Читать книгу Katrin mit der großen Klappe - Marie Louise Fischer - Страница 5

Im Wäldchen der Parkschule

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Der Architekt, der die Parkschule entworfen hatte, hatte sich für den Schulhof etwas Besonderes ausgedacht: ein Stück der alten Stadtwaldes war in das Schulgebäude einbezogen. Die Buchen und Tannen standen nur nicht mehr so dicht wie im Wald, das Unterholz war niedergemacht, der Boden planiert worden. Jetzt konnte man zwischen den Bäumen spazieren gehen, Nachlaufen und Verstecken spielen.

Der Baumbestand machte es den Lehrern einigermaßen schwierig, ihre Schäfchen während der Pause im Auge zu behalten. Aber die Schülerinnen liebten ihr „Wäldchen“, wie sie es zärtlich nannten, und in den Pausen war es immer der Hauptanziehungspunkt.

Die Mädchen der 6 a stürmten mit einer Geschwindigkeit aus der Klasse und die breite, geschwungene Treppe hinunter, als gälte es einen Weltrekord zu brechen, allen voran die Freundinnen Katrin, Silvy, Olga, Ruth und Leonore. Sie wollten ihren Lieblingsplatz, einen Bretterstapel, erreichen, der ihnen bei jeder Gelegenheit von den Mädchen der 8. Klasse streitig gemacht wurde.

Diesmal schafften sie es und kletterten mit Hallo hinauf. Der Bretterstapel lag so günstig, daß auch jetzt, im Spätherbst, das volle Sonnenlicht darauf fiel. Außerdem bot er eine wunderbare Aussicht auf den Stadtwald, der sich einen kleinen Berg hinaufzog und in gelben, roten, grünen und braunen Tönen leuchtete.

Die Mädchen reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen, tun ihre sommerliche Bräune aufzufrischen. Nur Olga Helwig lehnte im Schatten einer Buche.

Leonore streckte ihr die Hand hin. „Komm, Olga, es ist noch ein Platz frei! Ich helfe dir rauf!“

Olga schüttelte stumm den Kopf.

„Laß sie doch“, sagte Katrin. „Sie bockt wieder mal!“

„Das ist nicht wahr!“ Olga stampfte mit dem Fuß auf, sie war rot geworden.

„Dann hat sie wahrscheinlich Angst vor Sommersprossen! “ behauptete Silvy.

„Ihr seid gemein!“ schrie Olga und stürzte davon.

Alle lachten, außer Leonore.

„Ihr müßt die arme Olga nicht immer so ärgern“, sagte sie. „Ihr wißt, wie überempfindlich sie ist. Außerdem ist das mit den Sommersprossen Quatsch. Im Herbst kriegt man gar keine mehr.“ Sie rutschte von dem Stapel herab.

„Wo willst du hin?“ fragte Ruth.

„Olga zurückholen. Allein findet sie sonst wieder eine ganze Woche nicht aus ihrem Bock heraus.“

„Und was wird aus uns?“ rief Ruth erschrocken. „Wenn die Achte kommt …“

„… müßt ihr sie eben zurückschlagen oder das Feld räumen!“ erklärte Leonore ungerührt und verschwand.

„Langsam fängt diese Olga wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen“, sagte Silvy.

„Nicht halb so sehr wie das Mohrchen“, sagte Katrin und biß kräftig in ein gut belegtes Butterbrot. „Was die uns immer erzählt … Industriegesellschaft! Ich möchte wetten, davon steht kein Wort im Lehrplan.“

„Ich finde das eigentlich ganz nett“, meinte Silvy gnädig, „Mohrchen läßt sich wenigstens hin und wieder mal was einfallen.“

„Ja, ein Aufsatzthema für uns!“ Katrin baumelte mit ihren langen Beinen und trommelte mit den Fersen gegen den Stapel, „Das heißt auf gut deutsch: wir müssen es ausbaden.“

„Ist doch gar nicht schwer!“ erklärte Ruth mit überraschender Sicherheit. „Über den Beruf meines Vaters kann ich Bände schreiben.“

„Kunststück! Dein Vater ist Friseur! Da kannst du immer zugucken, was er macht!“ rief Silvy. „Aber was soll ich sagen? Mein Vater ist Versicherungskaufmann. Könnt ihr euch da was drunter vorstellen?“

Katrin biß zur Abwechslung in einen dicken roten Apfel. „Ich bin dafür, daß wir das Thema wechseln“, sagte sie, „ich habe keine Lust, mir auch noch die Pause durch öde Schulgeschichten verderben zu lassen.“

„Aber du hast doch damit angefangen!“ piepste Ruth und schlug sich, erschrocken über ihre Kühnheit, mit der Hand vor den Mund.

„Was habe ich!?“ Katrin streckte den langen Arm aus, packte zu und zerrte an Ruths komplizierter Frisur, als wäre ihr schönes, blondes Haar eine Perücke, die man abnehmen konnte.

„Au!“ schrie Ruth. „Du tust mir weh! Bitte, laß los .. vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.“

Aber Katrin schüttelte sie — nicht gerade rauh, aber es ziepte dennoch gehörig. „Willst du noch einmal eine so freche Bemerkung machen?“

„Nein! Nie wieder!“

„Dann ist es ja gut.“ Katrin gab Ruth frei, die ihren Taschenkamm zückte und sich sogleich daran machte, ihren Haaraufbau wieder in Ordnung zu bringen.

„Müßt ihr euch denn immer streiten!“ sagte Silvy und rümpfte verächtlich die spitze Nase. „Ich finde das einfach kindisch.“

„Ist mir egal, wie du das findest“, gab Katrin zurück, „ich denke jedenfalls nicht daran, mir von irgend jemandem irgendwas gefallen zu lassen.“

Sie blitzte dabei die Freundinnen aus ihren schwarzen, funkelnden Augen so drohend an, daß sogar Silvy es für besser hielt, sie nicht mehr zu reizen.

„Kinder“, rief sie, „ich habe ganz vergessen euch zu erzählen .. habt ihr gestern die Zeitung gelesen?“

„Nein, wieso?“ fragte Ruth.

„Welche?“ wollte Katrin wissen.

„Die hiesige natürlich“, sagte Silvy, „oder meinst du, ich studiere die New Yorker Presse?“

„Warum nicht? Wenn man ein bißchen Englisch kann …“, begann Katrin.

Silvy ließ sie nicht zu Wort kommen. „Ach, hör auf! Wir wissen schon, daß du ein Wunderkind bist. Mir geht es jetzt um etwas ganz anderes. In der Zeitung stand, daß heute der Eislaufplatz eröffnet worden ist!“

„Glaub ich nicht“, sagte Leonore, die sich, Arm in Arm mit Olga, wieder der kleinen Gruppe genähert hatte, „es ist doch noch nicht der 1. November.“

„Na und wenn schon! Dann machen sie dieses Jahr eben früher auf .. Wenn ich es doch gelesen habe! Und ich schlage vor: Laßt uns alle zusammen heute nachmittag eislaufen gehen!“

„Es ist bestimmt noch nicht offen“, beharrte Leonore.

„Ach, du!“ fauchte Silvy sie an. „Du willst uns ja nur den Spaß verderben!“

„Woher denn. Ich komme ja, wenn du darauf bestehst.“ Sie drückte Olgas Arm. „Und Olga macht natürlich auch mit …“

„Ja“, sagte Olga, dankbar dafür, daß Leonore es ihr so leicht machte, sich wieder an die Freundinnen anzuschließen.

„Dann sind wir drei!“ stellte Silvy fest. „Und was ist mit dir, Ruth?“

„Ich möchte lieber nicht“, sagte Ruth zaghaft.

„Aber warum denn nicht?“

„Es ist immer so furchtbar voll dort, und die großen Jungen rasen herum und werfen einen hin, im vorigen Jahr habe ich mir mal den Knöchel verstaucht.“

„Angsthase!“ sagte Silvy verächtlich.

„Damit ihr es gleich wißt, ich mache auch nicht mit“, ließ sich Katrin vernehmen, „mir ist das Ganze zu popelig.“

Die anderen starrten sie verblüfft an.

Silvy war die erste, die sich von ihrem Staunen erholte.

„Unser schöner Eislaufplatz!?“ rief sie. „Jetzt hört sich aber alles auf! Bei dir piept’s wohl!“

Katrin warf ihr schulterlanges schwarzes Haar in den Nacken. „Hat sich was mit schönem Eislaufplatz!“ sagte sie verächtlich. „Schön wäre er vielleicht, wenn er leer wäre. Aber was sich da alles rumtreibt! Von den großen Jungen will ich gar nicht reden, aber auch sonst … nein, meine Lieben, das ist nichts für mich.“

„Du bildest dir wohl ein, du bist was Besseres als andere Leute!“

„Schon möglich“, erklärte Katrin hochnäsig und fügte im gleichen Atemzug, um der Empörung der anderen zuvorzukommen, hinzu: „Bitte, nehmt das nicht gleich persönlich, Freunde! Ihr seid mir alle lieb und wert, aber Tatsache ist, daß ich Besseres gewohnt bin!“

Leonore lachte. „Sieh mal einer an! Möchtest du uns das nicht näher erklären?“

„Mit dem größten Vergnügen!“ Katrin hatte ihren Apfel und ihr Frühstücksbrot verzehrt, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und wischte die Hand dann an der Hose ab.

„Deine Manieren“, sagte Ruth, „sind jedenfalls alles andere als einzigartig.“

Katrin ließ sich dadurch nicht unsicher machen. „Wirklich feine Leute“, erklärte sie, „können sich alles erlauben. Wußtest du das nicht?“

„Darum läufst du immer in alten Hosen und schlampigen Pullovern herum, wie?“ fragte Olga, die, so schnell beleidigt sie selber war, die Empfindlichkeit ihrer Mitmenschen durchaus nicht schonte.

„Genau“, gab Katrin ungerührt zurück, „ich bin nicht blöd genug, um mich für euch herauszuputzen … oder etwa gar für die Schule oder für das Mohrchen!“

„Du wolltest uns erzählen, Katrin, was dir an unserem Eislaufplatz mißfällt“, erinnerte Leonore.

Katrin pustete sich den dichten Pony aus der Stirn. „Mißfallen, das ist nun nicht gerade der richtige Ausdruck. Ich würde mich nicht wohl dort fühlen, das ist alles. Daß es euch Spaß macht, verstehe ich durchaus. Ich will euch das Vergnügen nicht verderben. Nur … wenn ihr wie ich bei einer Eislaufmeisterin gelernt hättet, dann würdet ihr von selber verstehen, was ich meine.“

„Kann schon sein“, sagte Silvy schnippisch. „Aber da wir das nun mal nicht gewohnt sind, solltest du es uns doch näher erklären.“

„Wie denn?“ Katrin sah geradezu verzweifelt eine ihrer Freundinnen nach der anderen an. „Erklärt ihr doch mal einem Walfisch, wie ein Reh aussieht!“

Außer Silvy lachten alle herzlich. Silvy ließ sich jedoch nicht abspeisen. „Bitte, versuch’s immerhin. Schließlich haben wir ein bißchen mehr Himmasse als die Walfische.“

„Bist du sicher?“ fragte Katrin und rutschte rasch ein Stückchen beiseite, um einem Knuff auszuweichen. Sie legte die Arme um die Schultern von Leonore und Olga. „Im letzten Winter“, sagte sie mit träumerischem Augenaufschlag, „war ich mit meinen Eltern in Scuols-Tarasp. Das ist ein berühmter Kurort im Engadin. Meine Eltern haben dort Bäder genommen, und ich bin Ski gefahren … aber das tut ja nichts zur Sache … und Schlittschuh gelaufen.“

„Und?“ fragte Ruth.

„Der größte Teil des Eislaufplatzes liegt unter freiem Himmel, einem knallblauen Winterhimmel. Man sieht die schneeweißen bizarren Gipfel der Alpen …“

„Hoffentlich ist sie auch im nächsten Aufsatz so poetisch“, flüsterte Olga Leonore zu. „Das würde dem Mohrchen gefallen!“

Katrin fuhr in ihrer Beschreibung fort, als wenn sie die Zwischenbemerkung gar nicht gehört hätte „… und am Rande des Platzes flattern die bunten internationalen Fahnen! Ja, ich weiß, das alles interessiert euch nicht! Aber was sagt ihr, wenn ich euch jetzt erzähle, daß auf dem einen Eisplatz, der mindestens so groß ist wie der hier in der Stadt, an Wochentagen höchstens zwanzig Läufer trainieren? Oft sind es auch nur drei oder vier oder fünf! Da kann man Bogen fahren und Pirouetten drehen! Alles, was ihr hier auf eurem oft gerühmten Eislaufplatz anstellt, ist und bleibt Stümperei.“

Katrin schlug die Arme übereinander und lehnte sich befriedigt zurück. Sie hatte genau das erreicht, was sie wollte. Ihre Freundinnen waren beeindruckt, ob sie es wollten oder nicht.

Aber Katrin hatte in ihrem Hochgefühl die Umgebung falsch eingeschätzt. Sie lehnte sich zu weit nach hinten, verlor das Gleichgewicht und fiel in einem Purzelbaum rückwärts zu Boden.

Ruth schrie laut auf vor Schrecken, Leonore ließ Olga los und rannte blitzschnell um den Stapel herum, um nach Katrin zu schauen.

Silvy rief: „Das kommt davon! Kannst du nicht besser aufpassen?“

Zum Glück war Katrin auf einem Haufen welker Blätter gelandet, die Herr Schwabe, der Hausmeister, zusammengekehrt hatte. Sie war schon wieder auf den Beinen, bevor Leonore sie erreicht hatte.

„Regt euch bloß nicht auf“, sagte sie, „mir passiert so leicht nichts. Gelernt ist gelernt.“ Sie klopfte die Blätter von Hose und Pullover. „Da seht ihr mal wieder, wie gut es ist, sich nicht so aufzudonnern.“

Silvy, die einen Samtrock und eine Rüschenbluse trug, sagte: „Ich weiß nicht, mir ist es doch lieber, ich sehe nett aus. Man braucht ja nicht unbedingt solche Kunststücke zu machen.“

Katrin hatte eine freche Bemerkung über Silvy, ihre spitze Nase, die schmalen Lippen, ihre blasse Haut und das aschblonde stumpfe Haar auf der Zunge. Aber Leonore erriet ihre Gedanken und preßte ihr rasch die Hand auf den Mund.

„Hauptsache, daß du dir nicht das Genick gebrochen hast, Katrin!“ sagte sie.

Katrin, mit zugehaltenem Mund, brachte nur ein paar unverständliche gurgelnde Laute hervor.

„Ich fände es doch richtig, wenn wir alle kämen“, beharrte Silvy. „Nur, wenn wir Zusammenhalten, können wir etwas gegen die großen Jungen ausrichten!“

Leonore merkte, daß die Gefahr vorbei war, und nahm die Hand von Katrins Mund. „Aber wie?“ fragte sie.

„Das müssen wir uns eben noch ausdenken …“, sagte Silvy.

„Achtung!“ rief Ruth schrill.

Katrin und Leonore wußten, was dieser Alarmruf bedeutete. Sie stürzten nach vorne. Ruth und Silvy klammerten sich auf den Brettern fest, Olga ergriff einen dürren Ast.

Eine Gruppe der Achten näherte sich.

Aber die Vorsichtsmaßnahmen der Freundinnen erwiesen sich als unnötig. Die großen Mädchen starteten keinen Angriff, sondern schlenderten, ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen, vorbei. Es läutete … Pausenende!

Silvy und Ruth rutschten vom Stapel, und Hand in Hand mit den Freundinnen sausten sie durch das Getümmel zum Schulhaus zurück.

Katrin mit der großen Klappe

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