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Erste Hindernisse
ОглавлениеVor dem Eingang der Paß- und Zollstelle der Grenzstation Kufstein stand ein Riese von einem Grenzpolizisten.
»Bitte, Pässe und Ausweise vorzeigen!« forderte er, als Jan und Julia das Bahnhofsgelände verlassen wollten.
Jan fuhr mit der Hand in die Außentasche seines Rucksacks, und schon hielt er seinen nagelneuen Ausweis dem Beamten vor die Augen.
»Danke, bitte weitergehen!«
Jan drehte sich nach Julia um. »Na, komm schon!«
Julia kniete auf dem Boden, den Inhalt ihres Rucksacks hatte sie schon auf der Erde ausgebreitet.
»Was suchst du denn?« fragte ihr Bruder ungeduldig.
»Meinen Personalausweis«, erwiderte Julia mit größter Selbstverständlichkeit.
»Ja, Menschenskind … hast du etwa deinen Ausweis verloren?«
»I wo!«
»Wo ist er dann?«
»In meiner Schublade zu Hause!«
Jan beugte sich zu seiner Schwester herunter. »Wie bitte … Schublade zu Hause? Ich höre wohl nicht richtig! Du hast deinen Ausweis zu Hause vergessen?«
»Du sitzt wohl wirklich auf den Ohren!«
»Aber ich habe dir doch … mindestens hundertmal habe ich dir gesagt … ach, mit euch Mädchen hat man eben nur Ärger! Hätte ich dich bloß zu Hause gelassen! Was machen wir denn bloß?«
»Das weiß ich doch nicht! Du bist ja hier der Boß!«
»Umkehren tu ich auf keinen Fall!«
»Meinst du, ich?«
»Aber ohne Ausweis kommst du nicht über die Grenze!«
»Mal sehen!« sagte Julia seelenruhig. Stück für Stück packte sie alles wieder in ihren Rucksack zurück, trat mit strahlendem Lächeln auf den riesengroßen Grenzpolizisten zu, und pflanzte sich vor seiner Nase auf. »Ich habe meinen Ausweis vergessen, Herr General«, sagte sie, »was machen wir nun?«
Der Beamte schob seine Dienstmütze aus der Stirn und grinste. »Was wir machen, mein liebes Fräulein, das weiß ich nicht … aber was ich mache, das weiß ich ganz genau!«
»Sie können ruhig du zu mir sagen, Herr General … ich bin erst so alt wie mein Bruder und heiße Julia Spindler!«
»Und ich bin kein General, verstanden?«
»Was soll ich denn sonst zu Ihnen sagen?«
»Florian!« sagte er schnell, aber dann verbesserte er sich: »Inspektor, verstehst du, ich bin ein Inspektor der Grenzpolizei!«
»Aha! Und was wollen Sie jetzt mit mir machen, Herr Inspektor? Wollen Sie mich zurückschicken oder einsperren lassen?«
Der Inspektor legte die Stirne in Falten. »Mal sehen«, knurrte er, »vielleicht beides!«
Jetzt bekam Julia doch einen kleinen Schreck, und zu allem Überfluß stieß Jan sie in die Seite und sagte: »Da hast du es! Jetzt geht’s dir mal an den Kragen … geschieht dir ganz recht!«
»Hast du überhaupt keine Papiere dabei?« fragte der Inspektor.
»Doch, meinen Jugendherbergsausweis!« rief Julia erleichtert und kramte ihn hervor.
Der Grenzbeamte nahm den Ausweis und prüfte ihn mit strenger Miene. »Bist du wirklich das Mädchen auf diesem Bild?« fragte er Julia.
»Ganz bestimmt!«
»Das Mädchen auf dem Bild hat aber gar keine Sommersprossen!«
»Das ist eine Fotografie vom vorigen Winter«, erklärte Julia, »im Winter habe ich nie Sommersprossen!«
»Merkwürdig, sehr merkwürdig!« sagte der Inspektor.
Mit dem treuherzigsten Gesicht von der Welt und mit einem himmelblauen Augenaufschlag flehte Julia: »Ach, bitte, Herr Inspektor, bitte, seien Sie doch nicht so streng zu mir … schicken Sie mich nicht wieder zurück!« Sie hob ihm die gefalteten Hände entgegen. »Wissen Sie, ich kann ja gar nichts dafür, daß ich meinen Ausweis vergessen habe, da ist nur mein Bruder dran schuld … der hat immer gesagt: ›Vergiß nur ja deinen Ausweis nicht!‹ Und bei jeder Gelegenheit hat er gefragt: ›Hast du deinen Ausweis auch eingepackt?‹ Bis ich schließlich so durcheinander war, daß ich ihn zu Hause hab’ liegen lassen!«
»Wer ist schuld?« Jan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Ich soll schuld sein, daß du deinen Ausweis vergessen hast?«
»Klar, du hast mich doch andauernd danach gefragt! Wenn dir mein Ausweis so sehr am Herzen gelegen hat, dann hättest du ihn auch selber einstecken können, statt dauernd so blöd zu fragen!«
Entrüstet wandte Jan sich an den Inspektor. »Was sagen Sie zu so einer Schwester?«
Der Inspektor lachte vergnügt. »Ich finde deine Schwester großartig! Sei dankbar, daß du schon so früh lernst, daß immer die Männer an allem schuld sind!« Er beugte sich tief herunter — er war ja um viele Köpfe größer als Julia — und sagte zu ihr: »Mach dir um den Personalausweis keine Sorgen! Geh mal drüben in das Gebäude, dort zeigst du diesen Ausweis vor und zahlst eine kleine Gebühr, dann bekommst du einen Grenzübertrittschein. Mit dem kannst du drei Tage in Österreich bleiben. Wenn du jetzt gleich deiner Mutter schreibst, daß sie dir den Paß schicken soll, dann ist ja alles in Ordnung!«
»In Ordnung nennen Sie das?« meuterte Jan. »Wegen Julias Schusseligkeit müssen wir nun drei Tage in Kufstein hocken!«
»Aber warum denn?« sagte der Inspektor. »Laßt euch den Ausweis doch nach Innsbruck schicken … wenn ihr nach Italien wollt, müßt ihr hinter Innsbruck über den Brenner!«
»Aber in Innsbruck kennen wir doch keinen Menschen!«
»Braucht ihr auch nicht! Laßt ihn euch hauptpostlagernd schicken, oder … wie man in Italien sagt … poste restante!«
Julia mußte einmal ganz tief Atem holen. »Ach, Herr Inspektor«, sagte sie, »wahr und wahrhaftig … Sie sind ein Engel!«
Der Inspektor fühlte sich sichtlich geschmeichelt. Trotzdem fragte er mit strenger Miene: »Habt ihr größere Mengen Zigaretten, Zigarren, Tabak, Spirituosen, Süßigkeiten oder andere verzollbare Waren bei euch?«
»Zu essen und zu trinken überhaupt nichts mehr, das haben wir alles schon aufgegessen!« sagte Julia.
»Wir haben überhaupt bloß Kleider und Wäsche in unseren Rucksäcken, sonst nichts!«
Der Inspektor musterte sie streng.
»Noch eine Frage, Herr Inspektor … was für Geld gilt denn hier in Österreich?« fragte Julia rasch.
»Schillinge!«
»O je! Und wir haben nur deutsches Geld und Lire!«
»Das macht gar nichts … seht mal, dort drüben steht ja: Wechselstube!«
»Vielen Dank, Herr Inspektor!« sagte Jan sehr artig.
Während er in der Wechselstube deutsches Geld in Schillinge eintauschte, schrieb Julia auf einem Fensterbrett im Bahnhofsgebäude die erste Karte nach Hause:
Liebe Mutti, leider habe ich meinen Ausweis zu Hause vergessen, weil Jan mir immer dreingeredet hat. Bitte, liebe Mutti, schick ihn mir gleich hauptpostlagernd nach Innsbruck, er liegt entweder in unserem Zimmer im Schreibtisch oder im Schrank oder in meiner Schulmappe oder vielleicht habe ich ihn auf den Schrank gelegt oder unter meine Taschentücher, du wirst ihn bestimmt sofort finden. Hier ist es sehr schön, Kufstein liegt am Inn. Jetzt schauen wir uns erst einmal alles an, und dann wandern wir weiter nach Innsbruck, das heißt, so weit wir heute noch kommen. Viele Grüße an Vati und die Kleinen, Eure Julia.
Jan kritzelte auch noch seinen Namen unter die Karte, dann machten sie den ersten Einkauf mit ihren Schillingen, sie erstanden eine Briefmarke. Julia spuckte dreimal auf die Karte und warf sie dann in den Briefkasten am Bahnhof.
Als sie auf den Bahnhofsvorplatz traten, blieben sie überrascht stehen — wie von weit her, aber sehr deutlich, waren Orgelklänge zu hören.
»Was ist denn das?« fragte Jan.
»Das ist die Heldenorgel!« erklärte ein Junge, sicher zwei oder drei Jahre jünger als Jan und Julia, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als ob jeder Mensch die Heldenorgel kennen müßte.
»Aha!« sagte Jan deshalb überrumpelt.
Der Junge musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Nie was von der Heldenorgel gehört?« fragte er.
»Doch, natürlich …«, stotterte Jan.
»Wir möchten bloß gerne wissen, woher die Musik kommt!« sprang Julia ihrem Bruder bei.
»Von der Festung!«
Jan und Julia sahen unwillkürlich hoch und starrten zur Festung Geroldseck hinauf.
»Von so weit her?« fragte Jan ungläubig.
»Pah! Das ist doch gar nichts!« sagte der Junge. »Man kann das Orgelspiel ohne Schwierigkeit bei gutem Wind bis zu zwanzig und dreißig Kilometer weit hören!«
»Das hast du aber irgendwo gelesen!« rief Julia.
»Warum denn nicht?« sagte der Junge und wurde ein bißchen rot. »Steht ja alles im Prospekt!«
In diesem Augenblick kam ein Herr, der bisher nach den Fahrplänen geschaut hatte, auf sie zu, und der Junge lief ihm entgegen und ging mit ihm davon.
»So ein Angeber!« sagte Jan.
»Ist doch nichts dabei«, erklärte Julia, »ich bin froh, daß wir jetzt wissen, was los ist!«
In schöner Einigkeit machten sie sich auf den Weg zur Festung. Sie stellten fest: Die große Orgel war wirklich eine Sehenswürdigkeit.
Noch am selben Tag wanderten sie weiter in Richtung Innsbruck. Sie kamen nicht mehr sehr weit, aber sie fanden für wenig Geld Unterkunft in einem Bauernhaus. Zum erstenmal erlebten sie das Alpenglühen.
Bevor sich die Dunkelheit über die Bergspitzen legte, glühten alle noch einmal in hellem Rot auf. Den Zwillingen verschlug es die Sprache vor Staunen und Begeisterung.
Am nächsten Morgen hatten sie Glück; ein Lastwagen nahm sie mit bis Innsbruck. Es war ein strahlend schöner, sonniger Tag, und die Stadt Innsbruck empfing sie im Sonnenglanz.
Jan und Julia taten ihr Gepäck im Bahnhof in ein Schließfach, und dann gingen sie in die Stadt. Sie bewunderten die alten Laubenhäuser in der Altstadt, das ›goldene Dachl‹, ein Haus mit einem rötlich leuchtenden Vordach, und die Hofburg. In der Hofkirche bestaunten sie die überlebensgroßen Bronze-Standbilder vieler Fürstlichkeiten und suchten auch das Grabmal von Maximilian I. Wohin sie gingen, immer schauten die mächtigen Bergriesen auf sie herab.
Vor dem großen Denkmal des Tiroler Freiheitshelden stand ein Menge junges Volk. Ein Südtiroler stimmte das Lied vom verlassenen Andreas Hofer an:
»Hier liegt mein Sabel und Gewehr
und alle meine Kleider,
ich bin kein Kriegsmann mehr,
o Himmel, ich bin ein Leider …«
Viele stimmten mit ein:
»… ich bin verlassen ganz
vom röm’schen Kaiser Franz!«
Die Zwillinge schlossen sich einer Gruppe von Jungen und Mädchen an, die von einem jungen Mann geführt wurde. Er trug eine dunkle Hornbrille und war wahrscheinlich ein Student. Sie spitzten beide Ohren, als er unterwegs erzählte: »Über den Sandwirt vom Passeiertal brauche ich euch wohl nichts zu berichten, das habt ihr ja alle schon in der Schule gelernt! Er hat die Tiroler zu einem Aufstand gegen Napoleon und seine Leute aufgerufen, die damals unser Land besetzt hatten … wann war das?«
Er sah Jan an. Der schämte sich, daß er es nicht wußte.
»Wir sind zum ersten Mal in Innsbruck und überhaupt in Tirol«, erklärte Julia rasch, »und bei uns zu Hause lernt man das nicht so genau!«
»Na, dann will ich es euch sagen, aber merkt es euch auch bitte: Es war im Jahre 1809 … geboren ist Andreas Hofer übrigens 1767. Mander, es ist Zeit‹, hat er gerufen, und dann sind sie alle zusammengekommen, die Bauern, die Handwerker, die Städter, die Studierten und die Schulbuben, und sie haben sich gegen Napoleons Truppen erhoben. Alle sind sie herbeigeströmt, um das heilige Land Tirol zu verteidigen. Sicher kennt ihr das schöne Bild von Defregger. ›Das letzte Aufgebot‹ hat er es genannt, darauf sind sie alle zu sehen, vom Schulbuben bis zum Greis, wie sie auszogen, um ihr Vaterland zu verteidigen …«
»Aber dann ist er doch verraten worden, nicht wahr?« fragte Julia.
»Ja … ein gewisser Raffl hat ihn verraten; für Geld hat er die Franzosen in eine Almhütte geführt und ihnen Andreas Hofer ausgeliefert!«
»Und dann ist der Hofer erschossen worden!« rief Jan.
»In der Festung Mantua!« ergänzte Julia.
»Na, ihr wißt ja viel mehr, als ich dachte!« sagte der Student.
»Davon habe ich ein Bild gesehen, wie er mit einer weißen Binde vor den Augen an der Wand steht … und die Soldaten zielen auf ihn!« sagte Jan.
»Stimmt! Und seine letzten Worte sollen gewesen sein: Schießt gut, Soldaten! — Und nun paßt auf, jetzt schauen wir uns die berühmte Schlacht am Berg Isel an.«
Sie waren am Inn angekommen, dort stand ein unscheinbarer runder Pavillon, ganz ohne Fenster, und in den führte der Student Jan und Julia und seine Gruppe. An der Kasse bezahlte er das Eintrittsgeld für sie alle — er nahm eine Sammelkarte für die ganze Gruppe, das war billiger — und dann traten sie erwartungsvoll ein.
Sie standen in der Mitte eines Raumes auf einer kleinen Plattform, und ringsherum, wohin sie schauten, tobte die Schlacht. Der Pavillon sah von außen klein aus, aber hier innen erschien alles riesig, fast unendlich. Dabei war der Kampf bis in alle Einzelheiten genau geschildert.
»Das hier ist das berühmte Panorama von der Schlacht am Berg Isel«, erklärte der Student.
Die Zwillinge waren überwältigt von allem, was es hier zu sehen gab, sie merkten gar nicht, daß der Student und seine Freunde gingen und sie allein auf der Plattform standen.
»Du lieber Himmel!« sagte Julia plötzlich. »Gleich sechs Uhr … und wir sind noch nicht auf der Post gewesen!«
»Dein Ausweis ist heute sowieso noch nicht da«, sagte Jan, »aber wir müssen schleunigst schauen, wo wir heute nacht bleiben.«
Sie hatten Glück, in der Jugendherberge waren noch zwei Betten frei — alle Pensionen waren jetzt zur Hauptsaison voll belegt. Eine lustige Gesellschaft von jungen Leuten aus Österreich, aus Deutschland und aus aller Welt war hier versammelt. Nach dem Abendessen fanden sie sich vor der Herberge zusammen, schauten auf die Lichter der Stadt herunter, sangen Lieder und erzählten sich Geschichten aus Innsbruck. Sie erzählten vom Kaiser Friedl, der als Bettler mit einer leeren Tasche unter dem ›goldenen Dachl‹ gestanden hatte, vom Kaiser Maximilian, der sich hoch oben an der steilen Wand auf der Jagd verirrt hatte, von der Herzogin Margarethe Maultasch, die so häßlich war, daß die Frauen ihre Kinder versteckten, wenn sie durch die Straßen ritt. Ein Mädchen berichtete von der reichen Frau Hitt: »Sie hatte viel mehr Geld als sie je in ihrem Leben verbrauchen konnte, aber trotzdem gab sie keinen Pfennig davon ab, und mochte die Not noch so groß sein. Als einmal ein Hungriger sie um Brot bat, drückte sie ihm einen Stein in die Hand … Das aber war zu viel, da traf sie die Strafe: sie wurde selber zu Stein, und von dort oben auf dem Berg könnt ihr sie sehen!«
Wahrhaftig, im Abendsonnenschein war eine versteinerte Frauengestalt zu erkennen!
»Komm her da, du mit deiner Klampfen!« rief schließlich ein Steiermärker einem norddeutschen Jungen zu. Der Steiermärker selber spielte ein ›Maurerklavier‹, wie er es nannte — eine Ziehharmonika. Die beiden stimmten ihre Instrumente und begannen zu spielen. Es klappte nicht so ganz, aber immerhin: Es war Musik, und man konnte danach tanzen.
Zum erstenmal sahen Jan und Julia einen Schuhplattler, bei dem sich die Burschen in wechselnden Sprungbewegungen im Takt der Musik mit der flachen Hand auf die Schuhsohlen und auf die Schenkel schlagen, den Bärentanz und den Watschentanz. Auch Engländer, Franzosen und Schweden wollten ihre eingenen Tänze zeigen. Sie pfiffen und sangen die Melodien und führten dazu die absonderlichsten Figuren auf. Jan und Julia kam es vor, als ob sie noch nie im Leben so viel gelacht hätten.
Am nächsten Vormittag lag auf dem Hauptpostamt ein Einschreibebrief für Julia. »Mein Ausweis!« jubelte sie.
Liebe Julia, schrieb die Mutter, ich habe deinen Ausweis zwar nicht im Schreibtisch, nicht im Schrank, nicht in deiner Schulmappe, nicht auf dem Schrank und nicht unter deinen Taschentüchern gefunden — er lag auf der Fensterbank in der Toilette! Du wirst sicher wissen, wie er dort hingekommen ist …
Julia wußte es, aber sie steckte die Nase in die Luft; als Jan sie auslachte …
Frohgemut wanderten Jan und Julia der italienischen Grenze zu.
Immer höher hinauf ging es, und immer heißer schien die Sonne. Die Zwillinge kamen ins Schnaufen und Schwitzen und entschlossen sich, beim nächsten Kilometerstein eine Rast einzulegen. Die Vorräte von zu Hause waren, so glaubten sie, schon lange aufgegessen, um so größer war die Freude, als Julia doch noch eine kleine Schachtel Keks und eine halbe Tafel Schokolade in ihrem Rucksack fand. Sie teilten sie redlich miteinander. Dann lief Jan zu dem Quellwasser zurück, das sie gerade entdeckt hatten, und schöpfte Wasser in seinen Aluminiumbecher. Er trank ihn leer, dann füllte er ihn wieder und brachte ihn seiner Schwester.
»Ich danke, Johann, Sie können gehen!« sagte Julia gnädig.
»Bei Ihnen piept’s wohl, Fräulein!« sagte Jan grinsend.
»Nichts Fräulein … signorina!«
»Signorina? Wieso?«
»Auf italienisch heißt Fräulein signorina, und Frau heißt signora, und Herr heißt signor, und bezahlen heißt pagare … non capisco heißt: ich verstehe nicht …«
»Mensch!« rief Jan ehrlich erstaunt. »Woher hast du das alles?«
»Köpfchen, Köpfchen! Wir hatten doch auch Italiener in der Jugendherberge, hast du das vergessen?«
»Und von denen hast du dir das beibringen lassen?«
»Genau! Sei froh, daß du deine Schwester hast …, ich weiß nicht, wie du dieses Unternehmen sonst überstehen würdest!«
»Gib bloß nicht so an!«
»Sei nur ja recht nett und höflich zu mir, verehrter Bruder, sonst bist du der Dumme! Du weißt ja nicht mal, daß es in der italienischen Sprache nur kleine Buchstaben gibt, höchstens bei Namen und wenn ein Satz beginnt …«
»Ist doch alles Quatsch mit Soße!« unterbrach Jan sie.
»Wozu muß man das wissen? Ich komme auch mit Deutsch in Italien aus!«
»Na, das wird sich rausstellen! Weißt du, was du bist, Jan?«
»Halt dich zurück, signorina!«
»Typisch! Kaum gehört, schon geklaut!«
Aber nicht lange dauerte es, dann waren die beiden schon wieder versöhnt und brachen einträchtig auf.
Mit flottem Tempo begannen sie weiter zu marschieren. Aber allmählich wurden ihre Schritte müder und langsamer. Endlos dehnte sich die Straße. Als Julia eine Stunde später wieder rasten wollte, hatte auch Jan nichts dagegen einzuwenden. Wieder ließen sie sich auf einem Kilometerstein nieder, Julia mit dem Blick nach Süden, Jan die Augen ins Tal hinunter gerichtet.
»Vorwärts mußt du schauen, Jan«, spöttelte Julia altklug, »nie zurück!«
»Wenn du mal zurückschauen würdest, würde es dir gleich besser gehen … jetzt sehe ich erst, was wir alles hinter uns gebracht haben!« erwiderte Jan.
»Si si, frater … das heißt zu deutsch: ja, ja, Bruder!«
»Du mit deinem blöden Italienisch!«
»Mein Italienisch mag blöd sein, ich bin es sicher nicht!« Julia erhob sich. »Ich glaube, mein großer Bruder, ich werde mich darum kümmern müssen, daß wir etwas schneller ins Land der Zitronen kommen!«
»Und wie willst du das anfangen, teure Schwester?«
»Ich werde ein Auto anhalten!«
»Und du glaubst, daß eines halten wird?«
»Abwarten!«
Vertrauensvoll winkte Julia zur Straße hinüber, aber alle huschten sie vorbei, die großen und die kleinen Personenautos, die Lastwagen und auch die Motorräder, alle hatten es eilig.
Jan lachte. »Hahaha … das sieht dir ähnlich! Schöne Autos, schnelle Autos, aber keine Autos für Jan und Julia!«
»Idiotenhäuptling!« sagte Julia verächtlich.
»Nur nicht frech werden, Kleine … paß lieber auf, wie man so etwas macht!«
Jan stellte sich auf die Fahrbahn, schwenkte die Arme nach allen Himmelsrichtungen, als wäre er ein Verkehrspolizist, aber dann mußte er mit einem Satz zur Seite springen, denn kein Auto hielt, sie hupten nur.
»Gemein!« rief er wütend.
Julia grinste. »Das hast du großartig gemacht, erhabener Bruder! Aber jetzt, bitte, verschwinde … leg dich in den nächsten Graben oder verdrück dich sonst wohin, jetzt werde ich dir mal was zeigen!«
Mit erhobenen Händen und einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen stand Julia allein am Straßenrand, und siehe da — das nächste Auto fuhr zwar weiter, und Julia war schon sehr enttäuscht — aber dann hielt es doch noch, und die Wagentür wurde geöffnet.
Julia lief vor, ein älterer Herr mit angegrautem Haar saß allein am Steuer.
»Ach, bitte«, zirpte sie, »wir sind schon so müde … könnten Sie uns nicht bis zur Grenze mitnehmen?«
»Nein, meine liebe junge Dame … ich habe nur deshalb gehalten, um mal ein ernsthaftes Wörtchen mit dir zu reden! Weißt du denn nicht, daß es sehr gefährlich ist, Autos anzuhalten? Hast du keine Angst?«
»Wovor soll ich denn Angst haben? Sie tun mir doch nichts!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ach, das sieht man doch … Sie haben so gute Augen!«
»Nun, der Schein trügt, mitnehmen werde ich dich jedenfalls nicht!«
»Aber ich bin doch so müde!«
»Wenn man müde ist, dann bleibt man zu Hause!«
»Wir wollen doch bloß ein kleines Stück von der Welt sehen … nur so ein ganz kleines Stückchen!«
»Wir? Wer ist wir?«
»Ich und mein Bruder!«
»Erstens heißt das … mein Bruder und ich, und zweitens … wo ist denn dein Bruder?«
»Jan!« rief Julia laut. »Jan!«
Und da kam er auch schon angetrabt, in jeder Hand einen Rucksack.
»Ach, bitte, nehmen Sie uns doch mit!« bettelte Julia.
»Na schön, sonst kriege ich euch ja doch nicht los! Aber merkt euch eines … wenn man per Anhalter fährt, muß man ein bißchen vorsichtig sein!«
Julia benahm sich wie eine Schönheitskönigin persönlich. »Steig du hinten ein«, kommandierte sie ihren Bruder, »ich bleibe vorne!«
»Macht schnell«, sagte der Fahrer. »Ich habe es eilig!«
Er schien es wirklich eilig zu haben, seinem Tempo nach zu urteilen.
Kurz vor der Grenze bremste er scharf. »So … ich bin hier zu Hause!«
»Hier sind Sie zu Hause?« fragte Julia erstaunt.
»Sie sind wohl von der Grenzpolizei?« fragte Jan.
»Richtig geraten … hoffentlich sind eure Papiere in Ordnung!«
»Na klar!« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde und zückten ihre Ausweise.
Der Mann mit den grauen Schläfen, Leiter der Grenzpolizeistelle Brenner, selber leidgeprüfter Vater, gab Jan und Julia noch einige Ratschläge: »Wenn ihr schon per Anhalter fahren müßt, dann sucht euch möglichst Wagen aus, in denen Frauen am Steuer sitzen oder Ehepaare … oder laßt euch von Lastwagen mitnehmen, deren Firmenzeichen deutlich sichtbar sind … das ist immer noch das Ungefährlichste!«
»Machen wir!« versprach Jan.
»Und vergeßt nicht, wenn ihr jetzt nach Italien kommt, dann ist das für euch das Ausland … aber für die Italiener seid ihr die Ausländer! Denkt immer daran … euch hat niemand in das fremde Land gerufen, ihr seid von selber gekommen. Deshalb muß euch alles so gefallen, wie es ist. Sagt nicht, bei uns zu Hause ist es sauberer, billiger, besser, nehmt, was euch geboten wird, nehmt es so, wie es ist! Denkt immer daran: andere Völker, andere Sitten!«
»Werden wir uns merken«, versprach Julia.
»Ich will es hoffen! So wie ihr euch aufführt, so wird man euer Land und seine Bewohner einschätzen! Verstanden?«
»Jawohl!«
»Ihr könnt ja hin und wieder ein albergo’ diurno aufsuchen …«
»Was ist denn das?« wollte Julia wissen.
»Ein Tageshotel! Da könnt ihr euch für Stunden ein Zimmer mieten, könnt euch waschen, frisieren, eure Kleider bügeln … kurzum, euch wieder in Ordnung bringen!«
»Aber schlafen kann man dort nicht?«
»Zum Schlafen sucht ihr besser ein allogio auf, ein Gasthaus, da bekommt ihr für wenig Geld ein sauberes Zimmer.«
Der Mann mit den grauen Schläfen warf einen Blick auf seine Armbanduhr, stellte fest, daß er seinen Dienst antreten mußte, und gab Jan und Julia die Hand. »Alles Gute!« wünschte er ihnen. »Und seid vorsichtig!«
»Gibt’s in Italien denn noch Räuber?« fragte Julia.
»Nicht mehr als anderswo!« sagte der Mann mit den grauen Schläfen, und fort war er.
Diesmal waren die Grenzformalitäten rasch überstanden, die Zwillinge hatten ihre Ausweise bei der Hand, und dann war der große Moment gekommen: Sie waren wirklich im sonnigen Süden!