noch nicht da“, sagte Vera, „ich dachte schon . . .“

„Er wird bestimmt gleich kommen! Treten Sie nur ein, nehmen Sie Platz . . . wir haben ja noch Zeit!“

Vera fühlte sich auf einmal seltsam beklommen.

Dr. Berg und Dr. Gorski, beide im Smoking, beide ihre Mäntel über dem Arm, stürmten die Treppe der Klinik hinunter.

Im ersten Stock blieb der Oberarzt plötzlich stehen. „Einen Moment noch, Günther“, sagte er, „ich will nur eben . . .“

„Nein. Du kommst jetzt mit“, sagte Gorski energisch. „Es ist gleich neun. Du willst doch wohl nicht zu deiner eigenen Hochzeit zu spät kommen!“

„Laß mich nur eben noch einen Blick auf Frau Rainer werfen!“

„Wozu? Hartenstein ist bei ihr. Es ging, ihr heute früh relativ gut . . .

„Trotzdem!“ Dr. Berg hatte schon die Türklinke in der Hand. „Ich habe keine ruhige Minute, bevor ich mich nicht überzeugt habe . . .“

Dr. Gorski blickte auf seine Armbanduhr. „Na gut. Aber mach schnell. Ein Mädchen wie Vera läßt man nicht warten, schon gar nicht an solch einem Tag!“

Klaus Berg hörte ihm nicht mehr zu. Er hatte die Tür zum Krankenzimmer geöffnet, trat mit großen Schritten ein. Dr. Hartenstein, der neben dem Bett der Patientin gesessen hatte, stand auf.

„Wie steht’s?“ fragte Berg.

„Nicht besonders.“

Er ergriff das Handgelenk der Patientin, die sehr blaß, mit geschlossenen Augen dalag. Ihr Puls flatterte. „Verdammt“, stieß er durch die geschlossenen Zähne.

Er legte die Hand auf die Stirn Brigitte Rainers und fühlte kalten Schweiß.

„Na, was ist? Kommst du?“ rief Gorski von der Tür her.

„Nein, tut mir leid“, antwortete Berg ohne sich umzudrehen.

„Was heißt das?“

„Das ich jetzt nicht fort kann!“

„Aber du mußt! Es ist höchste Zeit!“

Dr. Berg drehte sich kurz um. „Tu mir den Gefallen, fahr du!“

„Und was soll ich Vera . . . was soll ich dem Professor sagen?“

„Bitte sie zu warten. Ich werde sobald als möglich nachkommen!“

Für eine Sekunde blitzte Triumph in den dunklen Augen Dr. Gorskis auf, aber sofort senkte er die Lider. „Na, wie du willst.“

Dr. Berg warf seinen Mantel über einen Stuhl, seine Smokingjacke hinterher. „Ich werde der Patientin eine kreislaufanregende Spritze geben, wenn nötig Sauerstoff . . . wie lange liegt sie schon in diesem Zustand?“

„Seit etwa zehn Minuten geht es ihr schlechter“, gab Dr. Hartenstein Auskunft.

Dr. Berg konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. „Mein Gott, was würde ich darum geben, wenn ich die Frau retten könnte!“

Der Standesbeamte zog seine silberne Uhr an einer langen Kette aus der Westentasche. „Zehn Minuten über die Zeit“, sagte er, „tut mir leid, ich glaube, ich werde einmal sehen . . .“

Er ging über den roten Läufer nach hinten, öffnete die Tür, steckte den Kopf hinaus.

„Wie kann Klaus mir nur so etwas antun“, sagte Vera gepreßt.

„Er wird bestimmt gleich da sein“, versuchte Claudia Hartwig sie zu trösten.

„Das sagst du schon seit einer Viertelstunde!“

Der Standesbeamte kam zurück.

„Wir haben Glück“, sagte er, „das nächste Brautpaar ist schon da. Ich werde diese Herrschaften also erst trauen, und dann kommen Sie an die Reihe . . . bis dahin wird der Bräutigam ja bestimmt eingetroffen sein!“

Vera sprang auf. „Wir sollen wieder gehen?“ rief sie.

„Ja. Nur auf den Flur. Sonst kommt mein ganzes Tagesprogramm durcheinander.“

„Was für eine Blamage“, sagte Vera unterdrückt, während sie am Arm ihres Vaters das Trauungszimmer verließ.

„Mir macht etwas anderes viel mehr Sorge“, sagte der Professor, „was wird aus der kirchlichen Trauung? Die können wir nicht verschieben!“

„Sie ist ja erst für zehn Uhr angesetzt“, erinnerte ihn seine Frau, „bis dahin schaffen wir es leicht, selbst wenn sich Klaus um eine halbe Stunde verspäten sollte!“

Vera löste sich von ihrem Vater. „Tut mir leid, aber ich halte es hier in diesem engen Flur nicht aus. Wenn wir noch eine Minute hierbleiben, werde ich hysterisch. Ich brauche Luft!“

Sie ging mit wehendem Schleier auf die Haustür zu. Die Eltern wechselten hinter ihrem Rücken einen besorgten Blick, bevor sie ihr folgten.

Der Tag draußen war sonnig und klar. Von der Hochstraße tönte der Lärm des Großstadtverkehrs herüber, aber hier, nahe beim Hofgarten, war es sehr still. Einige Kinder spielten unter den grün belaubten Bäumen. Die Neugierigen hatten sich verlaufen.

Vera wandte sich um, lächelte ihren Eltern tapfer zu. „Seid mir nicht böse! Jetzt geht’s mir schon besser!“

„Ein Taxi!“ rief Claudia Hartwig.

Vera war sofort wieder obenauf. „Das ist Klaus!“ rief sie. „Er hat mit seinem Auto eine Panne gehabt . . . mein Gott, und ich habe mich schon so gesorgt!“

Sie rannte die Stufen hinab, das Taxi hielt.

Aber es war nur Dr. Gorski, der ausstieg. Sein Gesicht war blaß.

„Wo ist Klaus?“ rief Vera. Sie packte Gorski bei den Schultern, schüttelte ihn. „Warum hast du ihn nicht mitgebracht?“

Günther Gorski sah über ihre Schulter hinweg auf das Schild des Standesamtes. „Es tut mir schrecklich leid“, sagte er trocken, „Klaus läßt sich entschuldigen . . .“

Vera Hartwigs frisches Gesicht wurde von einer Sekunde auf die andere so weiß wie ihr Brautkleid. „Klaus . . . kommt nicht?“ stieß sie fast tonlos hervor.

Mit wenigen Schritten war Claudia Hartwig an Veras Seite, legte mit einer schützenden Geste den Arm um ihre Tochter. „Bitte, Liebling, reg dich nicht auf! Ein Mißverständnis . . . Klaus wird bestimmt gleich . . .“ Auch ihr versagte die Stimme.

Unendliches Mitleid mit ihrer Tochter erfaßte sie. Sie hätte alles darum gegeben, Vera diese maßlose Enttäuschung zu ersparen oder sie wenigstens zu lindern, aber in diesem Augenblick war sie selbst völlig hilflos. So beschränkte sie sich darauf, Vera in die Arme zu ziehen, sie zu streicheln wie ein Kind, das sich verletzt hat.

Professor Hartwig nahm Gorski beiseite. „Also . . . was gibt’s?“ fragte er rauh. „Raus mit der Sprache, aber ehrlich!“

„Die Patientin hat einen Rückfall erlitten, und der Oberarzt hielt es für unumgänglich . . . er hat mich vorgeschickt, um . . .“

Professor Hartwig hörte gar nicht zu. Er hob die Hand und winkte seinem Fahrer. „Ich werde zur Klinik fahren“, sagte er entschlossen.

Vera löste sich von der Mutter, wandte ihrem Vater das weiße Gesicht mit den brennenden Augen zu. „Du willst Klaus holen?“

„Nein“, erwiderte der Professor schroff. Dann besann er sich, fügte in sanfterem Ton hinzu: „Sei tapfer, mein Schätzchen! Du fährst jetzt brav mit Mutter nach Hause.“

Plötzlich war es um Veras Fassung geschehen, sie begann bitterlich zu weinen.

Während die Mutter sich verzweifelt bemühte, sie zu trösten, wandte sich Professor Hartwig an Dr. Gorski: „Du nimmst dir jetzt ein Taxi . . . ich sehe, deines wartet ja noch . . .“

„Ich habe noch nicht gezahlt.“

„Um so besser. Dann kannst du gleich weiterfahren. Zur Johanniskirche. Sprich mit dem Pfarrer, mach ihm klar, daß die Hochzeit ausfallen muß . . . sag es auch den anderen Gästen.“

Dr. Gorskis dunkles Gesicht blieb ganz unbewegt. „Aber . . . mit welcher Begründung?“ fragte er.

„Vera ist plötzlich erkrankt. Ich hoffe, du wirst Arzt genug sein, dir eine Diagnose einfallen zu lassen. Und wenn du das erledigt hast, fährst du weiter zum Hotel, sagst das Hochzeitsessen ab . . . das heißt, mach den Leuten klar, daß es auf morgen oder übermorgen verschoben werden muß!“

„Bist du sicher, daß Vera bis dahin wieder gesund sein wird?“ fragte Dr. Gorski unverschämt.

Unter dem scharfen Blick seines Chefs und Onkels verging ihm die Frechheit. „Entschuldige bitte, ich wollte nur sagen . . .“

„Schon gut. Es ist mir völlig klar, daß du diesen Zwischenfall genießt. Aber ich rate dir in deinem eigenen Interesse, deine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Du erweckst mit dieser Haltung keinerlei Sympathien, weder bei Vera noch bei mir.“

„Tut mir leid, Onkel Konrad, ich wollte wirklich nur . . .“ Dr. Gorski sprach seinen Satz nicht zu Ende.

Professor Hartwig hatte ihn stehenlassen, wandte sich seiner Tochter zu. „Kopf hoch, Liebling“, sagte er, „jetzt reiß dich zusammen! Du wirst doch nicht wollen, daß ganz Düsseldorf über dich lacht? Eine geplatzte Hochzeit ist immer noch besser als eine schmutzige Ehescheidung! Hak dich bei mir ein, lächle . . . es geht die Leute nichts an, wie es in dir aussieht!“ Er zog ein großes Taschentuch hervor, tupfte Vera sanft die Tränen ab. Dann reichte er ihr den Arm, führte sie zu dem Wagen, der inzwischen vorgefahren war.

Vera verbiß ihren Kummer, sah starr geradeaus, während sie, den schönen Kopf mit dem Brautschleier hocherhoben, an der Seite ihres Vaters zum Wagen schritt.

Erst als sie wieder neben ihrer Mutter im Auto saß, die Türen hinter ihnen zugefallen waren und das Auto sich langsam in Bewegung setzte, zerbrach ihre krampfhafte Beherrschung.

„Warum mußte das gerade mir passieren? Ausgerechnet mir? Ich bin ja so unglücklich“, schluchzte sie unbeherrscht.

„Es geht vorüber“, sagte Claudia Hartwig sanft, „alles geht vorüber! Du wirst sehen, morgen . . .“

Sie fühlte sich so elend, als wenn dieses Leid nicht ihre Tochter, sondern sie selbst getroffen hätte. Zehn Jahre ihres Lebens hätte sie darum gegeben, ihrem behüteten Kind diesen ersten großen Schmerz zu ersparen. Aber das Schicksal war stärker als ihre mütterliche Liebe.

Verbissen hatte Dr. Klaus Berg um das Leben der Patientin gekämpft, obwohl er in jeder Faser seines Körpers spürte, wie die Zeit unaufhaltsam verrann.

Nicht für eine Sekunde schwand der Gedanke an seine Braut, die zu gleicher Zeit im Standesamt auf ihn wartete, aus seinem Unterbewußtsein. Dennoch gelang es ihm, sich — gleichsam mit der anderen Hälfte seines Wesens — auf den vorliegenden Fall zu konzentrieren.

Er war sich darüber klar: er mußte Brigitte Rainer retten, wenn er Vera nicht verlieren wollte!

Es waren qualvolle Minuten, die er durchstand, qualvoll besonders deshalb, weil sein Gewissen, seit die Operationsschwester ihm das Verschwinden des Tuchs gemeldet hatte, nicht eine Sekunde mehr zur Ruhe gekommen war.

Endlich schien es geschafft. Der Puls der Patientin war wieder stärker, Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt, sie schlug die Augen auf.

Dr. Berg beugte sich über sie. „Frau Rainer“, sagte er eindringlich, „wie fühlen Sie sich?“

Die Patientin lächelte schwach.

„Ganz gut“, sagte sie.

Er blickte auf seine Armbanduhr, richtete sich auf. Es war halb zehn vorbei. Würde er es noch schaffen?

Dr. Hartenstein, der während der ganzen Zeit im Zimmer geblieben war, erriet seine Gedanken. „Beeilen Sie sich, Herr Oberarzt“, sagte er, „ich bleibe hier und . . . alles Gute!“

Die Schwester half Dr. Berg aus dem Kittel, reichte ihm die Smokingjacke.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Professor Hartwig marschierte ins Zimmer. Mit einem Blick überschaute er die Szene.

„Nicht mehr nötig, Herr Oberarzt“, sagte er, „die Hochzeit ist abgesagt!“

Die Schwester ließ die Smokingjacke sinken, Dr. Hartenstein wußte vor Verlegenheit nicht, wohin er blicken sollte. Ohne ein Wort der Entgegnung schlüpfte Dr. Berg wieder in seinen Kittel. Kein Muskel zuckte in seinem übernächtigen, von Anstrengung gezeichneten Gesicht.

Professor Hartwig ergriff die Hand der Patientin, fühlte den Puls, nahm das Stethoskop, horchte die Herztöne ab. „Na, ich sehe, Frau Rainer“, sagte er dann, „es geht Ihnen jetzt ganz gut.“

Wieder bemühte sich die Frau um ein Lächeln. „Danke, ja, Herr Professor! Wenn mein Mann kommt . . .“

„ . . . darf er Sie für fünf Minuten besuchen! Aber jetzt denken Sie nicht an Ihre Familie, versuchen Sie lieber sich zu entspannen. Sie wollen doch wieder ganz gesund werden, nicht wahr?“

„Möglichst schnell nach Hause . . .“ sagte Brigitte Rainer schwach.

„Aber ja. Wir werden sehen, was wir tun können. Doch jetzt wird geschlafen, verstanden! Und keine dummen Gedanken, wenn ich bitten darf!“

Der Professor wandte sich zur Tür. „Komm mit, Klaus! Sie bleiben bei der Patientin, Dr. Hartenstein. Bis auf weiteres.“

Professor Hartwig rauschte hinaus, Dr. Berg folgte ihm mit gesenktem Kopf.

Der Professor sprach kein Wort, bevor sie sein Arbeitszimmer betreten hatten.

Dann baute er sich vor Dr. Berg auf. „Also . . . was hast du mir zu sagen?“

Klaus Berg sah ihm gerade in die Augen. „Ich verstehe, daß das alles furchtbar ist, besonders für Vera . . . aber ich konnte die Patientin nicht allein lassen! Ich konnte Vera nicht mein Jawort geben in der Vorstellung, daß gerade im gleichen Augenblick Frau Rainer vielleicht . . .“ Seine Stimme brach. „Und alles durch meine Schuld“, sagte er noch mühsam.

Professor Hartwig zog die schlohweißen Augenbrauen zusammen. „Es stimmt also, was Gorski mir erzählt hat? Du hast ein Tuch im Leib der Patientin vergessen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Dr. Berg gequält, „ich weiß es wirklich nicht. Die ganze Nacht habe ich darüber nachgegrübelt, aber . . .“ Er strich sich mit der Hand über die Stirn, „ . . . ich kann mich einfach nicht erinnern.“

Professor Hartwig drehte sich brüsk um, wandte sich zum Fenster.

„Ich sehe den offenen Leib noch vor mir, es war kein Tuch mehr drin, ich könnte es beschwören! Aber andererseits . . . ein Tuch ist verschwunden! Wo könnte es sein — außer im Leib der Patientin? Die Schwestern haben doch alles durchsucht. Es ist grauenhaft!“

„Wenn du das Tuch wirklich vergessen hast“, sagte der Professor langsam, „weißt du, was das bedeutet?“

„Ja, die Patientin ist unrettbar verloren. Es hat auch keinen Zweck, die Operation zu wiederholen, wenn Frau Rainer wieder einigermaßen bei Kräften ist . . .“

„Stimmt. So ein Fremdgegenstand wandert. Wer weiß, wo er jetzt schon sitzt.“

„Ich hätte die Operation nicht übernehmen dürfen“, sagte Dr. Berg, „damit fängt es an. Ich hielt mich gestern abend noch für einigermaßen nüchtern, aber . . . ich war es eben doch nicht. Anders ist alles, was geschehen ist, nicht zu erklären.“

„Dann“, sagte Professor Hartwig und wandte sich um, „liegt genau so viel Schuld bei mir. Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen.“

Dr. Berg schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „für das, was man tut oder versäumt, trägt man allein die Verantwortung.“ Die Hand, die er in die Hosentasche steckte, zuckte wieder zurück.

„Steck dir nur eine an“, sagte Professor Hartwig, „mich stört es nicht.“

„Danke.“ Klaus Berg zog sein Zigarettenpäckchen heraus, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an. „Wie hat . . . Vera es aufgenommen?“ fragte er stockend.

„Sie war außer sich, verzweifelt, unglücklich, alles, was du willst. Kein Wunder, sie ist ja noch ein halbes Kind. Es hat einen Moment gegeben, da hätte ich dich am liebsten erschlagen.“

„Es ist mir furchtbar“, sagte Dr. Berg.

„Ich glaub’s dir sogar. Ich verstehe auch, warum du nicht anders handeln konntest. Ein Todesfall ist nicht gerade der richtige Auftakt für eine Hochzeit.“

„Ein Mord.“

Professor Hartwig legte seinem Oberarzt die Hand auf die Schulter. „Nicht übertreiben, mein Junge! Wenn du die Dinge so betrachtest, wären wir Ärzte alle Mörder. Jedem unterläuft mal eine falsche Diagnose, ein Kunstfehler . . . ich könnte dir aus dem Handgelenk drei Fälle aufzählen, bei denen ich Patienten auf dem Gewissen habe.“

„Das ist für mich keine Entschuldigung.“

„Sicher nicht. Ich will auch nicht behaupten, daß mir das, was passiert ist, gefällt. Aber so ein Malheur gehört zum Berufsrisiko. Man muß sehen, daß man damit fertig wird. Etwas anderes bleibt uns ja nicht übrig.“

Dr. Berg hatte seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger genommen, tat einen tiefen Zug. „Ich bin total erledigt“, sagte er, „ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie es jetzt weitergehen soll.“

„Na, dann will ich es dir sagen . . .“ Professor Hartwig drehte einen Sessel herum, nahm Platz. „Komm, setzen wir uns. Du wirst dich erst mal richtig ausschlafen, dann sieht die Welt schon wieder anders aus. Die Hochzeit wird nachgeholt . . . morgen oder übermorgen. Dann fliegt ihr beide, wie geplant, nach Teneriffa. Aber unter den gegebenen Umständen halte ich es für richtig, wenn ihr eure Hochzeitsreise etwas ausdehnt, sagen wir drei Monate. Das wird ein kleines Trostpflaster für Vera sein, und außerdem . . . diese Zeitspanne sollte genügen, damit Gras über die Sache wächst. Einverstanden?“

„Ich weiß nicht“, sagte Klaus zögernd.

„Was weißt du nicht, mein Junge?“

„Ob man so einfach nach einem solchen Fall wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Versuch doch, bitte, mich zu verstehen! Die ganze Sache hat mich furchtbar geschlaucht und . . .“

Professor Hartwig hob die Hand. „Halt! Eine Zwischenfrage: Liebst du Vera?“

„Ja.“

„Na, dann gibt es doch überhaupt keinen Zweifel. Du bist ein Mann, du mußt lernen, deine Niederlagen zu verkraften wie deine Siege. Du kannst auf keinen Fall die Frau, die du liebst, unter deinem eigenen Versagen leiden lassen.“

Es wurde an die Tür geklopft. „Herein!“ rief Hartwig unwillig.

Schwester Klara, eine ältliche, sehr energische und tüchtige Person, stürzte herein. „Herr Professor“, rief sie atemlos, „Sie werden dringend im OP verlangt!“

„Ich? Sind Sie des Teufels? Meine Klinik wimmelt von Ärzten und ausgerechnet ich . . .“

Schwester Klara fiel ihm, ganz gegen die Gepflogenheiten des Hauses, ins Wort: „Es ist wirklich dringend, Herr Professor! Es handelt sich um Frau Baumann aus der Privatabteilung. Das Kind liegt quer. Aber sie weigert sich, einem Kaiserschnitt zuzustimmen!“

Beim Eintritt in das Kreißzimmer wurden Professor Hartwig und Dr. Berg von dem diensthabenden Arzt, Dr. Ott, empfangen.

„Gut, daß Sie da sind, Herr Professor!“ sagte er aufatmend.

Jürgen Ott war Anfang vierzig, ein erfahrener Arzt, der sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen ließ. Aber jetzt zeigte sein verstörtes Gesicht, daß er der Situation nicht ganz gewachsen war. Seine Stimme klang belegt.

„Also, was gibt’s?“ fragte Professor Hartwig nicht gerade freundlich.

Dr. Ott schluckte. „Querlage. Ich habe das Kind von außen her gewendet. Aber bei jeder Wehe rutscht es wieder mehr in diese verdammte Querlage zurück!“

„Na, dann machen Sie doch eine Sectio!“

„Das wollte ich ja, Herr Professor. Aber Frau Baumann weigert sich. Sie will nicht. Auf keinen Fall. Ich habe alles versucht.“

„Angst?“ fragte Professor Hartwig.

„Ja“, sagte Dr. Ott gepreßt. Er warf Dr. Berg, der hinter dem Professor stand, einen Blick zu.

Professor Hartwig war schon zum Kreißbett getreten. Er nickte der Hebamme, die beruhigend die Hand von Frau Baumann hielt, kurz zu, wandte sich dann an die Patientin:

„Na, meine Liebe“, sagte er väterlich, „was machen Sie denn für Geschichten?“

Er kannte Frau Evelyn Baumann als eine hübsche, sehr gepflegte junge Frau. Aber jetzt, da sie vor ihm lag, wirkte sie weder gepflegt noch hübsch.

Ihr helles blondes Haar war von Schweiß verklebt, ihr zartes Gesicht verzerrt, und ihre hellen Augen zeigten panische Angst.

„Ich will nicht, Herr Professor!“ rief sie hysterisch. „Ich will nicht! Lassen Sie mich fort, rufen Sie meinen Mann an! Ich will hier raus, ich kann nicht mehr!“ Sie bäumte sich unter einer neuen Wehe auf.

„Aber, aber“, sagte Professor Hartwig, „Sie müssen doch Ihr Kindchen zur Welt bringen . . . oder wollen Sie es etwa gar nicht mehr haben?“ — „Ich will leben!“ schrie die Patientin.

„Das sollen Sie doch auch! Sie sollen leben, und Ihr Kindchen soll leben!“

„Nein, Sie wollen mich töten . . . Sie werden mich umbringen wie . . .“

„Wir haben hier noch niemanden umgebracht, Frau Baumann“, sagte Professor Hartwig, „nun nehmen Sie sich mal zusammen!“ Er winkte der Hebamme. „Frau Weber wird Ihnen jetzt eine schmerzstillende Spritze geben . . .“

„Nein! Nein!“ schrie die Frau. „Sie wollen mich einschläfern . . . ich will nicht!“ Sie schrie gellend auf, schlug der Hebamme die aufgezogene Spritze aus der Hand. Sie fiel zu Boden, zerbarst.

Professor Hartwig bewahrte eiserne Ruhe. „Na schön“, sagte er, „wenn Sie so eigensinnig sind, müssen Sie eben leiden. Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen!“ Er richtete sich auf.

Die Frau klammerte sich an ihn. „Bitte, bestellen Sie einen Krankenwagen! Bitte, lassen Sie mich fort!“

„Aber selbstverständlich, wenn das wirklich Ihr Wille ist“, sagte Professor Hartwig, „aber erst darf ich Sie doch noch untersuchen, ja?“

„Ich will keinen Kaiserschnitt!“

„Das ist mir durchaus klar. Aber vielleicht geht es auch ohne Sectio!“

Professor Hartwig betastete behutsam den geschwollenen Leib der Patientin mit beiden Händen — der kindliche Kopf stand rechts, eine Querlage, kein Zweifel. Trotzdem horchte er zwischen zwei Wehen mit dem hölzernen Stethoskop die kindlichen Herztöne ab. Sie waren kräftig, aber ihr Ausgangsort bestätigte seine Diagnose.

„Ihrem Kindchen geht es gut“, sagte der Professor, „es scheint kräftig und gesund zu sein.“

Für Sekunden ließ die Anspannung der Patientin nach.

Professor Hartwig setzte sich an den Rand des Kreißbettes, nahm die zuckende, von kaltem Schweiß bedeckte Hand der Patientin zwischen seine warmen Hände. „Nun sagen Sie mal ganz ehrlich, Frau Baumann . . . haben Sie denn gar kein Vertrauen zu mir?“

„Doch“, flüsterte die Patientin.

„Raten Sie mal, wie oft ich schon einen Kaiserschnitt durchgeführt habe . . . nein, geben Sie sich keine Mühe . . . viele hundert Male, und immer ist es gutgegangen.“

„Das glaube ich Ihnen ja . . .“

„Eine Sectio“, fuhr Professor Hartwig, immer mit der gleichen gelassenen Stimme, fort, „ist heutzutage doch kein Problem mehr. Viele gesunde junge Frauen bitten mich darum, obgleich gar keine Indikation gegeben ist . . . sie wollen einen Kaiserschnitt, um sich die Wehen und die Schmerzen der Geburt zu ersparen.“

Eine neue Wehe packte den Körper der Patientin. „Tief durchatmen“, mahnte der Professor, „sehen Sie, das ist ja ganz gut gegangen . . . Sie waren sehr tapfer!“

Die Patientin zwang sich ein Lächeln ab.

In diesem Augenblick sah sie Oberarzt Dr. Berg, der hinter den Professor getreten war. Ihr Lächeln erstarb, blankes Entsetzen trat in ihre Augen.

„Da ist er“, keuchte sie, „da, sehen Sie!“

„Wen? Was haben Sie denn?“

„Den Mörder!“

Die ungeheuerliche Anklage gellte durch das Zimmer.

Dr. Berg stand wie erstarrt. Es war ihm, als wenn alle ihn anblickten, als wenn alle dieses schreckliche Wort wiederholten — aber es war sein eigenes Gewissen, das wie ein Echo den Schuldspruch wiederholte: Mörder! Mörder! Du bist ein Mörder!

„Schicken Sie ihn weg!“ schrie die Patientin. „Er ist es, der diese Frau umgebracht hat . . . lassen Sie nicht zu, daß er mich anrührt!“

„Geh!“ sagte Professor Hartwig mit einer Kopfbewegung zu seinem Oberarzt. „In den Waschraum“, fügte er leiser hinzu.

Er drückte die Patientin auf das Kreißbett zurück. „Aber, aber“, sagte er. „Er ist ja schon fort! Und jetzt beruhigen Sie sich, bitte. Denken Sie doch an Ihr Kindchen! Es bekommt ihm ganz und gar nicht, wenn Sie sich so aufregen.“

„Dieser Arzt, der . . .“

„Es geht jetzt nur um uns beide, Frau Baumann! Sehen Sie mich an, und beantworten Sie mir meine Frage: wollen Sie mir vertrauen?“

„Ihnen schon!“

„Na sehen Sie, das ist ein Wort. Ich will Ihnen doch nur helfen, begreifen Sie doch. Noch ist Ihr Kind gesund und lebt. Aber es kann nicht aus Ihrem Leib heraus . . .“

„Ich“, stammelte die Frau, „aber die Wehen . . . ich tue doch alles.“

„Es liegt nicht an Ihnen, Frau Baumann! Ihr Kind ist in eine falsche Lage gerutscht. Es liegt mit dem Rücken zum Muttermund, verstehen Sie?“

„Ich habe Angst“, sagte Frau Baumann kaum hörbar.

„Das brauchen Sie nicht. Ich werde den Eingriff selbst durchführen, ich habe es hundertmal gemacht. Das Risiko ist nicht größer als bei einer Blinddarmoperation.“ — „Wann?“

Professor Hartwig stand auf. „Jetzt sofort! Sie sollen doch nicht sinnlos leiden. In einer Viertelstunde wird alles überstanden sein. Sind Sie einverstanden?“

Eine Wehe, stärker als die vorhergegangenen, durchfuhr den Leib der Gebärenden. „Ja“, schrie sie, „ja! Ich kann nicht mehr! Machen Sie mit mir, was Sie wollen!“

Zehn Minuten später lag Frau Baumann auf dem Operationstisch. Der Anästhesist hatte die Narkose eingeleitet. Als Professor Hartwig, gefolgt von Dr. Berg und Dr. Ott, den OP betrat — alle drei in ihren grünen Kitteln, durch Mundschutz und Schiffchen fast unkenntlich gemacht —, führte er den Trachealkatheter in die Luftröhre ein.

Noch einmal überprüfte Professor Hartwig mit dem hölzernen Stethoskop die kindlichen Herztöne.

Dann richtete er sich auf, fragte: „Können wir?“

Der Anästhesist nickte. „Ja!“

Professor Hartwig nahm das Skalpell, tat den ersten Schnitt, Dr. Ott setzte die Hauthaken neu. Professor Hartwig öffnete das Bauchfell.

Eine Schwester reichte die sterilen Tücher — eins, zwei, drei, vier, fünf. Professor Hartwig und Dr. Berg deckten die freigelegten Därme ab, schoben sie vorsichtig zur Seite, stopften sie fest.

Dr. Klaus Berg war es wie in einem unheimlichen Traum. Es war alles wie gestern nacht und doch anders, ganz anders.

Mit einem sehr feinen Skalpell machte Professor Hartwig einen Querschnitt durch den unteren Teil der Gebärmutter, erweiterte den Schnitt behutsam mit dem Finger. Mit der rechten Hand faßte er in die Öffnung. Dr. Berg unterstützte ihn durch vorsichtigen Druck von oben. Professor Hartwig zog das Kind, ein Mädchen, ans Licht. Es schrie sofort, kräftig und durchdringend.

Professor Hartwig klemmte die Nabelschnur zweimal ab, durchtrennte sie, reichte das kleine Mädchen der Hebamme weiter, machte sich daran, die Plazenta herauszulösen. Die OP-Schwester reichte ihm die runde Nadel, mit geschickten Stichen vernähte er die Uterusmuskulatur.

Dr. Ott nahm die Tücher aus der Bauchhöhle.

„Zählen!“ rief Professor Hartwig.

Wenig später kam der Bescheid: alle Tücher waren vorhanden.

Die Blicke von Professor Hartwig und Dr. Berg trafen sich über dem Operationstisch. In Bergs Augen stand blanke Verzweiflung. Er hatte gehofft, daß die Erinnerung an das, was gestern nacht geschehen war, ihm jetzt, während dieser Operation, zurückkäme.

Aber alles war noch verschwommener als vorher. Hatte er es versäumt, seine Mitarbeiter aufzufordern, die Tücher zu zählen? Wieviel Tücher hatte er benützt? War es möglich, daß er wirklich eines im Leib von Frau Rainer vergessen hatte?

Er wußte nur eines: Diese Frage würde ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen.

Professor Hartwig begann, das Bauchfell zu vernähen. Wenige Minuten später war die Operation beendigt. Das Kind lebte. Puls und Atmung der Patientin waren befriedigend.

Die drei Ärzte standen nebeneinander an den Waschbecken.

Endlich brach Professor Hartwig das drückende Schweigen. „Nicht noch einmal möchte ich gezwungen sein, unter solchen Voraussetzungen zu operieren“, sagte er. „Ohne das unbedingte Vertrauen meiner Patientinnen kann ich nicht arbeiten . . .“

Mit einer hastigen Bewegung stellte Dr. Ott den Wasserhahn ab, murmelte eine Entschuldigung, schlüpfte in seinen Kittel und verließ fast fluchtartig den Waschraum.

„Ich bin bereit, die Konsequenzen zu ziehen“, erklärte Klaus Berg.

Professor Hartwig fuhr herum, starrte ihm ins Gesicht. „Spiel nicht den Empfindlichen“, knurrte er, „das steht dir nicht zu!“

„Du verstehst mich ganz falsch, ich wollte doch nur sagen . . .“

Professor Hartwig ließ ihn nicht aussprechen. „Ich möchte bloß wissen, wer da gequatscht hat“, sagte er, „aber im Grunde ist es ja egal. Ich hatte gehofft . . . na, Schwamm drüber. Tatsache ist, daß die ganze Klinik Bescheid weiß. Ich mach dir keinen Vorwurf, Klaus, aber wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen.“

Dr. Berg reckte die breiten Schultern. „Das habe ich bereits getan. Ich werde meinen Posten als Oberarzt niederlegen und die Klinik verlassen.“

Professor Hartwig wollte sich seine Erleichterung nicht anmerken lassen. „Jetzt verdreh die Dinge aber nicht“, polterte er los, „von Entlassung habe ich kein Wort gesagt!“

„Das war auch nicht nötig“, erwiderte Berg gefaßt, „ich weiß sehr gut, was ich zu tun habe.“

Professor Hartwig richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Na schön, wenn du es hören willst: du hast ganz recht. Ich laß mir den Ruf meiner Klinik nicht ruinieren. Von niemandem, auch nicht von dir. Ich habe gearbeitet und geschuftet, bis ich den Punkt erreicht habe, an dem ich heute stehe, die Klinik ist mein Lebenswerk, Klaus!“

„Darüber“, antwortete Dr. Berg, „bin ich mir völlig klar. Aber das ist nicht der Grund, warum ich mich entschlossen habe zu gehen. Versteh mich richtig. Ich würde nicht einmal bleiben, wenn du mich darum bitten würdest . . . nicht einmal dann, wenn Hoffnung bestünde, die Sache doch noch zu vertuschen.“

Professor Hartwig drehte den Wasserhahn zu, trocknete seine Hände ab. „Das sind große Worte, mein Junge.“

„Es sollte mir leid tun, wenn du mich jetzt noch zu allem Überfluß für einen Wichtigmacher halten würdest, Papa! Aber ich kann nach dem, was geschehen ist, einfach nicht weiterleben und weiterarbeiten wie bisher. Wenn Frau Rainer stirbt — durch meine Schuld . . .“

„ . . . wirst du dich vor Gericht und vor der Ärztekammer verantworten müssen“, ergänzte der Professor trocken.

„Aber darum geht es ja nicht!“ rief Berg leidenschaftlich. „Bitte, versuch mich zu verstehen! Ich fürchte nicht den Skandal, nicht die Strafe . . . es ist einfach grauenhaft für mich, daß mir das passieren konnte!“

„Jeder Operateur macht früher oder später mal so etwas durch“, sagte Professor Hartwig, aber es klang nicht überzeugend. „Kein Grund, verrückt zu spielen.“

„Aber Grund genug, die Konsequenzen zu ziehen. Ich trete ab, Papa. Du kannst dir einen neuen Oberarzt suchen. Der Ruf deiner Klinik soll durch mein Versagen nicht geschmälert werden.“

„Und . . . was hast du vor?“

„Ich werde die Praxis meines Vaters übernehmen.“

Professor Hartwig zog die weißen buschigen Augenbrauen zusammen. „Du willst nach Dinkelscheid? Junge! Kein Mensch, der alle fünf Sinne beisammen hat, vergräbt sich freiwillig in so einem Nest!“

Klaus Berg zündete sich eine Zigarette an. „Auch in solch einem Nest werden Ärzte gebraucht, Papa.“

„Stimmt. Aber das bedeutet doch nicht, daß ausgerechnet du dort am richtigen Platz bist! Ein Arzt mit deiner Ausbildung und mit deinen Fähigkeiten!“

Dr. Berg schnipste die Asche seiner Zigarette ins Waschbecken. „Es sieht so aus, als wenn ich meine Fähigkeiten bisher überschätzt hätte. Sonst wäre mir das gestern nacht nicht passiert. Und was meine Ausbildung betrifft . . . sie wird mir, wo immer ich auch arbeite, von Nutzen sein.“ Er nahm den weißen Kittel des Professors vom Haken, half ihm hinein.

„Danke“, sagte Professor Hartwig, „überleg dir gut, was du tust . . . in Dinkelscheidt wirst du kaum noch Gelegenheit haben, als Chirurg zu arbeiten.“

„Gerade deshalb ist es die einzig richtige Lösung. Als Chirurg habe ich versagt. Vielleicht werde ich als praktischer Arzt und Geburtshelfer mehr Erfolg haben.“

„Und du glaubst, das wird dir genügen?“

„Ja“, erklärte Klaus Berg mit fester Stimme. „Ich rufe heute noch meinen alten Herrn an. Er hat meine Karriere immer mit einiger Skepsis betrachtet . . . mit einer Skepsis, die ich ihm bisher übelgenommen habe. Aber es sieht ganz so aus, als wenn er, als einziger, mich immer richtig eingeschätzt hätte. Er wird sich freuen, daß ich zur Vernunft gekommen bin.“

„Na, dann freut sich wenigstens einer.“

Dr. Berg drückte seine Zigarette aus, zog sich selbst seinen Kittel über. Die beiden waren fertig, aber sie konnten nicht gehen, bevor sie nicht das Wichtigste besprochen hatten, und jeder scheute sich, den Anfang zu machen.

So standen sie nur da, sahen sich stumm in die Augen, und beide empfanden den gleichen ehrlichen Schmerz. Sie hatten sich immer verstanden, hatten gut zusammengearbeitet, sich aufeinander verlassen, sich innerlich nahegestanden — und all das sollte nun zu Ende sein, weil etwas geschehen war, was mit ihnen selbst und ihren Beziehungen zueinander eigentlich gar nichts zu tun hatte. Sie waren tief deprimiert und doch beide viel zu hart, um auch nur den Versuch zu machen, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.

Klaus Berg räusperte sich, um seine Stimme freizubekommen. „Also dann . . .“ sagte er.

Professor Hartwig riß sich zusammen, stellte jetzt endlich die Frage, die ihm am meisten am Herzen lag: „Was wird mit dir und Vera?“

„Ich werde mit ihr sprechen.“

„Soll ich nicht lieber . . .“

„Danke. Aber das ist meine Angelegenheit.“

„Klaus“, sagte Professor Hartwig eindringlich, „Vera ist sehr verwöhnt, sie ist ein Großstadtkind, sie paßt nicht in ein Nest wie Dinkelscheidt . . .“ Er unterbrach sich. „Aber warum erzähle ich dir das alles? Du weißt es so gut wie ich.“

„Nein, Papa“, sagte Klaus Berg, „ich glaube, daß in Vera viel mehr steckt, als ihr alle für möglich haltet.“

„Ich kenne sie besser als du!“

„Das glaube ich nicht.“

Professor Hartwigs volles Gesicht unter dem schlohweißen Haar rötete sich. „Herrgott, warum bist du nur so ein Dickkopf?“ polterte er los. „Kannst du denn wirklich nicht über deine eigene Nase hinaussehen? Vera gehört hierher, in die Großstadt, sie ist die ideale Frau für einen erfolgreichen Chirurgen, aber nicht für einen . . . einen . . .“ Ihm fehlten die Worte.

„Für einen Dorfbader“, ergänzte Dr. Berg. „War das der Ausdruck, den du suchtest?“

Wider Willen mußte Professor Hartwig lachen. „Nun werde nur nicht auch noch unverschämt“, sagte er, „du weißt genau, wie ich es meine!“

„Vera muß sich selbst entscheiden.“

„Stimmt. Und das wird sie auch tun. Es hat gar keinen Zweck, daß ich ein Verbot erlasse oder die Faust zum Himmel recke und sie verfluche. Sie hat immer das durchgesetzt, was sie wollte.“ Professor Hartwig legte seine Hand auf den Arm des Oberarztes. „Ich kann dich nur bitten . . . Klaus, sei nett zu ihr, mach es ihr leicht!“

„Darauf kannst du dich verlassen“, versprach Dr. Berg ernst, „ich liebe Vera, und ich würde ihr niemals weh tun.“

Der Frauenarzt - Unterhaltungsroman

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