Читать книгу Da wir uns lieben - Marie Louise Fischer - Страница 4
ОглавлениеDer Schatten des Hauses wuchs in den Garten hinein, aber noch stand Sabine Miller im heißen Licht der gleißenden Augustsonne. Angetan mit weißen Jeans und einer langärmeligen blauen Leinenbluse, die sie vor den Dornen schützen sollte, war sie dabei, ihre Rosen zu pflegen. Über den Arm gehängt trug sie einen strohgeflochtenen Korb, in dem sich die weißen, roten und gelben Blüten häuften. Jetzt war sie bei ihren Lieblingen, den hochstämmigen Parkrosen, angelangt, die ein kleines Rondell am Ende des Rasens bildeten.
Mit Freude betrachtete sie die eben erst eröffnete Knospe einer Gloria Dei, den schmalen roten Rand um das sanfte Gelb des Innenblattes, kämpfte mit sich, ob sie eine andere, schon voll erblühte Rose abschneiden oder ihr noch einen Tag geben sollte, entschied sich dann aber doch für den Schnitt, der den jungen Blüten zugute kommen würde.
Sie ging weiter zu einem lachsroten Exemplar, zupfte behutsam zwei harte, verkrumpelte Außenblätter ab, runzelte die Stirn, als sie an einer noch winzigen Knospe Blattläuse entdeckte, und bestäubte das Ungeziefer. Sabine lächelte, als sie sich einen Kriegsrat der Blattläuse vorstellte, bei dem die Tierchen gegen die Menschen, insbesondere gegen Gärtner und gärtnernde Hausfrau, wetterten.
Sie wirkte sehr jung in diesem Augenblick, so jung, daß ihr niemand ihre vier Kinder und ihre neununddreißig Jahre angesehen hätte. Das glatte blonde Haar, dessen Tönung sie mit einem Aufheller nachzuhelfen pflegte, fiel ihr in die gebräunte Stirn, und ihre Lippen waren voll und rot. Ihre Figur war zwar nicht mehr mädchenhaft, aber immer noch schlank genug, um attraktiv zu sein. Ihre Bewegungen waren anmutig und sicher. Ohne sich dessen bewußt zu sein, summte sie vor sich hin. Sie genoß diese stillen Stunden im Garten, die für sie immer noch nicht alltäglich, sondern wie ein kleines Wunder waren. Erst vor knapp drei Jahren war sie mit ihrer Familie in das Eigenheim am Stadtrand übergesiedelt. Vorher hatten Millers im Zentrum der Kleinstadt gelebt; dort hatte Sabine sich nicht einmal einen Blumenkasten halten können. Aber wo hätte sie damals auch die Zeit hernehmen sollen, sich um einen Garten zu kümmern? Sie hatte schuften und scharren müssen, um ihren Mann und die Kinder anständig zu versorgen und zu kleiden. Erst jetzt, da die drei Großen sie kaum noch belasteten, durfte sie aufatmen. Das jedenfalls versuchte sie sich einzureden, um so den feinen, aber ständigen Schmerz, den ihr das Entwachsen der Kinder verursachte, zu überspielen.
Während Sabine einen Trieb am Stamm der Parkrose entfernte, dachte sie an Torsten, ihren Ältesten – es verging kein Tag, ja, keine Stunde, ohne daß sich ihre Gedanken mit ihm beschäftigten. Mit zwanzig Jahren hatte Torsten seine Familie und die Kleinstadt verlassen und war in jenen Stadtteil Münchens gezogen, der auf junge Leute seines Alters und seiner Art immer noch genug Faszination ausübte: Schwabing. Künstler nannte er sich. Sabine konnte sich nicht vorstellen, wovon er lebte; solange er in Riesberg war, hatte er nie eine von seinen verrückten Klecksereien verkaufen können. Sabine hatten sie zwar gefallen, aber sie wußte, daß ihr Urteil nicht objektiv war; sie schätzte alles, was ihre Kinder taten. Möglich, daß man in München Verständnis für Torstens Kunst hatte – aber gerade in dieser Stadt gab es bestimmt begabte junge Menschen wie Sand am Meer.
Gedankenverloren knipste Sabine einen abgeknickten Rosenzweig ab. Immer wieder versuchte sie, mit Vemunftgründen gegen ihre mütterliche Sehnsucht anzugehen. Es war friedlicher zu Hause geworden, seit Torsten fort war; der dauernde Streit zwischen Vater und Sohn hatte ein Ende genommen. Der Junge war alt genug, um sich allein durchs Leben zu schlagen, ja, vielleicht tat es ihm sogar ganz gut, nicht mehr behütet, beschützt und bevormundet zu werden. Aber das änderte nichts daran, daß er ihr fehlte. Liebend gern hätte sie in München einmal nach dem Rechten gesehen. Aber ihr Mann war dagegen, und hinter seinem Rücken mochte sie nichts unternehmen. Sie hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil sie Torsten finanziell unterstützte. Sie wußte, daß sie sich das eigentlich gar nicht leisten konnte; schließlich mußte die ganze Familie sparen, um die Hypothekenzinsen aufzubringen, am Haus waren immer wieder Reparaturen fällig, und ihr geliebter Garten verschlang ebenfalls genug Geld. Es war ungerecht, daß sie die anderen mit Suppen verköstigte, abgestoßene Hemdkragen wendete und Bettlaken flickte, nur um Geld für Torsten zu erübrigen. Aber konnte sie ihn denn einfach verhungern lassen?
Der Schatten hatte jetzt die Parkrosen erreicht. Sabine nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen waren sehr blau, von einem Kranz winziger Fältchen umgeben. »Sven!« rief sie. »Sven!« Der magere Junge, der sich hinter den abgeernteten Johannisbeerbüschen zusammengerollt hatte, rührte sich nicht. Als die Mutter noch einmal rief, drückte er sich sogar mit den Zeigefingern die Ohren zu, um sich ungestört weiter in sein Schmökerheftchen vertiefen zu können.
Das Fenster unter dem spitzen Giebel des Hauses wurde geöffnet, und Knut steckte den Kopf heraus. »He, Bienchen, was ist?« rief er liebevoll-respektlos zu seiner Mutter hinunter. »Brauchst du Hilfe?«
»O ja, bitte!« Sabine wurde es bewußt, daß die Nachbarn bei dieser Lautstärke jedes Wort mithören konnten. Sie dämpfte ihre Stimme, weil sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich selbst über unnötigen Krach in dieser hellhörigen Wohngegend zu ärgern pflegte. »Würdest du, bitte, den Rasensprenger hierher …«
»Ich kann dich nicht verstehen«, schrie Knut unbekümmert zurück. »Aber ich komme runter!« Wenig später betrat er von der kleinen Loggia her den Garten, der Mutter sehr ähnlich, blauäugig und blond, kaum größer als sie und so muskulös, daß er untersetzt wirkte.
»Stellst du mir, bitte, den Rasensprenger auf?« bat Sabine.
»Na, dann wollen wir mal nicht so sein«, erklärte Knut gönnerhaft, »obwohl ich eigentlich nicht einsehe, wieso Sven sich vor jeder Arbeit drücken darf. Als ich in seinem Alter war …«
»… hatten wir noch kein Haus und keinen Garten«, fiel seine Mutter ihm ins Wort und lächelte ihm beschwichtigend zu. »Sei friedlich, Knut. Schließlich hat Sven Ferien!«
»Ich etwa nicht?«
»Doch. Aber du bist ein großer Junge, der schon begriffen hat, daß man nicht immer nur das tun kann, wozu man Lust hat.«
Knut grinste. »Das war anscheinend ein Fehler von mir.« Er begann den Schlauch aufzurollen.
Sabine klopfte sich mit dem Bügel ihrer Sonnenbrille gegen die Zähne. »Vielleicht hast du sogar recht. Je mehr man kann und je mehr man tut, desto mehr wird einem aufgebürdet.«
»Und so kommt es, daß ich in meinen Semesterferien nicht nur an der Klinik praktizieren, sondern auch Rasensprenger aufstellen muß«, ergänzte Knut mit Grabesstimme.
Sabine machte ihn nicht darauf aufmerksam, daß er sich selbst erboten hatte, ihr zu helfen. Sie kannte seine Art schon. Er genoß es ebenso, gebeten zu werden, wie sie zu beklagen. »Wenn ich wüßte, wo Sven steckt, hätte ich ihn schon rangekriegt«, sagte sie nur.
»Das weißt du also nicht?«
»Nein. Vorhin war er noch hier, und jetzt …«
Knut drehte den Wasserhahn auf, an den der Schlauch angeschlossen war.
Sabine unterbrach sich. »Aber, Knut … du mußt doch erst den Sprenger …«
Knut ließ den Strahl in die Höhe steigen, so daß er einen hohen Bogen beschrieb, um dann hinter den Johannisbeerbüschen niederzupladdem. Sven, den die kalte Dusche auf den Kopf und den nackten, braungebrannten Rücken getroffen hatte, sprang hoch. Knut verfolgte ihn mit dem Wasserstrahl. »Nanu, wen haben wir denn da?« spottete er.
»Das ist nicht fair!« Sven bemühte sich, sein Heftchen in Sicherheit zu bringen. »Mutti, sieh doch, was er tut! Sag ihm, er soll das lassen … Mutti, Mutti!«
»Knut, bitte, hör auf damit!«
Knut lachte. »Eine kalte Dusche ist genau das, was dem Kleinen gefehlt hat!«
Sven änderte seine Taktik. Er warf sein Heft in hohem Bogen in die Loggia und begann unter dem Strahl herumzutanzen. »Ja, prima, genau richtig!« rief er. »Mach mit, Bienchen, du ahnst nicht, wie gut das tut!«
»Ihr beiden Quatschköpfe!« sagte Sabine liebevoll. »Hört endlich auf mit dem Unsinn.« Sie stellte den Korb mit den Rosenblüten ab und drehte den Wasserhahn zu. »So, jetzt schließ den Sprenger an. Sven, hilf Knut!«
Die Brüder schraubten das kleine Gerät an das Ende des Schlauches, Sabine drehte den Hahn wieder auf, und der Sprenger begann sich rhythmisch zu drehen. Er breitete Kaskaden von Wassertropfen aus und zauberte gleichzeitig den trügerischen Anschein sorglosen Wohlstands. Sven sprang noch ein paarmal durch den künstlichen Sprühregen, ein magerer, dunkeläugiger, schwarzhaariger Junge, zu dem der nordische Name nicht recht passen wollte. Als Säugling war er blond gewesen wie seine Brüder, und als es sich später herausstellte, daß er sich zu einem Zigeunertyp entwickeln würde, hatte die Familie sich schon so an den Namen gewöhnt, daß niemand daran dachte, ihn mit seinem zweiten Vornamen, Wolfgang, zu rufen.
Sabine spürte selbst, daß ihr das Lächeln, mit dem sie ihm zusah, zu mutterstolz geriet; damit konnte sie ihrem Befehl gewiß nicht den nötigen Nachdruck verleihen.
Erst als Knut ihn beim Genick gepackt und durchgeschüttelt hatte, verzog der Junge sich ins Haus, um sich eine trockene Hose anzuziehen. »Du läßt dir von dem Kleinen auf der Nase herumtanzen«, konstatierte Knut.
»Ich weiß, daß ich euch gegenüber strenger war«, gab Sabine zu, »aber hat es etwas genutzt? Torsten gammelt … und Ilona treibt sich mit einem Playboy herum.«
Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Um mich brauchst du dir wenigstens keine Sorgen zu machen, Bienchen!«
»Nein. Aber ich halte es nicht meiner Erziehung zugute. Du bist nun mal ein … ein gesetzter Charakter.«
»Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«
»Ach so!« Jetzt lachte sie ihn aus. »Du angelst nach Komplimenten! Ja, hättest du mir das gleich gesagt!« Sie gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange. »Aber halte mich jetzt, bitte, nicht länger auf, ich bin mit meinen Rosen noch nicht fertig. Wenn du dich mit mir unterhalten willst, kannst du mich ja begleiten.«
»Mußt du denn nicht in die Küche?«
Sabine schüttelte den Kopf. »Vati hat angerufen. Er kommt heute etwas später.«
»Verdammt. Und ich wollte schwimmen fahren.«
»Kannst du doch! Mach dir einfach ein Butterbrot.«
»Aber ich brauche den Wagen. Ich kann doch nicht bei der Affenhitze bis zum See radeln. Und außerdem, wie sieht das aus?«
Sabine hatte Knut die Sprühdose in die Hand gedrückt und sich wieder den Rosen zugewandt. »Ich verstehe«, sagte sie ohne Spott, »du mußt an dein Image denken.«
»Na eben.« Knut hatte eine Laus entdeckt und ließ eine Dosis des tödlichen Pulvers auf sie niederrieseln. »Wenn ich nun warte … meinst du, daß er ihn mir wenigstens leihen wird?«
»Du hast ihn das ganze Wochenende über gehabt.«
»Na und? Andere haben schon längst ein eigenes Vehikel.«
»Wenn es das ist, was du möchtest, hättest du eben nicht Medizin studieren dürfen … und dir andere Eltern aussuchen müssen!« Sabine ließ eine voll aufgeblühte Rose in ihren Korb fallen. »Das wär’s. Fertig. Dank dir für deine Hilfe, Knut.«
Sie hoben beide gleichzeitig den Kopf, als ein Auto vorfuhr. »Das ist Vater!« sagte Sabine.
Knut widersprach. »Schlechtes Gehör, Bienchen. Wenn du mich fragst … es ist ein Porsche!«
»Oswald Zinner!«
»Richtig. Falls sich Ilona nicht einen anderen Verehrer mit Porsche zugelegt hat!«
»So unternehmungslustig ist sie nun doch wieder nicht.«
»Sag lieber: soviel Porsches mit Besitzern, die für sie in Frage kämen, gibt es nicht in Riesberg und Umgebung.«
»Du bist zynisch, Knut!«
»Ja, so nennt man es gern, wenn jemand das beim Namen nennt, was andere tun! Mal sehen, ob er mich mitnehmen kann!« Knut ließ die Mutter stehen und lief um das Haus zum Vorgarten.
Sabine brachte die Giftdose auf dem obersten Brett des kleinen Geräteschuppens, der sich an die Seitenwand des Hauses lehnte, in Sicherheit und legte die Rosenschere dazu. Als sie wieder herauskam, stürmte Ilona in den Garten, ein langbeiniges, schlankes Mädchen. Vom Vater hatte sie das schwarze Haar geerbt, das ihr in einer langen Mähne bis auf den Rücken hinunter lief, von der Mutter die sehr blauen Augen: Attribute, die sie, noch betont von einem geschickten Make-up, zu einer auffallenden Erscheinung machten.
»Hallo, Bienchen!« rief sie. »Wieder mal bei deinen geliebten Läuschen?« Sie faßte die Mutter um die Taille und drückte ihr einen herzlichen Kuß auf die Wange. »Oswald hat mich nach Hause gebracht.«
»Ich hab’s gehört«, sagte Sabine mit einem bewußten Unterton von Mißbilligung.
Ilona ließ sich nicht die Laune verderben; sie lachte mit blitzenden Zähnen. »Ich will mich nur schnell frisch machen, dann bin ich schon auf und davon. Du brauchst zum Abendbrot nicht mit mir zu rechnen.«
Es kostete Sabine Anstrengung, eine Frage zu unterdrücken. »Schon gut«, sagte sie nur.
Ilona eilte dem Haus zu. »Ich muß mich beeilen, Oswald wartet nicht gern.« Vor der Loggia drehte sie sich noch einmal um. »Übrigens … daß ich es nicht vergesse … wir haben uns verlobt!«
Diese unerwartete Mitteilung gab Sabine einen Schlag aufs Herz; sie wußte selbst nicht, was sie in dieser Sekunde empfand: Erleichterung, Freude, Unglauben, Mißtrauen oder sogar eine Spur von Neid.
»Was sagst du da?« fragte sie und kam sich töricht vor.
Ilona lachte. »Daß Oswald und ich uns verlobt haben. Du hast schon ganz richtig gehört!«
»Also das ist ja …« Sabine suchte nach den passenden Worten »… ein … toller Gag! Und den verpaßt du mir so zwischen Tür und Angel?«
»Na, gerade deshalb. Damit ihr nicht so ein widerliches Trara darum macht.«
Sabine war ihrer Tochter nicht böse, nur ein bißchen befremdet. Trotzdem wurde sie durch die lieblose Ausdrucksweise verletzt. »Meinst du nicht, daß du es wenigstens auch Vater sagen müßtest?« fragte sie.
»Aber sicher. Ich bin ja schon auf dem Weg zu ihm.«
»Er kommt heute etwas später.«
»Pech für ihn.« Ilona wirbelte davon.
»Ilona!«
Das junge Mädchen blieb stehen und wendete sich mit theatralischer Gequältheit um. »Was denn noch?«
»Wenn ich dich nun bitte, zu warten, bis Vati nach Hause kommt? Es kann bestimmt nicht mehr sehr lange dauern.«
»Aber wir haben was vor«, maulte Ilona. Mit mürrisch vorgeschobener Unterlippe sah sie mindestens so anziehend aus, wie wenn sie lachte. Sabine beobachtete sie stolz, bewundernd und doch auch mit einem kleinen Stich Eifersucht. Schon als Ilona noch ein Kind gewesen war, hatte sie oft das Empfinden gehabt, daß die eigene blonde Hübschheit neben der rassigen Schönheit ihrer Tochter verblaßte, ein Eindruck, der sich, als Ilona zur Frau heranwuchs, noch verstärkt hatte.
»Das habt ihr immer!« sagte sie gezwungen. »Aber ich meine, deine Verlobung ist doch wichtig genug, eure Pläne einmal umzuwerfen. Du kennst Vati, du weißt, wie empfindlich er ist. Du solltest wenigstens so viel Rücksicht auf ihn nehmen, ihm persönlich Bescheid zu sagen.«
Ilona zuckte die Schultern. »Okay. Wenn du darauf bestehst.«
»Ja, das tue ich. Und hol deinen jungen Mann herein. Ich habe es nicht so gern, wenn er die ganze Nachbarschaft zusammenhupt.«
Ilona wollte ihren Freund verteidigen, aber in diesem Augenblick erklang wirklich Oswald Zinners verbotenes Dreiklangsignal. »Dieser Irre«, schimpfte sie vergnügt und rannte um das Haus herum, den gleichen Weg, den ihr Bruder vor wenigen Minuten genommen hatte.
Sabine benutzte die Gelegenheit, ihre Rosen auf den Komposthaufen zu werfen, der hinter den Beerensträuchern im äußersten Winkel des Gartens angelegt war. Gern hätte sie einen Blick in den Spiegel geworfen, aber es wäre ja albern gewesen; sich für Oswald Zinner schön machen zu wollen. Dem jungen Millionärssohn würde nichts gleichgültiger sein als das Aussehen seiner künftigen Schwiegermutter. Zweifellos hatte er sich nicht mit Ilona verlobt, weil sie aus einer anständigen Familie, sondern, obwohl sie aus kleinen Verhältnissen stammte, sehr attraktiv war. Sabine hätte gern gewußt, wie Ilona ihn dazu gebracht hatte. Aber sie sah ein, sie würde es nie erfahren. Es gab Dinge, über die sie mit ihrer Tochter nicht sprechen konnte.
Sabine hatte gerade ihren Korb ausgeschüttet und kam wieder hinter den Sträuchern hervor, als die jungen Leute lachend und schwatzend um die Hausecke trotteten, Wieder einmal stellte sie mit leiser Befriedigung fest, daß Oswald Zinner junior durchaus keine attraktive Erscheinung war – mit ihrem eigenen Mann, mit Arnold Miller, wie er in jungen Jahren gewesen war, konnte er sich jedenfalls nicht messen. Er hatte rotblondes Haar und ein Babygesicht, das selbst unter stärkster Sonneneinwirkung nie braun, sondern höchstens rot und sommersprossig wurde. Noch war seine Figur sportlich trainiert, aber schon wurde der Ansatz eines Bäuchleins sichtbar, das sich später, wenn er nicht mehr so viel für sich tun konnte, sondern ernsthaft würde arbeiten müssen, noch mehr ausprägen würde. Aber er war sympathisch und intelligent und, zusammen mit den Millionen seines Vaters, die begehrteste Partie von Riesberg und Umgebung, ja möglicherweise von ganz Oberbayern.
»Gnädige Frau …« Er beugte sich über Sabines Hand.
Sabine ärgerte sich, weil sie sich in Gegenwart des Goldjungen leicht befangen fühlte. »Ich freue mich, daß Sie beide ernst machen wollen.«
Er lächelte sie an. »Nun, was mich betrifft, so habe ich vor – trotz Verlobung und allem Drum und Dran –, den Ernst des Lebens nicht so bald an mich herantreten zu lassen.«
»Was dir mit Hilfe eines gewissen Banknotenpolsters«, bemerkte Knut mit spürbarem Neid, »wohl auch gelingen wird.«
»Um Gottes willen, macht bloß keine Staatsaktion draus!« rief Ilona. »Wenn wir nicht in so einem Käsekaff leben würden, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, mich zu verloben.«
»Ich schon«, behauptete Oswald Zinner, und zauste zärtlich ihr Haar, »allein aus Angst, daß jemand dich mir vor der Nase wegschnappen könnte.«
»Sie werden doch bleiben, bis mein Mann nach Hause kommt?« fragte Sabine.
Oswald Zinner sah Ilona an. »Tja, ich weiß nicht, eigentlich wollten wir …«
»Wir geben Vati ’ne halbe Stunde«, sagte Ilona obenhin, »wenn er es bis dahin nicht schafft, hat er Pech gehabt.«
»Sehr richtig«, stimmte Knut zu, »ich habe auch keine Lust, den ganzen Abend hier zu vertrödeln.« Er legte die Hand auf die Schulter seines zukünftigen Schwagers. »Komm mit ins Haus, Oswald! Wollen sehn, ob wir was Trinkbares auftreiben können.« Sie schlenderten auf das Haus zu. Erst im letzten Moment fiel es Knut ein, sich zu Sabine umzudrehen und zu fragen: »Wir dürfen doch, Bienchen?« Sie nickte nur, weil sie einen Kloß im Hals spürte. »Soll ich dir auch was mixen?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
Sie verschwanden durch die Loggia ins Haus, und Sabine war es, als lösten sie sich aus ihrem Leben. Natürlich hatte sie gewußt, daß Ilona sich eines Tages an einen Mann binden würde, wenn sie auch nicht damit gerechnet hatte, daß es Oswald Zinner junior sein werde. War sie auf das Glück ihrer Tochter eifersüchtig? Nein, bestimmt nicht. Aber sie sah voraus, daß diese Ehe einen viel entscheidenderen Schritt bedeuten würde, als wenn Ilona sich in einen Mann aus ihren Kreisen verliebt hätte. Jetzt, mit dem Geld der Zinners, würde ihr die eigene Familie bald nichts mehr bedeuten. Gewiß, sie würde sich nicht ihrer Herkunft schämen, dazu war sie zu klug, aber es würde sie bald nichts mehr in die Schleiermacherstraße ziehen. Was konnten sie ihr noch geben, was sie nicht von ihren Schwiegereltern im Übermaß erhielt? Sabine machte sich nichts vor; bald würde Ilona nur noch ein seltener Gast sein.
Sie ließ sich auf die Bank am Gartenzaun sinken und legte die Hände in den Schoß. Sie hoffte nur, daß Arnold die Entwicklung der Dinge nicht so klar voraussehen würde wie sie selbst. Für ihn mußte der Abschied von Ilona einen noch viel stärkeren Schmerz bedeuten als für sie – höchstens vergleichbar mit dem Kummer, den sie um Torsten empfand. Wie selbstverständlich Knut sich den beiden angeschlossen hatte! Zweifellos war es nicht die Persönlichkeit des Schwagers, die ihn so anzog, sondern sein Geld und seine Beziehungen, von denen er selbst zu profitieren hoffte. Sabine mochte ihn deswegen nicht verurteilen; seine Reaktion war im Grunde ganz natürlich. Den Traum von Reichtum, von Glück und Sorglosigkeit, wer träumte den nicht? Und wer würde nicht versuchen, einen Zipfel davon zu schnappen und festzuhalten, wenn sich ihm die Chance bot?
Sabine sah sich in ihrem Garten um und entdeckte zum erstenmal, daß auch er ein Teil dieses Traumes war. Er war nicht groß, knappe eintausendfünfhundert Quadratmeter, und doch hatte sie ihn, zuwischen den Nutzgärten der Nachbarhäuser, angelegt wie einen Park. Träumte sie sich, wenn sie ihre Rosen pflegte, nicht in die Rolle einer Schloßherrin? Ach was! Sabine schüttelte energisch den Kopf. Das war doch Unsinn. Sie vergaß keinen Augenblick, wer und was sie war, die Frau des Prokuristen Arnold Miller, und wenn sie den Garten möglichst hübsch angelegt hatte, so sprach das doch keineswegs gegen ihren Sinn für Realität, sondern höchstens für ihr Bedürfnis nach Schönheit.
Sie wollte aufstehen, als Frau Zibalsky, ihre Nachbarin zur Linken, sie über den Zaun hinweg grüßte. Sabine grüßte freundlich zurück und verzichtete darauf, ins Haus zu eilen, weil sie aus Erfahrung wußte, daß es keine Möglichkeit gab, der nachbarlichen Neugier zu entfliehen. »Sie haben Besuch?« fragte die Zibalsky; ihr spitzes, zerknittertes Gesicht wirkte eulenhaft unter der riesigen dunklen Sonnenbrille.
»Ja«, sagte Sabine zurückhaltend.
»Der junge Zinner?« Sabine nickte. »Er ist in letzter Zeit ziemlich oft mit Ihrer Tochter zusammen, nicht wahr? Vielleicht merken Sie das gar nicht so! Er hält meistens an der Ecke und läßt sie dort schon aussteigen.«
»Das habe ich wirklich nicht gewußt«, gab Sabine zu.
»Deshalb sage ich es Ihnen ja. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Die jungen Leute sind so … so leichtfertig geworden. Ganz anders als zu unserer Zeit. Ich bin direkt froh, daß wir keine Kinder haben. Das sage ich meinem Mann immer wieder. Ich hätte einfach nicht die Nerven. Was da alles passieren kann … Besonders bei einem Mädchen!«
Sabine wartete, bis der Redefluß der Nachbarin ins Stocken kam. Dann sagte sie, so beiläufig wie eben möglich: »Ilona und der junge Zinner haben sich verlobt.«
Frau Zibalskys schmaler Mund verzerrte sich. »Das ist das erste, was ich höre! In der Zeitung hat es jedenfalls noch nicht gestanden … oder doch?«
»Nein. Und ich bin auch nicht sicher, daß sie es veröffentlichen werden. Man denkt über so etwas ja heutzutage anders. Jedenfalls haben sie sich entschlossen, zu heiraten.« Sabine erhob sich jetzt doch.
»Wie reizend!« Die Stimme der Zibalsky überschlug sich. »Aber da kann man ja gratulieren!«
»Ja, das kann man.«
»Und wann soll die Hochzeit stattfinden?«
»Ich werde Sie’s bestimmt wissen lassen, sobald der Termin feststeht!« Sabine ging auf das Haus zu und dachte, daß Ilonas Verlobung wenigstens das Gute gehabt hatte, daß sie der Zibalsky eins hatte auswischen können. Sie lächelte in sich hinein wie nach einem gelungenen Streich. Und Arnold würde beruhigt sein. Sie wußte, wie sehr er unter der Angst gelitten hatte, seine Tochter könne durch ihre Beziehungen zu Oswald Zinner unter die Räder kommen. Nun, da sie verlobt waren, schien diese Gefahr ja gebannt. Wieso eigentlich? Machte eine Verlobung wirklich solchen Unterschied? Sabine schob diese Überlegung von sich. Es war nicht ihre Aufgabe, Fragen allgemeiner Moral zu lösen. Sie mußte zufrieden sein, wenn es ihr und den Ihren gelang, die Strudel und Klippen des Lebens erfolgreich zu umschiffen.
Arnold Miller brauste am Steuer seines Opel Kadett mit hundertvierzig Sachen den Irschenberg hinunter. Der Fahrtwind riß die Klänge der Unterhaltungsmusik von »Bayern 3« fort, noch ehe sie sein Ohr erreichten. Er hätte laut hinausschreien mögen vor Glück. Sein Herz war erfüllt von einem jugendlichen Überschwang, wie er ihn seit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte und der jetzt fast drohte, ihm die Brust zu sprengen.
»Ich hab’s, ich hab’s, ich hab’s«, sang es in ihm, »ich bin’s, ich bin’s, ich bin’s … ich bin der Sieger.«
Die ganze Strecke von München her war er auf der linken Seite gerast, hatte schwere und stärkere Wagen spielend überholt und sich mit Blinken und Hupen freie Bahn geschaffen. Jetzt, da die Autobahn sich in drei Fahrspuren geteilt hatte, steigerte sich seine Siegeslaune noch. Ein roter Mercedes wich vor ihm auf die mittlere Fahrbahn aus. Mit Schwung brauste Arnold Miller um die Kurve und – sah alle drei Fahrbahnen vor sich blockiert. Eine Limousine überholte langsam ein fast gleichstarkes Coupé, während die Bahn rechts außen von einem Möbelwagen benutzt wurde. In der Schrecksekunde nahm Arnold Miller das Bild in sich auf. Dann trat er auf die Bremse, so heftig, daß der Opel ins Schleudern geriet und sich um die eigene Achse drehte. Der Mercedes, jetzt hinter ihm, wich nach rechts aus und kam haarscharf an ihm vorbei.
Knapp vor dem Aufprall brachte Arnold Miller seinen Wagen wieder in die Gewalt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Brillengläser hatten sich beschlagen. Die Arme zitterten. Er schlug das Steuer nach rechts ein, setzte sich hinter den Mercedes, verlangsamte das Tempo noch mehr und schlich auf der rechten Fahrspur hinter dem Möbelwagen her. Verdammt, das war gerade noch mal gutgegangen. Hundertmal war er diese Strecke schon gefahren, und gerade heute mußte ihm so etwas passieren.
Seine Siegesstimmung war wie weggeblasen und machte einer schmerzhaften Ernüchterung Platz. Was war schon passiert? Er hatte im Lotto gewonnen. Das würde auch nichts an seinem Leben ändern. Kein Grund, sich etwas darauf einzubilden. Seinem Chef konnte er damit bestimmt nicht imponieren. Für den waren fünfzigtausend ein Pappenstiel. Ganz davon abgesehen, daß ihm nur die Hälfte davon gehörte, die andere stand seinem alten Freund und Mitspieler Rudolf Kienzel zu. Er hatte das Geld natürlich nicht in der Brieftasche, sondern die gesamten fünfzigtausend Mark erst mal auf sein eigenes Gehaltskonto überweisen lassen, davon würde ihm die Hälfte bleiben – fünfundzwanzig Mille steuerfrei, das war immer noch ganz schön, aber doch kein Anlaß, verrückt zu spielen. Was war bloß in ihn gefahren? Der Schnaps, den er bei der Lottoannahmestelle spendiert hatte? Ausgeschlossen, er konnte doch Alkohol vertragen, und er hatte ja nur ein Glas getrunken. Es konnte nur der Erfolg gewesen sein, der ihn umgeworfen hatte. Aber war ein Lottogewinn überhaupt ein wirklicher Erfolg?
Arnold Millers Handflächen waren feucht. Er wischte sie, eine nach der anderen, an der Hose ab. Verdammte Hitze. Zu allem Überfluß war die mittlere Fahrbahn jetzt auch noch laufend besetzt, und er hing hoffnungslos hinter dem Riesenkübel von Möbelwagen. Na wenn schon, er hatte ja Zeit. Niemand erwartete ihn. Sabine wußte, daß er heute später kommen würde. Die würde Augen machen, wenn er ihr die fünfundzwanzig Mille auf den Tisch des Hauses blättern würde! Komisch eigentlich, daß er ihr noch nichts davon erzählt hatte. Früher, ja, da hatte es Zeiten gegeben, wo er nicht die geringste Kleinigkeit auch nur fünf Minuten vor ihr hätte zurückhalten können. Inzwischen war so etwas wie das große Schweigen zwischen ihnen ausgebrochen. Wieso eigentlich? Jedenfalls kein Grund zur Beunruhigung, wenn man mehr als. zwanzig Jahre miteinander verheiratet ist.
Außerdem hatte er es ihr ja gesagt. Als am Samstag abend die Zahlen gezogen wurden, hätte er es gar nicht für sich behalten können. Er war ins Schlafzimmer gestürzt und hatte gerufen: »Du, Biene, stell dir vor, wir haben gewonnen!« Sie hatte in ihrem hellblauen Nachthemd auf der Bettkante gesessen und sich die Füße massiert. »Na, wunderbar«, hatte sie gesagt, freundlich, aber ganz und gar nicht beeindruckt, einfach so obenhin, ohne jedes Interesse. Plötzlich hatte er keine Lust gehabt, ihr mehr zu erzählen. Sie schien gemerkt zu haben, daß sie ihn verletzt hatte. »Gratuliere«, hatte sie mit gewollter Heiterkeit hinzugefügt. Aber der große Moment war schon verpatzt. »Mal sehen, was dabei herausspringt«, hatte er gemurmelt und war ins Wohnzimmer zurückgekehrt, um sich den Samstagabendkrimi anzusehen.
Natürlich konnte man es Sabine nicht übelnehmen. In all den vergangenen Jahren hatten Rudolf und er immer nur Minimalgewinne erzielt; der höchste hatte hundertfünfundsiebzig Mark betragen. Also nahm sie an, daß diesmal auch nicht mehr dabei herauskommen würde. Als er ihre Skepsis spürte, waren ihm selbst Bedenken gekommen. Fünf von sechs richtig – was war das schon? Womöglich mußte er den zweiten Platz mit Tausenden teilen.
Am Montag hatte er dann in der Mittagspause von der Telefonzelle aus seine Lottoannahmestelle angerufen – Rudolf und er spielten prinzipiell nicht in Riesberg, denn wenn sie einen Gewinn machten, wollten sie sich darüber freuen, ohne von der halben Stadt angepumpt zu werden. Am Montag also hatte er es erfahren – wäre es nicht natürlich gewesen, es jetzt Sabine mitzuteilen? Warum hatte er es nicht getan? Er wußte es selbst nicht. Vielleicht hatte er immer noch gefürchtet, daß eine Verwechslung vorläge, hatte Angst gehabt, sich vor seiner Familie zu blamieren. Vielleicht hatte er auch geglaubt, mit den blauen Scheinchen einen größeren Eindruck machen zu können, als wenn er nur davon erzählte. Vielleicht auch war er sich selbst nicht ganz sicher gewesen, ob er es seiner Familie überhaupt mitteilen sollte. Diese Erkenntnis kam ihm erst jetzt und war für ihn eine echte Überraschung.
Wollte er den Gewinn etwa für sich behalten? Natürlich nicht. Was für eine Idee! Dennoch tat die Vorstellung weh, wie alle ihm das Geld aus den Händen reißen würden: Sabine für Torsten – sie ahnte wahrscheinlich nicht, daß er von ihren heimlichen Überweisungen wußte, Knut für ein eigenes Auto, Ilona, um ihrem Playboy imponieren zu können, und Sven – kein Zweifel, auch Sven würde schon eine Verwendungsmöglichkeit für ein paar Tausender einfallen.
Eines stand fest: wenn er das Geld hergab, würde es in kürzester Zeit verbraten sein. Keiner von ihnen konnte ja mit Geld umgehen, mit dieser Tatsache hatte er sich längst abfinden müssen. Kam es daher, daß die Kaspareks, die Familie seiner Frau, immer schon einen etwas leichtfertigen Zug gehabt hatten, den seine Kinder geerbt haben mochten? Oder lag es einfach an dieser Zeit, in der sich jeder einbildete, alles haben zu müssen, und keiner mehr bereit war, zu sparen und sich einzuschränken?
Egal, woher es kam, das Geld zerrann ihnen unter den Fingern. Schließlich verdiente er gut, mehr als zweitausend Mark im Monat und ein dreizehntes Gehalt – über doppelt so viel wie sein Vater in seinem Alter und trotzdem kam Sabine nie aus. Immer jammerte sie ihm etwas von steigenden Preisen vor. Das stimmte zwar in gewisser Weise, aber doch nicht in dem Maße, wie sie behauptete. Wenn die Dinge zu teuer wurden, mußte man eben auf billigere Angebote zurückgreifen. Aber das eben verstand Sabine nicht, und die anderen genausowenig.
Er hatte schon daran gedacht, seinen Anteil am Lottogewinn gerecht zu verteilen: sich fünftausend Mark zu nehmen, die übrigen zwanzigtausend unter fünf geteilt – das ergab auch noch viertausend für jeden. Sie würden jubeln, so viel war sicher. Aber letzten Endes würde es doch hinausgesehmissenes Geld sein, so schnell würden sie damit fertigwerden. Er täte ihnen nichts Gutes damit. Nein, auch wenn dieser Gewinn sozusagen ein Geschenk des Himmels war; er war dafür verantwortlich, daß er richtig und nutzbringend angewendet wurde. Zum Beispiel, um die Bankhypothek, die auf dem Haus lastete, abzutragen; die Bausparkassenhypothek mit dem niedrigen Zinssatz war nur halb so belastend.
Andererseits: das Geld verlor von Jahr zu Jahr an Wert. Für ihn bedeutete das, daß die Hypothek, die er hatte aufnehmen müssen, immer billiger werden würde. Also wäre es ein Unsinn, sie so rasch wie möglich abzutragen. Vielleicht würde es besser sein, die fünfundzwanzigtausend Mark als festes Darlehen zu verleihen, um so von den Zinsen, die er selbst einnahm, die Hypothekenzinsen zu tilgen und selbst noch ein paar Pfennige übrig behalten zu können. Dies alles mußte mit Ruhe überlegt und durchgerechnet werden – und woher Ruhe nehmen, wenn seine Familie eingeweiht war? Da er schon so lange geschwiegen hatte, war es das richtige, auch weiterhin den Mund zu halten.
Natürlich nicht Rudolf Kienzel gegenüber. Den mußte er sofort benachrichtigen. Noch heute. Damit war keine Zeit zu verlieren, denn inzwischen war es schon Dienstag geworden. Er mußte ihm sofort nach Teneriffa telegrafieren. Glücklicher Rudolf! Der brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, wie er sein Geld anlegen würde – der konnte es ungestraft ausgeben, wie es ihm zugeflogen war. Das war der Vorteil, wenn man keine Familie hatte, keinen Menschen, für den man verantwortlich war, außer sich selbst.
Nur jemand wie Rudolf Kienzel konnte sich erlauben, seinen Urlaub auf Teneriffa zu verbringen. Für ihn, Arnold Miller, wäre das nicht einmal dann in Frage gekommen, wenn er ganz allein hätte fliegen wollen, ganz davon abgesehen, daß er Sabine nicht einfach abhängen konnte. Rudolf war schon zu beneiden, auch deswegen, weil er sein eigener Herr war. Seine Schreibwarenhandlung war zwar nicht gerade eine Goldgrube, aber sie warf genug ab für ein sorgloses Junggesellenleben. Und er brauchte sich von niemendem hereinreden zu lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte man in Riesberg über Rudolf gewitzelt. Das war vor zehn Jahren gewesen, als ihm seine Frau, die lebenslustige hübsche Susanne, davongelaufen war. Schuldlos geschieden – das war nun einmal keine Empfehlung für männliche Qualitäten. Aber Rudolf hatte sich nichts aus dem Gespött gemacht, und allmählich war es verstummt. Im Grunde genommen konnte er nur froh sein, daß er Susanne los war, das war gar keine Frage. Sie war schon ein recht fleißiges Lieschen gewesen, immer noch Zielscheibe zahlreicher Stammtischwitze, natürlich nur in Abwesenheit des Exgatten, so taktvoll waren die Herren denn doch.
Arnold Miller hatte das Inntaldreieck schon passiert, als die Schlagermusik jäh verstummte und das musikalische Zitat von »Bayern 3« ertönte. »Wir unterbrechen für einen Reiseruf«, meldete sich eine sympathische weibliche Stimme. »Herr Egon Kasparek aus Riesberg, zur Zeit unterwegs in Oberbayem in einem hellblauen VW Variant, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sofort nach Hause zu kommen …«
Miller war so in seine eigenen Gedanken versponnen, daß er erst bei der zweiten Durchsage aufmerksam wurde. Er erschrak, stellte das Autoradio lauter, aber inzwischen hatte sich schon wieder das »Spinnrad meiner Träume« zu drehen begonnen. Und doch, es bestand kein Zweifel, es war sein Schwager Egon Kasparek, der gesucht wurde. Wenn da nur nichts passiert war! Aber irgend etwas mußte los sein, denn ohne Grund wurde so ein Reiseruf doch nicht durchgegeben. Ob Rosy krank war? Oder die Zwillinge? Sabine hätte ihn auch aus solchem Anlaß bestimmt nicht suchen lassen, und schon gar nicht durch den Rundfunk. Aber bei Rosy war das etwas anderes, sie war so unselbständig, wirkte oft ganz einfach hilflos – oder hatte gar nicht sie selbst, hatten vielleicht Nachbarn den Reiseruf durchgeben lassen? Siedendheiße Angst überfiel Arnold Miller, die Ahnung einer Katastrophe. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, verglich sie mit dem Zifferblatt seiner Armbanduhr. Auf die Gefahr hin, daß Sabine das Abendessen verbrutzelte, er konnte jetzt nicht einfach nach Hause fahren; zuerst mußte er sich um die Kaspareks kümmern. Schließlich war Egon Sabines Bruder.
Er blickte in den Rückspiegel, blinkte, gab Gas, und jetzt endlich gelang es ihm, den Möbelwagen zu überholen. Aber seine Knie waren weich, und er atmete auf, als er wieder auf die rechte Fahrspur hinüberschwenken konnte. Der Schock saß ihm noch in den Knochen.
Die Kaspareks wohnten mitten in Riesberg, am Maximiliansplatz, der mit seinen Arkaden und den schmalen, eng aneinander gedrängten Häusern noch etwas von dem ursprünglichen Charakter der Stadt als mittelalterlichem Marktflecken bewahrt hatte, trotz Schaufenstern, Neonbeleuchtung, Bushaltestellen und Parkplatz.
Als Arnold Miller auf den Maximiliansplatz einbog, stellte er mit Erleichterung fest, daß das Leben dort seinen normalen spätnachmittäglichen Verlauf nahm. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er das Schlimmste erwartet hatte: ein Funkstreifenauto, einen Krankenwagen oder doch eine aufgeregte Menschenmenge. Was auch immer Rosy oder den Zwillingen zugestoßen war, es war jedenfalls nicht spektakulär genug, die Umwelt zu alarmieren. Der Berufsverkehr hatte sich schon aufgelöst; Miller konnte auf den Parkplatz einscheren, zahlte und lief mit großen Schritten auf das rosa und weiß gestrichene Haus zu, in dessen drittem Stock sein Schwager mit seiner Familie lebte.
Die schwere Haustür neben der Drogerie unter dem Bogengang war unverschlossen. Miller hastete die Treppen hinauf. Hier, hinter den dicken Mauern, war es angenehm kühl. Die flachen Steinstufen waren ausgetreten, es roch nach Generationen von Bewohnern, ein Gemisch, das sich weder durch Schmierseife noch durch Scheuerpulver oder den verhältnismäßig neuen Ölanstrich der Wände vertreiben ließ. Arnold Miller drückte auf die Klingel unter dem Namensschild Egon Kasparek. In der Wohnung rührte sich nichts. Seine kaum beherrschte Angst flackerte wieder auf. Er klingelte noch einmal, diesmal anhaltend. Er wurde sich darüber klar, daß bei Rosy nichts unmöglich war. Vielleicht war er ja von Sabine beeinflußt, die von Anfang an gegen die Schwägerin eingestellt gewesen war, einfach deshalb, wie er manchmal dachte, weil ihr keine Frau gut genug für den geliebten Zwillingsbruder sein konnte.
In Wirklichkeit war der begabte und charmante Egon keineswegs ein solches Prachtstück, wie sie gern wahrhaben wollte. Er hatte in seinem Leben vielerlei Berufe mit großem Elan angefangen und nach kurzer Zeit enttäuscht wieder aufgegeben, war Hundezüchter gewesen, hatte eine Nerzfarm betrieben, einen Eissalon, hatte versucht, in den Beamtenstand zu gelangen, war mit großen Hoffnungen nach Kanada ausgewandert und zwei Jahre später zurückgekehrt. Bisher hatte die kapriziöse Rosy tatsächlich einen guten Einfluß auf ihn gehabt. Seit die Zwillinge auf der Welt waren, also immerhin schon seit drei Jahren, arbeitete er als Manager des Supermarktes »Zentrum«, fünf Kilometer vor den Toren der Stadt, und bis jetzt wies nichts darauf hin, daß er vorhatte, sich nach etwas Neuem umzutun – wahrscheinlich wäre es ihm in seinem Alter auch nicht mehr ganz leicht gefallen, anderswo unterzukommen. Dennoch hatte die Familie den feinen, mißtrauischen Abstand Rosy gegenüber gewahrt.
Jetzt stand Arnold Miller vor der verschlossenen Wohnungstür und begriff gar nichts mehr. Egon war doch durch den Reiseruf aufgefordert worden, sofort nach Hause zu kommen – aber was sollte das für einen Sinn haben, wenn er gar nicht hineinkam? Aber natürlich, er hatte ja einen Schlüssel, und trotzdem – Rosy oder sonst jemand mußte ihn doch hier erwarten. Oder war er schon vor ihm gekommen? Arnold Miller überlegte, ob er eine Nachbarin fragen oder besser gleich die Tür aufbrechen lassen sollte. Er wollte sich gerade abwenden, als er die Kinderstimmen hörte. Er bückte sich und rief durch den Briefkastenschlitz: »Andy! Chris! Macht auf! Ich bin’s, Onkel Arnold!« – Stille.
»Himmel, laßt mich rein! Wo ist eure Mutter?« Er spürte mehr, als daß er es hörte, wie Rosy schwebenden Schrittes sich näherte, dann kam ihre Stimme von der anderen Seite der Tür: »Bist du es wirklich, Arnold?«
»Verdammt noch mal, wer soll’s denn sonst sein?!«
»Ich hatte dich nicht erwartet.«
»Ich habe den Reiseruf gehört.«
Rosy kicherte plötzlich – höchst unmotiviert, wie es Arnold schien. »Ach so!« Sie schloß die Tür auf, ließ aber die Kette vorgehängt, bis sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, daß es wirklich ihr Schwager war, der draußen stand. Sie wirkte in ihrem superkurzen Minikleid, dem rotblonden zerzausten Haar, mit Spuren von Tränen auf den schmalen, fast hohlen Wangen, wie ein verängstigtes und zugleich doch mutwilliges Kind. Die Hand, die sie ihm reichte, war so dünn, daß man die Knöchlein und Sehnen hätte zählen können.
Die Zwillinge schossen aus dem Hintergrund des dunklen Ganges hervor und schrien zweistimmig: »Onkel Anno, Onkel Anno, hassu uns was mittebacht?«
»Nein, diesmal nicht!« Er hob sie einzeln hoch und ließ sich von jedem einen feuchten Schmatz verpassen. Danach verloren sie sofort das Interesse an ihm und schlitterten über die glatten Holzdielen davon.
Arnold sah in die grünen Augen seiner Schwägerin. »Rosy, was ist denn passiert?«
»Passiert?« Sie wiederholte das Wort, als habe sie keine Ahnung, was es bedeutete.
»Ich nehme doch an, daß du Egon hast suchen lassen.« Sie schwieg und zeichnete mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden. »Das kannst du doch nicht ohne Grund getan haben«, drang er in sie.
»Ich hatte Angst.«
»Wovor denn?«
Sie zuckte die Achseln. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber Egon muß doch ohnehin jeden Augenblick nach Hause kommen.«
»So? Meinst du?« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Aber das tut er nicht. Er läßt mich allein. Abend für Abend.«
»Mit was für einer Erklärung?«
»Lügen.«
Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Eifersüchtig? Aber, Rosy! Jeder weiß doch, daß Egon ganz vernarrt in dich ist.«
»Und warum läßt er mich dann dauernd allein?« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Ich werde ihn mir bei nächster Gelegenheit vorknöpfen«, versprach er, die Türklinke schon wieder in der Hand. »Jedenfalls bin ich froh. Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht.«
Sie packte ihn beim Arm. »Bitte … geh nicht!«
»Ich muß nach Hause. Sabine wartet.«
»Aber ich habe Angst!«
»Egon wird jeden Augenblick kommen.«
»Dann bleib wenigstens so lange.« Sie lehnte sich leicht an ihn. »Ich mache dir auch was Gutes zu essen …« Ihr Körper war hart und gespannt, wie verkrampft.
Er mußte sich beherrschen, nicht vor ihr zurückzuzucken wie vor etwas Krankem. Sie wirkte keineswegs verführerisch auf ihn, und noch weniger versprach er sich von ihren Kochkünsten. Aber er brachte es nicht über sich, sie allein zu lassen. Er spürte, daß ihre Angst – Angst wovor nur? – echt war. »Na schön«, sagte er, »ich kann meine Frau ja anrufen.«
Aber dann tat er es doch nicht, und Rosy erinnerte ihn auch nicht daran. Er hätte nicht gewußt, wie er Sabine erklären sollte – jedenfalls nicht am Telefon und nicht in Rosys Gegenwart –, was er in der Wohnung ihres Bruders zu suchen hatte und warum er dort blieb.
Rosy eilte ihm jetzt voraus in das Wohnzimmer, ganz Gastgeberin oder vielmehr ganz Kind, das die geübte Gastgeberin spielt. »Willst du dich nicht setzen?« plapperte sie. »Was darf ich dir anbieten? Mach’s dir bequem!«
Der Raum wirkte chaotisch, aber sie schien das nicht wahrzunehmen. Der Bücherschrank war halb ausgeräumt, ein Teppich zusammengerollt, Stühle auf den Tisch gestellt – alles sah so aus, als habe sie mitten im Großputz die Lust verloren und aufgehört. Sie machte jetzt auch keinerlei Anstalten, ihm etwas anzubieten, nahm einen Stapel Bücher auf, schien nicht mehr zu wissen, was sie mit ihm vorgehabt hatte und ließ ihn auf einen Sessel fallen – den letzten, der noch frei gewesen war.
»Kannst du mir verraten, wohin ich mich setzen soll?« fragte er.
»Wohin?« Sie lachte. »Das ist gut! Du bist immer so witzig, Arnold.«
»Es ist ja nirgends Platz.«
Rosy sah sich um. »Wirklich, du hast recht! Na so etwas! Ich werde dir einen Stuhl aus der Küche holen.«
»Das wäre auch eine Lösung«, gab er zu, »aber ich glaube, es ist besser, wir gehen beide in die Küche und kümmern uns um das Essen, ja? Was soll es denn geben?«
»Ach, irgend etwas«, sagte sie gleichgültig, »ich habe viele Büchsen da. Alles mögliche.«
»Na, dann laß uns mal sehen.« Beim Hinausgehen wäre er beinahe über einen vollen Putzeimer gestolpert. In der Küche sah es besser aus als im Wohnzimmer. Entweder hatte es Rosy fertiggebracht, sie aufzuräumen oder – und dieser Verdacht kam Arnold jetzt – sie hatte sie heute noch gar nicht benutzt. In der Speisekammer stapelten sich Büchsen mit Gemüse, Fleisch oder Eintopf, die aus dem Supermarkt stammten. Da Arnold keine Lust hatte, eine große Kocherei in Gang zu bringen, fragte er: »Wo ist das Brot?«
Rosy begann sofort eifrig in allen Schubladen nachzuschauen und sagte dann: »Nichts mehr da. Egon wird welches mitbringen.«
»Kartoffeln?« Sie schüttelte den Kopf. »Na schön, dann essen wir Würstchen mit Sauerkraut.« Er öffnete die Dosen und bat sie, den Küchentisch zu decken.
Sie tat es auf ihre seltsam unorganisierte Weise, stellte einen Teller hin, legte eine Serviette dazu, holte das Salzfaß, starrte auf das begonnene Werk und schien plötzlich nicht mehr weiter zu wissen. Er erbarmte sich ihrer und sagte: »Vier Teller, Rosy … einen für dich, einen für mich, einen für Christian und einen für Andreas … vier Gabeln … vier Servietten …« Plötzlich ging es, Rosy bewegte sich anstellig. »Und nun leg noch ein fünftes Gedeck auf«, ordnete Arnold an, »für den Fall, daß Egon noch rechtzeitig zum Essen kommt.«
Aus dem Wohnzimmer drang unterdrücktes Quietschen herüber, auf das sie erst achteten, als es in lautes Wut- und Wehgeschrei überging. Arnold Miller riß die Tür auf. »Was ist los?« Im gleichen Augenblick entdeckte er die Bescherung. Die Zwillinge hatten sich gegenseitig mit dem Schmutzwasser bespritzt und waren jetzt völlig durchgeweicht. Der Eimer war umgekippt, und der Boden schwamm.
Rosy, die ihrem Schwager gefolgt war, begann hilflos zu jammern: »Ihr schrecklichen Kinder! Nicht eine Minute kann man euch aus den Augen lassen! Was fange ich denn jetzt nur an? Und Vati muß auch gleich nach Hause kommen!«
»Wisch das Wasser auf!« befahl Arnold energisch. »Ich stecke die Jungen währenddessen in die Wanne!«
»Bloß nicht waschen!« schrie Andreas entsetzt – er war eine halbe Stunde vor seinem Zwilling zur Welt gekommen und etwas schmaler, ein kaum merklicher Unterschied, den nur Eingeweihte entdeckten.
»Nicht waschen«, echote jetzt auch der andere.
Arnold packte die beiden Jungen beim Kragen und zerrte sie in das Bad. Er riegelte die Tür zu, damit sie ihm nicht entwischen konnten. »Marsch, marsch, zieht euch das nasse Zeug aus!« befahl er. Die Badewanne war schmutzig, sie hatte einen breiten dunklen Rand, und an den Wänden klebten Haare. Arnold nahm es eher mit Verblüffung als mit Entsetzen wahr. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er zuletzt so etwas gesehen hatte. Zu Hause war das Bad immer sauber, ob er es morgens oder abends betrat.
Hier gab es nur einen altmodischen Badeofen, der mit Holz und Kohle geheizt werden mußte. Also beschränkte er sich darauf, die Jungen kalt abzuduschen, was sie sich nur unter Protest und gellendem Geschrei gefallen ließen. Er hätte ihnen gern die verklebten Haare gewaschen, verzichtete aber darauf, weil er nicht riskieren wollte, daß sie sich erkälteten. Außerdem fiel ihm mitten in der ungewohnten Tätigkeit ein, daß den Zwillingen ein bißchen mehr oder weniger Schmutz bestimmt nicht schaden würde, während es ja eigentlich ihre Mutter war, um die er sich Sorgen machen mußte. So kürzte er die Prozedur ab, so gut es eben ging, und stürzte wieder aus dem Bad hinaus.
Rosy kniete, den Aufnehmer in der Hand, auf dem Fußboden und starrte versonnen auf die Pfütze, die schon langsam zwischen den Ritzen der Bretter versiegte. Arnold verschluckte eine heftige Bemerkung und sagte beherrscht: »Du wolltest aufwischen, Rosy!«
Sie lächelte zu ihm auf. »Ach ja.« Sie wrang den Aufnehmer aus und begann heftig zu reiben.
Die Zwillinge kamen, jeder in ein Frottiertuch gehüllte, aus dem Bad gehopst und schnupperten. »Hm, hiecht gut!« rief Christian, der, genau wie sein Bruder, noch kein R aussprechen konnte. Sie stürmten in die Küche. Arnold folgte ihnen rasch, damit sie kein Unheil anrichten konnten. Die Würstchen waren inzwischen aufgeplatzt, und das Sauerkraut war heiß. Er legte auf und rief Rosy herein. Die Jungen aßen mit gewaltigem Appetit – Arnolds Verdacht, daß sie mittags nichts Ordentliches zu essen bekommen hatten, verstärkte sich –, während Rosy mit weit aufgerissenen leeren Augen auf ihrem Teller herumstocherte.
»Komm, komm«, mahnte er, »nun iß, Rosy! Oder schmeckt dir nicht, was ich gekocht habe?«
Sie balancierte ein Stück Wurst auf der Gabelspitze, ohne es zum Mund zu führen. »Warum kommt er nicht?« fragte sie tonlos.
»Vielleicht hat er den Reiseruf gar nicht gehört. Hat er überhaupt ein Radio in seinem Auto?«
Rosy dachte angestrengt nach. »Ich weiß es nicht.«
Arnold unterdrückte sein Erstaunen darüber, daß sie eine so einfache Frage nicht beantworten konnte. »Wenn du nicht sicher bist, warum hast du ihn dann überhaupt über den Rundfunk suchen lassen?«
»Weil ich will, daß er nach Hause kommt«, entgegnete sie mit starrem Gesicht.
»Er kommt ja auch, Rosy!« Arnold tätschelte ihre Hand. »Er kommt bestimmt. Es kann vielleicht noch etwas dauern.« Er sah, wie Andreas seiner Mutter ein Würstchen vom Teller schnappen wollte, und gab ihm einen raschen Klaps auf die Hand. »Laß das!« Er bedauerte jetzt, den Jungen nichts übriggelassen zu haben, aber seit dem mittäglichen Kantinenessen hatte er nichts mehr gegessen und eben selbst Hunger gehabt.
»Soll ich eine Dose Obst aufmachen?«
»Au ja!« riefen Christian und Andreas: »Bitte, bitte!«
»Aber erst wird der Teller leer gegessen, Rosy!«
»Los, Mutti!« drängten die Jungen. »Nun mach schon!«
Sie gehorchte lustlos wie ein folgsames Kind. Arnold fand eine Dose mit Schattenmorellen und öffnete sie. Andreas und Christian räumten mit affenartiger Behendigkeit den Tisch ab, donnerten Kompottschalen hin und ließen Löffel über die Resopalplatte rutschen. Arnold verteilte die Kirschen. Sie aßen gerade wieder und begannen den Nachtisch zu essen, als sie den Schlüssel in der Wohnungstür hörten.
»Das ist er!« rief Rosy tonlos, und ihre Haut wurde durchsichtig vor Blässe. Die Zwillinge sprangen so heftig auf, daß ihre Stühle umpolterten. »Vati! Vati!« schrien sie und rannten los.
Gleich darauf stürmte Egon Kasparek in die Küche; als er seine Frau und seinen Schwager sah, schnappte er nach Luft. »Du bist …? Ihr seid …? Oh, mein Gott!«
Arnold kam sich, völlig unbegründeterweise, wie er selbst wußte, ertappt vor. »Ich habe den Reiseruf gehört«, sagte er, »und da bin ich gleich …«
»Das war hochanständig von dir!«
Rosy war wie eine Schlafwandlerin aufgestanden. Ihr Mann riß sie in die Arme. »Mein Liebling, mein armer Liebling … ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht! Wie konntest du nur …! Es ist doch nichts passiert?«
»Ich war so allein!«
Egon Kasparek hielt Rosy an sich gepreßt und sah seinen Schwager über ihre Schulter an. »Ich habe es erst beim Tanken erfahren. Ich habe gar kein Radio im Kombi!«
»Das dachte ich mir schon.« Auch Arnold war aufgestanden.
»Du mußt doch nicht gehen … nur weil ich nach Hause gekommen bin!«
»Sabine wartet auf mich.«
»Ach ja. Natürlich. Grüß sie von mir!«
»Wird gemacht.« Arnold machte eine Bewegung in Richtung auf seine Neffen, die ihre Eltern splitternackt umtanzten. »Macht’s gut, ihr beiden!«
»Pfüat di, Onkel Anno!« riefen die Jungen.
Egon Kasparek reichte ihm, ohne seine Frau loszulassen, die Hand. »Ich danke dir. Ich werd’ dir das nie vergessen.«
»Ach was denn! Nicht der Rede wert. Vergiß nicht, den Rundfunk anzurufen … daß du gefunden bist.«
»Mach’ ich. Du findest doch allein raus?«
»Aber ja.« Arnold durchquerte mit raschen Schritten die Wohnung und betrat das Treppenhaus. Er kam sich mehr als überflüssig vor, fühlte sich wie ein Mensch, der widerrechtlich den Schleier eines Geheimnisses gelüftet hatte, ohne doch zu begreifen, was sich dahinter verbarg. Als er sein Auto aufschloß, fiel ihm ein, daß Rosy sich nicht bedankt, ja, ihm nicht einmal auf Wiedersehen gesagt hatte.
Als Arnold Miller seinen Wagen in die Garage fuhr, war es neun Uhr vorbei. Er legte sich die Worte zurecht, um Sabine sein langes Ausbleiben zu erklären, aber sie fragte gar nicht danach. »Na, endlich!« sagte sie nur und gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange. »Hast du schon gegessen, oder soll ich dir einen Teller Suppe warm machen?«
»Ich könnte schon noch etwas vertragen!«
Sie war ihm vom Garten her entgegengekommen, jetzt hakte sie sich, während sie auf das Haus zugingen, bei ihm ein. »Große Dinge haben sich in deiner Abwesenheit getan.«
»Ja?« fragte er zerstreut, in Gedanken immer noch bei den Kaspareks.
»Du wirst staunen«, fuhr sie munter fort, »Ilona hat sich verlobt.«
Er verhielt den Schritt. »Du machst Witze!«
»Aber nein, es ist wirklich wahr! Sie wollten es dir doch selbst sagen, aber du weißt ja, wie sie sind … sie hatten noch was vor und konnten nicht so lange warten.«
»Wer?«
»Oswald Zinner und Ilona natürlich … Knut ist auch weg.«
»Na, dann muß ich ja wohl dankbar sein, daß ich wenigstens aus deinem Mund etwas über diese sogenannte Verlobung erfahre.«
Sie drückte seinen Arm. »Nun sei nicht gleich böse, Arnold!«
»Ich bin enttäuscht«, sagte er und ärgerte sich über seinen eigenen schulmeisterlichen Ton, an dem er jedoch nichts ändern konnte, »was man mir wohl nicht verübeln kann. Ich hatte mir die Verlobung meiner Tochter eben anders vorgestellt.«
»Aber du weißt doch, wie die jungen Leute heutzutage sind!«
»Leider, kann ich da nur sagen.« Er war ihr in die Küche gefolgt. Sabine stellte den Elektroherd an. »Wir werden die Welt nicht ändern«, sagte sie leichthin, »Hauptsache, daß wir uns darin zurechtfinden.«
Er war verärgert, mehr noch, er fühlte sich abgeschlagen; zuviel war in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt. Es kränkte ihn, daß Sabine nicht aufnahmebereit für seine Erlebnisse, sondern ganz erfüllt von Ilonas Verlobung war, die doch ohne sein Zutun, ja, gegen seine Voraussage zustande gekommen war.
Sie deckte rasch für ihn den Tisch, stellte Brot und Butter, eine Flasche Bier und ein Glas vor ihn hin. »Mir ist, ehrlich gestanden, ein Stein vom Herzen gefallen, als sie es mir sagte. Ich hatte immer Angst, Ilona würde sich durch diese … na, Freundschaft, das Leben vermasseln.«
»Und diese Angst hast du jetzt nicht mehr?« fragte er nörglerisch.
»Na, ich bitte dich, wenn sie sich doch verloben!«
»Das ist leicht gesagt.«
Sabine hatte die Flasche geöffnet, das Glas in die Hand genommen und wollte ihm gerade Bier eingießen; jetzt hielt sie mitten in der Bewegung inne. »Wie meinst du das nun schon wieder?«
»Bisher hat noch niemand bei mir um ihre Hand angehalten.«
Sie lachte. »Das wird auch niemand, Arnold. Auf den Gedanken käme Oswald Zinner gar nicht.«
»Ja, weil wir kleine Leute in seinen Augen sind. Hätte er ein Mädchen aus seinen Kreisen gewählt, dann würde er sich schon so benehmen, wie es sich gehört. Aber auf uns braucht man ja keine Rücksicht zu nehmen.«
»Arnold!« mahnte sie schärfer als es nötig gewesen wäre, denn sie wollte sich nicht eingestehen, daß auch sie etwas ganz Ähnliches empfunden hatte. »Das ist aber nun doch wirklich kindisch!«
»Findest du? Ich nicht.« Er nahm ihr Flasche und Glas aus der Hand und schenkte sich selbst ein. »Ich hätte keineswewgs einen Heiratsantrag am Sonntag vormittag erwartet, im dunklen Anzug, mit Rosen und allem, was mal dazu gehörte … aber immerhin, ein vernünftiges Gespräch wäre schon angebracht gewesen … wann sie heiraten wollen und wie sie sich die Zukunft vorstellen und so weiter.« Er leerte durstig sein Glas. »Aber entweder ist ihnen schnurz, was wir von ihnen denken … oder aber diese ganze sogenannte Verlobung ist nichts als ein Trick, um uns Sand in die Augen zu streuen.«
»Arnold!«
Er setzte das Glas mit einem Knall auf den Tisch. »Du wiederholst dich.« Er verließ die Küche.
Sie biß sich auf die Lippen. Wozu bloß wieder dieser Zank? Sie konnte ja gut verstehen, was ihn an dieser Verlobung ärgerte: daß er nicht gefragt, sondern einfach vor eine vollendete Tatsache gestellt worden war. Warum konnte sie das nicht zugeben? Warum mußte sie die Partei der jungen Leute ergreifen? Sie verstand sich selbst nicht.
Miller war in das Schlafzimmer gegangen, einen für die schweren Möbel, die noch aus dem ersten Ehejahr stammten, zu kleinen Raum, in dem er sich seitwärts zwischen den Betten und dem Schrank zum Spiegel schieben mußte. Er zog die Jacke aus und nahm die Brieftasche heraus. Mit zusammengepreßten Lippen betrachtete er die Quittung der Lottoannahmestelle. Wie wäre es, wenn er sich und Sabine mit seinem Gewinn eine neue Schlafzimmereinrichtung spendieren würde? Ein Bruchteil des Geldes würde dafür genügen. Aber ob sich diese Anschaffung noch lohnte? Wenn Ilona aus dem Haus ging, würden sie sich endlich getrennte Zimmer leisten können, wie es schon lange sein heimlicher Wunsch war. Er mußte nur eine günstige Gelegenheit abwarten, es Sabine beizubringen.
Ilona. Oder ob er die fünfundzwanzig Mille als Mitgift für seine Tochter springen lassen sollte? Dann würden die Zinners vielleicht Augen machen. Nein, eben, das würden sie nicht. Für die wäre das nur ein ganz kleiner Happen. Für Sabine im Moment bestimmt auch. Die war ja ganz fasziniert von dem millionenschweren Schwiegersohn in spe, stellte wahrscheinlich Vergleiche an zwischen ihrem eigenen Leben und der glänzenden Zukunft der Tochter.
Arnold Miller legte die Brieftasche auf seinen Nachttisch, steckte die Quittung in die Hosentasche und schlenderte in das Wohnzimmer hinüber. Der Raum war so düster, daß er einige Sekunden brauchte, um sich zu orientieren. Sven kauerte im bequemsten Sessel, die Knie angezogen, und starrte auf die Mattscheibe, wo gerade der bärtige Peter Wyngard in Department S eines seiner unglaubhaften Abenteuer bestand.
Unter normalen Umständen hätte Arnold, trotz des Fernsehspiels, eine Begrüßung von seinem Jüngsten erwartet. Heute war es ihm nur recht, daß Sven keine Notiz von ihm nahm. Mit raschen Schritten war er beim Schreibtisch, öffnete das obere Schubfach, zog das Kistchen mit den Lottoscheinen heraus und steckte die Quittung über den Gewinn ganz nach unten. Im Hinausgehen strich er Sven über den Kopf.
»’n Abend, Vati«, murmelte der Junge gedankenverloren.
Als Arnold Miller wenige Minuten später in die Küche zurückkehrte, jetzt geduscht und umgezogen, ohne Krawatte, in Hemd, Leinenhosen und Sandalen, tat Sabine ihm die Suppe auf. »Es tut mir leid, daß wir uns wieder mal gestritten haben«, sagte er reuig, »ehrlich, ich wollte das nicht, ich verstehe nämlich durchaus, was dich an der Sache stört.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. »Aber es ist doch besser so, daß sie sich verloben, als daß sie nur so miteinander herumziehen, das mußt du doch zugeben!«
»Du nimmst mal wieder einen Wunschtraum für die Wirklichkeit«, behauptete er, »diese Verlobung ist doch ein bloßes Geschwätz.«
Sie fuhr hoch, allen guten Vorsätzen zum Trotz. »Wie kannst du sowas sagen!«
»Weil es wahr ist. Verloben kann sich jeder, das bedeutet rechtlich gar nichts und weniger als nichts, solange es nicht offiziell ist. Dieser Zinner hat sie ja noch nicht einmal seinen Eltern vorgestellt.«
»Ach, Arnold!« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum mußt du denn so mißtrauisch sein? Laß uns doch einfach das Beste hoffen … bitte? Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Oder weißt du ein Mittel, ein neunzehnjähriges Mädchen von dem Mann zu trennen, in den sie vernarrt ist?«
»Früher haben Kinder ihren Eltern gehorcht«, sagte er verbissen.
»Sei doch nicht so stur, Arnold? Erinnerst du dich denn nicht? Als ich so alt war wie Ilona, da hatte ich schon mein erstes Kind … und wir waren gerade dabei, uns mit deinen Eltern wieder zu versöhnen.«
»Sie waren gegen dich, das stimmt«, gab er zu, »aber ich, das weißt du ganz genau, hatte von Anfang an ernste Absichten.«
»Aber sicher.« Sie zauste leicht sein Haar. »Ich würde mir auch nie einfallen lassen, dich mit Oswald Zinner junior zu vergleichen. Vor allem hast du viel, viel besser ausgesehen … nein, ganz im Ernst, ich finde dich heute noch attraktiver!«
Ihrem Lächeln hielt seine schlechte Laune nicht stand. »Die Suppe schmeckt übrigens ausgezeichnet«, erklärte er statt eines Komplimentes.
»Zum Nachtisch gibt es rote Grütze … echte! Aus selbst eingemachtem Saft. Ich habe dir mit Mühe und Not eine Portion aufbewahren können.«
»Paßt nicht zum Bier.«
»Dann schütten wir den Rest eben weg und gönnen uns eine Flasche Wein, ausnahmsweise, Arnold … zur Feier des Tages, ja?«
»Wenn du so schön bittest.« Er fühlte sich plötzlich entspannt, nahm die Brille ab und strich sich mit der Hand über die Augen. Sie beobachtete ihn und hatte sekundenlang den Eindruck, daß er nicht erwachsen war, nicht erwachsener als ihre Söhne, ein groß gewordenes Kind, das man vor Gefahren schützen mußte. Aber diese Empfindung war so flüchtig, daß sie sie sofort wieder vergaß.
Ilona und Oswald Zinner lagen eng beieinander auf dem riesigen, quadratischen Bett im ersten Stock des ehemaligen Pförtnerhäuschens. Sie hatte den Kopf an seine Brust geschmiegt, und er streichelte ihren kleinen runden Busen mit der leidenschaftslosen Zärtlichkeit eines in diesem Augenblick völlig befriedigten Mannes. Alle Fenster standen offen, der Hauch eines Windes berührte die herabgelassenen Sonnenjalousien und ließ die Blätter der alten Ulmen aufrauschen. Aber noch brachte die Nachtluft kaum Kühlung.
Oswald Zinner hatte sich das romantische kleine Haus noch in seiner wilden Zeit als Junggesellendomizil ausbauen lassen. Er hatte die biedermeierliche Fassade erhalten, die Innenwände jedoch herausbrechen lassen, so daß es jetzt oben und unten nur je einen einzigen großen Raum gab, abgesehen von zwei Toiletten, zwei Bädern und einer Kochnische, in der er fast nur den Eisschrank benutzte. Seine Mahlzeiten nahm er regelmäßig im Gutshaus ein, das einen knappen Kilometer weit entfernt lag, am anderen Ende der Ulmenallee. Das Pförtnerhaus bot ihm den Vorteil, ungestört von elterlicher Neugier Besucherinnen empfangen und Partys feiern zu können, ohne ihn zu zwingen, auf den gewohnten Luxus zu verzichten.
Ilona war gern hier. Sie genoß das sanfte Licht, die zarte Bettwäsche, die dicken Teppiche, das moderne, behagliche Bad – und dennoch war für sie die Existenz dieses Schlupfwinkels ein Anlaß zu ständiger Beunruhigung. »Sag mal, fällt es dir eigentlich gar nicht schwer, so … so solide zu sein?« fragte sie jetzt und rieb mit geschlossenen Augen ihre Wange an seiner Brust. »Ich meine … hast du nicht manchmal ein bißchen Sehnsucht nach deinen früheren Abenteuern?«
»Aber wie sollte ich!« Er kniff sie leicht in die Brust. »Du ersetzt mir ja einen ganzen Harem.«
»Ich habe es ernst gemeint … du alter Spötter!« Sie schlug die Augen auf und sah eine andere Ilona und einen anderen Oswald Zinner von der Decke auf sie herablächeln.
Das Vorhandensein des Spiegels, der die gleichen Ausmaße hatte wie das darunter aufgestellte Bett, war Ilona zu Beginn ihrer Beziehungen zu Oswald Zinner peinlich gewesen. Sie hatte nicht gewagt, die Augen zu öffnen, und ihn mehrfach gebeten, ihn zu verhängen oder entfernen zu lassen. Aber er hatte sie nur ausgelacht, und inzwischen hatte sie sich an die Anwesenheit ihrer Doppelgänger gewöhnt, ja, es konnte sie sogar anregen, ihre schlanken braunen Glieder mit den fülligen weißen und rosigen ihres Freundes verbunden zu sehen; er erinnerte sie, von unten gesehen, an einen fröhlichen großen Putto, und sie war sich bewußt, daß gerade der Gegensatz ihre Schönheit wirkungsvoll unterstrich.
»Na, jetzt kannst du wenigstens wieder lachen!« Er kitzelte sie mit einer Strähne ihres schwarzen Haares an der Schläfe.
»Wieso?« fragte sie verblüfft.
»Mir kannst du doch nichts vormachen, Ilo … ich habe deutlich gemerkt, daß dir vorhin etwas über die Leber gekrochen ist.«
»War ich … unfreundlich?« fragte sie erschrocken.
»Das kannst du doch gar nicht sein. Nein, du hast dich sehr zusammengenommen, bloß deine Nase ist ein bißchen spitz geworden … und dann weiß ich genau, woran ich mit dir bin.«
Sie dachte nach. »Stimmt. Ich habe mich geärgert. Über mich selbst. Das ist so ungefähr das Schlimmste, was mir passieren kann, denn an wem soll ich dann meine Wut auslassen?«
»Versuchsweise an mir.«
Sie hatte ihn schon mehr als einmal gequält, immer dann, wenn er sich ihrer zu sicher fühlte und sie fürchten mußte, er könne ihr entgleiten. Trotzdem sagte sie: »Das wäre nicht fair.«
»Willst du mir nicht erzählen, was los war?« fragte er.
»Errätst du es wirklich nicht?«
»Keinen blassen Schimmer.«
Sie dachte nach und kam zu dem Schluß, daß sie sich keine Blöße gab, wenn sie ihm die Wahrheit erzählte. »Es war saublöd von mir, meiner Mutter mit der Verlobung zu kommen. Vielleicht sind wir es wirklich …«
»Wir sind es«, bestätigte er und strich mit der Hand über ihren flachen, festen Bauch.
»Du hast mir gesagt, daß du mich heiraten willst. Aber das geht doch nur uns beide etwas an, oder etwa nicht? Warum mußte ich darüber quatschen? Weil ich die versteckten Fragen und die ewigen vorwurfsvollen Blicke nicht mehr ertragen konnte. Ich dachte, mit der Verlobung würde ich ihnen das Wasser abgraben. Reinster Wahnsinn natürlich.« Sie setzte sich auf und zog die Knie an. »Jetzt geht es erst richtig los, worauf du dich verlassen kannst. Jetzt werden sie sich Sorgen machen, ob du es auch ernst meinst … wann du mich endlich deinen Eltern vorstellst … wann wir heiraten, wie wir leben wollen und so weiter und so fort.« Sie warf ihre Mähne in den Nacken. »Ach, du hast ja keine Ahnung, wie es in kleinbürgerlichen Familien zugeht!«
»Nicht viel anders als in großbürgerlichen, denke ich«, erklärte er mit Selbstverständlichkeit. Zwar hatte erst Oswald Zinner senior, der Vater, nach dem Krieg das große Geld durch die Verwertung von Kriegsmaterial gescheffelt, aber immerhin war schon der Großvater Hugo Zinner ein kleiner, aber selbständiger Unternehmer gewesen, so daß die Zinners sich keinesfalls als neureich betrachteten, wenn sie auch Gut Apfelkam, das der Familie als Wochenend- und Sommersitz diente, nicht geerbt, sondern gekauft hatten.
In Ilonas Augen stand Oswald Zinner eine, wenn nicht mehrere Stufen höher auf der gesellschaftlichen Leiter als sie selbst. »Du hast keine Ahnung«, behauptete sie.
»So? Habe ich nicht? Das ist aber ein ganz großer Irrtum, Ilo! Was versteckte Fragen und vorwurfsvolle Blicke betrifft, bin ich sozusagen Spezialist. Vielleicht habe ich es etwas leichter gehabt als du, weil ich ein Mann bin, aber trotzdem habe ich mir mein bißchen Freiheit hart erkämpfen müssen.« Er versuchte sich an einer Nachäffung seines Vaters: »Wann wird der Junge endlich vernünftig werden, Helen? Ich wünschte, er würde sich mehr für das Geschäft interessieren. Es wird langsam Zeit, daß er seine Boheme-Manieren ablegt. Wie spät ist er denn heute wieder zum Frühstück erschienen?«
Sie lachte. »Sind deine Eltern tatsächlich so?«
»Und ob! Papa besonders. Doch Mama ist eigentlich noch schlimmer, sie macht sich bestimmt noch viel mehr unnötige Gedanken, sie spricht sie nur nicht aus. Aber ich kann sie hinter ihrer weißen Stirn lesen.«
»Du übertreibst.«
»Nicht die Bohne. Diese Familieneinmischung ist etwas, womit man sich abfinden muß. Glaub bloß nicht, du kannst ihr durch mich entrinnen. Auch wenn wir verheiratet sind, wird das weitergehen. Ich sehe unsere Mütter schon miteinander ratschen: Jetzt sind die beiden über ein Jahr verheiratet und immer noch kein Kind! Woran das liegen kann? Ob sie die Pille nimmt? Mein Gott, es ist ja zu verstehen, daß die jungen Leute sich amüsieren wollen, aber einmal muß Schluß sein.«
Ilona schaukelte sich, die Arme um die Knie geschlungen, vor Vergnügen. »Ich lach’ mich krumm und schief!«
Er schmunzelte. »Das ist endlich der richtige Standpunkt. Und da wir gerade beim Thema sind: hast du Lust, Familie Zinner zu Kaffee und Kuchen zu besuchen? Vielleicht am Samstag?«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne. »O ja, Oswald! Aber du mußt doch vorher noch mit deinen Eltern reden?«
»Klar. Dazu ist bis Samstag noch massenhaft Zeit.«
»Und wenn es ihnen nun nicht recht ist?«
Er packte sie beim Haar und zog sie wieder zu sich herab. »Bis zur Decke werden sie springen vor Freude. Sie haben ja auch allen Grund dazu. Denn wem verdanken sie es, daß ich solide geworden bin? Nur dir!« Seine Hände waren jetzt nicht mehr zärtlich, sondern hart und besitzergreifend, Seine Lippen preßten sich auf ihren Mund.
»So solide«, murmelte sie, als sie wieder zu Atem kam, »bist du nun auch wieder nicht!« Dann versanken sie in ihrer Leidenschaft.
Arnold Miller erwachte mit einem Kater. Es war spät geworden am Abend zuvor, und es war nicht bei der einen Flasche Wein geblieben, die er Sabine zuliebe geöffnet hatte. Sie hatten noch auf der Loggia gesessen, als Oswald Zinner die Tochter nach Hause gebracht hatte, und das bewußt höfliche Benehmen des künftigen Schwiegersohnes hatte Miller mit der überraschenden Wendung der Dinge versöhnt; er gestand sich ein, daß seine oft wiederholte Vermutung, Ilona sei nur ein Spielzeug für den reichen jungen Mann und werde eines Tages achtlos beiseite geschoben werden, sich nicht bewahrheitet hatte. Nach einigen Gläsern Weinbrand hatte er sich zu der Überzeugung durchgerungen, daß diese Verlobung eigentlich doch ein großes Glück für Ilona und für die ganze Familie war. Er und Sabine hatten mit Oswald Zinner den Verwandtschaftskuß getauscht, Knut war dazu gekommen, und so war es ein festlich vergnügtes Beisammensein geworden. Merkwürdig nur, dachte er, daß von dieser ganzen Hochstimmung nichts geblieben war als ein pelziger Geschmack im Mund und ein hohles Brummen im Schädel.
Den ganzen Vormittag war ihm so, als habe er etwas sehr Wichtiges übersehen. Er hatte es mit seiner Arbeit seit jeher genau genommen, heute aber überprüfte er die täglichen Abrechnungen mit einer Akribie, die seiner Mitarbeiterin, Fräulein Döring, deutlich auf die Nerven zu gehen begann. Erst kurz vor Mittag fiel ihm ein, daß sein Versäumnis nichts mit der Buchhaltung der Zeltner-Werke zu tun hatte, sondern allein sein Privatleben betraf: er hatte vergessen, seinem Lottomitspieler Rudolf Kienzel zu telegrafieren. Er nahm den Hörer ab, wählte und warf ihn wieder auf die Gabel. Nein, in Gegenwart der Döring konnte er diese Nachricht unmöglich durchgeben. Noch am gleichen Tag würde der ganze Betrieb, vierundzwanzig Stunden später ganz Riesberg Bescheid wissen, und gerade das war es doch, was Kienzel und er immer hatten vermeiden wollen. Deshalb spielten sie doch in München und nicht hier.
Es hatte auch keinen Zweck, bis zur Mittagspause zu warten, denn die Döring, stets besorgt um ihre Figur, von der sie ihre Heiratschancen abhängig glaubte, pflegte die Kantine nicht aufzusuchen, sondern lieber ein Joghurt und einen Apfel zu sich zu nehmen. Sollte er selbst zur Post fahren? Aber er glaubte das Gesicht des Beamten schon vor sich zu sehen, wenn er ihm das Telegramm in den Schalter hineinschob: Hurra, endlich hat es geklappt! Haben fünfzig Mille im Lotto gewonnen. Wahrscheinlich durften die Leute von der Post nicht reden, aber sie würden sich ihren Teil denken, und wer garantierte dafür, daß sie nicht doch untereinander davon sprachen – oder mit ihren Frauen? Schließlich war ein Lottogewinn in dieser Höhe doch ein Ereignis.
Er erinnerte sich an eine Begebenheit, die Apotheker Reibler des öfteren zu immer neuer Belustigung am Stammtisch im Goldenen Löwen zum besten gab. Reibler hatte das Kriegsende im Lazarett verbracht und dort ein Techtelmechtel mit einer Schwester angefangen, die ihm, als er wieder zu Hause in Riesberg war, postlagernd glühende Liebesbriefe geschrieben hatte. Als er eines Tages Briefmarken kaufen wollte, hatte ihm ein Postfräulein strahlend zugerufen – deutlich genug, daß alle Anwesenden es hören konnten: »Es ist auch noch ein Brief für Sie da, Herr Reibler! Kennwort Sonnenschein!«
Nein, dem Postgeheimnis in der Kleinstadt war nicht zu trauen. Er durfte es nicht wagen, das Telegramm anders als telefonisch über die Münchner Zentrale aufzugeben. Also mußte er in der Mittagszeit nach Hause fahren, was wieder einen Haufen Erklärungen Sabine gegenüber nötig machen würde. Er klopfte mit dem stumpfen Ende des Kugelschreibers auf die Schreibtischplatte und blickte auf das Betriebsgelände hinaus, auf die weiße, langgestreckte Fabrikationshalle und die Rampen, an denen die Lastwagen mit Kisten voller Kunststofferzeugnisse beladen wurden. Wenn er sich nun einen verschlüsselten Text ausdachte? Aber damit würde er vielleicht erst recht Neugier erregen, und außerdem riskierte er, daß Kienzel nicht schlau daraus wurde. Also blieb nur eines: bis zum Abend warten.
Die Werkssirene verkündete mit ohrenbetäubendem Lärm, der Miller nach all den Jahren immer noch an Krieg und Bombenalarm erinnerte, daß es zwölf Uhr geworden war. Die Döring schaltete sofort ihre elektrische Schreibmaschine aus und räumte ihre Unterlagen beiseite. »Darf ich Ihnen ein Alka-Seltzer anbieten, Herr Miller?« fragte sie lächelnd.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Sehe ich aus, als wenn ich’s nötig hätte?«
Sie blickte ihn prüfend durch die eckigen, getönten Gläser ihrer Brille an. »Um die Wahrheit zu sagen … ja!«
»Na, dann geben Sie her.« Es wurde ihm bewußt, daß das reichlich barsch geklungen hatte, und er fügte ein »Bitte« hinzu. Er blickte auf seinen Kalender. Nachts wurden auf Teneriffa bestimmt keine Telegramme ausgetragen. Das bedeutete, daß Rudolf Kienzel den Bescheid frühestens am Donnerstag bekommen würde. Aber seit Samstag nacht wußte Miller schon, daß sie gewonnen hatten. Das könnte ja fast so aussehen, als habe es Miller einige Überwindung gekostet, seinem Freund die Nachricht zu übermitteln! Natürlich würde Rudolf Kienzel nicht annehmen, daß er ihm den Gewinn hätte unterschlagen wollen. Das war ganz ausgeschlossen. Sie spielten ja nach System, so daß sein Partner die eingesetzten und die ausgespielten Zahlen mit Leichtigkeit vergleichen konnte, ganz davon abgesehen, daß Kienzel wissen mußte, wie korrekt Miller in diesen Dingen war. Ihm zu mißtrauen bestand kein Anlaß, aber blöd sah es aus, so viel war sicher.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Und wenn er den Freund nun gar nicht benachrichtigte? Wenn er einfach wartete, bis er zurückkam, und es ihm dann persönlich sagte? Das war besser, viel besser. Er wunderte sich, wieso er nicht gleich darauf gekommen war. Dann konnte er sich auch selbst an Kienzels Überraschung weiden. Das würde einen Knall geben, Himmel, ja, daß er daran nicht gedacht hatte!
Fräulein Döring brachte ihm einen Plastikbecher mit der schäumenden Flüssigkeit. »Hoffentlich hilft’s Ihnen auch«, sagte sie.
Er stürzte den Trank hinunter. »Es hat schon, Mädchen«, behauptete er, »Ihre Fürsorge hat mich seelisch aufgerichtet, und genau so was hatte ich gebraucht.«
Sie spürte seine veränderte Stimmung. »Fast könnte man es Ihnen glauben«, sagte sie leicht verwirrt.
Arnold Miller grinste und verließ das Haus. Er dachte daran, wie sehr er hinter einem Gewinn hergewesen war, und nun, kaum daß es einmal geklappt hatte, begannen auch schon Probleme, die er früher gar nicht gekannt hatte. Dabei bestand tatsächlich kein Grund, sich Sorgen zu machen, denn das Geld lag gut und sicher auf der Bank. Es konnte gar nichts passieren.
Ilona ballte die schmalen braunen Hände zu Fäusten, als sie am Samstag nachmittag, an Oswald Zinners Seite, das erste Mal durch die Ulmenallee zum Gutshaus hinauffuhr. Er bemerkte ihre Nervosität und legte beruhigend die Hand auf ihr Knie. »Nur keine Bange, Liebling!«
Sie wandte ihm ihr blasses Gesicht zu und behauptete: »Ich fürchte mich kein bißchen.«
»Um so besser.« Er schmunzelte. »Auf alle Fälle steht dir das Nichtfürchten fabelhaft. Du bist schöner denn je.«
»Ich habe auch volle zwei Stunden gebraucht, diesen Zustand der Vollkommenheit zu erreichen«, erwiderte sie mit dem schwachen Versuch, auf seinen Ton einzugehen.
»An dein Make-up habe ich jetzt gar nicht gedacht, Ilo, sondern an den ungewohnten Ausdruck von Durchgeistigung.«
Sie zückte ihren, Taschenspiegel. »Weil ich Schatten unter den Augen habe?«
»Sie stehen dir wundervoll.«
Sie steckte den Spiegel mit einem leichten Seufzer wieder fort. »Hoffentlich fassen deine Eltern sie nicht falsch auf.«
»Wen?«
»Die Schatten. Als ich klein war, hieß es immer: Schlimme Mädchen kriegen Schatten unter die Augen.«
»Wer hat das gesagt? Etwa deine Mutter?«
Ilona überlegte. »Die nicht. Aber geglaubt hab’ ich’s doch.«
Er lachte. »Jetzt hast du den Beweis, daß es nicht stimmt: so brav wie gestern abend waren wir doch seit langem nicht mehr.«
Die Ulmenallee endete vor dem Gutshaus. Eine zweiflügelige Treppe führte zu dem hoch gelegenen Portal hinauf. Oswald Zinner trat auf die Bremse, etwas zu heftig, wie es seine Art war, aber Ilona war darauf vorbereitet und hielt sich fest.
»Gnädiges Fräulein … darf ich bitten?« Er stellte den Motor ab, lief um den Porsche herum und öffnete ihr mit einer übertriebenen Verbeugung den Schlag. Ilona stieg zögernd aus.
Das Haus war ein ziemlich großer Kasten; es hatte zwar nicht die Merkmale, wohl aber die Größe eines kleinen Schlosses. Trotz frischen Verputzes und der leuchtend grün gestrichenen Fensterläden wirkte es nicht einladend, sondern bedrückend. Jedenfalls empfand es Ilona so. Aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. »Nanu?« fragte sie. »Wo sind denn die Hühner, Gänse und Schweine?«
»Hast du so was im Ernst erwartet?« fragte er zurück. »Der Gutsbetrieb ist selbstverständlich verpachtet. Das Bauernhaus und die Stallungen liegen weiter rechts, man kann sie von hier aus nicht sehen. Wir bewohnen nur diese Gebäude, und das macht Arbeit genug.«
»Kann ich mir vorstellen«, murmelte Ilona.
»Also dann …« Er reichte ihr den Arm und führte sie zur Treppe. Obwohl sie sich sehr beherrschte, war ihr Unbehagen spürbar, so daß er sich etwas anderes einfallen ließ. »Weißt du was, wir gehen hinten herum«, sagte er, »durch den Park, das wird dir besser gefallen.«
»O ja!« rief sie dankbar und fügte dann, schon wieder unsicher hinzu: »Aber geht denn das?«
»Und ob.«
»Ich meine … ist das nicht ungehörig? Werden deine Eltern sich nicht darüber ärgern?«
Er blieb stehen und packte sie bei den Schultern. »Jetzt hör mir mal gut zu, Ilo. Weder du noch ich, keiner von uns hat Grund, Rücksicht auf die Launen meiner Eltern zu nehmen. Es steht überhaupt nichts auf dem Spiel, begreif doch das endlich! Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, daß sie dich nicht mögen … na und? Nebbich. Das würde die privaten Beziehungen zwischen mir und den alten Herrschaften ziemlich kühl gestalten, aber sie würden mehr darunter leiden als ich, da sei sicher. Aus der Firma schmeißen würden sie mich deswegen nicht, das können sie sich gar nicht leisten, denn schließlich bin ich kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, der genügend Erfahrungen auf dem Buckel hat. Ist das klar?«
»Ja, Oswald.«
»Das genügt mir nicht. Sage laut und deutlich: Es hängt gar nichts von diesem Besuch ab.«
»Es hängt gar nichts von diesem Besuch ab«, wiederholte sie folgsam und setzte hinzu: »Ich möchte deinen Eltern aber trotzdem gefallen.«
Er lachte. »Das wirst du doch, Liebling. Du siehst aus wie ein Engel. Wirklich.«
Sie wußte, daß sie schön war. Das makellos weiße Kostüm stand gut zu der sonnengebräunten Haut, und die mauvefarbene Chiffonbluse unterstrich das überraschende Blau ihrer Augen. Sie hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte, und sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt zurechtgemacht. Doch ihr Aussehen erschien ihr als ein zu geringer Trumpf in einem Spiel, bei dem die anderen die Macht und das Geld in der Hand hatten. Aber das mochte sie Oswald nicht sagen.
»Engel sind doch blond«, meinte sie nur und lehnte einen Atemzug lang ihre Stirn gegen seine Schulter.
»Wer hat dir denn das weisgemacht? Alles Unsinn. Für mich hat es immer nur dunkle Engel gegeben.«
»Vielleicht, weil deine Mutter schwarzhaarig ist?«
»War, Liebling, war«, berichtigte er, »inzwischen ist sie sanft erblondet.« Er reichte ihr die Hand, und sie liefen die spitzenbewehrte Mauer entlang, die den Park gegen die Umwelt abschloß. Oswald zückte den Schlüssel zu einer schmalen eisernen Tür, und Ilona schlüpfte an ihm vorbei. Jetzt hatten sie die Hinterfront des Gutshauses vor sich, die sehr viel heiterer wirkte als die Vorderansicht. Hier gab es Balkone mit Kästen voll blühender Zinnien und, etwa auf gleicher Höhe mit dem Portal, eine breite, von einer knallgelben Markise beschattete Terrasse. Auf ihr bewegten sich eine untersetzte Frau in schwarzem Kleid und weißem Schürzchen und eine überschlanke mädchenhafte Gestalt mit silberblondem Haar, die einen korallenroten Hosenanzug trug. »Da siehst du meine Mama gleich in voller Aktion«, sagte Oswald, »sie gibt letzte Anweisungen zur festlichen Ausschmückung der Kaffeetafel.«
Ilona wußte nicht genau, ob er das ernst oder ironisch gemeint hatte. »Daß sie noch so jung ist!« flüsterte sie.
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Wart es ab!«
Nebeneinander traten sie aus dem Buschwerk, das sich an der Innenseite der Mauer entlangzog, in den hellen Sonnenschein hinaus. Oswald winkte zur Terrasse hin. »Mutschka, he, hallo … hier sind wir schon!«
Frau Zinner beugte sich über das schmiedeeiserne Geländer. »Und mit welch ungewohnter Pünktlichkeit!« Leichtfüßig kam sie die breite Steintreppe herab, so daß sie den jungen Leuten auf der Mitte begegnete. »Das verdanke ich sicher Ihnen, mein liebes Kind!« Sie reichte Ilona die Hand.
Dieser unerwartet herzliche Empfang überwältigte das junge Mädchen; sie war sekundenlang nicht fähig, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. »Aber nein … ich … wie … Oswald …«, stammelte sie.
»Ach, lassen Sie nur«, wehrte Frau Zinner lächelnd ab, »ich kenne meinen Sohn.«
»Bitte mach mich nicht vor Ilona schlecht, Mutschka, sie wird noch früh genug merken, was sie sich mit mir eingehandelt hat.«
»Sollte er wirklich einen Fehler haben, den Sie noch nicht kennen?« fragte Frau Zinner.
»Ganz bestimmt«, antwortete Oswald an Ilonas Stelle, »wenn man einen Menschen erst ganz durchschaut, hat man wohl kaum noch den Mut, ein gemeinsames Leben zu beginnen.«
Sie hatten Helen Zinner in die Mitte genommen und jetzt die Terrasse erreicht. Ilona fühlte sich schon weniger befangen. Es hob ihr Selbstvertrauen, daß Oswalds Mutter eine gute Fünfzigerin war und, aus der Nähe betrachtet, auch so aussah. Sie war nicht wirklich schlank, sondern eher hager, das viel zu tief gebräunte Gesicht wirkte unter dem silberblonden Lockenkopf wie gegerbt.
»Ich wußte, daß er es ganz ernst meinte«, sagte sie, weiterhin zu Ilona gewandt, »seit er zum erstenmal Ihren Namen erwähnte.«
Er grinste. »Was Wunder, wo ich zu Hause sonst prinzipiell nichts von Mädchengeschichten erzähle!«
Die Terrasse war mit Sesseln, Liegen und Hockern aus Bambusrohr bestückt, auf denen bunte Leinenkissen verteilt waren. Von einem Kaffeetisch war nichts zu sehen. Frau Zinner hatte ihren suchenden Blick beobachtet. »Ich habe eine Limonade richten lassen«, sagte sie, »ich hoffe, daß Sie das mögen, mein liebes Kind? Für Kaffee und Kuchen ist es doch heute viel zu heiß. Oder mögen Sie einen Sherry? Soll Oswald Ihnen einen Cocktail mixen?«
»O nein, danke nein«, beeilte sich Ilona zu versichern, »eine Limonade ist genau das richtige!«
»Oder wenn ihr vorher schwimmen gehen wollt?« fragte Helen Zinner mit einer vagen Geste zum Park, wo sich, wie Ilona schloß, der unvermeidliche Swimming-pool befinden mußte.
»Mutschka«, mahnte Oswald, »wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier.«
»Wie dumm von mir!« Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn, so daß die schweren goldenen Ketten um das magere Gelenk klirrten. »Beinahe hätte ich vollkommen vergessen … das ist so etwas wie ein offizieller Anlaß, wie?«
»Ja, Mutschka«, bestätigte Oswald mit deutlicher Ungeduld, »sei jetzt, bitte, so gut und zitiere Papa herbei!«
Sie schien zu überlegen, wie das am besten zu bewerkstelligen wäre, und erst jetzt wurde es Ilona bewußt, daß Helen Zinner diese erste Begegnung mit mindestens soviel Nervosität erwartet hatte wie sie selbst, und das erweckte in ihr eine plötzliche Sympathie. »Aber Oswald«, sagte sie begütigend, »wir haben doch jede Menge Zeit.«
Frau Zinner schenkte Ilona einen dankbaren Blick – den ersten Blick, mit dem sie etwas mehr wahrnahm als nur Ilonas äußere Erscheinung. »Wirklich … warum setzen wir uns nicht erst einmal …« Doch in diesem Augenblick erschien Oswald Zinner senior auf der Schwelle des Hauses, und sein Anblick bot nun wirklich keine Überraschung für Ilona: er sah genauso aus, wie auch ihr Verlobter einmal aussehen würde, wenn er nicht sehr auf sich aufpaßte. Er war ein dickbäuchiger, glatzköpfiger älterer Herr mit rötlicher Haut, dessen leicht bläulich verfärbte Lippen verrieten, daß er seinem Herzen zuviel zumutete.
»Habe ich also richtig gehört«, dröhnte er, »ihr seid schon da! Lassen Sie sich anschaun, schönes Kind! Also, ich muß schon sagen … den guten Geschmack hat der Junge von mir geerbt!« Trotz seiner überströmenden Freundlichkeit gewann Ilona sofort den Eindruck, daß Oswald Zinner senior auch ganz anders sein konnte, nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch seiner Familie gegenüber. Gerade deshalb hielt sie es für richtig, sich gut mit ihm zu stellen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Sie zuckte auch nicht zurück, als er den Arm um ihre Schultern legte und ihr einen kalten, feuchten Kuß auf den Mund verpaßte. »Du erlaubst doch, Sohn?« fragte er augenzwinkernd. »Schließlich gehört Ilona doch ab heute zur Familie.«
Oswald zog eine Grimasse. »Nur zu, Papa, tu dir keinen Zwang an!«
Ilona lief zu Frau Zinner. »Darf ich Ihnen auch einen Kuß geben?«
»Gern.« Frau Zinner küßte sie leichthin auf beide Wangen. »Aber sag nicht Muschka zu mir, das klingt scheußlich, ›Mama‹ macht alt … Nenn mich einfach Helen!«
Es gab noch einiges Hin und Her, bis alle sich gesetzt hatten und das Mädchen die Limonade – aus frischen Zitronen gepreßt, mit klirrenden Eisstückchen und bunten Trinkhalmen – servieren konnte.
»Das ist unsere Anna«, stellte Frau Zinner die junge Frau vor.
Ilona wußte nicht recht, wie sie sich der Hausangestellten gegenüber verhalten sollte – ihr die Hand geben oder nur einfach nicken? Sie hätte nie gedacht, daß auch das gelernt sein mußte. Sie entschied sich für ein möglichst herzliches Lächeln und sah dann unsicher zu Oswald hinüber. Er nickte ihr ermutigend zu. Frau Zinner nahm sich eine Zigarette aus einer Packung, die sie aus der Hose ihres roten Anzugs angelte. Sofort sprang Oswald auf und reichte ihr Feuer. Jetzt hielt sie das Päckchen der zukünftigen Schwiegertochter hin.
»Danke, nein«, sagte Ilona und fügte mit einer kleinen Überwindung hinzu: »Helen.«
»Du rauchst nicht? Wie beneidenswert!« Helen Zinner inhalierte tief.
Das Mädchen stellte die Kanne mit der Limonade in eine fahrbare Kühlbox und zog sich zurück. Eine Stille entstand, die Ilona als beklemmend empfand. Sie hatte das Gefühl, daß alles gesagt war, was zu sagen war, und hatte nur den einen Wunsch, so bald wie möglich wieder von hier fortzukommen.
»Dein Vater ist Buchhalter bei den Zeltner-Werken«, begann Oswald Zinner senior.
Ilona, die nicht wußte, ob das eine Frage oder eine Feststellung sein sollte, antwortete: »Ja.«
»Soviel ich weiß, stammt deine Familie nicht aus Bayern.«
»Aber wir leben schon seit über fünfundzwanzig Jahren hier in Riesberg, ich bin hier geboren und …«
Oswald Zinner senior fiel ihr ins Wort. »Du brauchst dich nicht zu verteidigen, wir Zinner sind auch nur Zugereiste …« Er versuchte, das Wort bayrisch auszusprechen, aber es klang sehr unecht. »Ich sage immer, für die Bayern war es ein Glück, daß es einen Krieg gegeben hat, sonst wären die schon längst total vertrottelt.«
Ilona fuhr hoch. »Aber, Papa, im Gegenteil, die Bayern sind doch …« Sie verstummte über ihren eigenen Mut.
»Eine der Lieblingstheorien meines Mannes«, erklärte seine Frau im Ton verhaltenen Überdrusses.
Er machte sofort einen Rückzieher. »Na ja, ganz recht, wir wollen doch nicht politisieren.« Vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, fragte er: »Du hast deine Mittlere Reife auf dem Realgymnasium gemacht?«
Sein Sohn fiel ihm ins Wort. »Aber, Papa, das artet ja allmählich in ein Verhör aus!«
Der Senior schüttelte seinen Kopf wie ein Stier, der eine Wespe verscheuchen will. »Aber durchaus nicht, es sollte mir leid tun, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe, er ist nämlich ganz falsch. Natürlich habe ich mich über die Lebensumstände deiner Braut rechtzeitig und genau informiert … du bist ein kluges Mädchen, Ilona, und wirst mir das nicht übelnehmen.«
Ihr wurde flau bei der Vorstellung, daß eine Detektei ihr Vorleben und das ihrer Familie unter die Lupe genommen hatte, offenbar längst bevor Oswald sich zur Verlobung entschlossen hatte. Trotzdem sagte sie: »Natürlich nicht.« Ihr Mund war sehr trocken; sie trank durstig ihr Glas leer.
»Na, seht ihr, ich wußte es ja.« Oswald Zinner senior schlug sich klatschend auf das Knie. »Du brauchst gar nicht die Stirn zu runzeln, Junge, natürlich hätten wir uns nie in deine Privatangelegenheiten gemischt. Aber man möchte doch wissen, mit wem man es zu tun hat.«
»Das wißt ihr nun also.« Oswald machte keinen Versuch, seine Verärgerung zu kaschieren. »Wozu dann diese Fragerei?«
Sein Vater gab sich völlig unbekümmert. »Wir sind doch zusammengekommen, um miteinander zu plaudern … oder etwa nicht? Es interessiert mich einfach, warum deine Ilona kein Abitur gemacht hat. Ihre Zeugnisse waren doch tadellos.«
Oswald stand auf. »Auch das weißt du?«
»Aber sicher. Auch du wirst eines Tages den Wert guter Informationen schätzenlernen.«
Ilona ließ sich das leere Glas von Oswald aus der Hand nehmen. »Ihre Frage ist sehr leicht zu beantworten, Herr Zinner«, sagte sie, »ich meine: Papa. Es wird dir nicht entgangen sein, daß ich drei Brüder habe. Damals hatte sich schon herausgestellt, daß Knut Arzt werden wollte. Torsten war auf der Kunstakademie angekommen. Für ein Studium hätte ich keine finanzielle Unterstützung meiner Eltern erwarten können, und so versessen darauf, Akademikerin zu werden, daß ich mich hätte für ein Stipendium abrackern und in alten Fetzen herumlaufen mögen, war ich nun doch nicht.«
»Intellektuelle Frauen sind eine Pest«, erklärte Helen Zinner träumerisch und drückte ihre Zigarette aus.
»Als Ausgleich für die entgangene Ausbildung«, sagte Ilona, und ihre Stimme verriet einen leichten Anflug von Stolz, »hat mein Vater eine Aussteuerversicherung für mich abgeschlossen.«
»Na, prachtvoll!« Oswald Zinner senior lachte dröhnend. »Da machst du ja eine gute Partie, mein Sohn!«
Ilona warf die schwarze Mähne in den Nacken. »Meine Eltern haben für uns getan, was sie konnten!«
Oswald, der ihr das frisch gefüllte Glas brachte, gab ihr ein Zeichen, sich nicht aufzuregen. »Du bist heute wieder mal ausgesprochen witzig, Papa.«
»Na, was denn … habt ihr keinen Funken Humor? Ich wollte dich doch nicht beleidigen, Ilona … weder dich noch deine Eltern. Aber daß du als Braut eines Oswald Zinner junior keine Aussteuer brauchst, versteht sich wohl am Rande. Laß dir das Geld auszahlen und kauf dir einen Pelz dafür … wenn es nicht reicht, lege ich was drauf!«
Ilona hatte das Gefühl, daß sie eigentlich hätte glücklich sein müssen, tatsächlich aber war sie den Tränen nah. Sie hatte miterlebt, wie schwer es ihren Eltern gefallen war, sich die monatliche Zahlung für ihre Aussteuerversicherung abzuknapsen – und nun bedeutete sie gar nichts.
Helen Zinner verstand ihre kurze Verdüsterung falsch. »Natürlich wird es nicht bei dem einen Pelz bleiben«, sagte sie leichthin und zündete sich, ohne ihrem Sohn Gelegenheit zu geben, sich als Kavalier zu erweisen, eine zweite Zigarette an, »wir beide werden tüchtig zusammen shopping gehen, das wird wunderbar werden, ich freue mich schon darauf. Wir sollten nicht zu lange damit warten. Jetzt ist es noch zu heiß … aber wie wäre es mit Anfang September? Wir hätten zwar Platz genug für dich in unserem Münchner Haus, aber es wäre uns doch angenehmer, wenn wir dich im Hotel einquartierten.«
Oswald lächelte Ilona aufmunternd zu. »Einkaufen ist Mutschkas große Leidenschaft. Du tust ihr einen richtigen Gefallen, wenn du dich opferst.«
»Aber ich kann doch nicht einfach weg«, sagte Ilona, »ich arbeite doch noch.«
»Ach ja, bei den Zeltner-Werken«, sagte Oswald Zinner senior.
»Hast du denn da noch nicht gekündigt?« fragte Frau Zinner erstaunt.
»Nein.«
»Aber wieso denn nicht?«
Oswald schaltete sich ein. »Das kann ich dir erklären, Mutschka … Ilona traut mir nicht.«
»Das ist nicht wahr!« protestierte sie.
»Jedenfalls nicht ganz«, beharrte er.
»Nun, immerhin!« Helen Zinner drehte spielerisch an ihren goldenen Armbändern. »Eine gewisse Vorsicht ist dir gegenüber vielleicht nicht einmal ganz unangebracht.«
»Wie kannst du so etwas sagen!« Er sprang auf. »Schön und gut, ich hatte eine Menge Weibergeschichten! Aber ich habe bisher doch nie auch nur erwogen, eine feste Bindung einzugehen!«
Oswald Zinner senior beobachtete ihn blinzelnd. »Und was besagt das?«
»Daß es mir ganz ernst ist.«
»Dann«, sagte Helen Zinner und blies den Rauch durch die Nase, »wäre ja wohl eine offizielle Verlobung das Gegebene.«
Auf diesen Vorschlag waren die jungen Leute nicht gefaßt gewesen. Eine kurze Stille entstand, in der der Satz eine immer schwerere Bedeutung zu gewinnen schien. Ilona blickte Oswald an, als könne er ihr die richtige Antwort suggerieren. »Aber so etwas ist doch heutzutage … überholt«, sagte sie endlich hilflos.
»Kann ich durchaus nicht finden«, sagte Oswald Zinner senior, »in unseren Kreisen jedenfalls nicht.«
Ilona zuckte zusammen. Helen Zinner hab die Hand mit den klirrenden Armbändern. »In Riesberg auch nicht. Ich möchte so sagen: eine offizielle Verlobung ist kein absolutes gesellschaftliches Muß mehr, aber doch immer noch eine hübsche Arabeske.«
»Wir wollten die Angelegenheit ohne jedes Tamtam über die Bühne bringen!« Oswald trat an die Kühlbox, öffnete das Seitenfach, holte eine Flasche Whisky heraus und tat sich einen tüchtigen Schuß in den Rest seines Zitronenwassers. »Du auch, Ilo?« Sie schüttelte den Kopf.
»Wann habt ihr denn vor zu heiraten?« fragte Helen Zinner.
»So bald wie möglich.«
»Genauer, bitte«, forderte Oswald Zinner senior.
Oswald trank einen Schluck, bevor er antwortete. »Sobald die Wohnungsfrage geklärt ist.«
Helen Zinner richtete sich auf. »Wir könnten euch die obere Etage …«
»Nein.« Oswald fiel ihr ins Wort. »Das ist sehr lieb von dir, Mutschka, aber … danke, nein. Ich möchte mein Eheleben in … na, sagen wir … neutraler Umgebung beginnen.«
»Aber für deinen Vater und mich ist unser Münchner Haus doch viel zu groß und …«
Jetzt war es ihr Mann, der sie unterbrach. »Das, Helen, ist unser Problem. Es gehört nicht hierher. Oswald möchte für sich und seine junge Frau eine eigene Wohnung, fern aller elterlichen Einmischung, mieten oder kaufen. Das ist verständlich und durchaus akzeptabel. Das Ziel dürfte alles in allem mit dem Einrichten, meine ich, in nicht mehr als drei Monaten zu erreichen sein, wenn man die Sache energisch anpackt … sind wir uns soweit einig?«
»Ja«, sagte sein Sohn.
»Aber nur, wenn Ilona jetzt kündigt«, gab Helen Zinner zu bedenken, »denn dann kann sie sich immerhin ab Oktober um die Einrichtung kümmern.« Sie wandte sich ihrer künftigen Schwiegertochter zu. »Ich will mich gewiß nicht aufdrängen, aber wenn du dabei einen Rat brauchst …« Sie fing einen Blick ihres Sohnes auf und verzichtete darauf, den Satz zu beenden.
»Erweitern wir den Spielraum«, schlug Oswald Zinner senior vor, »und setzen wir den Termin auf den 24. Dezember fest, dadurch entgehst du auch der Gefahr, Junge, jemals deinen eigenen Hochzeitstag zu vergessen.« Er lachte wohlgefällig über seinen eigenen Witz. »Das paßt wunderbar … und anschließend fahrt ihr in die Flitterwochen … Kanada oder die Bermudas, würde ich vorschlagen.«
»Das entspricht etwa meinen eigenen Vorstellungen«, sagte der Junior.
Ilona blickte von einem zum anderen wie ein Zuschauer, der den Ballwechsel eines Tennismatchs verfolgt. Sie war sich der Chancen, die man ihr mit solcher Selbstverständlichkeit eröffnete, wohl bewußt, fühlte sich dennoch zum Objekt degradiert. Über ihren Kopf hinweg wurden Entscheidungen getroffen, die doch niemanden mehr betrafen als sie selbst.
»Heute haben wir den 20. August«, stellte Oswald Zinner senior mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest, »bleiben uns also bis zum Tag X … schade, daß wir keinen Terminkalender zur Hand haben … über den Daumen gepeilt hundertzwanzig Tage.«
»Das haut hin«, bestätigte sein Sohn, »dann haben wir heute X weniger hundertzwanzig Tage …«
»Erste Begegnung mit der künftigen Schwiegertochter«, ergänzte Helen, die die Art ihrer Männer, Planungen anzupacken, weidlich kannte, gelangweilt und mit geschlossenen Augen.
»X weniger hundertneunzehn Tage«, fuhr Oswald Zinner senior fort, »Fühlungnahme mit den Eltern der Braut. Am besten findet das bei einem gemeinschaftlichen Mittagessen statt. Ich überlasse das Arrangement dir, Helen.«
»X weniger hundertachtzehn Tage«, sagte Oswald Zinner junior, »einen Makler mit der Beschaffung einer geeigneten Wohnung beauftragen. Das übernehme ich. Ich werde mich an Bauer wenden, der hat immer seriös für uns gearbeitet. Wir müssen nachher noch alle Einzelheiten genau durchsprechen, Ilo. Schade, daß du nicht dabeisein kannst.«
Ilona fühlte sich überspielt und in die Enge getrieben, gab aber nicht den Zinners, sondern sich selbst die Schuld daran. »Ich werde gleich Montag kündigen«, sagte sie entschlossen. »Ich habe auch noch fünf Urlaubstage gut …«
»Bravo, Liebes!« Helen Zinner hob mühsam die schweren Lider. »Also weiter im Text … X weniger hundertzwölf: offizielle Verlobung!«
»Aber Mutschka!« rief Oswald. »Fängst du schon wieder damit an?«
»Ja, denn ich halte es nach wie vor für klug und richtig. Gerade weil ihr schon in ein paar Monaten heiraten wollt, empfiehlt es sich, unsere Verwandten, Bekannten, Freunde, Neider und so weiter auf das bevorstehende Ereignis vorzubereiten, sonst könnte es für manche ein echter Schock sein … denk nur an all die Mädchen … nein, nicht, die du enttäuschst, sondern die sich vielleicht immer noch Hoffnungen auf dich gemacht haben, Ossi.«
»Aber ich lege auf eine offizielle Verlobung wirklich gar keinen Wert«, widersprach Ilona und ärgerte sich, daß es ein bißchen zaghaft herauskam.
»Deine Eltern würden es bestimmt gern sehen«, beharrte Helen Zinner.
»Aber, Kinder, warum habt ihr euch eigentlich so?« fragte Oswald Zinner senior. »Was ist denn schon dabei? Eine Anzeige im Merkur und im Oberbayrischen Volksblatt, die erledigt das Büro … gedruckte Verlobungskarten an alle näheren Bekannten, bei der Adressenschreiberei kann meine Sekretärin helfen … ein festliches Essen im allerengsten Kreis, das ist alles. Und ihr tut, als wenn man euch wer weiß wie große Opfer abverlangt.«
»Es ist nicht so, daß ich etwas gegen eine offizielle Verlobung hätte …«, begann Oswald.
»Na, immerhin«, warf seine Mutter ein.
»… mir leuchtet nur nicht ein, wozu das Ganze gut sein soll.«
»Dann will ich es dir ganz genau erklären!« Helen Zinner griff wieder zu ihren Zigaretten, das fünfte Mal an diesem Nachmittag, und ließ sich von Oswald Feuer geben. »Eine Hochzeit, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt, hat immer einen gewissen … Hautgout … einen Beigeschmack …«
»Aber wieso denn, Mutschka? Das verstehe ich nicht!«
»Ich aber«, sagte Ilona trocken.
»Sei nicht beleidigt, Liebes! Ich weiß natürlich, daß du nicht schwanger bist, und spätestens ein paar Monate nach eurer Hochzeit wird das auch aller Welt kund werden. Aber bis dahin kann schon viel, viel Schaden angerichtet sein. Die Leute zerreißen sich nur zu gern die Mäuler. Eine offizielle Verlobung ist die beste Methode, bösartigen Gerüchten von vornherein den Boden zu entziehen.«
»Mama hat wieder mal recht«, stimmte Oswald Zinner senior ihr zu.
»Na, großartig!« rief der Junior erbost. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns einverstanden zu erklären.« Er leerte sein Glas und machte eine Bewegung, als wolle er es über das Geländer werfen, stellte es dann aber doch auf dem Serviertischchen ab. »Am besten schreiben wir in die Anzeige: Unsere ganz und gar freiwillige, von keinem biologischen Ereignis beschleunigte Verlobung geben hiermit …«
»Pfui!« tadelte Helen Zinner. »Jetzt wirst du zynisch.«
»Wenn dir eine offizielle Verlobung so ganz und gar gegen den Strich geht …«, begann Ilona.
»Tut sie ja nicht! Wie kommst du darauf? Wenn du mich darum gebeten hättest, hätte ich sofort zugestimmt. Es ärgert mich nur, daß man uns zu Äußerlichkeiten zwingen will, auf die wir beide doch gar keinen Wert legen!«
»Das stimmt, Oswald, ich denke nach wie vor genau wie du.« Ilona erhob sich und trat auf ihren Verlobten zu. »Trotzdem – machen wir unseren Eitern doch die Freude! Es ist ja wirklich nur eine Äußerlichkeit!«
»Und damit«, erklärte Oswald Zinner senior und stand ebenfalls auf, »wäre das Schlußwort in dieser Angelegenheit gesprochen. Das bedeutet für uns, daß es zwischen Tag X weniger hundertneunzehn und hundertzwölf noch eine Menge zu tun gibt.«
Helen Zinner hob beide Hände den jungen Leuten entgegen, die nicht umhin konnten, sie zu ergreifen. »Ihr ahnt nicht, wie froh ich bin, daß ihr doch noch Vernunft angenommen habt!« Sie ließ sich hochziehen und fügte in ihrem alltäglichen Ton hinzu: »Ich habe uns übrigens ein paar Häppchen richten lassen. Aber vielleicht gehen wir zum Essen doch lieber hinein, ja?«
Ilona wäre gern wieder mit ihrem Verlobten allein gerwesen, aber sie genoß auch das angenehme Gefühl, zu den Zinners zu gehören. Es war ihr, als sei sie in den vergangenen Stunden ein anderer Mensch geworden.
Als Arnold Miller und seine Frau am Sonntag das Gut verließen und durch die Ulmenallee in Richtung Stadt heimwärts fuhren, war es drei Uhr vorbei. Sabine hatte heiße Wangen. Das ausgezeichnete Essen, die vornehme Atmosphäre, das Speisezimmer, fast ein Saal, mit all den dunklen alten Möbeln, dem schönen Porzellan und dem schimmernden Silber, die köstlichen Getränke, vom kleinen Sherry bis zum Champagner, der Mokka, der allzu schnell darauf getrunken worden war, noch ehe die Wirkung des Alkohols nachgelassen hatte – das alles hatte sie in einen Zustand schwindeliger Benommenheit versetzt. Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und ließ sich den Fahrtwind durch das Haar blasen. »Hast du je zu hoffen gewagt, daß Ilona so ein Glück haben würde? Natürlich ist sie hübsch, vielleicht sogar eine Schönheit, aber auch Schönheit hat doch heutzutage keinen Seltenheitswert.«
Plötzlich wurde ihr das Schweigen ihres Mannes bewußt, sie öffnete die Augen und wandte sich ihm zu. »Was hast du denn? Du sagst ja gar nichts.«
»Es genügt doch, daß du redest.« Er blickte starr vor sich auf die Straße. »Diese Bäume gehörten auch längst weg … sie sind lebensgefährlich.«
»Nicht, wenn man vernünftig fährt. Und außerdem ist das hier doch Privatstraße. Da vorne kommt ja erst Oswalds kleines Weekendhaus.«
»Du bist ja blendend informiert.«
»Hin und wieder erzählt mir Ilona eben noch was. Es kommt selten genug vor. Sie bogen in die alte Landstraße ein, die einige Kilometer weiter zur Bundesstraße und nach Riesberg hineinführte.
»Ich verstehe, daß dir die Trennung von Ilona schwerfällt«, sagte sie, »sie war ja seit jeher dein Liebling. Männer sind meistens ein bißchen eifersüchtig auf ihre Schwiegersöhne.«
»In welchem Frauenblättchen hast du das nun wieder gelesen?« fragte er unfreundlich.
Sie war verletzt, hatte aber gelernt, es sich nicht anmerken zu lassen. »Nun, immerhin arbeitet deine Schwester Ethel an einem Frauenblatt, und das hast du bisher nie als Schande empfunden.« Er schwieg. Sie suchte nach einem günstigeren Thema. »Es war fabelhaft von dir, nicht zuzulassen, daß sie die Verlobungsfeier an sich reißen«, lobte sie ihn, um ihn in bessere Stimmung zu bringen.
»Das war seit jeher Sache der Brauteltern.«
»Stimmt. Und das lassen wir uns auch nicht nehmen, und wenn es das Letzte ist, was wir für unsere Tochter tun können. Ich muß mit Ethel darüber reden. Sie muß mir alles ganz genau erklären, damit wir keine Fehler machen. Wir dürfen Ilona auf keinen Fall blamieren.« Sie sah sein finsteres Gesicht und legte ihm die Hand auf das Knie. »Bitte, sei doch nicht so brummig!«
»Entschuldige schon, aber ich bin es nicht gewohnt, den armen Verwandten zu spielen.«
Sabine öffnete den Mund, schloß ihn wieder und sagte dann: »Den … was?«
»Du hast mich sehr gut verstanden.«
»Ich hoffte, ich hätte mich verhört.« Sie zog sich die weiße, selbst gehäkelte Stola enger um die bloßen Schultern. »Du kannst doch nicht im Ernst böse sein, weil die Zinners reicher sind als wir? Es gibt Millionen Menschen, die …«
»O ja, ich weiß. Aber mit denen habe ich nichts zu tun. Wenigstens privat nicht.«
Sie spürte, daß die Wirkung des Alkohols allmählich verwehte und einen dumpfen Druck in ihrem Kopf zurückließ; es fiel ihr schwer, gegen die aufkommende Gereiztheit anzukämpfen. »Du wirst auch in Zukunft höchst selten mit ihnen zu tun haben, verlaß dich drauf.« Er preßte die Lippen zusammen und gab keine Antwort. »Außerdem weiß ich gar nicht, was du hast. Vater Zinner war doch sehr nett zu dir.«
»Jovial. Wie unser Direktor Neumann auf dem Betriebsfest.«
»Und du hast entsprechend gebuckelt!« entfuhr es ihr.
Jetzt wandte er sich ihr zu, das Gesicht verzerrt. »Dich hätte ich erleben mögen, wenn ich es ihm gegeben hätte! Das hättest du mir nie verziehen.«
»Bist du so sicher? Vielleicht hätte es mir imponiert … jedenfalls mehr, als wenn du mich jetzt, hinterher, anmeckerst. Ich kann doch wirklich nichts dafür.«
Eine Weile fuhren sie, wortlos nebeneinander sitzend, weiter, dann knurrte er: »Entschuldige schon.«
»Bitte«, gab sie im gleichen Ton zurück. Sie war den Tränen nahe und brauchte Zeit, bis sie einen neuen Vorstoß wagen konnte. »Warum machen wir uns das Leben so schwer, Arnold? Wir hätten doch allen Grund glücklich zu sein!«
»Ich habe mich schon entschuldigt.«
»Ich mache dir doch keinen Vorwurf, ich wollte nur wissen …« Sie verstummte mitten im Satz, plötzlich gepackt von dem Gefühl, daß jedes weitere Wort sinnlos war. In manchen Dingen gab es anscheinend keine Verständigungsmöglichkeiten zwischen ihnen.
Vor dem Haus in der Schleiermacherstraße stand ein hellblauer VW Variant. »Die Kaspareks!« stellte Arnold Miller unwillig fest. »Hast du die etwa eingeladen?«
»Das hätte ich dir doch gesagt!« behauptete Sabine.
»Du hättest es auch vergessen können.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß sie kommen. Ein Glück, daß ich einen Kuchen gebacken habe. Die Zwillinge werden mal wieder halb verhungert sein. Und Egon auch.«
Er bremste vor der Garage. Sie wollte aussteigen, um die Tür zu öffnen. Er hielt sie zurück. »Bitte«, sagte er, »sei nett zu Rosy! Sie ist … ich meine, es ist nicht ihre Schuld, daß sie so ist, wie sie ist.«
»Du fällst also auch auf ihre sogenannte Hilflosigkeit herein?«
»Sei nicht so, Biene. Sie ist ein armes Hascherl.«
Sie entzog sich seinem Griff. »Wenn du mich fragst … sie ist eine ausgesprochene Schlampe. Aber keine Angst, ich werde sie nicht kränken.«
Egon Kasparek kam vom Garten her, als Arnold das Auto in die Garage fuhr. »Da seid ihr ja!« rief er. »Sven sagte, er wüßte nicht, wann ihr kommt.«
Sabine küßte ihren Bruder. »Konnte er auch nicht wissen.«
»Stimmt das wirklich mit Ilonas Verlobung?«
»Ja. Nächsten Sonntag feiern wir offiziell. Die Zinners legen Wert darauf. Ihr seid selbstverständlich auch eingeladen.«
»Menschenskinder, was für ein Glück! Man kann euch direkt beneiden.«
»Ja, der junge Zinner ist ein netter Mensch.«
»Biene, nun tu bloß nicht so.« Egon Kasparek lachte nervös.
»Als wenn es darauf ankäme! Er stinkt vor Geld.«
»Sei still!« zischte Sabine.
»Was ist?« fragte er verblüfft.
»Red nicht so! Arnold ist schon wütend genug … es paßt ihm nicht, daß die Zinners so reich sind.«
»Kann ich beim besten Willen nicht verstehen.« Egon wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt fiel es Sabine auf, daß er ziemlich blaß war; um seinen Schnurrbart zuckte es nervös. »Sag mal, bist du krank?« fragte sie besorgt.
»Die Hitze bekommt mir nicht.«
»Dann verzieh dich schleunigst in den Schatten.« Sabine nahm seinen Arm und wollte ihn zur Loggia dirigieren.
Aber er kam nicht mit. »Ich muß erst noch Arnold begrüßen.« Sie ließ ihn los und ging allein weiter. Das Haus, der Garten, der kleine Rasen und die Parkrosen, auch die Loggia mit den einfachen Gartenstühlen, alles schien ihr schäbig geworden und zusammengeschrumpft nach ihrem Besuch auf Gut Apfelkam. Es war kaum zu begreifen, daß sie bis vor kurzem noch stolz und glücklich über den mühsam erarbeiteten kleinen Besitz gewesen war. Plötzlich verstand sie Arnolds Ärger. Aber jetzt war es zu spät; der Moment war verpaßt.
Rosy saß an einem kleinen runden Tisch. Sie hielt sich sehr aufrecht, eine zarte kleine Puppe in einem apfelgrünen Minikleid, einen mit Blumen verzierten Strohhut auf dem rotblonden Haar. Das Rouge, das sie aufgelegt hatte, hatte sich nicht mit ihrer blassen Haut vereinigt, sondern hob sich von ihr ab; auch der Augenbrauenstift, die Wimperntusche, die grünen Lidschatten und der helle Lippenstift saßen wie ungeschickte Kindermalereien in ihren spitzen kleinen Gesicht. Sie starrte ihr mit einem ängstlichen Ausdruck entgegen, den Sabine für unecht hielt.
»Hallo, Rosy«, sagte sie munter, »wie schön, daß ihr uns mal besucht.« Rosy reichte ihr schweigend die schlaffe, magere Hand.
Die Zwillinge hatten bäuchlings auf dem Rasenstück gelegen und versucht, Grashüpfer zu fangen. Jetzt sprangen sie auf, rannten zu Sabine und umschlangen sie. »Tante Biene, Tante Biene, hassu Kuchen für uns?« riefen sie. »Hassu Saft?«
Sie fuhr ihnen über die weichen Haare. »Alles da. Nur Geduld, ihr beiden. Laßt mich erst mal zu Atem kommen.« Zu Rosy sagte sie: »Die Jungen machen sich heraus.«
»Sie sind so unruhig.«
»So sind Kinder nun mal. Hab’ ein bißchen Geduld. Laß sie ein bißchen älter werden, dann hast du weniger Arbeit mit ihnen.«
Sie blickte sich suchend um. »Wo ist denn Sven? Hat er euch nicht hereingelassen?«
»Eben war er noch da.«
»Das sieht ihm wieder mal ähnlich.« Sabine wollte nach ihrem Sohn rufen, aber der sonntägliche Lärm aus den Nachbargärten war so laut, daß sie es vorzog, ihn nicht noch zu vergrößern. »Wenn der Kuchen auf dem Tisch steht, wird er schon kommen«, sagte sie statt dessen und zu ihren kleinen Neffen: »Ihr könnt noch ein bißchen spielen.«
Sie hätte es nicht gern gehabt, wenn Rosy ihr geholfen hätte, denn sie hatte immer Angst, die Schwägerin könnte etwas fallen lassen. Trotzdem ärgerte sie sich, daß Rosy sich nicht einmal dazu erbot, noch Anstalten machte, aufzustehen und sie ins Haus zu begleiten. Im Vorbeigehen warf sie ihre Stola auf einen freien Gartenstuhl, trat nicht durch die breite Glastür von der Loggia aus in das Eßzimmer, sondern ging um das Haus herum, durch den kleinen Hof mit den Mülltonnen, der Trockenspinne und der Teppichstange direkt in die Küche.
Wie sehr hatte sie sich diese Küche gewünscht mit ihrer modernen arbeitssparenden Raumaufteilung, den Einbauschränken mit dem blau-weißen Kunststoffbelag, dem Mülleimer an der Tür unter der Spüle. Sie sah die Zeichen des Verschleißes heute nicht zum erstenmal – die Kratzer auf dem Kunststoff, die lockere Leiste am Arbeitstisch und die Tür unter dem Kühlschrank, die schräg aus der Angel hing –, sie hatte sich schon oft darüber geärgert, diesen Ärger aber noch nie so stark empfunden wie gerade heute. Dabei wußte sie, daß vielleicht Reparaturen möglich waren, vielleicht – daß sie aber nie mehr im Leben eine neue Küche bekommen würde.
Sabine hätte am liebsten ein Aspirin genommen und sich ins verdunkelte Schlafzimmer gelegt. Keineswegs hatte sie Lust, Kaffee zu kochen und mit unerwünschten Gästen zu plaudern. Als sie gerade begonnen hatte, die Sahne zu schlagen, erschien Sven und fragte: »Kann ich dir helfen?«
»Ja, bitte.« Sie drückte ihm den Mixstab in die Hand. »Es wird ganz gut sein, wenn du dich nützlich machst. Warum hast du dich nicht um unseren Besuch gekümmert?«
»Was soll ich mit denen?«
»Das ist eine Frage! Es sind doch unsere Verwandten!«
»Aber die Alten spinnen, und die Kleinen gehen einem auf die Nerven!«
»Sven!«
»Wenn es doch wahr ist! Nun tu nicht so, als wenn du das nicht wüßtest.«
»Ich habe Onkel Egon sehr lieb.«
»Dann sei froh darüber.«
»Sven«, sagte sie streng, »manchmal bist du wirklich unausstehlich. Wenn dir deine Verwandten so lästig sind, dann brauchst du nicht hierzubleiben, im Gegenteil, ich werde froh sein, wenn ich dich heute nachmittag nicht mehr sehe.« Sie schob ihn beiseite und nahm selbst den Mixstab wieder in die Hand.
Er lehnte sich, die Hände in den Hosentaschen, mit dem Rücken gegen den Türpfosten. »Wo soll ich denn hin?«
»Wohin du willst. Du bist ein großer Junge, oder erwartest du, daß ich dich zu einem Spielplatz bringe?«
Er sah sie ganz erstaunt an. »Jetzt wirst du aber richtig gemein!«
Sie errötete und lachte, »Entschuldige, wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mich über alles Mögliche geärgert und lasse meine Wut an dir aus. Aber warum gehst du nicht fort? Zu Freunden?«
»Die sind doch jetzt alle verreist.«
»Alle? Wirklich?«
»Die meisten jedenfalls. Die haben …« Er stockte.
Die Sahne war steif, Sabine schaltete den Mixstab aus. »Erzähl mir jetzt bloß nicht, daß deren Eltern mehr Geld haben als wir … oder daß die nicht so ein blödes Haus gebaut haben. Du warst ganz glücklich, als wir hier herauszogen.«
»Wer sagt dir denn, daß ich es nicht mehr bin?«
»Dann mach nicht so ein Gesicht. Wenn du hier bleiben willst, dann benimm dich auch … bitte, Sven!« Sie fuhr ihm mit der gespreizten Hand durch die schwarzen Locken und hätte ihm gern einen Kuß auf die braune Wange gegeben, hielt sich aber zurück, weil sie mußte, daß er ihre mütterlichen Zärtlichkeiten in letzter Zeit nicht mehr schätzte.
»Wie war es denn bei Zinners?« fragte er.
»Phänomenal. Ich erzähl’s dir ausführlich heute abend. Vati will jetzt nicht so gern mehr etwas darüber hören. Komm, nimm die Kaffeekanne und hilf mir den Tisch decken.«
Beim sonntäglichen Kaffee wollte keine Gemütlichkeit aufkommen; die Stimmung der Erwachsenen war gestört. Sabine hätte gern über Ilonas Verlobung geredet, verkniff es sich aber, um nicht wieder mit ihrem Mann aneinanderzugeraten. Auch Egon Kasparek wagte auf ihre Warnung hin nicht, das Thema anzuschneiden. Er war so bemüht, den Schwager in gute Laune zu versetzen, daß es schon peinlich wirkte, vor allem, weil es ihm nicht gelang, die eigene Nervosität zu überspielen. Rosy schwieg sich aus, trank den Kaffee schwarz und zerbröselte den Pflaumenkuchen auf ihrem Teller, ohne ihn zu essen. Nur die Zwillinge waren munter. Sie aßen und schwatzten gleichzeitig, traten sich unter dem Tisch gegen die Schienbeine und schlürften ihren Kakao mit Behagen. Als Andreas sich in seinem Becher eine weiße Schlagsahnenase holte, kugelte sich Christian vor lachen, stippte unverzüglich seinen Zeigefinger in die Schlagsahne und begann sich selbst anzumalen, was der Bruder ihm sofort nachmachte.
Sabine überlegte, ob Knut oder Torsten sich je so aufgeführt hatten – aber natürlich, sie waren ja auch keine Zwillinge, waren fast zwei Jahre auseinander und daher auch leichter zu erziehen gewesen. Aber bestimmt hatte sie es sich mit ihren Söhnen nicht so bequem gemacht wie Rosy, die einfach dasaß und nicht einmal ein mahnendes Wort fand. Sven war übrigens auch keine Stütze; er lachte über die Späße der kleinen Jungen und feuerte sie dadurch nur zu immer neuen Ungezogenheiten an.
»Andy … Chris!« rief Egon scharf. »Schluß damit! Benehmt euch! Ihr seid hier nicht zu Hause!«
»Dürfen die denn sowas zu Hause?« fragte Sven und lachte noch mehr.
»Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, gibt es keinen Kuchen mehr!« drohte Egon. Das hatte nur zur Folge, daß Andreas sich rasch noch eindecken wollte und hastig zur Kuchenplatte griff, wobei er seinen Becher umstieß; die dunkelbraune Flüssigkeit ergoß sich über das weiße Tischtuch. Andreas erschrak. Aber Chris konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Finger in den vergossenen Kakao zu stecken und sich noch ein paar braune Verzierungen aufzumalen.
Egon tupfte mit seiner Papierserviette an dem sich rasch vergrößernden Flecken herum. »Das ist mir schrecklich, Biene, das schöne Tischtuch.«
»Ist doch nicht weiter schlimm«, beruhigte sie ihn, »ich stecke es einfach in die Wäsche. Der Tisch ist nicht empfindlich.«
»Jetzt eßt eure Teller leer, und dann bringe ich euch ins Bad und wasche euch ab«, sagte Egon zu seinen Söhnen. Die Zwillinge blickten sich an, und man konnte die neue dumme Idee förmlich in ihren Augen aufblitzen sehen: sie begannen, sich gegenseitig die Gesichter abzulecken wie zwei Hündchen.
Arnold Miller konnte sich nicht länger zurückhalten. »Schluß damit!« donnerte er.
»Ich glaube, sie sind satt«, stellte Sabine fest.
Egon Kasparek sprang auf, nahm die Jungen beim Kragen und zerrte sie fort. Sven lachte so unbeherrscht, daß er fast mit seinem Stuhl umgekippt wäre.
»Wenn die beiden sich nicht benehmen können«, schimpfte sein Vater, »ist das schlimm genug! Aber ein großer Junge wie du sollte sich schämen, sich derart aufzuführen.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan«, behauptete Sven mit Unschuldsmiene.
Sabine trank ihre Tasse leer und stand auf. Als sie den Tisch abgedeckt hatte, kam Egon Kasparek mit den Zwillingen zurück, die jetzt mit blanken Gesichtern und Tränenglanz in den braunen Augen so rührend und bezaubernd wirkten, daß niemand ihnen böse sein konnte.
»So, Sven, jetzt sei so nett und spiel mit deinen Vettern!« bat Sabine.
»Was denn?« fragte Sven und lümmelte sich auf seinen Stuhl.
»Das überlasse ich ganz dir! Verzieh dich mit ihnen in den Garten und paß auf sie auf.«
»Hopp, hopp!« drängte sein Vater. »Laß dir nicht alles zweimal sagen!«
Sven gehorchte wortlos, wobei es ihm gelang, mit jeder seiner trägen Bewegungen deutlich auszudrücken, wie verhaßt ihm diese Aufgabe war und wie ungerecht er sich behandelt fühlte.
»Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Arnold?« fragte Egon, kaum daß die Jungen außer Hörweite waren.
»Schieß los!«
Egon warf Rosy, die mit leeren Augen vor sich hinstarrte, einen Seitenblick zu. »Unter vier Augen«, murmelte er.
Sabine hatte durchaus keine Lust, mit der Schwägerin allein zu bleiben. »Aber, Egon, was soll das?« schaltete sie sich ein. »Du wirst doch keine Geheimnisse vor uns haben.«
»Natürlich nicht«, behauptete er verlegen, »nur … es gibt Dinge, die Männer eben besser unter sich besprechen.«
Arnold war schon aufgestanden. »Dann komm!«
Sabine ergab sich in ihr Schicksal. »Na, dann wollen wir es uns beide mal gemütlich machen Rosy«, sagte sie, »nehmen wir uns doch die Liegestühle!«
Rosy richtete den Blick ihrer starren grünen Augen auf sie. »Ich weiß, was Egon sagen will.«
»Ja?«
»Er will Arnold fragen, wie er mich los werden kann.«
Sabine, die gerade dabei war, sich einen Liegestuhl aufzuklappen, richtete sich jäh auf. »Rosy, das ist doch nicht dein Ernst?!«
»Egon liebt mich nicht mehr!«
»Das bildest du dir nur ein!« Rosys Gesicht verschloß sich, als sei eine Jalousie heruntergelassen worden. »Jetzt erzähl mal … wie kommst du denn darauf?« fragte Sabine. Aber ihre Schwägerin antwortete nicht. Sabine hatte den Stuhl aufgeklappt und prüfte, ob er sicher stand. »Jeder weiß, daß Egon dich vergöttert«, sagte sie. »Komm, leg dich hier hinein, das ist bequemer!« Sie stellte einen zweiten Liegestuhl daneben auf.
Rosy folgte ihrer Aufforderung erst, als Sabine sie bei der Hand nahm. »Hat es Streit zwischen euch gegeben?« forschte Sabine. Rosy schüttelte stumm den Kopf. »Du willst mir nichts erzählen?«
»Vielleicht steckst du ja auch dahinter!«
»Ich?! Wie kommst du darauf? Hinter was soll ich stecken?«
»Du hast mit Egon geflüstert, als ihr vorhin in den Garten kamt.«
»Ja, das stimmt. Aber nicht über dich. Es ging um Ilonas Verlobung. Glaubst du mir nicht?«
Rosy rang die mageren Hände. »Ich weiß es nicht«, stieß sie tonlos hervor, »ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Manchmal spüre ich sie ganz deutlich …«
»Wen …? Was?«
»Die bösen Kräfte. Ich kann es nicht anders nennen. Böse Kräfte, die mir was antun wollen.«
»Das ist doch alles Quatsch, Rosy«, sagte Sabine verblüfft, »jetzt hör bloß auf, dich interessant zu machen. Böse Kräfte, so ein Unsinn!«
Rosy hatte sich im Liegestuhl zurückgelehnt, ihr blumengeschmückter Strohhut war schiefgerutscht, aber sie achtete nicht darauf. »Ich kann es nicht erklären. Frag Egon, er beherrscht sie. Er läßt sie auf mich los. Er kann sie aber auch wieder fortscheuchen. Er hat mich in seiner Gewalt.«
»Solange man in einen Mann verliebt ist, hat er einen immer in der Gewalt.« Sabine rollte ihre Strümpfe, die sie trotz der sommerlichen Hitze für den Besuch bei Zinners angezogen hatte, herunter. »Du bist doch in ihn verliebt, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch, du bist verliebt, und du hast Angst, daß er dir entgleitet. Deshalb das ganze Theater. Aber wenn du meinen Rat hören willst: du solltest lieber vernünftig essen, anstatt verrückt zu spielen, du bist ja zaundürr geworden.«
»Ich mag nicht.«
Sabine hatte die Strümpfe ausgezogen und streckte sich im Liegestuhl aus. »Eine Weile wirst du Egon mit deinem Theater noch in Atem halten können!« Sie verschränkte die Arme unter dem Kopf. »Aber mal kommt der Punkt, wo er seine Ruhe haben möchte. Dann kann es passieren, daß er dich wirklich lossein will. Es ist ein gefährliches Spiel, was du da treibst. Hoffentlich weißt du es wenigstens.«
Rosy hob den Kopf und lauschte; aus dem Garten zur Rechten klang Radiomusik in voller Lautstärke herüber, aus dem zur Linken der Lärm fröhlicher, beschwipster Stimmen. »Wo sind die Jungens?«
»Ach, mach dir um die keine Sorgen«, sagte Sabine, »Sven paßt schon auf.« Aufseufzend legte Rosy sich wieder zurück. »Und jetzt werde ich dir von Ilonas Verlobung und unserem Besuch bei Zinners erzählen», versuchte Sabine sie abzulenken, »paß auf, das wird dich auf andere Gedanken bringen …«
Arnold Miller und sein Schwager Egon Kasparek saßen sich in den bequemen, schon reichlich abgewetzten Polstersesseln des Wohnzimmers gegenüber, einem nahezu quadratischen Raum, der, wie das Bad und das Schlafzimmer, zur Straße hin gelegen war. Das Haus war so gebaut, daß beide Stockwerke einen in sich abgeschlossenen Wohnkomplex bildeten und somit der erste Stock, wenn die Kinder erst einmal aus dem Haus sein würden, vermietet werden konnte.
»Hast du … zufällig eine Zigarette im Haus?« Egon rutschte auf der Vorderkante des Sessels herum.
»Ich dachte, du hättest das Rauchen aufgesteckt?«
»Hatte ich auch, aber in den letzten Wochen ist … nun eben … allerhand auf mich zugekommen, und wie es so ist, da greift man unwillkürlich wieder zur Zigarette.«
»Das finde ich aber ganz schlecht.«
»Ich ja auch. Ich werde es mir auch bestimmt wieder abgewöhnen, wenn erst …« Er stockte.
»Einen Kognak kann ich dir anbieten, wenn dir damit geholfen ist.« Arnold stand auf. »Einen deutschen natürlich … und auch das könnte ich mir nicht leisten, wenn ich nicht einen Verwandten im Supermarkt hätte.«
Egon lachte pflichtgemäß über den mageren Scherz. Arnold öffnete die Flasche, stellte zwei bauchige Gläser auf den Tisch und schenkte ein. »Na, dann Prost!«
»Prost!« Egon legte den Kopf zurück und schüttete sich den Inhalt des Glases durch die Kehle; danach bekam sein weißes Gesicht ein wenig Farbe. »Du, Arnold, ich stecke in einer furchtbaren Klemme«, stieß er heiser hervor.
Sein Schwager schenkte nach und setzte sich. »Schon wieder mal.«
»Ich … es ist wahr, ich habe euch in den vergangenen Jahren einige Sorgen gemacht, einfach weil«, stotterte Egon, »ich dachte immer, es müßte irgendeinen Beruf geben, bei dem einem die Arbeit Spaß macht und man schnell vorwärtskommt. Heute weiß ich natürlich, daß das falsch war. Auf die Dauer wird jede Arbeit … nun eben … fad, und was das Vorwärtskommen betrifft …«
Arnold wurde es bewußt, daß er sich an der Verlegenheit seines Schwagers und an dem eigenen Gefühl der Überlegenheit weidete, gerade weil er sich mit der kläglichen Position, die er den Eltern seines künftigen Schwiegersohns gegenüber einnahm, noch nicht abgefunden hatte. »Hör schon auf«, sagte er barsch, »du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist ja auch noch gar nicht heraus, ob ich es so viel besser gemacht habe als du. Meine Karriere ist ja, nach zwanzig Jahren in der gleichen Firma, auch nicht gerade berauschend.«
»Du hast das Haus …«
»Sag lieber: ich darf drin wohnen. Im Grunde genommen gehört es zum größten Teil der Bausparkasse und der Bank.«
»Du könntest keine Hypothek drauf nehmen?«
»Woher denn? Jeder Ziegel ist schon belastet.« Arnold legte die Stirn in Falten. »Fragst du das aus einem bestimmten Grund?«
»Ja, Arnold. Glaub mir, ich würde mich nicht an dich wenden, wenn ich nicht alles andere schon probiert hätte. Kleinere Beträge kann ich jederzeit mit Leichtigkeit auftreiben. Aber diesmal handelt es sich um eine Riesensumme.«
»Wieviel?«
»Vierundfünfzig Mille.«
»Du bist verrückt!«
»Ich will sie ja nicht geschenkt, sondern nur geliehen … für ein paar Tage … höchstens zwei Wochen!«
»Warum wendest du dich dann nicht an eine Bank?«
»Ich habe doch keine Sicherheiten zu bieten, und gerade deshalb dachte ich … ihr habt das Haus …«
»Das nutzt nichts.« Arnold nahm die dunkel gefaßte Brille ab und rieb mit einem Papiertaschentuch an den Gläsern herum. »Tut mir leid, Egon, ich kann dir wirklich nicht helfen.«
»Du bist meine letzte Hoffnung.«
Arnold setzte sich die Brille wieder auf. »Es hat keinen Zweck, Egon. Um ehrlich zu sein: ich bin nicht sicher, ob ich dir sechzigtausend Mark geben würde, wenn ich sie hätte …«
»Fünfzig würden genügen … das andere kann ich mir von Freunden beschaffen!«
»Wenn ich sie hätte«, wiederholte Arnold, »aber ich habe sie nicht und kann sie auch nicht auftreiben.«
»Und wenn du dich an die Zinners wenden würdest?«
»Würden sie höchstens Ilona fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. Anpumpen kann man die nicht. Ausgeschlossen.«
»Aber ich brauche das Geld!«
»Wozu? Benimm dich nicht wie ein kleiner Junge.«
Egon sprang auf und begann auf dem freien Platz zwischen der Sitzecke und dem Fernseher hin und her zu laufen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie prekär meine Situation ist. Wenn ich das Geld nicht auftreibe, ist alles aus. Dann bleibt mir nichts übrig, als Schluß zu machen … mit Rosy und den Kindern. Vielleicht ist das überhaupt die einzig richtige Lösung.«
»Komm, komm, hör auf, so daherzureden. Das ist doch alles Mumpitz, was du da verzapfst. Es gibt kein Problem, für das sich nicht doch eine Lösung finden ließe. Jetzt erzähl mir erst mal, wozu du das Geld überhaupt brauchst.«
»Sinnlos, wenn du mir doch nicht helfen kannst.«
»Vielleicht kann ich, wenn ich erst weiß …«
»Nein. Ich brauche das Geld. Wenn ich es nicht kriege, bin ich verloren.« Egon trat ans Fenster und sah zur Straße hinaus; seine Schultern zuckten.
Arnold hatte nie große Stücke auf seinen Schwager gehalten. Aber seine Verzweiflung war echt. »Hast du Schulden?«
»Schulden! Wenn es nur das wäre!«
»Warum sagst du mir nicht, was mit dir los ist?«
»Weil ich dich nicht auch noch belasten will.«
»Als wenn du das nicht schon getan hättest! Glaubst du, es könnte mir gleichgültig sein, wenn du mir drohst, dich mitsamt deiner Familie umzubringen!?«
»Ich hätte das nicht sagen sollen.«
»Du solltest mit so einem Gedanken nicht mal spielen.« Arnold stand auf; ihm war die ganze Geschichte höchst widerwärtig, aber er wußte, daß er es sich selbst nie verzeihen könnte, wenn er Egon ungetröstet gehen ließ und wirklich etwas passieren würde. »Sag mir, was los ist, und ich werde sehen, wie ich dir helfen kann.« Da er ein unsentimentaler Mensch war, kostete es ihn Überwindung, seine Hand auf die Schulter des Schwagers zu legen.
»Ich brauche keinen Rat, ich brauche Geld!«
»Wahrscheinlich kann ich das immer noch eher auftreiben als du. Selbst wenn ich das Haus verkaufen müßte.«
Langsam drehte Egon sich zu ihm um. »Und das würdest du tun?«
»Immer noch lieber, als dich zugrunde gehen zu sehen. Und, was glaubst du wohl, würde Sabine mir dann erzählen? Du weißt, wieviel zu ihr bedeutest.«
»Und ich habe dir immer nur Ärger gemacht!«
Zu Arnolds Entsetzen begannen sich Egons dicht bewimperte Augen mit Tränen zu füllen. »Herr des Himmels, laß dich doch nicht so gehen!« rief er. »Erzähl mir lieber genau, was geschehen ist, die ganze Geschichte von Anfang an, und wir werden sehen.«
»Kann ich noch einen Kognak haben?«
»Aber ja, setzen wir uns!«
Es dauerte noch eine Weile, ehe sich Egon zum Sprechen entschloß. Erst nippte er an seinem Kognak, dann suchte er in den Hosentaschen noch einem Zigarettenpäckchen und wußte doch, daß er gar keins dabei hatte, und klopfte zum Überfluß auch noch die Brusttaschen seines Sporthemdes ab.
»Also komm, komm«, drängte Arnold, »nun reiß dich zusammen … Wieso brauchst du das Geld?«
»Ich habe spekuliert.«
Auf die Idee wäre Arnold nicht gekommen. »An der Börse?« fragte er erstaunt. »Aber…«, fügte er hinzu, verstummte dann jedoch, weil ihm bewußt wurde, daß es sinnlos gewesen wäre, dem Schwager jetzt vorzuhalten, daß er von dergleichen Geschäften nichts verstand.
»Nein, nein, in Grundstücken«, erklärte Egon nicht ohne einen gewissen Stolz, »das scheint dir jetzt weit hergeholt, das verstehe ich schon, und auch ich hätte von mir aus an so etwas nie gedacht, wenn mir nicht Stefan Brandel… wir sind zusammen in die Schule gegangen, du müßtest ihn eigentlich auch kennen…«
»Der Brandel, der bei der Stadtverwaltung arbeitet?«
»Genau. Der hast mir… nun eben… den Tip gegeben, und der ist einfach Gold wert, der Tip, meine ich. Er hätte die Sache ja liebend gern allein geschmissen, wenn er nur das Geld gehabt hätte…«
»Die sechsundfünfzigtausend?«
»Nein, nein, das war alles, was ich aufbringen konnte, tatsächlich hätte man noch viel mehr anlegen können, bis zu dreihundert-, vierhunderttausend Mark mit garantiert hundertprozentigem Gewinn!« Egons Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. »Du weißt, wie lange Riesberg schon eine Umfahrungsstraße plant, und diese Umfahrungsstraße kommt, das ist gar keine Frage, es ist ja auf die Dauer untragbar, daß der gesamte Verkehr der Bundesstraße durch unsere Stadt rattert!«
»Davon brauchst du mich nicht erst zu überzeugen«, sagte Arnold Miller nüchtern.
»Ja, aber nun stell dir mal vor, Stefan Brandel weiß, wie diese Straße geleitet werden wird… durch einen Zufall konnte er Einsicht in die im übrigen streng geheimen Münchner Pläne nehmen! Verstehst du jetzt? Es ist eine einmalige Chance! Was hättest du denn getan, wenn man so etwas an dich herangetragen hätte?«
»Hm, hm…« Arnold Miller massierte sich sein Kinn. »Es hätte mir nichts genutzt, weil ich bekanntlich ein armer Hund bin.«
»Ich doch auch, Arnold!«
»Und du brauchst das Geld, um in dieses Geschäft einzusteigen?«
»Nein, das habe ich längst getan!« Das Bekenntnis kostete Egon Überwindung, dann aber fügte er wieder mit Schwung hinzu: »Ich habe siebentausend Quadratmeter saure Wiesen erstanden, die mindestens den doppelten Wert bekommen, wenn erst die Umfahrungsstraße gebaut wird. Sie führt mitten durch, verstehst du? Die Herren müssen mit mir verhandeln, und ich werde endlich, endlich auch mal einen Happen vom großen Kuchen abkriegen!« Auf seinen Wangen entstanden hektische rote Flecke.
Arnold verstand immer noch nicht. »Ja, aber… das klingt doch alles ziemlich positiv!«
»Ist es ja auch! Noch positiver, als du weißt! Nächsten Mittwoch ist nämlich schon die Sitzung des Stadtrates, in der wegen der Umfahrungsstraße entschieden wird, und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Wiesen mit Gewinn abstoßen kann!«
Arnold runzelte die Stirn. »Und wo steckt der Pferdefuß?«
Egon kämpfte mit sich. »Ich habe das Geld aus der Kasse genommen«, gestand er endlich.
»Bist du wahnsinnig geworden?!« Arnold sprang auf.
»Es scheint so«, bestätigte Egon.
»Aber, Menschenskind, wenn man dir drauf kommt, dann bist du nicht nur deine Stellung los… dann kommst du ins Kittchen wegen Unterschlagung! Und wenn du wieder raus bist, kannst du lange warten, bis du je wieder in eine einigermaßen verantwortliche Position gelangst!«
Egon wurde jetzt ganz ruhig; es war, als wenn alle Nervosität und Hektik von ihm abfiele. »Das«, sagte er, »brauchst du mir nicht zu erzählen, Arnold. Das weiß ich selbst. Oder was glaubst du, das mich dazu gebracht hat, ausgerechnet bei dir Hilfe zu suchen? Obwohl ich immer gespürt habe, wie wenig du von mir hältst.«
Arnold atmete tief durch. »Entschuldige. Du hast recht. Es war blöd von mir, dir das vorzuhalten. Schließlich bist du ja kein Idiot.«
»Ich sehe meine Situation vollkommen klar. Wenn ich mir doch bloß was vormachen könnte, dann ginge es mir besser.«
»Das würde aber wohl kaum was nützen.«
»Ich weiß nicht. Wenn man nur das Nächstliegende sieht und nicht auch noch die ganze Ausweglosigkeit der Zukunft, hält man es vielleicht durch. Aber ich bin am Ende, Arnold. Für Montag ist eine Finanzprüfung bei mir angesagt. Die ganze vorige Woche bin ich rumgesaust, um Geld aufzutreiben. Ich habe gute Freunde… aber leider zählen sie nicht zur Hochfinanz. Ein paar tausend Mark hätte ich zusammenschrappen können. Aber nicht so eine Summe.« Egon zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, warum ich dir das Ganze erzählt habe. Aber du hast ja drauf bestanden.«
»Verdammt, verdammt, verdammt!« Arnold schlug sich mit der geballten Faust auf die flache Hand.
Egon stand auf. »So ist es nun mal. Nun reg dich nur wieder ab, alter Junge, es nutzt ja nichts.« Er klopfte dem Schwager auf den Oberarm. »Leg ein gutes Wort bei Sabine für mich ein. Das ist das einzige, was du noch für mich tun kannst.« Er wandte sich zur Tür.
Arnold ertrug es nicht länger. Er konnte sich das alles so bildhaft vorstellen: die verschlossene Wohnung, die aufgeregten Nachbarn, das Getuschel und endlich der Entschluß, die Tür aufzubrechen, drinnen die entseelten Körper – vier Menschen, die sterben mußten, weil Egon zu leichtsinnig und er, Arnold, allzu gewissenhaft gewesen war. Mußte nicht in dieser Situation das Menschliche vor allen anderen Überlegungen Vorrang haben? Egon war schon im Flur, als Arnold ihn zurückrief. »Moment noch, ich sehe einen Weg, wie ich dir helfen kann. Fünfzig Mille könnte ich bis morgen aufreißen. Würde das genügen?«
Egon starrte ihn an. »Das grenzt ans Wunderbare!«
»Du würdest dir also die restlichen Tausender…«
»Aber ja, ich sage dir doch… sofort! Hör mal, du machst doch nicht etwa Witze mit mir? Woher willst du das Geld nehmen?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen, und ich bitte dich auch, kein Wort darüber zu verlieren… zu keinem Menschen… daß ich dir geholfen habe.«
»Nein, natürlich nicht, das ist doch Ehrensache.«
»Gut. Dann treffen wir uns morgen früh auf der Bank.«
Egon zögerte. »Geht es nicht andersherum? Könntest du mir nicht das Geld zum ›Zentrum‹ bringen? Es würde einen schlechten Eindruck machen, wenn der Prüfer kommt und ich…«
Arnold schnitt ihm das Wort ab. »Also gut, ich bringe es dir. Kannst du es denn überhaupt unauffällig wieder zurückerstatten?«
»Ohne weiteres. Ich habe mir eine komplette Tageseinnahme unter den Nagel gerissen, weißt du. Ich brauche die Summe also nur in den Tresor zu legen und zu behaupten, ich hätte sie nicht zur Bank gebracht, wie es üblich ist, sondern als Reserve zurückbehalten. Das wird diesem Menschen nicht sehr einleuchten, nehme ich an, aber er kann mir keinen Strick draus drehen.«
»Hoffen wir’s.«
»Aber bestimmt nicht. Denk nur daran, daß du mir das Geld nicht in Tausendern lieferst, sondern in verschiedenen Scheinen und auch Münzen – je unterschiedlicher, desto besser.«
»Auch das sollst du haben.«
»Ich weiß, daß ich dir da allerhand zumute, Arnold, aber dafür… du ahnst nicht, was ich empfinde.« Egons Stimme klang erstickt. »Du hast mich buchstäblich im letzten Moment vom Galgen abgeschnitten. Wenn ich dir jetzt sagen würde, daß ich dankbar bin, so ist dankbar gar nicht der Ausdruck… es gibt kein Wort dafür.«
»Laß es gut sein«, sagte Arnold, »ich tue es ja nicht nur für dich, sondern mindestens so sehr für Rosy und die Kinder, und schließlich auch für Ilona, denn ein Skandal in der Familie könnte ihre ganze schöne Verlobung zum Platzen bringen. Letzten Endes helfe ich dir also aus Egoismus und einfach deshalb, weil mir keine andere Wahl bleibt.« Er sagte das nicht nur, um Egon von einer übergroßen moralischen Verpflichtung zu entbinden, sondern auch, um der Bitterkeit Luft zu machen, die er ihm gegenüber tatsächlich empfand. Doch Egon war viel zu glücklich über die Wendung der Dinge, um das herauszuhören.
Sabine hatte in Rosy keine interessierte Zuhörerin für ihren Bericht von Ilonas Verlobung und dem sagenhaften Reichtum der Zinners gefunden; es hatte sich kein rechtes Gespräch in Gang bringen lassen, und so war sie froh, als die Männer auf die Loggia zurückkehrten. »Kommt, setzt euch zu uns!« rief sie. »Was kann ich dir anbieten, Egon?«
»Gar nichts, Biene. Lieb von dir, aber wir müssen weiter.«
Sabine stand auf. »Schon? Und ich dachte, ihr würdet zum Abendbrot bleiben.«
»Ein andermal mit Vergnügen, aber jetzt haben wir noch was vor.« Er reichte Rosy die Hand. »Komm, Liebling, rapple dich hoch… dein Hut sitzt übrigens schief! Nimm ihn ab oder rück ihn gerade.« Er zog seine Frau hoch. »Wo sind die Kinder?«
»Moment, ich hole sie!« Sabine ging um die Hausecke herum, und was sie sah, verschlug ihr den Atem. Die Zwillinge hatten die kleine Tanne über und über mit Dahlienblüten und Dahlienknospen besteckt. Jetzt standen sie, Hand in Hand, mit schräg geneigten Köpfen da und betrachteten ihr Kunstwerk.
»Andy… Chris!« Die Stimme wollte Sabine nicht gehorchen. »Wie konntet ihr!«
Die Jungen drehten sich zu ihr um. »Ist er nicht schön?« rief Andy.
»Ein hichtiger Weihnachtsbaum!« jubelte Chris. »Jetzt müssen wir alle ›O Tannenbaum‹ singen!«
»Nein«, sagte Sabine, »nichts von alledem. Ihr müßt nach Hause.«
»Aber es ist doch noch Kuchen da«, erinnerte Chris.
»Wir können eine schöne Bescherung machen«, schlug Andy vor.
Jetzt kam Egon hinzu und sah, was seine Söhne angerichtet hatten. »Ihr seid mir feine Schlingel!« Er versuchte, recht böse zu sein, konnte aber nur mit Mühe seine Belustigung unterdrücken. »Schämt ihr euch denn nicht? Ihr wißt doch genau, daß ihr keine Blumen ausrupfen dürft… hundertmal habe ich euch das schon gesagt!«
»Wir wollten euch doch nur Übehaschen!« verteidigte Chris sich und den Bruder.
»Laß nur«, bat Sabine mit Überwindung, »es nutzt ja jetzt doch nichts mehr. Der wirklich Schuldige ist außerdem Sven. Er hätte ja auf sie aufpassen sollen.«
»Ich schicke dir zum Trost die schönste Orchidee, die ich auftreiben kann.«
»So ein Unsinn!« wehrte Sabine ab, Tränen in den Augen. »Dann schon lieber ein Lebensmittelpaket aus dem Einkaufszentrum.«
»Wird gemacht.« Egon zog seine Schwester an sich und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Sei nicht traurig, es gibt schlimmere Dinge, glaub mir.«
»Als wenn ich das nicht wüßte, nur… es war ein solcher Schock.«
Egon sah sich um. »Wo steckt Sven?«
»Liegt hinter den Johannisbeerbüschen und schmökert. Den brauchst du nicht zu suchen.« Sie seufzte. »Manchmal denke ich: man muß seine Kinder sehr lieben, um sie ertragen zu können.« Egon lachte.
Knut Miller hatte Sonntagsdienst im Kreiskrankenhaus, eine Verpflichtung, die unter den jungen Medizinern aus verständlichen Gründen wenig beliebt war, besonders dann, wenn, wie heute, der Chef der Klinik, Dr. Ernst Kettner, diensthabender Arzt war.
Dr. Kettner war seinen Assistenten und Volontären gegenüber von unnachsichtiger Strenge. Man sagte ihm nach, daß er sich durch das gebieterische Regiment, das er in der Klinik führte, für die Demütigungen entschädigen müsse, die ihm von seiner Gattin, Tochter eines einflußreichen Politikers, zugefügt würden. Für ihn war der Sonntagsdienst ein Greuel, und seine Laune war dementsprechend. Er haßte es, wenn die Besucher in hellen Haufen das Krankenhaus überfielen, die Patienten – so sah er es jedenfalls – aufregten und beunruhigten, sie zu Diätsünden verführten und ihn selbst womöglich noch mit dummen Fragen belästigten.
Sein schönster Moment war es, wenn die Turmuhr endlich sechs schlug. »Sehen Sie zu, daß Sie die Leute rausbringen, Miller«, befahl er, »aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf.«
»Wird gemacht, Herr Chefarzt«, erwiderte Knut vergnügt und salutierte, Hand an der Stirn, obwohl er sehr gut wußte, daß Dr. Kettner für dergleichen Späße nichts übrig hatte; aber er mußte sciner Freude darüber, daß dieser ungute Tag für ihn nun bald ein Ende hatte, Luft machen.
»Hören Sie auf, den Clown zu spielen«, sagte Dr. Kettner Unwillig, »das ist eines angehenden Arztes unwürdig.«
Knut grinste nur und verzog sich. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war leicht genug zu erfüllen. Die Besucher wußten ohnehin, wann sie sich zu verziehen hatten, die meisten taten es nicht einmal ungern und verabschiedeten sich rasch und mit dem erhebenden Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben. Wenn aber doch einmal einer Mutter die Trennung von ihrem Kind, einem Mann der Abschied von seiner Frau schwerfiel, dann genügte es, wenn »der Herr Doktor« eintrat, um stirnrunzelnd einen Blick auf die Fieberkurve über dem Krankenbett zu werfen.
Mit wehendem Kittel eilte Knut durch die Gänge und vergewisserte sich, daß die Zimmer sich leerten. Er war gerade im dritten Stock, der Erste-Klasse-Abteilung, angekommen und stürmte um die Ecke, als er plötzlich, wie ein Hund, der in vollem Lauf von seinem Herrn zurückgepfiffen wird, stehenblieb.
Schwester Ute war gerade aus Zimmer 312 gekommen. Sie starrte mit dem Ausdruck flammenden Grolls auf eine riesige kreisrunde Schachtel, die sie vor sich hertrug. Es war deutlich, daß sie sich völlig unbeobachtet fühlte. Sie war schön, die junge Schwester Ute, darüber war sich Knut mit sämtlichen Ärzten des Kreiskrankenhauses einig – nicht einer, der nicht schon einmal versucht hatte, mit ihr anzubandeln oder, falls er sich nicht traute, zumindest mit dem Gedanken gespielt hatte – sie war schön auf eine geradezu herausfordernde Weise. Das braunrote, volle Haar trug sie streng aus der hohen Stirn gebürstet, ihre Augen, braunrot wie das Haar, waren von dichten dunklen Wimpern umgeben, die Nase gerade und kurz, das Kinn fest und energisch, die Lippen schmal, und die Herbheit dieses statuenhaften Gesichtes wurde – jedenfalls im Dienst – nie durch einen Hauch von Schminke, von Rouge, Lidschatten oder Lippenstift gemildert. Dadurch wirkte sie in ihrer hellblauen Schwesterntracht, der schneeweißen leicht gestärkten Schürze, dem weißen Häubchen auf dem Haar, auf eine faszinierende Art sauber.
Jetzt machte sie eine wilde Bewegung, als wenn sie die runde Schachtel in den eisernen Papierkorb donnern wollte, tat es dann aber doch nicht. Sie blickte auf und geradewegs in die bewundernden und doch gleichzeitig belustigt blickenden Augen des jungen Mannes. Eine Blutwelle schoß ihr in Wangen und Stirn.
Knut war sie nie so schön erschienen wie in diesem Augenblick. »Ärger, Schwester?« fragte er.
»Sehen Sie sich das an!« Sie hielt ihm die mit einem Blumenbild bedruckte Schachtel hin. »Drei Wochen lang habe ich diesem alten Knacker das Stechbecken gereicht und ihm den Hintern ausgeputzt, und jetzt, wo er wieder über den Berg ist, schenkt er mir Pralinen!« Knut lachte. »Ich finde das nicht im geringsten komisch«, sagte sie, »ich möchte wirklich wissen, was sich so einer einbildet… und dabei hat er Geld wie Heu, liegt Erster Klasse, im schönsten Zimmer des Hauses.«
»Ja, so sind nun mal die Kapitalisten«, meinte Knut philosophisch, »wenn sie anders wären, hätten sie wahrscheinlich weniger Geld.«
»Aber darum geht es doch gar nicht!« rief sie wild. »Kapieren Sie denn nicht? Diese Schachtel hat mindestens fünfzig Mark gekostet, verlassen Sie sich drauf, ich kenne mich aus. Hätte er mir das Geld doch in bar gegeben! Aber Pralinen?!«
»Knabbern, nehme ich an.«
»Wenn ich nur die Hälfte aller Pralinen, die man mir zusteckt, knabbern würde«, sagte sie verächtlich, »wäre ich längst eine wandelnde Tonne. Wie kann ich das Zeug bloß loswerden?«
»Stiften Sie es der Kinderabteilung«, schlug Knut vor, »oder den Ordensschwestern.«
Ihr Blick flammte. »Aber ich will es verkaufen! Möchten Sie es nicht haben, Herr Miller? Es wäre ein schönes Geschenk für Ihre Freundin.«
Er schmunzelte. »Die darf also ruhig fett werden?«
»Sie wissen genau, wie ich es meine. Pralinen sind eine feine Sache, wenn man nicht dauernd damit gefüttert wird.« Sie legte den Kopf schief. »Ich weiß, daß Ihre Freundin sich darüber freuen würde.«
»Wenn ich aber nun gar keine habe?«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Außerdem …« Sie hielt ihm die Schachtel hin. »Ich lasse sie Ihnen für zwanzig Mark… und wenn Sie keine Freundin haben, dann doch bestimmt eine Mutter oder eine Schwester, die…«
Er fiel ihr ins Wort. »Wenn ich nun das Geschäft mit Ihnen mache, Ute – werden Sie mir dann auch einen Gefallen tun?«
»Kommt darauf an.«
»Ich verlange nicht viel von Ihnen.« Er streckte den Arm aus und stützte sich mit der Hand gegen die Wand, so daß sie eingeklemmt war. »Ich kaufe Ihnen die Schachtel ab, wenn Sie mit mir ausgehen.«
»Warum nicht?« fragte sie ruhig.
»Es gibt keinen Grund, der dagegen spräche. Sagen Sie ja.«
»Ja.«
Knut war von ihrer schnellen Bereitwilligkeit angenehm überrascht. Dann hatten die anderen, die Schwester Ute als eine uneinnehmbare Festung schilderten, also doch übertrieben – oder hatte sie etwa ein Auge auf ihn geworfen? »Fabelhaft!« Er beugte sich so nahe zu ihr, daß seine Lippen sie fast berührten.
Sie machte keine Bewegung der Abwehr. »Da kommt jemand«, sagte sie nur.
Er zuckte zurück. Tatsächlich watschelte eine ältere Ordensfrau den Gang entlang. Schwester Ute benutzte die Ablenkung, um unter seinem Arm hindurchzuschlüpfen. »Also?« fragte sie und hielt ihm fordernd die freie Hand hin. »Wie haben wir’s?«
Er begriff, daß er zu seinem Wort stehen mußte, griff unter seinen weißen Mantel in die Hosentasche, fischte zuerst einen Zehnmarkschein, ein Fünfmarkstück und dann endlich, in Mark und Groschen, das restliche Geld heraus, das er ihr in die ausgestreckte Hand zählte.
»Danke. Es war sehr klug von Ihnen, diese Okkasion zu nutzen.« Sie gab ihm die Pralinenschachtel und wandte sich zum Gehen.
»Hoppla, nicht so eilig!« Er erwischte sie gerade noch beim Arm. »Wir haben noch keine Verabredung getroffen… wann sind Sie heute abend frei?«
Sie blickte ihm gerade ins Gesicht. »Wieso interessiert Sie das?«
»Weil Sie mir versprochen haben…«
»Jetzt verstehe ich, worauf Sie anspielen. Natürlich werde ich mein Versprechen halten und einmal mit Ihnen ausgehen. Aber von heute abend war ja nicht die Rede. Irgendwann einmal.« Sie befreite sich aus seinem Griff und schritt davon, schlank und geschmeidig, den Kopf hoch erhoben.
Knut starrte ihr nach und begriff, daß sie ihn hereingelegt hatte. Aber er konnte ihr nicht einmal böse sein. Immerhin hatte sie länger mit ihm gesprochen als je zuvor. Erst als sie in der Teeküche verschwand, fiel ihm ein, daß er immer noch die riesige Pralinenschachtel unter dem Arm hielt. So konnte er die Krankenzimmer nicht betreten. Kurz entschlossen tat er das, was Schwester Ute vorhin schon vorgehabt hatte: Er steckte sie in den eisernen Papierkorb. Irgend jemand würde sie bestimmt dort herausfischen, spätestens die Putzfrauen, die ihn morgen früh zu leeren hatten.
»Gute Nacht, Arnold, ich bin müde.« Sabine klappte ihr Buch zu, knipste die Nachttischlampe aus und rollte sich zu ihrem Mann hin, der neben ihr im Doppelbett lag.
Er gab ihr einen leidenschaftslosen Kuß. »Stört es dich, wenn ich noch in bißchen lese?«
Natürlich störte es sie, aber sie wußte, daß er es als Schikane empfinden würde, wenn sie es ausspräche. »Ich mache einfach die Augen zu.« Aber das Licht drang durch ihre geschlossenen Lider, und sie wartete mit nervöser Spannung darauf, daß er wieder umblätterte – er tat es nicht, denn er starrte blicklos in sein Buch. Beide hörten sie den Porsche Vorfahren, hörten Ilonas und Oswald Zinners unterdrückte Stimmen.
»Wenn die Verlobungsfeier im Parkhotel stattfinden soll«, sagte Sabine, »muß ich rechtzeitig ein Extrazimmer bestellen.«
»Hm, ja.«
»Ich möchte aber vorher mit Ethel sprechen, damit sie mich berät.«
»Tu das.«
»Könntest du mich morgen früh mit in die Stadt nehmen?«
Er schwieg, während er überlegte, wie er es verhindern konnte, daß sie ihm in die Quere kam. Sie wiederholte ihre Frage. »Ich fahre morgen später«, erklärte er, »weil ich vorher auf die Bank muß.«
»Warum?«
»Nur so.«
Er war froh, daß sie nicht weiterbohrte. »Das paßt mir ganz gut«, sagte sie statt dessen, »da kann ich wenigstens noch die Betten auslegen.« Nach einer Weile fragte sie: »Was wird diese Feier wohl kosten?«
»Das werden sie dir im Parkhotel sagen, wenn du danach fragst.« Sie legte sich auf die Seite und sah ihn an. »Mir kommt es ein wenig schäbig vor, daß wir das Geld dazu von Ilonas Aussteuerversicherung abzweigen wollen.«
»Du hast ja gehört«, sagte er, »daß sie keine Aussteuer braucht.«
Jetzt wurde der Schlüssel in die Haustür gesteckt; kurz darauf wurde der Porsche angelassen und fuhr davon. »Das war ein langer Abschied«, stellte Sabine fest. Er ging nicht darauf ein.
Minutenlang lag sie schlaflos, hörte Ilona die Treppe hinauf und oben zwischen ihrem Zimmer und dem Bad hin und her gehen. Bei Hubers zur Rechten wurde immer noch gefeiert, die Stimmung schien immer übermütiger zu werden, Herr Zibalsky zur Linken hatte den Fernseher wieder mal bei offenem Fenster auf Hochtouren laufen.
Sabine verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Komisch, Egon war so gut gelaunt.« Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: »Als er kam, schien er furchtbar mitgenommen und niedergeschlagen. Rosy kann einem wohl auch auf die Nerven gehen. Nachher war er wie umgewandelt.« Als Arnold immer noch nicht reagierte, fragte sie: »Was hast du bloß mit ihm angestellt?«
»Weiß nicht«, brummte er.
»Aber er war tatsächlich ganz verwandelt, wie… wie von einer Riesenlast befreit.«
Einige Sekunden lang war Arnold drauf und dran, ihr die Wahrheit zu sagen, konnte sich dann aber doch nicht dazu überwinden. »Du übertreibst mal wieder«, sagte er statt dessen. Er spürte, daß er zu grob gewesen war. »Wir haben ein Männergespräch geführt. Anscheinend hat ihm das gut getan.«
»Ist es wahr, daß er Rosy lossein will?«
Arnold ließ sein Buch sinken. »Wie kommst du darauf?«
»Sie sagte es mir.«
»Ich halte das für absoluten Unsinn. Jedenfalls hat Egon nichts dergleichen erwähnt.« Er nahm sein Buch wieder hoch.
»Um so besser«, sagte Sabine, »ich war zwar gegen diese Ehe – erinnerst du dich? – aber eine Scheidung wäre auch keine Lösung. Rosy könnte nicht allein fertig werden, und noch dazu mit den Zwillingen. Doch wer weiß, wenn sie es müßte, vielleicht könnte sie es doch… Vielleicht würde sie dann sogar wieder ganz vernünftig werden. Sie läßt sich entsetzlich gehen – findest du nicht auch?« Arnold murmelte etwas Unverständliches. »Egon hätte eine vernünftige, lebenstüchtige Frau gebraucht«, fuhr sie fort, »nicht so ein haltloses, spinöses Wesen. Ich wundere mich, was er sich alles von ihr gefallen läßt… manchmal habe ich den Eindruck, daß er allein den ganzen Haushalt schmeißen muß. Ich mache mir Sorgen um die beiden.«
Er war nahe daran, ihr von dem Reiseruf zu erzählen, den Rosy über den Rundfunk losgelassen hatte, und von seinem Besuch bei den Kaspareks, er suchte schon nach den richtigen Worten. Da sagte sie: »Und auch um die Zwillige. Sie sind furchtbar ungezogen. Denk mal dran, wie Knut oder Torsten oder Sven in dem Alter waren… natürlich, sie haben auch Dummheiten gemacht. Aber mir sämtliche Dahlien kaputtzumachen, lach mich, bitte, nicht aus, aber ich bin immer noch nicht drüber weg. Beim bloßen Gedanken könnte ich in Tränen ausbrechen.«
»Die wachsen doch nach.«
»Das sagst du so. Aber geh mal raus und guck dir die Pflanzen richtig an … und dann sag mir, was da nachwachsen soll.«
Darauf wußte er nichts mehr zu erwidern, und auch sie verfiel in Schweigen. Eine Weile wälzte sie sich unruhig hin und her, dann sagte sie: »Würdest du jetzt, bitte, das Licht ausmachen?«
Er tat es, legte das Buch aus de Hand und nahm seine Brille ab. Wenig später merkte er, daß sie eingeschlafen war. Er aber lag noch lange wach, kaute wieder und wieder in allen Einzelheiten das Gespräch durch, das er mit seinem Schwager gehabt hatte, und grübelte, ob sein Verhalten richtig gewesen war. Mehr und mehr kam er zu dem Schluß, daß ihm keine andere Wahl geblieben war.
Ethel Miller erwachte am Montag morgen mit trockenem Mund und einem dumpfen Druck im Kopf, den vertrauten Symptomen, die sich bei ihr einzustellen pflegten, wenn sie am Abend zuvor zwei Schlaftabletten mit Whisky hinuntergespült hatte. Das Sonnenlicht, das die maisgelben, nahezu transparenten Vorhänge aufleuchten ließ, tat ihr weh, und sie schloß rasch wieder die Lider. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr bewußt wurde, daß das lange, einsame Wochenende wieder einmal überstanden war, und sofort erwachten ihre Lebensgeister.
Sie setzte ihre elegante rechteckige Brille auf, sprang aus dem breiten französischen Bett, freute sich, den dicken Teppich unter ihren nackten Sohlen zu spüren, lief in das Bad, drehte den Hahn über der Wanne auf und ließ das Wasser so lange laufen, bis es eiskalt geworden war. Dann warf sie ein Alka-Seltzer in ihren Zahnputzbecher, hielt ihn unter den Hahn, wartete, bis es sich sprudelnd gelöst hatte, um es dann zu trinken. Danach legte sie das Bettzeug auf der Terrasse ihres Penthauses aus, lief ins Bad zurück, stellte sich selbst unter die Dusche, setzte Kaffeewasser auf und brachte das Bad wieder in Ordnung. Sie war dabei, die Hähne blank zu reiben – sie hatte zwar gestern die ganze Wohnung gründlich geputzt, aber Ralf Heilmann, ihr langjähriger Freund, war in solchen Dingen sehr penibel –, als es klingelte.
Sie richtete sich auf, warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken und riß sich das Frottiertuch vom Kopf, das sie sich zuvor zum Schutz um ihr Haar gebunden hatte. Sie fuhr sich mit dem Kamm über ihre Pagenfrisur, bis sie glatt und glänzend um ihr Gesicht lag. Jetzt sah sie in ihrem weißen Bademantel mit nichts darunter ganz passabel aus, wenn auch nicht gerade auf einen Besuch vorbereitet – aber was für einen Besuch konnte sie denn schon am Montagmorgen erwarten?
Ralf? War es möglich, daß er genausoviel Sehnsucht nach ihr hatte wie sie nach ihm? Daß er einen Abstecher nach Riesberg gemacht hatte, weil er sie sehen wollte, bevor er auf Tour ging? Ethel Miller lauschte angespannt, wartete auf das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür – aber es kam nicht. Statt dessen klingelte es ein zweites Mal. Während sie den Gürtel des Bademantels enger zog, eilte sie in die Diele hinaus. Sie nahm den Hörer der Sprechanlage ab und rief: »Hallo, wer ist da, bitte?« Als niemand sich meldete, öffnete sie die Wohnungstür und sah sich ihrer Schwägerin gegenüber – Sabine Miller in einem hellgrauen Kostüm, einen blauen Glockenhut auf dem blonden Haar. »Ach, du bist es!« sagte Ethel. »Komm rein!«
»Tag, Ethel. Ich dachte schon, du seist auf der Redaktion.«
»So früh doch nicht.«
»Es ist neun Uhr vorbei.«
»Für Zeitungsleute immer noch früh.« Ethel bückte sich und hob die Tüte mit den Semmeln auf. »Glückliches Wesen!«
Ethel, die durchaus nicht so zufrieden mit ihren Lebensumständen war, übernahm sofort die Rolle, die ihr zugespielt wurde. »Nur kein Neid«, sagte sie und verzog den Mund zu einem breiten Lausbubenlächeln. Der Wasserkessel pfiff.
»Du trinkst doch eine Tasse Kaffee mit?« fragte Ethel. »Dann kümmere dich, bitte, darum. Ich werde mich inzwischen anziehen.« Sie drückte der Schwägerin die Brötchen in die Hand.
Sabine imponierte die unbekümmerte Art Ethels. Ihr selbst wäre es nie eingefallen, eine Besucherin zu bitten, ihr das Frühstück zu machen, aber für Ethel schien das ganz selbstverständlich, und Sabine kannte sich ja auch gut genug hier aus, um diese Aufgabe zu übernehmen.
Zwanzig Minuten später war der Kaffee fertig. Sabine trug die heiße Kanne auf die Terrasse hinaus, wo sie zwischen den Kübeln mit Oleanderbüschen den Tisch gedeckt hatte. Ethel hatte inzwischen das Bettzeug hereingeholt und erschien jetzt, jugendlich und schlicht gekleidet in einem gelben Häkelminikleid, Sandalen an den nackten braunen Füßen, aber mit sehr sorgfältig zurechtgemachtem Gesicht. Sie ließ die Markise herunter, bevor sie sich setzte. »Darf ich einschenken?« fragte Sabine.
»Ja, mach nur.« Ethel griff sich ein Brötchen und schnitt es durch. »Ein herrlicher Tag, was? Eine Reihe herrlicher Tage. Ihr müßt es wunderbar haben in eurem Garten.«
»Stimmt«, sagte Sabine, »aber ich weiß nicht, ob du nicht doch besser dran bist hier oben. Kein Unkraut, keine Läuse, kein Lärm, und trotzdem jede Menge Sonne und frische Luft. Ich finde das ideal.«
»Ich auch«, gab Ethel zu, »ich finde es schrecklich, daß ich hier raus muß. Habe ich es dir noch nicht erzählt? Der Besitzer beansprucht die Wohnung für sich selbst.«
»So ein Pech. Aber tüchtig, wie du bist, wirst du schon wieder was Passendes finden.«
»Wollen wir’s hoffen.«
Sabine hatte keine Lust, sich in ein fruchtloses Gespräch über Ethels Wohnungssorgen einzulassen, deshalb fragte sie rasch: »Übrigens bin ich aus einem ganz besonderen Grund gekommen…«
»Ja?« fragte Ethel kauend.
»Ilona hat sich verlobt.«
»Da schlag doch einer lang hin! Mit dem jungen Zinner?«
»Erraten.«
»Du, das ist ja fantastisch.« Ethel leckte sich die Butter von den Fingern. »Da kann man ja nur gratulieren. Hast du eine Ahnung, wie reich die Zinners sind? Immens, sage ich dir! Ünrigens ließe sich da eine hübsche Story draus machen, eine richtige Romanze könnte man aufbauen… ein modernes Märchen. Ich sehe schon die Fotos von der Hochzeit vor mir, die strahlende Braut am Arm des künftigen Gatten. Unterschrift: Geld ist für uns Nebensache. Wie gefällt dir das? Glaubst du, daß Ilona mir ein Interview gibt?«
»Aber bestimmt. Wenn Oswald einverstanden ist.«
»Wie ist denn der Knabe? Mal davon abgesehen, daß er vor Geld stinkt.«
»Sehr nett, wirklich. Du darfst nicht glauben, daß Ilona ihn nur wegen seines Geldes nimmt.«
»Aber! Das glaube ich ja gar nicht! Nur… Geld hat alle Male eine ausgesprochen retuschierende Wirkung. Nach den Fotos zu urteilen, die ich von ihm gesehen habe, ist er jedenfalls alles andere als ein Beau.«
»Mit deinem Ralf«, entgegnete Sabine ziemlich scharf, »läßt er sich natürlich nicht vergleichen.«
Ethel lächelte entwaffnend. »Da hast du recht.«
Sabine änderte den Ton. »Bevor du ihn nicht persönlich kennengelernt hast, kannst du dir kein rechtes Bild von ihm machen«, sagte sie friedfertig. »Sprechen wir uns also nächsten Sonntag wieder.«
»Was ist da?«
»Die offizielle Verlobung.«
»Und dazu bin ich eingeladen? Das ist aber wirklich süß von euch! Wer kommt denn noch?«
»Nur die nächste Familie, also wir, Arnold und ich, Knut und Sven, mein Bruder und dessen Frau…« Sabine zögerte. »Torsten werde ich wohl auch einladen müssen, obwohl er bestimmt nichts von sich hören lassen wird.«
Ethel zündete sich eine Zigarette an. »Und von den Zinners kommt niemand?«
Sabine lachte. »Du mißtrauisches Frauenzimmer … doch! Oswald Zinners Eltern waren es ja gerade, die auf der offiziellen Verlobung bestanden haben. Den jungen Leuten ist die Sache eher lästig.«
»Was man verstehen kann. Also werden Oswald Zinner senior und Gattin erscheinen. Und wer sonst noch?«
»Von den Zinners? Niemand. Sie wollen Ilona im Herbst in die sogenannte gute Gesellschaft einführen… ohne uns, versteht sich. Aber das ist uns nur recht so. Glaub bloß nicht, daß wir uns jetzt in die High-Society drängen möchten. Da würde uns wohl sehr bald der Atem und das Kleingeld ausgehen.«
»Ein sehr vernünftiger Standpunkt.«
»Der einzig mögliche. Und nun paß mal auf…« Sabine beugte sich vor. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Geld?« Ethel verzog das Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen. »Also ganz ehrlich, ich bin momentan ein bißchen knapp, und dann der bevorstehende Umzug…«
»Bloß keine Bange, ich will dich nicht anpumpen! Ich brauche bloß deinen Rat, wie man so eine offizielle Verlobung richtig arrangiert. Ich habe nämlich keine Ahnung…«
»Warte mal! Da hab’ ich was für dich!« Ethel streifte die Asche ihrer Zigarette ab, stand auf und verschwand durch eine der Glastüren in ihrem Wohnzimmer. Der sehr große Raum nahm die ganze Breite des Penthauses ein. Die Wand gegenüber dem gemauerten Kamin war von einem Bücherregal verstellt, das vom Boden bis zur Decke reichte. Ethel blieb einen Augenblick davor stehen, ließ ihren Blick über die bunten Rücken gleiten, stellte sich dann auf die Zehen und zog ein Exemplar heraus. »Hier«, sagte sie, als sie wieder zurückkam, »da findest du alles, was du brauchst.«
Sabine las ein wenig zweifelnd den Titel. Die neue Etikette für junge Leute. Sie blickte zu Ethel auf. »Die Feier soll im Parkhotel stattfinden.«
»Ist alles beschrieben.«
»Würdest du wohl trotzdem mitkommen? Ich will heute schon das Extrazimmer bestellen.«
Ethel lächelte. »Hast du deshalb diesen komischen Hut auf?«
Sabine griff sich an den Kopf. »Ist er komisch?«
»Nicht eigentlich. Es wirkt nur komisch auf mich, dich am frühen Morgen mit einem Hut herumlaufen zu sehen…«
Sabine überwand eine kleine Empfindlichkeit. »Ich übe mich eben in meiner neuen Rolle als Schwiegermutter. Also… kommst du mit?«
»Ehrensache.« Ethel drückte ihre Zigarette aus, tupfte sich mit einem Papiertaschentuch den Mund ab und benutzte einen Lippenstift. »Ich muß nur erst die Luken dichtmachen. Du kannst derweil schon mal in dem Benimmbuch studieren.«
»Ich räume inzwischen lieber den Tisch ab. Ich weiß doch, wie pingelig dein Ralf ist. Kommt er heute abend?«
»Ich hoffe es.« Ethel ließ den Spiegel sinken. »Sag mal, würde es dir was ausmachen, wenn ich ihn zur Verlobung mitbrächte?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Sabine spontan, aber dann kamen ihr doch Bedenken: »Du, da müßte ich eigentlich erst mal die Neue Etikette um Rat fragen. Eigentlich soll die Feier ja im engsten Familienkreis stattfinden. Da ergibt sich die Frage: gehört Ralf zur Familie? Kann man ihn im weitesten Sinne – um mit Robert Lembkes Rateteam zu sprechen – als Familienmitglied bezeichnen?«
Ethels Gesicht hatte sich verdüstert. »Nein.« Sie ließ Spiegel und Lippenstift in ihrer weißen Lackledertasche verschwinden.
»Sei mir nicht böse«, bat Sabine.
»Bin ich gar nicht.«
»Wenn dir soviel dran liegt, dann pfeifen wir eben auf die Etikette, Ethel. Bring ihn mit und fertig.«
»Sehr lieb von dir, Biene.« Ethel zwang sich zu einem Lächeln. »Aber es wäre wohl doch nicht das Richtige. Ralf ist darin komisch. Er würde in so einer Einladung womöglich eine Falle sehen. Und außerdem … sonntags hat er doch prinzipiell keine Zeit für mich.«
»Hockt er immer noch bei seiner Muttert?« Ethel nickte stumm. »Ärgerlich«, sagte Sabine mitfühlend, »aber immer noch besser, als wenn er verheiratet wäre.«
»Das habe ich anfangs auch gedacht. Aber langsam weiß ich nicht mehr, wo da der Unterschied liegt.«
Sabine stand auf. »Mach bloß nicht so ein sauertöpfisches Gesicht, das paßt nicht zu dir. Und dann… du hast mir selbst tausendmal versichert, daß du nicht daran denkst, zu heiraten.«
»Das besagt aber nicht, daß es mir Freude macht, jedes Wochenende allein zu bleiben.«
»Läßt sich gar nichts daran ändern?«
»Ich kann ihm doch auch nicht dauernd deswegen in den Ohren liegen.«
»Lieber tust du so, als wenn es dir nichts ausmachen würde.« Sabine begann, das Frühstücksgeschirr zusammenzustellen. »Das kann ich schon verstehen. Aber tröste dich, Ethel, so ein… wie soll ich sagen… unverbindliches Verhältnis hat seine Vorzüge. Die Ehe ist auch kein Honiglecken.«
»Sicher nicht.«
»Und wenn Ralf sich am Wochenende nicht bei dir blicken läßt, so ist das doch auch kein Grund, allein zu Hause zu bleiben und in die Glotzkiste zu starren. Komm zu uns heraus. Du weißt, du bist uns immer willkommen.«
»Lieb von dir.«
»Ach was. Ich freue mich ja, wenn du kommst. So amüsant ist das Eheleben nach zwanzig Jahren auch nicht, daß man unbedingt den Wunsch hätte, ungestört zu sein.« Sabine hatte das Geschirr auf das Tablett gestapelt. »Komm zu uns, so oft du willst, und ich wette, du wirst deine Freiheit bald wieder schätzen. Übrigens, am Sonntag war Egon mit Rosy und den Zwillingen da…« Und dann sprachen sie über die Kaspareks.
In den nächsten Tagen drehten sich die Gespräche bei Millers um die bevorstehende offizielle Verlobung. Die beiden Frauen diskutierten über Speisefolge, Sitzordnung, Getränke und Blumenschmuck, und auch Knut gab seine Meinung zum besten. Immer wieder versuchten sie Arnold hineinzuziehen, doch ohne Erfolg. Für ihn klang das alles chinesisch; in seiner augenblicklichen Verfasssung war er außerstande, sich mit Fragen zu beschäftigen, die außerhalb seines normalen Lebensbereiches lagen. Im Büro tat er wie sonst seine Pflicht, und nicht einmal Fräulein Döring merkte ihm an, daß er nicht ganz bei der Sache war.
Seit er die fünfzigtausend Mark von der Bank geholt und seinem Schwager übergeben hatte, fühlte er sich wie amputiert. Es war ihm, als habe er damit einen Teil seines Selbst geopfert. Als er Egon das hochherzige Angebot gemacht hatte, hatte er sich die Folgen nicht vorgestellt. Jetzt brannte ihm die Angst vor dem Verlust in der Seele. Gleichzeitig machte ihn die Hoffnung auf den Erfolg der Spekulation schwindelig. Sollte sich das Glücksrad des Schicksals endlich zu seinen Gunsten gedreht haben? War der Lottogewinn nur ein Anfang gewesen? War vielleicht auch Ilonas Verlobung ein Zeichen dafür, daß es seiner Familie bestimmt war, sich aus der grauen Masse herauszuheben?
Manchmal schien ihm das so wahrscheinlich, als wenn er es schon seit langem auf sich zukommen gesehen hätte. Dann wieder war er überzeugt, daß Wahnideen ihn narrten. Und doch war die Hoffnung da, und sie überfiel ihn immer wieder so siedend heiß wie die Angst.
Wenn er es auch nicht ausdrücklich mit seinem Schwager vereinbart hatte, so schien ihm doch sicher, daß mindestens die Hälfte des angestrebten Spekulationsgewinnes ihm zufallen würde, da er ja letztlich der Geldgeber war. Selbst wenn er – falls der Verkauf an die Stadt nicht umgehend realisierbar sein sollte – Rudolf Kienzel mitbeteiligen müßte, würde das immer noch einen ungeheuren Profit bedeuten. In Wahrheit, gestand er sich, wäre es ihm gar nicht unlieb gewesen, Kienzel partizipieren zu lassen. Die finanzielle Einbuße würde reichlich wettgemacht durch den Triumph, den er dem alten Freund gegenüber erzielen würde, der es liebte, sich als selbständiger Kaufmann aufzuspielen, und sich einbildete, auf Arnold, den Arbeitnehmer, herabblicken zu dürfen. Welch unwiederbringliche Gelegenheit, ihm zu beweisen, daß er wahren Unternehmergeist besaß! Aber noch in den Augenblicken überschwenglicher Hochstimmung spürte Arnold, daß er seinem Charakter und seiner Erziehung nach der Situation nicht gewachsen war. Er war keine Spielernatur, wenn er sich auch immer dafür gehalten hatte.
Sabine, die das Geld, das er wöchentlich für die Wettscheine ausgab, lieber anderweitig angelegt gesehen hätte, hatte ihm seine Spielleidenschaft oft vorgehalten. Wie ungerecht sie ihn damit beurteilt hatte, begriff er erst jetzt. Diese Lotto- und Totowetten waren kein wirkliches Spiel gewesen, sondern nur Spielereien, der kindliche Wunsch, mit minimalem Einsatz das Glück zu zwingen. Jetzt, zum erstenmal in seinem Leben, war er ein Risiko eingegangen, und es nahm ihm den Appetit und raubte ihm den Schlaf. Er fühlte sich herausgehoben aus dem Kreis seiner Familie und gleichzeitig isoliert. Wie unter einer Glasglocke sah und hörte er alles, was um ihn herum vorging, aber er konnte es nicht greifen.
Für Sabine war seine Teilnahmslosigkeit unfaßbar. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie zornig, als er wieder einmal auf eine ihrer Fragen mit dumpfem Schweigen reagierte, »kann dir denn die Zukunft der einzigen Tochter gleichgültig sein!?«
»Und die hängt von der Sektmarke ab?« fragte er.
»Von vielem, Vati… von allem!« sagte Ilona. »Deshalb bemühen wir uns ja so, daß es keine Pannen gibt!«
»Nicht so laut… bitte!« war alles, was er darauf zu erwidern wußte; er nahm die Brille ab und strich sich über die Augen.
»Wir nehmen keinen Sekt, sondern Champagner«, entschied Sabine. Arnold stand auf und verließ das Zimmer. Er wußte, daß er die beiden Frauen damit verärgerte, aber es war ihm gleichgültig.
An jedem Dienstagabend fuhr Arnold gewöhnlich zu seinem Stammtisch im Goldenen Löwen, wo einige Herren seines Alters, Honoratioren von Riesberg, regelmäßig zusammenkamen. Diesmal brachte er weder Lust noch Kraft dazu auf. Doch weil er Sabines Neugier nicht wecken wollte, verließ er das Haus und fuhr stundenlang ziellos umher. Schließlich stoppte er, weil er an das Ende einer Sackgasse geraten war, saß da, bei laufendem Motor und mußte sich besinnen, wo er war und was ihn hierher getrieben hatte. Blitze zuckten am nächtlichen Sommerhimmel; der Donner war noch weit.
Arnold drehte den Zündschlüssel um und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Aus dem Seitenfach zog er eine Straßenkarte von Oberbayern und faltete sie so auf, daß er das Rechteck, in dessen Mittelpunkt Riesberg lag, vor sich hatte. Noch führte die Bundesstraße mitten durch die Stadt, zum ständigen Ärger der Anwohner und der Autofahrer. Es gab nur einige wenige Geschäftsleute und Hoteliers, die den bestehenden Zustand zu erhalten wünschten, weil sie die durchreisende Kundschaft nicht verlieren wollten. Aber eine Umfahrungsstraße mußte und würde kommen, so viel war sicher. Die Frage war nur, ob sie westlich oder östlich von der Stadt gebaut werden würde.
Stefan Brandel, der behauptete, den Plan zu kennen, hatte Egon das westliche, zu den Alpen hin gelegene Gebiet angesagt. Das schien auch, wie Arnold jetzt feststellte, die gegebene Lösung. Westlich von Riesberg erstreckte sich freies, nur wenig besiedeltes Gelände, und vor allem gehörte es zum überwiegenden Teil schon jetzt der Stadt, so daß nicht allzu viele Grundstücke dazugekauft werden mußten. Arnold fuhr mit dem Finger über die Strecke. Ja, so etwa würde die Umfahrungsstraße wohl geführt werden. Wer aber konnte Voraussagen, ob sie dicht an Riesberg vorbeilaufen würde, um den Autofahrern so wenig zusätzliche Kilometer wie nur möglich zuzumuten, oder in einem weiten Bogen, weil man mit einem starken Wachstum der Stadt rechnete? Hierüber Vermutungen anzustellen, wäre sinnlos gewesen. Man mußte es wissen. Egon war überzeugt, daß Stefan Brandel es wußte. Warum konnte nicht auch er es einfach glaubern? Was beunruhigte ihn so?
Arnold starrte lange auf die Karte, bevor er sie faltete und an ihren Platz zurücksteckte. Plötzlich konnte er sich nicht mehr vorstellen, daß bei einer Spekulation, die so viele Mitbürger reizen mußte, ausgerechnet er den Volltreffer machen sollte. Seine Hoffnung auf einen Riesengewinn platzte wie ein zu kräftig aufgeblasener Luftballon. Jetzt wäre er schon froh gewesen, wenn er das Geld, das er Egon geliehen hatte, ungeschmälert wiederhätte. Es war Wahnsinn gewesen, es ihm zu geben – und doch, was hätte er anderes tun können? Erst als dicke Regentropfen hart auf das Autodach knallten, ließ Arnold den Wagen wieder an und wendete. Das Gewitter schien jetzt über ihm zu sein.
Der Mittwoch wurde der längste Tag in Arnolds Leben. Vom späten Vormittag an erwartete er jede Sekunde, daß Egon ihn darüber verständigen würde, wie die Entscheidung gefallen war. Am Abend, gleich nach den Sechs-Uhr-Nachrichten, rief er bei Kaspareks an. Aber niemand meldete sich. Um halb neun versuchte er es noch einmal. Diesmal wurde der Hörer auf der anderen Seite abgenommen. Arnold hörte ein flaches Atmen, aber kein einziges Wort.
»Hallo, hallo!« rief er. »Was ist los? Bist du es Andy? Chris? Hört auf mit den Späßen. Hier ist Onkel Arnold!« Aber außer dem Atemgeräusch blieb alles stumm.
Das war sonderbar. Auch wenn er sich nichts anderes vorstellen konnte, als daß die Zwillinge wieder einmal Dummheiten machten, so blieb doch unverständlich, wie sie das um diese Zeit tun konnten, da sie doch eigentlich ins Bett gehörten und die Eltern hätten zu Hause sein müssen.
Arnold war beunruhigt. Noch kurz zuvor hatte er es für vernünftig gehalten, sich bis zum morgigen Bericht über die Stadtratsitzung im Oberbayrischen Volksblatt zu gedulden. Jetzt konnte er es nicht mehr aushalten. Ohne Sabine, die im Gartenzimmer saß und Radio hörte, zu verständigen, verließ er das Haus und holte den Wagen aus der Garage. Zehn Minuten später parkte er auf dem Maximiliansplatz. Er trat weit zurück, überquerte dann die Fahrbahn und blickte von der anderen Seite zu dem schmalen alten Haus hinauf. Zwischen den Vorhängen an den Fenstern im dritten Stock schimmerte Licht. Er nahm es als ein gutes Zeichen.
Die Haustür unter dem Bogengang war noch unverschlossen. Arnold hastete die Treppen hinauf und klingelte. Sekunden später wurde geöffnet. Egon Kasparek stand vor ihm; in Hemdsärmeln, mit geöffnetem Kragen und aufgezogener Krawatte zeigte er nicht die Spur seiner sonstigen Eleganz. »Ich bin gerade erst nach Hause gekommen«, sagte er, fast abwehrend.
Schon in diesem Moment wußte Arnold, daß alles aus war. Trotzdem fragte er: »Hast du das Ergebnis?«
Egon zögerte. »Ja.«
»Wie ist die Sache ausgegangen?«
»Arnold, hör mal, ich kann dir das doch nicht hier und jetzt erklären…«
»Dann laß mich rein!«
»Ausgeschlossen.« Egon wich nicht zur Seite; es zuckte nervös um seinen Schnurrbart. »Bitte nicht«, fügte er in weicherem Ton hinzu, »Rosy… sie fühlt sich nicht ganz wohl. Ich… wir dürfen sie keinesfalls beunruhigen.«
»Egon! Keine Ausflüchte, bitte! Ich habe genug ausgestanden in den letzten Tagen… jetzt will ich die Wahrheit wissen!«
Aber wieder wich Egon aus. »Weißt du was… treffen wir uns in zehn Minuten im Goldenen Löwen. Bis dahin habe ich Rosy zu Bett gebracht… also bis gleich!«
Arnold wollte protestieren, aber da schlug ihm Egon die Tür vor der Nase zu. Langsam stieg er die flachen Steinstufen hinunter. Sein Verstand sagte ihm, daß das Schlimmste eingetroffen war. Aber er weigerte sich, es wahrzuhaben. Gewiß, Egons Verhalten war das eines Mannes gewesen, der sich nicht zur Wahrheit zu bekennen wagte. Aber es gab doch noch eine andere Erklärung für sein Benehmen. Vielleicht war die Spekulation des Schwagers doch richtig gewesen, und vielleicht suchte er jetzt, da es zum Klappen kam, nach einem Weg, ihn, Arnold, aus dem Geschäft auszubooten. Noch klammerte sich Arnold an diese schwache Hoffnung.
Als Arnold Miller den Schankraum des Goldenen Löwen betrat, überkam ihn das Gefühl, daß es ein Fehler gewesen war, sich von Egon Kasparek hierherbestellen zu lassen. Auch erkannte die Kellnerin Therese, die sich wegen ihres gewaltigen Busens, ihres ausladenden Hinterteils und ihres schnellen Mundwerks besonderer Beliebtheit bei der Riesberger Herrenwelt erfreute, ihn sofort und wollte ihn zum Stammtisch führen. Es war nicht ganz einfach, ihr klarzumachen, daß er für heute nur einen kleinen Tisch suchte, möglichst einen Ecktisch, wo er in Ruhe mit seinem Schwager sprechen konnte. Dabei hatte er noch Glück, daß niemand an der großen runden Eichentafel saß, die durch die handgestickte bayerische Standarte ständig reserviert war. Denn wenn auch der Stammtisch offiziell nur Dienstag abends tagte, so pflegten doch die Herren, die zu ihm gehörten, auch sonst hier Platz zu nehmen, um einen Schoppen oder eine Maß zu trinken. Arnold hätte es unter normalen Umständen genauso gehalten, aber er wollte nicht riskieren, daß sein Gespräch mit Egon belauscht oder – wenn auch auf gut gemeinte Art – unterbrochen wurde. Doch als er an einem der normalen, mit Kunststoffplatten versehenen Gästetisch Platz nahm, kam er sich wie degradiert vor.
Nach dem ersten tiefen Schluck Starkbier aus dem tönernen Literkrug ging es ihm besser. Der große, bis zur halben Höhe holzgetäfelte Raum war vollbesetzt mit Fremden, die sich laut und ungeniert benahmen und so eine Atmosphäre schufen, die ihm wenigstens einen Hauch der gewünschten Anonymität verschaffte. Fast gelang es ihm, sich zu entspannen. Aber als er dann Egon entdeckte, der die Tür aufgestoßen hatte und sich auf der Schwelle suchend umsah, war dieses trügerische Gefühl sofort wie weggewischt. Egon wirkte gehetzt, wie ein Mann auf der Flucht, ein Geschlagener und durchaus nicht wie jemand, der ein großes Geschäft entriert hat und nun darauf aus ist, den Rahm allein abzuschöpfen.
So ersparte sich Arnold denn, als Egon ihn gefunden und sich neben ihm niedergelassen hatte, die Frage, wie die Stadtratssitzung ausgegangen war, sondern forschte ohne Umwege: »Wie ist es passiert?«
»Eine ganz große Schweinerei.« Er winkte der Kellnerin und sagte, auf Arnolds Krug zeigend: »Mir das gleiche!« Er wandte sich Arnold zu und berichtete mit flackernden Augen: »Die haben alles umgeschmissen. Stell dir vor! Die Straße wird westlich der Stadt vorbeigeführt. Ich kann es ruhig laut sagen, denn morgen steht es in der Zeitung. Westlich! Obwohl da die Ries und die Eisenbahnlinie überbrückt werden müssen. Und warum das alles? Weil die Herren mit den guten Beziehungen…« Er schnippte mit Daumen und Zeigefinger »… dort Gelände besitzen. Zeltner und Zinner, du verstehst… diese verdammten Kapitalisten, die immer den längeren Arm haben. Ich hab’s ja gewußt.«
Jetzt hätte Arnold erwidern können, daß Egon sich gerade deshalb nie in eine so gewagte Spekulation hätte einlassen dürfen; aber er war viel zu betroffen, daß seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.
Die Kellnerin knallte die frische Maß vor Egon auf den Tisch, er führte den Krug zum Mund und leerte ihn mit einem Zug bis zur Hälfte. »Und weißt du«, fuhr er, sich über die Lippen wischend, fort, »mit welchem Argument sie diesen Wahnsinn begründen? Der Osten sei das Erholungsgebiet der Stadt und dürfe deshalb nicht zerstört werden!« Er lachte höhnisch.
Arnold kämpfte gegen eine aufkommende Übelkeit. »Und das ist endgültig?«
»Habe ich Brandel auch gefragt. Aber der konnte mir keine Hoffnung mehr machen.«
»Mein Gott!«
Jetzt wandte sich Egon ihm zu, als sehe er ihn jetzt erst richtig, und das mochte wohl auch sein, denn bisher war er nur mit seinem eigenen Unglück beschäftigt gewesen, ohne daran zu denken, was diese Katastrophe für Arnold bedeutete. »Selbstverständlich«, sagte er, »werde ich dir die Wiesen notariell überschreiben!«
»Was soll ich mit Wiesen?«
»Na immerhin, Grundbesitz behält seinen Wert. Da wir in einer schleichenden Inflation leben … dir brauche ich das wohl nicht zu erklären… ist Grund die beste und vor allem sicherste Kapitalanlage.«
»Egon!« Arnold war nahe daran, ihn zu schütteln. »Ich brauche das Geld!«
»Ach so.« Es war Egon anzusehen, daß er sich unsanft aus seinen Träumen in die Wirklichkeit zurück gerissen fühlte. »Ja, dann…«, schon wieder war er voller Optimismus, »…werde ich sie eben verkaufen.«
»An wen?«
»Du erwartest doch nicht im Ernst von mir, daß ich dir das jetzt aus dem Stegreif sagen kann? Aber mach dir nur keine Sorgen, ich sehe da verschiedene Möglichkeiten. Eine klappt ganz bestimmt.«
»Egon, ich brauche das Geld in spätestens vierzehn Tagen zurück… oder zumindest die Hälfte.«
»Ich soll die Gründe verschleudern? Nein, kommt nicht in Frage. Das, was ich reingesteckt habe, werde ich auch wieder rausholen.«
»Es ist mir egal, wie du es machst.« Arnold warf ein paar Münzen für die Kellnerin auf die Kunststoffplatte. »Vielleicht kannst du eine Hypothek aufnehmen oder sonst etwas. Ich jedenfalls brauche die fünfundzwanzig Mille spätestens am…« Er rechnete nach, wann Rudolf Kienzel zurück sein würde, und zog ein paar Tage ab, »… am 28. August. Das ist, glaube ich, ein Samstag.«
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Egon.
»Das ist nicht genug. Du mußt die Wiesen verscherbeln, wenn nötig, mit Verlust. Sonst bin ich ruiniert.«
Egon öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, verzichtete aber doch darauf, weil er sich nicht mehr als notwendig belasten Wollte. Sie trennten sich ohne ein weiteres Wort.
Das Extrazimmer des Parkhotels, in dem die offizielle Verlobung Ilonas mit Oswald Zinner junior gefeiert wurde, war ein langgestreckter Raum mit hohen Fenstern, neben denen die dunkelroten Vorhänge schwer und glatt herunterhingen. Der rechteckige Tisch entsprach der Form des Zimmers; an der Schmalseite war eine weitere Tafel aufgestellt, auf der sich die Verlobungsgeschenke präsentierten: prachtvolle Blumenarrangements, ein kupferner Samowar, den Ilonas Kolleginnen gestiftet hatten, sechs goldene Kaffeelöffel, von den Zinners spendiert, ein österreichisches Kaffeeservice von den Eltern, verschiedene Aschenbecher, Leuchter, Zuckerdosen, Spiegel und Blumenvasen, mit denen Bekannte gratuliert hatten, auch Menschen, an deren Existenz sich Ilona nur schwach erinnerte. Das sehr vornehme Verlobungsinserat in der Zeitung und die auf Bütten gedruckten Anzeigen hatten ihre Wirkung getan. Das kostbarste Geschenk war jedoch ohne Zweifel der Ring mit dem einkarätigen Diamanten, den Ilona stolz am Ringfinger der linken Hand trug. Ein Kostüm aus hellblauer, handgewebter thailändischer Seide gab ihrer Schönheit etwas Exotisches. Alle anderen Frauen verblaßten neben ihr, und Sabine stellte fest, daß Oswald in seiner hellen, rotblonden Rundlichkeit genau den passenden Hintergrund bot, auf dem ihre Vorzüge voll zur Geltung kamen.
Die beiden bildeten tatsächlich – er im schwarzen Anzug, weißen Hemd, mit silbergrauer Krawatte und Perlnadel, ein so attraktives Paar, daß Sabine plötzlich verstand, weshalb die Zinners diese Verbindung ihres Sohnes so freudig begrüßt hatten. Ilona war eine Frau und Schwiegertochter, mit der man sich sehen lassen konnte, und wenn sie erst in der Münchner Gesellschaft Fuß gefaßt hatte, würde ihre imbedeutende Herkunft bald vergessen sein.
Auch Knut sah blendend aus, und saß sein Anzug auch nicht so tadellos wie der seines Schwagers, so hatte er doch die bessere Figur, wie Sabine mit einiger Genugtuung feststellte.
Arnold hätte einen großartigen Eindruck machen können, wenn er sich nur ein bißchen Mühe gegeben hätte, doch eben das tat er nicht. Mürrisch stand er da, sein Glas Sherry in der Hand, und versuchte nicht einmal, Helen Zinner zu unterhalten. Ein Fremder hätte meinen können, er sei der reiche Schwiegervater, der widerwillig dieser Verlobung zugestimmt hatte – kein armer Teufel, der froh sein mußte, seine Tochter so gut unter die Haube gebracht zu haben. Wenn er sich nur etwas besser gehalten, wenn er doch mal gelächelt hätte! Sprühenden Witz hatte er ja niemals entwickelt, aber wenn er wollte, konnte er sehr charmant sein. Doch seit Ilonas Verlobung war es ganz aus mit ihm. Anscheinend, dachte Sabine, stimmte es doch, was man immer wieder in den Frauenzeitschriften las; er war tatsächlich eifersüchtig auf den zukünftigen Mann seiner Tochter – sonderbar genug, denn er hatte sich nie betont oder gar in übertriebenem Maße um sie gekümmert. Oder war es ihr entgangen? Merkwürdig, daß man einen Menschen, mit dem man über zwanzig Jahre verheiratet war, doch so wenig kannte.
Jedenfalls trug sein Verhalten nicht dazu bei, die recht gezwungene Atmosphäre aufzulockern. Ein Glück, daß wenigstens Oswald Zinner senior sich glänzend mit Ethel Miller zu unterhalten schien, die in einem rot-schwarzen Pariser Kleid und einem gekonnten Augen-Make-up unter ihrer rechteckigen Brille apart und großstädtisch wirkte. Helen Zinner wandte sich wieder dem Gabentisch zu, obwohl sie sich für die ausgestellten Stücke nicht im geringsten interessierte. Egon, der früher ein Gesellschaftsmensch gewesen war, kümmerte sich ausschließlich um seine Frau Rosy, die wenigstens ordentlich angezogen und zurechtgemacht war, dafür aber kein Wort herausbrachte; hin und wieder bewegte sie die Lippen, als unterhalte sie sich mit einem unsichtbaren Gesprächspartner.
Sabine wollte gerade zu Helen Zinner gehen – obwohl sie beim besten Willen nicht wußte, worüber sie mit ihr reden sollte, ohne einfältig oder aufdringlich zu wirken –, als der Oberkellner an sie herantrat. »Wenn Sie jetzt zu Tisch bitten würden, gnädige Frau«, schlug er vor.
Sabine war erleichtert, daß es weiterging; sie stellte ihr Glas ab. »Bitte zu Tisch!« sagte sie mit erhobener Stimme, und trotz der Tischkarten hielt sie es für nötig, hinzuzufügen: »Du führst Frau Zinner.«
Arnold sah sie an, mit einem Blick, der aus weiter Ferne zu kommen schien, raffte sich dann aber doch auf und reichte Helen Zinner den Arm. Knut kümmerte sich um seine Tante Ethel, Oswald Zinner senior kam auf Sabine zu. Oswald führte Ilona zu Tisch, und die beiden Kaspareks blieben, weil Egon ausdrücklich darum gebeten hatte, zusammen. Nur Sven blieb übrig. Etwas verloren stand er da, und der dunkelblaue Blazer, den Sabine ihm für die Verlobung gekauft hatte, paßte zu seinem zigeunerhaften Aussehen so wenig wie sein Name. Er wirkte, vielleicht auch weil er sich so sehr bemühte, ein erwachsenes Gesicht zu machen, wie verkleidet, ein Schauspieler in einer schlecht geprobten Rolle.
»Du sitzt zwischen Tante Ethel und Onkel Egon«, erinnerte Sabine. Svens braune Haut wurde kupferfarben, als er alle Blicke auf sich gerichtet sah. Er beeilte sich, Platz zu nehmen, und duckte sich hinter die große Karaffe mit Wasser, als hoffe er, sich dadurch unsichtbar zu machen.
Knut konnte sich nicht enthalten, seinen kleinen Bruder zu nekken. »Na, Sven«, sagte er, »hast du dich schon entschieden? Willst du auf Ilonas Hochzeit die Schleppe tragen oder Blumen streuen?«
»Weder… noch«, gab Sven pampig zurück.
»Wirklich nicht? Junge, du enttäuschst uns«, behauptete Oswald.
»Blumen streuen und Schleppe tragen… das ist doch was für Babys!«
»Vielleicht hast du sogar recht«, meinte Knut schmunzelnd, »hier bietet sich eine schöne Aufgabe für die Zwillinge!«
»Bloß nicht!« protestierte Ilona. »Wenn die beiden mitmachen, würde ich meines Lebens nicht mehr froh. Immer müßte ich denken: Gleich passiert was!«
»Na, so schlimm sind sie nun auch wieder nicht«, verteidigte Egon seine Söhne.
»Aus dir spricht väterliche Blindheit. Aber süß sind sie doch!« Ilona wandte sich an ihren Schwiegervater. »Ich muß euch die beiden direkt mal vorführen. Ihr werdet sicher euren Spaß haben.«
Rosy hatte bei der ganzen Unterhaltung keine Miene verzogen, so als gehe sie das, was man über ihre Kinder sagte, nicht das geringste an. Sabine versuchte, Rosy zum Reden zu bringen. »Wo hast du die Kinder heute gelassen?« fragte sie.
Aber Egon antwortete an Stelle seiner Frau. »Wir haben einen Babysitter bekommen. Zum Glück, denn sonst hätten wir noch in letzter Minute absagen müssen.«
»Oh, das hätte ich nicht zugelassen«, rief Sabine, »dann hätte ich euch Sven geschickt.«
»Wie der babysitten kann, wissen wir ja«, sagte Knut, »ich erinnere nur an letzten Sonntag und an Bienes Dahlien!«
Sabine zerbrach sich den Kopf, wie sie die Zinners in das Gespräch mit einbeziehen sollte. »Ich weiß nicht, ob es deine Schwiegereltern interessiert«, sagte sie, »aber vielleicht erzählst du ihnen doch mal, was passiert ist …« Gleichzeitig kam es ihr so vor, als müsse Ilona eine Unterhaltung mit Menschen vom anderen Stern dolmetschen.
Ilona erzählte, während alle ihre Suppe löffelten – klare, echte Fleischbrühe aus Tassen. Dann wurde abgetragen. Oswald stand auf und klopfte mit dem Löffel an sein Glas. Die Kellner zogen sich zurück.
»Liebe Ilona«, begann Oswald, »liebe Schwiegereltern, liebe Eltern und liebe Festgemeinde, ihr alle wißt, daß ich zu Anfang gegen eine offizielle Verlobung war, weil ich sie für überflüssig hielt. Inzwischen, das muß ich gestehen, habe ich meine Meinung grundlegend geändert: eine offizielle Verlobung ist eine herrliche Sache, denn sie gibt mir Gelegenheit, mich als Bräutigam eines so wunderbaren Wesens zu präsentieren, wie es Ilona, meine Ilona, nun einmal ist. Ich fühle mich ganz wie Hans im Glück, was aber nicht heißen soll, daß ich bereit bin, Ilona gegen irgend etwas oder irgend jemanden einzutauschen. Ich habe lange genug gesucht, bis ich ein Mädchen gefunden habe, das…«
Die Tür wurde aufgestoßen, und ein junger Mann mit einem bunt gebatikten Baumwollhemd über einer schmuddeligen grauen Leinenhose, Sandalen an den nackten Füßen, stürmte herein. Sein Gesicht war von so viel üppigem Haar und Bartwuchs umgeben, daß es fast darin verschwand. Auf dem Rücken trug er eine Gitarre und hinter sich an der Hand zog er ein zierliches Mädchen mit brandrotem Haar und einem clownhaft weißen Gesichtchen.
»Here we are!« schrie der blonde Junge unbekümmert. »Entschuldigt, wenn wir uns verspätet haben, aber wir sind per Anhalter gekommen!« Er schoß auf Ilona los, riß sie vom Stuhl hoch und in seine Arme. »He, Ilona, altes Haus… willst du dich wirklich mit dem Fatzken da für ein ganzes Leben unglücklich machen?«
»Torsten!« Sabine schwankte zwischen Liebe und Entsetzen.