Читать книгу Des Herzens unstillbare Sehnsucht - Marie Louise Fischer - Страница 4

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»Hurra, das wäre geschafft!« rief Yvonne und warf ihren Koffer mit Schwung auf eines der beiden Betten. »Moralpredigten, Standpauken und Familienzeremonien bis zu den nächsten Ferien mal wieder heil überstanden. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich auf den ersten Schultag freuen könnte.«

»War’s so schlimm?« erkundigte sich ihre Freundin Helga mitfühlend. »Aber ich muss schon sagen, in der Prachtbude, die wir fürs neue Schuljahr ergattert haben, kann ich dem Internatsleben neue Reize abgewinnen.«

Helga öffnete eines der Fenster ihres im renovierten Ostflügel des Schlossinternates Hohenwartau gelegenen Zimmers und genoss den freien Blick über den Schlosspark, die Tennisplätze, das Schwimmbad bis zu den Alpengipfeln. »Die Aussicht ist einfach umwerfend!«

Yvonne betrachtete ihr hübsches, braun gebranntes Gesicht mit den hellblauen Augen und dem weich fallenden blonden Haar wohlgefällig in dem kleinen Taschenspiegel. »Aber Penne bleibt Penne, und bei der Büffelei wird uns das Lachen schon noch vergehen«, gab sie zu bedenken. »Möchte bloß wissen, wozu das alles gut sein soll. Na ja, wenn’s brenzlig wird, kann ich ja immer noch heiraten. Mit einem reichen, schicken Knaben wär’ ich ein für allemal die Sorgen los.«

Beide mussten lachen.

»Du, hier habe ich was für dich. Als ich die Sachen im Schaufenster sah, bin ich drauf geflogen. Hinterher merkte ich aber leider, dass sie zu meinem blonden Haar unmöglich aussehen.«

Yvonne zog einen knallgelben Schal und eine passende Baskenmütze aus dem Koffer und warf beides der Freundin zu. Helgas braune Augen strahlten vor Freude. »Du, die sind ja wirklich rasant!« staunte sie. Sie setzte die Mütze auf ihr braunes Haar, schlang den Schal um den Hals und rannte in den Waschraum, um sich im Spiegel zu bewundern.

»Wenn ich dich nicht hätte, Yvonne«, sagte sie, als sie zurückkam, »wüsste ich wahrhaftig nicht, womit ich meine alten Klamotten aufmöbeln könnte. Aber was will ich bei fünf Geschwistern schon groß verlangen von meinem Vater.«

Zehn Minuten später – Helga und Yvonne waren gerade beim Überziehen der Betten – stürmte Barbara Miller, genannt Babsy, zu ihnen herein, eine langbeinige, ebenholzschwarze Schönheit.

»Kinder, eine Sensation!« rief sie aufgeregt. »Kommt rasch! Ein neuer Pauker ist da!« Und schon war sie wieder draußen. Helga und Yvonne stürzten ihr nach in das große Wohnzimmer, dessen Fenster zum Hof hinaus blickten. Ellen, ein sportliches Mädchen mit honigblondem Haar, deren Vater als Botschafter in Afrika lebte, lehnte weit über die Brüstung und starrte hinunter. Babsy hatte sich neben sie gequetscht, und die rothaarige Uschi öffnete gerade das zweite Fenster und spähte hinab.

»Wo? Wo? Wo?« rief sie aufgeregt.

Aber ohne ihre Brille, die sie aus Eitelkeit nur selten auf der Nase hatte, war sie auf Ellens Beschreibung angewiesen: »Peil das knallrote kleine Auto genau gegenüber an! Der junge Mann mit der Tweedjacke, der ist es!«

Uschi konnte nichts als einen verschwommenen roten Fleck erkennen und raffte sich nun doch auf, ihre Brille zu holen.

Yvonne hatte sich auf die Brüstung geschwungen. »Eine tolle Type«, stellte sie sachkundig fest, »wie der seinen Regenmantel über der Schulter trägt – einfach lässig.«

»Sieht nicht schlecht aus«, gab Helga zu,

»aber woher wollt ihr überhaupt wissen, dass er Pauker ist?«

»Das kannst du dir doch an allen fünf Fingern abzählen!« erklärte Babsy. »Er ist zu jung, um Vater einer Schülerin zu sein, und außerdem ist er ganz allein gekommen …«

»Ist doch sonnenklar«, unterbrach sie Ellen. »Dr. Hansemann ist pensioniert worden, und Tweedy ist unser neuer Lehrer für Deutsch und Englisch.«

Und schon hatte der junge Mann in der Tweedjacke seinen Spitznamen weg.

»Fast zu schön, um wahr zu sein«, sagte Yvonne, »ein klasse Lehrer, das wäre endlich mal ein Lichtblick in unserem trüben Dasein!«

»Süß!« hauchte Uschi, die nun endlich ihre Brille aufhatte und die Sensation erspähen konnte.

Unten tat sich etwas Neues. Fräulein Gertrud Pförtner, Turn- und Handarbeitslehrerin des Internates, außerdem Tochter des Direktors, trat auf den Ankömmling zu und begrüßte ihn mit Handschlag.

Drei weitere Schülerinnen der zwölften Klasse, Margot, Hannelore und Ilse, polterten mit ihrem Gepäck in das Wohnzimmer. »Wir haben einen neuen Lehrer!« riefen sie gleichzeitig. »Doktor Herbert Jung heißt er! Unterrichtet Deutsch und Englisch! – Trudchen begrüßt ihn gerade!«

»Was ihr nicht sagt!« piepste Babsy zurück. »Wir beobachten Tweedys ersten Auftritt schon seit fünf Minuten von unseren Logenplätzen aus.« Babsys Eltern waren berühmte Opernsänger, ihre Mutter war in Mailand, ihr Vater in München engagiert, und so lag ihr der Theatervergleich nahe.

»Jedenfalls ist er genau mein Typ«, stellte Yvonne fest, »wenn das nichts mit uns wird, schluck ich ’nen Besen quer.«

»Dann erstick mal schön. Wetten, dass ich größere Chancen habe«, erklärte Hannelore. Sie war schon neunzehn Jahre alt, sehr damenhaft, mit kastanienrot getöntem Haar und Erfahrungen.

»Nur zu eurer Information: Macht euch auf meine Konkurrenz gefasst!« verkündete Margot.

»Das ist doch die Höhe!« rief Yvonne. »Ich denke, du bist glücklich verlobt?« »Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Besseres findet!« lachte Margot.

»Wenn eine von uns überhaupt eine Chance hat, dann bin ich es«, behauptete die strohblonde, sommersprossige Ilse.

Helga wurde es zu bunt. »Leutchen, mir scheint, ihr seid komplett verrückt! Bildet ihr euch denn wirklich ein, dass Tweedy mit einer von uns anbändeln würde? So bekloppt ist er bestimmt nicht, es würde ihn ja seine Stellung kosten! Ganz davon abgesehen finde ich, dass ihr doch ein bisschen zu alt sein solltet für so eine blödsinnige Schwärmerei!«

»Das ist keine Schwärmerei, das ist Liebe auf den ersten Blick!« schrie Yvonne.

In diesem Augenblick brauste Fräulein von Zirpitz, die Erzieherin der zwölften Klasse, in das Wohnzimmer. »Meine Damen, meine Damen!« rief sie und klatschte affektiert in die Hände. »Ich bin empört. Ich sehe mich gezwungen, dieses unqualifizierte Betragen dem Herrn Direktor zu melden.«

Die Mädchen verließen eilig ihre Fensterplätze und bestürmten Fräulein von Zirpitz, genannt die Zirpe, mit Bitten um Gnade.

»Nein, nein, nein!« wehrte sie ab. »Machen Sie sich lieber sofort daran, Ihre Sachen auszupacken und die Betten zu überziehen. In einer halben Stunde werde ich die Zimmer inspizieren.« Sie rauschte davon. Alle beeilten sich, dass sie in ihre Zimmer kamen, und begannen in rasender Eile ihre Sachen zu verstauen. Die Zirpe verstand es, ihnen das Internatsleben zu vermiesen.

Gleich am ersten Schultag hatte die zwölfte Klasse in der dritten Stunde Deutschunterricht. Als der neue Lehrer den Raum betrat, hielten die Mädchen den Atem an. Würde er aus der Nähe auch so attraktiv wirken, wie er ihnen auf den ersten Blick vom Schlossfenster herab erschienen war? Sie hatten sich nicht getäuscht, Tweedy oder Dr. Herbert Jung, wie er sich vorstellte, war ein ungeheuer sympathischer junger Mann, zwar keine Schönheit, aber männlich und interessant. Seine Nase war ein wenig zu groß, seine Stirn breit und ausdrucksvoll, und die hellen grauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu seinem braun gebrannten Gesicht bildeten, waren von hellen Lachfältchen umgeben.

Den Schülerinnen der zwölften Klasse wurde es ganz anders zu Mute, als sie sich von diesen durchdringenden grauen Augen gemustert sahen. Selbst Helga wurde es ziemlich mulmig, als er sie, wie alle anderen, nach ihrem Namen fragte.

Alle hatten sich für die erste Begegnung herausgeputzt, trugen ihre engsten Röcke, die dazu passenden Pullis und hatten so viel Make-up aufgelegt, dass sie Fräulein von Zirpitz’ Kontrolle nur im Halbschatten zu passieren wagten.

Dr. Herbert Jung schien gegenüber all diesen Reizen völlig unempfänglich zu sein. Er stürzte sich sofort auf das Pensum und ließ seine Blicke nie tiefer als bis zur Augenhöhe seiner Schülerinnen gleiten, sodass es gar keinen Zweck hatte, sich in Positur zu werfen.

Aber gerade diese Gleichgültigkeit machte ihn noch anziehender. Tweedy war der einzige gut aussehende Mann in jüngeren Jahren im Schlossinternat, und die anfängliche Begeisterung der Mädchen steigerte sich bald in Schwärmerei.

Margot knipste ihn heimlich und trug sein Foto Tag und Nacht in einem goldenen Medaillon auf der Brust.

Kicki, die pummelige Chinesin, tätowierte sich seinen Spitznamen mit einem Tintenstift auf den Unterarm. Uschi gelang es, ihm einen Faden aus der Tweedjacke zu ziehen, den sie wie eine Reliquie aufbewahrte.

Vier Wochen später wurde der erste Aufsatz geschrieben. Dr. Herbert Jung stellte ein Thema zur eigenen Wahl frei, als Zweites die Beschreibung eines Kupferstiches und als Drittes ein Zitat aus Goethes »Faust«.

Die Mädchen versuchten, so weit sie sich in Tweedys verwirrender Gegenwart konzentrieren konnten, mit ihrem Geist zu glänzen.

Danach, in der großen Pause, sagte Helga zu ihrer Freundin. »Gott, bin ich froh! Mir ist eine Menge eingefallen. Was für ein Thema hast du denn gewählt?«

»Ich habe Tweedy einen Liebesbrief geschrieben«, erklärte Yvonne mit größter Selbstverständlichkeit.

Yvonne war überzeugt, mit ihrem Liebesbrief in Aufsatzform alle Rivalinnen bravourös aus dem Feld geschlagen zu haben.

Aber in der Nacht sah die Sache auf einmal ganz anders aus. In der Dunkelheit ihres Zimmers wurde jeder Satz des fatalen Aufsatzes zu einem Albdruck. War sie nicht doch zu weit gegangen?

Ruhelos warf sie sich hin und her und bemühte sich verzweifelt, endlich Schlaf zu finden.

Helga war dadurch wach geworden. »Denkst du an den Aufsatz?« fragte sie endlich.

»Du hast es erfasst«, gab Yvonne zu, mit einem Anflug ihrer gewohnten Kessheit.

»Was mache ich bloß, wenn Tweedy meine Liebeserklärung in den falschen Hals kriegt?«

»So viel Humor wird er schon noch auf Lager haben, deinen verrückten Einfall nicht krumm zu nehmen.«

Doch Yvonne war nicht so leicht zu beruhigen. »Und wenn er nun meine Eltern antanzen lässt?«

»Ich bitte dich! Erstens tut er das nicht, denn es wäre eine Bankrotterklärung seiner pädagogischen Fähigkeiten, und zweitens … du kannst doch einfach so tun, als ob du ihn hättest hochnehmen wollen!«

Statt einer Antwort seufzte Yvonne tief.

Dr. Herbert Jung ließ sich Zeit mit dem Korrigieren der Aufsätze.

Helga lebte in ständiger Sorge, dass der umschwärmte Lehrer Yvonne tatsächlich einen schweren Verweis erteilen könnte. Yvonne dagegen, deren Optimismus mit dem hellen Tag wieder erwacht war, hoffte und wartete darauf, dass er sie beiseite nehmen und in einem privaten Gespräch auf ihr Geständnis eingehen würde.

Dann, an einem Montagmorgen – Deutsch war in der letzten Stunde –, betrat Tweedy mit dem Packen Aufsatzhefte die Klasse und legte sie schweigend auf den Lehrertisch. Er schien die Nervosität der Mädchen gar nicht zu bemerken und forderte sie ruhig auf, ihren »Faust« an der Stelle aufzuschlagen, wo sie das letzte Mal stehen geblieben waren.

Erst fünf Minuten vor Unterrichtsschluss warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und bat Babsy, die Hefte auszuteilen. Während sie von Tisch zu Tisch ging, erklärte Dr. Jung beiläufig: »Die Arbeiten sind im Großen und Ganzen recht nett ausgefallen. Ich bin zufrieden, meine Damen.«

Er hatte sämtliche Arbeiten nicht benotet.

Des Herzens unstillbare Sehnsucht

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