Читать книгу Bleibt uns die Hoffnung - Marie Louise Fischer - Страница 4

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Der Tag war ungewöhnlich warm für Ende Mai. Ein kurzer Regen in der Frühe hatte kaum Abkühlung gebracht. Die Luft war schwül, als stünde noch ein Gewitter bevor.

Sabine Miller hatte das Fenster des ebenerdigen Schlafzimmers weit geöffnet und sich aufs Fensterbrett geschwungen. Obwohl sie nur einen kurzärmeligen weißen Kittel über Höschen und Büstenhalter trug, war ihr heiß. Sie schüttelte die Sandalen von den Füßen.

Das Schlafzimmer war immer schon zu eng für die schweren Möbel gewesen, die noch aus den ersten Ehejahren stammten. Millers hatten geplant, es neu einzurichten, sobald die drückendsten Schulden, die sie für den Bau ihres Hauses hatten aufnehmen müssen, getilgt sein würden. Aber so weit war es nie gekommen. Jetzt mußte auch noch ein Kinderbett hier Platz finden.

Ilona, die zwanzigjährige, unverheiratete Tochter, saß auf der Kante des Ehebetts, die dem Fenster zugewandt war, und gab ihrem Baby das Fläschchen. Sie war vollständig angezogen, trug ein schickes, gelbes Polokleid, Perlonstrümpfe, weiße Pumps und wirkte, als wäre sie nur gerade eben auf einen Sprung hereingekommen.

Tatsächlich hatte sie den ganzen letzten Monat bei ihren Eltern in Riesberg verbracht. Gleich von der Klinik aus, in der sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte, war sie nach Hause gekommen. Inzwischen war ihre Schonzeit abgelaufen, und sie mußte nach München an ihren Arbeitsplatz zurück.

Das Fläschchen war leer, und Ilona zog ihrem Baby den Sauger aus dem Mund.

»Wie gut Katja trinkt!« lobte Sabine.

»Ja, sie ist ein wahrer Schatz. Ich werde sie sehr vermissen.« Ilona legte die Hand unter den Rücken der Kleinen, richtete sie auf und hielt sie hoch. »Mach ein Bäuerchen! Ein schönes Bäuerchen!«

Katja verzog das Gesicht, als wenn sie sich Mühe gäbe, der mütterlichen Aufforderung nachzukommen.

»Sieh nur, wie sie sich anstrengt, Mutti!« rief Ilona. »Ist sie nicht süß?«

Sabine Miller beobachtete die beiden mit Rührung. »Sie kommt ganz nach dir«, behauptete sie, »bis auf die roten Haare und die helle Haut… die hat sie von ihrem Vater!«

»Hoffentlich hat sie im Leben mehr Glück als ich!« rutschte es Ilona heraus, aber sie verbesserte sich sofort. »Ich hab’s nicht so gemeint, Mutti, wirklich nicht … ich bin ganz und gar nicht verbittert. Schließlich bin ich jung und gesund und habe ein süßes Baby und eine Mutter, die …«

Sabine fiel ihr ins Wort. »Du solltest dich mit Oswald in Verbindung setzen. Er weiß gar nicht, daß er ein Kind hat … oder doch?«

»Nein. Und er soll es auch nie erfahren.« Ilonas ebenmäßiges Gesicht verdüsterte sich, als sie die Brauen zusammenzog.

»Sei mir nicht böse, aber ich finde deinen Standpunkt ziemlich kindisch!«

»Daß ich mein Kind für mich allein haben will? Daß ich kein Geld von einem Mann möchte, der mich noch vor der Hochzeit betrogen hat?« Ilona warf mit einer heftigen Bewegung ihr tiefschwarzes Haar in den Nacken; ihre Wangen waren von der Frühjahrssonne schon gebräunt, und sie wirkte in ihrer Wildheit fast zigeunerhaft, wenn nicht das Blau ihrer Augen gewesen wäre.

»Es geht ja gar nicht um dich«, wies Sabine sie zurecht, »sondern um Katja!«

»Ich kann allein für sie sorgen!«

»Selbst wenn das so wäre! Denk mal darüber nach, wie scheußlich es für sie werden wird, mit dem Vermerk »Vater unbekannt durchs Leben zu gehen!«

Ilona klopfte dem kleinen Mädchen sanft auf den Rücken, bis die Luft aus dem Magen kam. »Ich werde ihr später alles erklären.«

Sabine seufzte. »Du wirst auch noch erfahren, wie wenig man seinen eignen Kindern erklären kann.«

Ilona gab ihrem Baby einen Kuß auf das Näschen. »Und nun, mein Schatz, muß ich mich fertig machen. Und du läßt dich jetzt lieb und brav von deiner Oma wickeln!«

Sabine, die schon von der Fensterbank gerutscht war, um das Kind zu übernehmen, gab es einen Stich; sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß.

Auch Ilona bemerkte es. »Was ist los mit dir? Bist du etwa schon in den Wechseljahren?«

»Nein. Aber auch bis dahin wird es wohl nicht mehr weit sein. Immerhin bin ich ja schon eine ›Oma‹ geworden.« Unwillkürlich warf Sabine einen Blick in den großen, ovalen Toilettenspiegel; was sie sah, war eine schlanke Frau mit hellen Augen, leicht aufgeblondetem Haar und weicher Haut. »Ich komme mir plötzlich alt vor.«

»Weil ich Oma «gesagt habe?« Ilona lachte. »Du bist nun mal Großmutter. Wie soll dich Katja denn sonst nennen? Etwa Sabine … oder Biene, wie die Jungens sagen? Ich wußte gar nicht, daß du für so antiautoritäre Erziehung bist!«

»Ja, lach mich nur aus, aber du hast mir mit deiner ›Oma‹ tatsächlich einen leichten Schock verpaßt… so wie andere Frauen ihn angeblich kriegen, wenn sie das erste graue Haar entdecken!«

»Wenn es danach ging«, sagte Ilona, »müßte ich mir uralt vorkommen. Ich finde mindestens jeden Tag eins, das ich mir ausreißen muß!«

Sabine schloß das Fenster, und der Lärm der Vorstadtstraße drang nur noch gedämpft herein. Sie zog das Wickelgestell aus dem Schrankwinkel heraus, baute es auf und legte die vorbereiteten Windeln zurecht. Dann übergab Ilona ihr die kleine Katja.

Während Sabine das Kind auspackte, es abwusch, eincremte, puderte und wickelte, suchte Ilona noch ein paar Toilettenartikel zusammen, die sie in ihre große Reisetasche steckte, nahm ihre Handschuhe und legte sich den Regenmantel über den Arm.

Zögernd blieb Ilona nahe der Tür stehen und blickte sich im Zimmer um, als glaubte sie etwas vergessen zu haben. »Ich lauf’ noch mal rauf, ich muß mich noch von Sven verabschieden.«

Sabine blickte auf. »Ja, tu das! Aber beeil dich, damit du nicht den Bus verpaßt!«

»Das schaffe ich noch leicht!«

Ilona verließ das Schlafzimmer, durchquerte die Diele und stieg in den ersten Stock hinauf, in dem früher sie und ihre Brüder ihre Zimmer gehabt hatten. Inzwischen wurde es von Tante Ethel bewohnt, der Schwester ihres Vaters. Sie war mit ihrem Bausparvertrag eingesprungen, als die Familie in eine akute Notlage geraten war.

Während Ilona die Stufen hinaufeilte, dachte sie mit Dankbarkeit und ohne Bedauern daran. Sie empfand keine Bindung an dieses Haus, das ihre Eltern sich unter großen Opfern gebaut hatten, denn bei ihrem Einzug war sie schon auf dem Sprung gewesen, sich innerlich zu lösen. Sie hatte einen Kreis von Freundinnen und Freunden in Riesberg gehabt und war gerade noch zum Schlafen nach Hause gekommen. Später hatte sie sich mit dem reichen Oswald Zinner verlobt. Damals hatte gehofft, für immer hier wegzukommen. Dann, als es doch nicht zu dieser Heirat gekommen war, hatte sie erst ihrem Elternhaus, Riesberg und den Menschen, vor denen sie sich blamiert fühlte, den Rücken gekehrt. Sie war entschlossen gewesen, in München ein ganz neues Leben anzufangen. Es war das Kind, das sie wieder hierher zurückgebracht hatte, aber auch nur vorübergehend.

Ohne das selber ganz klar zu erkennen, war Ilona froh, daß sie nicht wieder in ihr Jungmädchenzimmer hatte ziehen können, sondern mit der Mutter zusammen in dem ehemaligen elterlichen Schlafzimmer hausen mußte. Das betonte das Provisorische ihres Hierseins.

Der erste Stock war durch keine Wohnungstür vom übrigen Haus abgetrennt. Ilona lief durch eine kleine Diele und kletterte weiter hinauf bis zum Dachgeschoß, wo Svens Zimmer war.

Sie klopfte an, bevor sie eintrat. Der gemütliche Raum mit den schrägen Wänden, der wie eine Schilfskoje eingerichtet war – Sven hatte das Zimmer von seinem Bruder Knut, die Möbel von seinem Bruder Torst übernommen –, war leer.

Unwillkürlich schnupperte Ilona – nein, es lag kein Hauch von Hasch in der Luft. Das beruhigte und beschämte sie gleichermaßen; sie kam sich ein bißchen vor wie eine Spionin. Dabei war sie nur besorgt um Sven.

Sabine hatte ihr von jener Nacht erzählt, in der sie und Ethel Sven erwischt hatten, als er sich mit einem Seil aus seinem Fenster in den Garten hatte herablassen und mit einem Sack voll Diebesgut davonmachen wollen. Dabei war er gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen, und so war alles aufgekommen: daß er und zwei ältere Kameraden von einem Verbrecher unter Druck gesetzt worden waren, der ihnen Waren, die sie aus abgestellten Autos entwendet hatten, gegen Hasch eintauschte. Es war Sabine, die diesem Spuk ein Ende gemacht hatte, während Ethel den Jungen ins Krankenhaus fuhr. Sie hatte den Gangster zur Rede gestellt, die Eltern der anderen Jungen verständigt und die Diebesbeute in ein Gebüsch geworfen. Lange hatten die Frauen gezittert, daß diese böse Affäre noch ein Nachspiel auf der Polizei haben könnte. Aber außer einer kurzen Notiz im ›Oberbayerischen Volksblatt‹, die die Auffindung der gestohlenen Sachen durch einen Rentner meldete, war nichts geschehen, und nach einiger Zeit hatten sich alle wieder beruhigt.

Arnold gegenüber, der zu jener Zeit noch inhaftiert gewesen war, hatte man die ganze Geschichte verschwiegen.

Sven hatte geschworen, nie wieder zu Drogen zu greifen. Er war geschockt gewesen und schien geradezu erleichtert, daß er erwischt worden war; denn aus eigener Kraft hatte er keinen Ausweg mehr aus der Zwangslage gewußt, in die er und seine Freunde sich hineinmanövriert hatten. Sabine war von seiner Besserung überzeugt.

Nur Ilona hegte den Verdacht, daß die guten Vorsätze des Bruders womöglich nicht von Dauer waren. Sie überlegte, ob sie mit ihrer Mutter darüber sprechen sollte, aber sie schreckte davor zurück, sie noch mehr zu belasten. Sie hatte es ohnehin schwer genug. Da waren ihre beiden kleinen Neffen, die Zwillinge, deren Pflege sie übernommen hatte, seit Rosy, Onkel Egons Frau, in die Heilanstalt eingeliefert worden war; da war Ilonas Baby, das sie versorgen mußte, und noch dazu der Vater, der ein Problem für sich darstellte.

Ilona seufzte, als sie daran dachte. Sie schlug rasch die Tür wieder zu und lief nach unten. So schwer ihr der Abschied von ihrem Baby fiel, sie war dennoch froh, nun den Familienschwierigkeiten zu entrinnen.

Ilona fand Sabine in der kleinen Loggia, wohin sie den Kinderwagen mit Katja geschoben hatte; die Mutter war gerade dabei, den Tüllschleier festztubinden, der die Kleine vor Insekten schützen sollte.

»Sven ist nicht zu Hause, bestell ihm einen Gruß von mir!« sagte sie atemlos.

»Du kommst doch nächstes Wochenende?«

»Wenn es sich eben machen läßt.« Ilona hätte liebend gern noch einen letzten Blick auf ihr Kind geworfen, aber sie wollte das Werk ihrer Mutter nicht zerstören, nur um einer Sentimentalität nachzugeben. »Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Katja auskommen soll.«

»Mach dir keine Gedanken ihretwegen. Ich paß schon auf sie auf.«

»Aber sicher!« Ilona nahm ihre Mutter in die Arme. »Ich hab’s dir vielleicht noch nicht gesagt… aber ich bin dir riesig dankbar. Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich ganz schön aufgeschmissen gewesen.«

Einen Augenblick lang hielten die beiden Frauen sich eng umschlungen.

Sabine löste sich als erste. »Findest du nicht, daß es unheimlich still ist?«

»Nein, wieso?!«

»Ich sehe die Zwillinge nirgends!«

»Die sind sicher…« Ilona blickte sich um und entdeckte eine Bewegung hinter den Johannisbeerbüschen. »Moment mal!« Sie setzte ihre Reisetasche ab und spurtete los.

Sabine lief ihr nach.

Die beiden Jungen hatten einen Sandhaufen aufgeschüttet und mit Wasser durchtränkt. Jetzt waren sie damit beschäftigt, mit beiden Händen darin herumzumantschen. Dabei hatten ihre Gesichter, ihre Hosen und Hemden einen tüchtigen Teil abbekommen.

»Andy … Chris! Mein Gott, wie seht ihr aus?!« rief Ilona entgeistert.

Christian reagierte überhaupt nicht.

Andy, eine halbe Stunde älter als sein Bruder, schmaler und einen knappen Zentimeter größer, hob die dunklen Augen mit unschuldsvollem Blick. »Wir backen Kuchen … schön, nich?«

»Ihr wißt genau, daß der Sand zum Betonieren bestimmt ist«, sagte Sabine, »euer Pech, wenn jetzt die Schaukel nicht aufgestellt werden kann, weil nicht mehr genügend da ist.«

»Och, dann bringen wir ihn einfach wieder zurück!« Andy griff mit beiden Händen in den Matsch und warf einen Batzen in die rosa Plastikschüssel, die er aus der Küche stibitzt hatte.

Christian folgte dem Beispiel seines Bruders. »Patsch … patsch!«

Ilona mußte lachen. »Sind die noch zu retten?«

Die beiden kleinen Jungen hatten Freude an dem neuen Spiel gefunden und versuchten sich gegenseitig zu übertreffen. Sie klatschten den nassen Sand in die Schüssel, daß er aufspritzte.

Sabine stimmte in das Lachen ihrer Tochter ein. »Na, immerhin traue ich mir zu, sie wieder sauber zu kriegen! Los kommt mit, ihr beiden! Die Badewanne wartet!«

»Nicht schon wieder!« schrie Andy.

»Wir wollen nicht schon wieder gewaschen werden!« echote sein Bruder.

»Es ist eure Schuld, wenn ihr euch dauernd dreckig macht!« Andy wollte einen Batzen nach ihr werfen, aber sie fing geschickt sein Handgelenk ab und preßte es, bis er die kleine Faust öffnete und den nassen Sand fallen ließ.

»Kommt mit«, sagte sie energisch, »und du auch, Chris! KeineDummheiten! Ihr wißt… im Ernstfall bin ich immer die Stärkere.«

Die beiden ergaben sich mit hängenden Köpfen in ihr Schicksal.

»Jetzt bin ich dir aber sehr böse, Tante Biene«, brummte Andy.

»Ich bewundere dich, daß du das aushältst«, erklärte Ilona, als sie zum Haus zurückgingen, »die sind doch eine wahre Landplage!« Sie schrie auf, als Chris ihr mit dem Schuhabsatz gegen den Knöchel trat.

»Du tust ihnen unrecht«, sagte Sabine ernst, »die beiden können auch sehr lieb sein. Sie sind ganz normale Buben, mal schlimm, mal brav. So anstrengend sind sie bloß, weil sie beide im gleichen Alter sind und stets die gleichen Flausen im Kopf haben, Aber Torsten und Knut waren seinerzeit auch keine Engel.«

»Aber damals warst du jünger!« platzte Ilona heraus und fügte im gleichen Atemzug hinzu: »Bitte, verzeih mir, Mutti, ich weiß auch nicht, was heute in mich gefahren ist, dir dauernd dein Alter unter die Nase zu reiben!«

Sabine zwang sich zu lächeln. »Das ist wahrscheinlich die Belohnung dafür, daß du mich zur Großmutter gemacht hast!«

»Du hast ja so recht!« rief Ilona reuevoll. »Ich bin einfach eine dumme Gans! Wenn du die Jungen nicht übernommen hättest, könntest du dich um meine Katja ja auch nicht kümmern. Ich sollte heilfroh darüber sein, daß du eingesprungen bist, wahrscheinlich ärgert es mich, daß du dich für die Familie aufopferst!«

»Unsinn, Liebes!«

»Kein Unsinn. Aber was sollte schließlich aus uns ohne deine Aufopferung werden?« Sie waren zur Loggia zurückgekommen, und Ilona griff ihre Reisetasche auf. »Sag, tut es dir nicht doch manchmal leid, daß du deine interessante Arbeit als Sprechstundenhilfe hast aufgeben müssen?«

Sabines Lächeln erstarb. »Darüber«, schlug sie vor, »sollten wir uns besser ein andermal unterhalten. Jetzt mußt du dich beeilen, wenn du den Bus nicht verpassen willst!«

Ilona erschrak. »Du hast recht, Mutti! Höchste Eisenbahn!« Sie küßte Sabine über die Köpfe der Jungen hinweg. »Mach’s gut, Biene!«

»Du auch!«

Ilona bückte sich und küßte jeden ihrer kleinen Vettern auf die Stirn. Dann eilte sie um das Haus herum auf die Straße.

Sabine folgte ihr mit den beiden Jungen bis zum Gartenzaun. Dort blieben sie stehen und winkten ihr nach. Aber Ilona hatte es jetzt sehr eilig; sie drehte sich nicht mehr um.

Sabine hatte die kleinen Jungen gerade aus der Wanne geholt, jeden in ein Frottiertuch gehüllt und war dabei, sie abzutrocknen, als sie das Zuklappen der Haustür hörte. Sie spähte in die Diele hinaus, gerade noch rechtzeitig, um ihren jüngsten Sohn zu entdecken, der schon den ersten Fuß auf der Treppe hatte.

»Sven!« rief sie.

Zögernd wandte er sich ihr zu. »Jaaa?«

Wie immer in letzter Zeit schockierte sein Anblick sie. Das schwarze Haar fiel ihm, fettig und ungepflegt, bis auf die Schultern, seine nackten Füße in den offenen Sandalen waren staubig vom Straßenschmutz, die Jeans abgenutzt, und die amerikanische Uniformjacke schlotterte um seine magere Figur.

»Sven!« riefen Andy und Christian, die sich hinter ihr hervordrängten. »Sven! Spielst du mit uns?«

Sabine breitete die Arme aus, um sie zurückzuhalten. »Ilona ist fort. Sie wollte sich von dir verabschieden, aber du warst nicht da.« Sie gab sich Mühe, freundlich zu sein, dennoch war der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören.

»Schade.« Sven sagte es ohne Bedauern, und seine dunklen Augen blickten gleichgültig.

»Wo warst du?«

»Bei einem aus meiner Klasse.« Sven zeigte seine Schultasche vor. »Habe gelernt. Das wollt ihr doch immer.«

Sabine fing Andy ein, ließ sich neben ihm in die Knie und rieb ihn trocken. »Du sagst das gerade so, als wäre es eine fixe Idee von uns. Dabei solltest du doch endlich begreifen, daß man in der heutigen Zeit etwas gelernt haben muß, wenn man bestehen will.«

»Ihr meint es nur gut mit mir.« Sven verzog keine Miene. Sabine ließ Andy laufen und schnappte sich Christian. »Natürlich tun wir das. Du brauchst gar nicht zu spotten. Wir machen uns Sorgen um dich.«

»Braucht ihr nicht.«

Andy tanzte splitternackt durch die Diele, schwenkte das Frottiertuch und schrie: »Ich bin ein nackichter Indianer… huahuahu!«

Christian versuchte Sabine zu entwischen. »Ich will auch ein nackichter Indianer sein!«

»Indianer sind nicht nackt!« versuchte Sabine ihn zu belehren. »Sven, bitte! Lauf nicht gleich wieder weg! Du willst mir also weismachen, daß dein schlechtes Zeugnis nichts zu bedeuten hatte?«

»Nicht viel jedenfalls.«

»Trotz der Bemerkung: ›Versetzung gefährdet‹?!«

Sven zuckte die Achseln.

»Glaubst du, daß du trotzdem versetzt wirst?«

»Ich hoffe es.«

»Ach, Sven, was heißt das schon, du hoffst? Warum kannst du nicht auch mal was Positives sagen? Ich hätte deinem Vater so gern erzählt, daß du …«

»Dann tu es doch.«

»Du bist unmöglich.«

»Tut mir leid.«

»Lüg doch nicht! Du bedauerst es nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht dir Freude, wenn du mich ärgern kannst.«

»Du mußt es ja wissen!« Sven schlug mit beiden Armen einen Kreis, um sich von seinen beiden Neffen zu befreien, die einen wilden Kriegstanz um ihn aufführten.

»In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Bitte, zieh dich um! Sven, hast du mich verstanden?«

Der Junge blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Soll ich den Smoking nehmen? Oder genügt ein dunkler Anzug?«

»Nimm ein frisches Hemd und eine anständige Hose, oder zieh wenigstens diese grausige Uniformjacke aus! Du weißt, wie Vater sich darüber ärgert!«

»Warum eigentlich?« fragte Sven pomadig.

»Mit größerem Recht könnte ich dich fragen: Warum trägst du so etwas? Ansonsten seid ihr doch überzeugte Pazifisten, wie paßt die Militärjacke dazu?!«

Sven schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich habe keine Lust, mit dir zu diskutieren, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß dabei etwas herauskäme. Bis später dann!« Er stieg weiter hinauf, jetzt mit großen Schritten, und er wandte sich auch nicht wieder um, als seine Muttter hinter ihm herrief.

Sie seufzte unwillkürlich tief auf und mußte gegen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit ankämpfen, das sie jäh überfallen hatte. Es war ihr, als wäre sie eingekreist und gefangen.

Ihr Leben schien ihr verfehlt. Warum war sie nicht bei Thomas Stratmann geblieben, der sie liebte? Dann wäre sie jetzt glücklich, die Frau eines Arztes, müßte nicht mehr das Lasttier der Familie sein.

Es war noch nicht ein Jahr her, da war sie drauf und dran gewesen, alles hinzuwerfen und mit ihrem Geliebten ein neues Leben anzufangen. Die Sorge um Sven war es in erster Linie gewesen, die sie zurückgehalten hatte. Sie hatte es nicht über sich bringen können, ihn in ein Internat zu stecken, wie Stratmann es gewünscht hatte.

Jetzt schien es ihr, als wäre das eine törichte Sentimentalität gewesen. Dort wäre er wahrscheinlich besser aufgehoben als zu Hause. Sie jedenfalls wurde nicht mehr mit ihm fertig.

Natürlich hatte sie nicht erwartet, daß Sven ihr dankbar sein würde – wie konnte er, da er von dem Zwiespalt, in den sie die späte Liebe gerissen hatte, gar nichts wußte! –, aber zumindest hatte sie gehofft, daß er spüren würde, wieviel er ihr bedeutete. Sie war es ja auch gewesen, die ihn vor einem Erpresser und schlechten Freunden gerettet hatte – damals war er, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder ganz ihr zärtlicher kleiner Junge gewesen.

Wie war es möglich, daß er sich so verändert hatte? Und durch was war es geschehen?

Sie überlegte, ob sie nicht doch zu ihm hinaufgehen und sich mit ihm auseinandersetzen sollte. Aber dann unterließ sie es, weil sie spürte, daß schon sein bloßer Anblick genügte, um sie gegen ihn aufzubringen. Sie wußte, daß sie, wenn er ihr mit seinem üblichen Phlegma begegnete, wütend, heftig und ungerecht reagieren würde.

In dieser Sekunde wünschte sie sich weit, weit fort, sehnte sich nach ihrem Geliebten, in dessen Armen sie jung gewesen war.

Die Zwillinge rissen sie aus ihren Träumen.

»Tante Biene!« rief Andy. »Du wirst ja ganz rot!«

»Was hast du ausgefressen?« fragte Christian. »Was genascht oder was kaputt gemacht?«

Sabines Krampf löste sich. »Vielleicht beides!« gab sie zu. »Kommt jetzt, ihr Schlingel! Zieht euch an! Ihr dürft mir gleich beim Kochen helfen.«

Arnold Miller war in einer Warengasse des Supermarktes »Zentrum« damit beschäftigt, Trommeln und Pakete mit Waschmitteln zu standfesten und verlockenden Pyramiden aufzubauen. Eine Tätigkeit, die ihm wahrscheinlich sogar Freude gemacht hätte, wenn er sich seiner Situation hätte anpassen können. In guten Momenten erinnerte sie ihn an die Baukastenspiele seiner Kinderzeit. Die körperliche Anstrengung setzte ihm nicht zu, denn er war ein gesunder und kräftiger Mann, der durch sein vormaliges Schreibtischdasein nie ganz ausgelastet gewesen war und einen Ausgleich in Basteleien in seinem Eigenheim hatte suchen müssen.

Aber er, der gelernte Buchhalter, empfand es als demütigend, vor einer Aufgabe zu stehen, die ihm bedeutungslos schien und die eine ungelernte Kraft genausogut hätte ausführen können; tatsächlich war er als Hilfsarbeiter eingestellt worden, und mit dieser Tatsache konnte er nicht fertig werden. Sie hatte sich tief in sein Bewußtsein eingefressen. Er haßte geradezu den hellblauen Kittel, den er wie die meisten anderen Angestellten des Supermarkts tragen mußte und durch den er sich förmlich degradiert fühlte.

Arnold Miller war 43 Jahre alt; seine Figur hatte sich durch die körperliche Betätigung der letzten Monate gestrafft, sein Bauchansatz war verschwunden, Beine und Arme waren muskulöser geworden. Dennoch wirkte er älter als er war. Tiefe Falten hatten sich auf der Stirn und zwischen Nase und Mund geprägt; die Lippen hatten sich in einer dauernden Grimasse des Mißmutes herabgezogen. Sein schwarzes Haar mit den weißen Schläfen, die seiner Erscheinung etwas Soigniertes gaben, begann schütter zu werden.

Er hatte die bunte Wand bis zur Brusthöhe errichtet und trat einen Schritt zurück, um sie zu begutachten, als er, über den Stapel hinweg, ein Augenpaar auf sich gerichtet fühlte. Er kämpfte gegen den Impuls, sich abzuwenden, hob den Kopf und sah geradewegs in das Gesicht eines ehemaligen Stammtischfreundes, des Garagenbesitzers Alf Scheuringer.

Beide Männer waren sekundenlang peinlich verlegen. Scheuringer, ein riesiger Mann, kam sich lächerlich vor mit dem Einkaufswägelchen, auf das er alle möglichen Waren geladen hatte, mindestens so sehr wie Arnold Miller, der die Situation des anderen durchaus nicht als komisch empfand.

»Hallo, Miller«, grüßte Scheuringer unsicher, »lange nicht mehr gesehen.«

»Hm, hm«, machte Arnold nur, da er darauf nichts zu sagen wußte.

»Na ja, gewöhnlich komme ich ja auch nicht hierher«, entschuldigte sich Scheuringer unbeholfen, »aber wenn man drei Kinder hat und das vierte unterwegs … also dann muß man schon hie und da seiner Alten unter die Arme greifen.«

»Glückwunsch!«

»Wieso? Ach ja. Aber noch ist es ja nicht soweit.«

Es entstand eine quälende Pause.

»Und wie geht es dir?« fragte Scheuringer endlich.

»Du siehst es ja.«

Scheuringer sah sich um und mimte Anerkennung. »Toller Laden. Gar nicht schlecht. Hat dein Schwager dich hier untergebracht?«

Arnold Miller nickte.

»Hochanständig.«

Dieser Meinung war Arnold nicht, hütete sich aber zu widersprechen.

»Wenn du dich an mich gewandt hättest«, behauptete Scheuringer, »ich hätte bestimmt auch was für dich gehabt.«

»So? Wirklich?« Arnold Miller konnte sich nicht länger zurückhalten. »Den Eindruck hatte ich damals aber nicht.«

Scheuringer, von schlechtem Gewissen geplagt, brauste auf. »Willst du dich etwa beklagen?!«

»Nicht im mindesten.«

»Dazu hast du auch, weiß Gott, kein Recht. Schließlich hast du dich ganz allein in die Scheiße geritten … oder?«

»Das habe ich nie geleugnet.«

Scheuringer besänftigte sich. »Natürlich hat Kienzel sich wie ein Schwein benommen. Das steht außer Frage. Der kann sich bei uns nicht mehr blicken lassen.«

»Meinetwegen braucht ihr ihn nicht zu schneiden.«

»Gar nicht deinetwegen. Der hat sich selber rausgespielt.«

Arnold hatte genug von dem fruchtlosen Gespräch und bückte sich, um weiter zu bauen.

Scheuringer schob den Drahtwagen auf Armeslänge von sich und zog ihn wieder heran. »Du hättest ihm seinen Gewinnanteil aber auch nicht …« – er suchte nach dem passenden Wort –, »… vorenthalten sollen.«

Arnold schichtete wortlos weiter.

Scheuringer ließ nicht locker. »Sag mir bloß: Was hast du wirklich mit dem Geld gemacht?« – »Spekuliert.«

Jetzt machte Scheuringer eine Pause. »So?« fragte er dann gedehnt. »Das ist aber das Neueste. Davon hast du nie ein Wort erwähnt. Auch bei deinem Prozeß nicht.«

»Ich habe es verspekuliert«, gab Arnold zu, »es wäre zu kompliziert gewesen, das zu erklären. Ich wollte nicht noch andere mit reinreißen.«

»Ach so? Naja, das klingt ganz plausibel. Sehr anständig von dir.«

»Alles andere hätte mir auch nichts geholfen.«

»Auch wieder wahr. Immerhin bist du mit einem blauen Auge davongekommen. Strafe durch die Untersuchungshaft verbüßt… mehr kann man doch nicht verlangen.«

Arnold sah den Freund vergangener Tage nur an.

»Na ja, und alles andere wird auch eines Tages wieder in Ordnung kommen«, sagte der rasch, »du mußt nur ein bißchen Geduld haben. Irgendwann wird Gras drüber wachsen.«

»Ja, sicher«, stimmte Arnold ihm ohne Überzeugung zu.

»Na dann. Alles Gute. Grüß dein Weib!« Schon im Fortgehen wandte sich Alf Scheuringer noch einmal um. »Sag, warum schaust du nicht wieder mal im ›Goldenen Löwen‹ vorbei?«

»Kann ich machen«, erklärte Arnold, obwohl er sehr wohl wußte, daß diese Aufforderung nicht ernst gemeint war; die Herren vom Stammtisch würden höchst unangenehm berührt sein, wenn er es wagen wollte, sich bei ihnen blicken zu lassen.

»Wir würden uns freuen«, log Scheuringer und machte, daß er davonkam.

Arnold verzog verächtlich die Lippen. Er bedauerte nicht, daß er diesem Kreis nicht mehr angehörte. Er hatte ihn einst für eine verschworene Männergemeinschaft gehalten. Heute wußte er, wie sehr er sich darin getäuscht hatte. Der Stammtisch im ›Goldenen Löwen‹ war nichts weiter als eine durch Konventionen, gesellschaftliche Vorurteile und geschäftliche Beziehungen lose zusammengeklammerte Gruppe von Herren, die jeder nur auf den Vorteil, den Gewinn und das Ansehen der eigenen Person ausgerichtet waren. Sie kannten weder Toleranz noch Mitleid.

»Papiertiger«, sagte er laut und wußte selber nicht, wo er diesen Begriff aufgeschnappt hatte.

Arnold war wieder ganz in seine Arbeit vertieft, als Egon Kasparek im Verkaufsraum erschien, Egon, der Schwager Leichtfuß und schwarzes Schaf der Familie, zehn Jahre jünger als Arnold und doch zu seinem Vorgesetzten avanciert, eine Tatsache, die er nie hervorstrich und die Arnold doch nicht vergessen konnte, denn der andere trug den weißen Kittel des gehobenen Personals.

Dieser Kittel, blütenweiß und leicht gestärkt, umflatterte ihn, vorne offen, und ließ einen hellgrauen Anzug, ein leuchtendblaues Hemd und eine kühn gemusterte Krawatte sehen. Egon mit dem blonden Bärtchen, dem blonden, leicht gewellten Haar und den sehr blauen Augen – Sabines Augen – wirkte schick, jung und unternehmungslustig, obwohl er selber Sorgen genug hatte.

Aber er besaß ein Talent, alles Mißgeschick an sich abgleiten zu lassen. Schon dies allein nahm Arnold ihm übel.

Egon Kasparek blieb einen Augenblick neben Arnold stehen und beobachtete ihn bei der Arbeit, während er mit dem Nagel seines rechten Zeigefingers über seinen kleinen Schnurrbart strich.

»Na?« fragte Arnold; er war nicht darauf aus, ein Lob zu hören, aber die schweigende Nähe machte ihn nervös.

»Sehr hübsch, ja…« Egon zögerte. »Nur … anscheinend hast du vergessen …«

»Was?« Schon stieg Arnold das Blut zu Kopf.

»Wir wollen doch die Fünf-Kilo-Trommeln loswerden… für die werben wir mit Sonderpreisen, die Zweier gehen sowieso.«

»Das weiß ich.«

»Ich dachte, du hättest es vergessen«, sagte Egon mit bemühter Freundlichkeit, »denn sie gehören natürlich auf die rechte Seite genau in Griffhöhe. Wir haben schon mehrmals darüber gesprochen.«

Arnold wußte, daß der Schwager recht hatte; es war Alf Scheuringers Auftauchen gewesen, das ihn aus dem Konzept gebracht hatte. Trotzdem verteidigte er sich. »Dann verrate mir mal, wie man die schweren Trommeln …«

»Indem man sie auf andere Trommeln stellt… unten davor von mir aus Packungen, aber obendrauf nichts, damit die Kunden die Trommeln unbehindert greifen können.«

»Danke für die Belehrung«, gab Arnold kalt zurück.

»Entschuldige bitte, aber ich muß dir das doch sagen …«

»Entschuldige dich nicht! Ich weiß längst, daß du ewig was an mir zu meckern hast! Das scheint ein Prinzip von dir zu sein!« Die Unterhaltung war bis zu diesem Punkt gedämpft geblieben und so unauffällig, daß weder Kunden noch Mitarbeiter aufmerksam geworden waren; jetzt erhob Arnold unwillkürlich die Stimme und begann zu schreien.

»Reg dich nicht auf!« mahnte Egon hastig.

»Du meinst, ich muß jede Beleidigung schlucken und …«

Egon fiel ihm ins Wort. »Wenn du dich schon streiten mußt, dann doch lieber in meinem Büro. Ich erwarte dich in zehn Minuten.« Er ließ ihn stehen.

Mit einer unbeherrschten Bewegung stieß Arnold den Stapel Waschmittel um, den er gerade so mühsam aufgebaut hatte. In dem Moment, als Trommeln und Packungen durcheinanderpurzelten, brach auch sein Zorn zusammen.

Er begriff, daß er wie ein unreifer Junge reagiert hatte, und diese Erkenntnis demütigte ihn mehr noch als Egons Tadel.

Als Arnold Miller später Egon Kaspareks Büro betrat, hatte er sich so weit beruhigt, daß er sich zu einer Entschuldigung aufraffte.

»Tut mir leid, Egon, du hattest vorhin natürlich recht. Ich weiß selber nicht, warum ich so sauer reagiert habe.«

Das Büro des Geschäftsführers war ein quadratisches, nicht eben großes Zimmer, das zwanzig Zentimeter höher als der Verkaufsraum lag. Von dem war es durch eine Glasscheibe, nur von innen durchsichtig, getrennt, so daß Egon ihn von seinem Schreibtisch aus übersehen konnte, soweit es die gefüllten Regale und hoch gestapelten Warenwände zuließen.

Auch jetzt schweifte Egons Blick unwillkürlich über seinen Machtbereich. »Setz dich doch«, sagte er trocken und wies seinem Schwager einen Stuhl an der Schmalseite seines Schreibtisches zu, »und bilde dir bloß nicht ein, daß ich einen Kniefall von dir erwarte.«

»Es ist zu blöd von mir, daß ich dauernd Mist baue!« Arnold zog sich den Stuhl zwischen die Beine.

»Darum geht es gar nicht.«

»Jetzt sag bloß …«

»Nein, wirklich nicht. Fehler macht jeder. Gerade hier bei uns. Du weißt, mit was für Leuten wir es größtenteils zu tun haben. Ausgebildete Fachkräfte sind kaum vorhanden. Du bist einer meiner Besten, alter Junge … wie könnte es auch anders sein?«

Arnold verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Einer deiner besten Hilfsarbeiter … auch schon etwas!«

»Ich habe alles versucht, dich in der Verwaltung unterzubekommen, oder etwa nicht?«

»Ja, ja, ich weiß, ich habe sehr viel Grund, dir dankbar zu sein!«

Egons hübsches Gesicht lief rot an. »Hör auf damit, Arnold! Bist du denn wirklich nicht mehr imstande, auch nur zwei Sätze mit mir zu wechseln, ohne daß du gleich aus der Rolle fällst?!«

»Ich habe mir meine Rolle schließlich nicht selber ausgesucht! Du hast mich hineingepreßt!«

»Arnold, bitte!« Egon hob beschwörend die Hände. »Das stimmt doch einfach nicht. Ich wußte von Anfang an, daß dies hier nicht das Wahre für dich sein könnte. Aber was Besseres konnte ich dir nicht bieten, und du warst heilfroh, bei mir unterschlüpfen zu können. Nachdem du dir drei Monate vergeblich die Hacken schiefgelaufen hattest.«

»Sehr edel von dir.«

»Nein, eben nicht!« Jetzt hob Egon die Stimme. »Ich habe nicht vergessen, daß ich dir verpflichtet bin! Das brauchst du mir gar nicht auf die Nase zu binden!«

Arnolds Hände umklammerten die Schreibtischkante, und er beugte sich vor. »Wenn du es wirklich weißt, warum trampelst du dann dauernd auf mir herum?«

»Aber davon kann doch gar keine Rede sein!« Egon stieß seinen Sessel zurück und sprang auf. »Herrgott noch mal, alter Junge, kannst du denn nicht wenigstens einmal versuchen, die Situation objektiv zu betrachten?! Ich bin dein Vorgesetzter, klar, daß dir das nicht paßt, aber so ist es nun mal, und wir beide können es nicht ändern. Du wirst mir also erlauben müssen, dir hin und wieder eine Anweisung zu geben und dich, wenn es nötig ist, auch mal auf einen Fehler aufmerksam zu machen.«

»Genau das tust du dauernd!«

»Stimmt ja gar nicht! Das kommt dir bloß so vor, Arnold, glaub mir doch. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Keinem anderen Mitarbeiter gegenüber lege ich mein Wort so auf die Goldwaage, wenn du nur ahntest, wie oft ich was runterschlucke, das eigentlich gesagt werden müßte … nur weil ich Angst habe, du könntest es in den falschen Hals kriegen.«

»Danke.« Arnolds Nasenflügel bebten. »Du bist die Feinfühligkeit in Person.«

»Und du bist eine wahre Mimose! Du kannst nicht den Schatten einer Kritik vertragen. Wenn das so weitergeht…«,Egon fuhr sich mit beiden Händen in sein gepflegtes Haar, »… werde ich noch wahnsinnig!«

»Soll das heißen, daß du mir kündigen willst?« Jetzt war auch Arnold aufgestanden.

»Wie könnte ich das denn?! Für was einen Schweinehund hältst du mich eigentlich?! Ich habe nicht vergessen, daß du es warst, der mich gerettet hat. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich im Kittchen gelandet.« Er wurde sich bewußt, wo er war und daß man womöglich aus den Nebenräumen mithören konnte, und dämpfte seine Stimme so sehr, daß er jetzt fast flüsterte. »Ich hätte nicht nur meine Stellung verloren. Die…« Er machte eine Kopfbewegung zur Decke hin, obwohl die Inhaber der Kette von Supermärkten, zu denen das »Zentrum« gehörte, gar nicht in Riesberg, sondern in Augsburg saßen, »…. hätten mich angezeigt, da kannst du Gift drauf nehmen. Ich hätte nicht nur meine Stellung verloren.«

Durch dieses offene Eingeständnis war Arnold der Wind aus den Segeln genommen; er schwieg.

»Aber du kannst nicht verlangen«, fuhr Egon in verändertem Ton fort, »daß ich dir das täglich wieder vorbete. Jawohl, ich stehe in deiner Schuld. Aber hier im Geschäft bist du mein Angestellter. Daran mußt du dich gewöhnen.«

»Ich versuche nichts anderes.«

»Arnold! Bitte! Mit ein bißchen mehr gutem Willen müßte es doch gehen.«

»Ich tue mein möglichstes.«

»Tu mehr. Sieh mal, du hast hier doch auch die Chance, dich raufzuarbeiten. Nicht in die Buchhaltung oder an die Kasse, aber irgendwas wird sich schon ergeben. Aber dazu mußt du mir die Gelegenheit geben, positive Berichte über dich abzufassen. Wie du dich bisher benommen hast, geht das nicht. Das ganze Haus merkt doch, daß wir verquer miteinander stehen. Jedes Lob, das ich über dich von mir gebe, muß unglaubwürdig klingen.«

Die Auseinandersetzung wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, und fast gleichzeitig trat eine junge Frau in weißem Kittel ein, Barbara Ziem, die Hauptkassiererin. Sie blickte aus ihren grauen Augen, die durch einen dichten schwarzen Wimpernkranz besonderen Reiz gewannen, von einem der beiden Männer zum anderen. »Störe ich? Ich wollte nur…« Sie hielt die Kassette mit den Tageseinnahmen in beiden Händen.

»Ist es schon so spät?« Jetzt erst stellte Egon fest, daß sich der Verkaufsraum inzwischen geleert hatte; es irritierte ihn, daß er Zeit und Ort vergessen hatte.

»Ich gehe schon«, sagte Arnold rasch, »ich will die Trommeln noch…«

»Nein, laß das«, fiel Egon ihm ins Wort und verbesserte sich: »Laß das, bitte! Es hat Zeit bis morgen früh. Fahr schon nach Hause. Ich komme gleich nach.«

»Kann ich nichts mehr für dich tun?«

»Danke. Ich schließe schon selber ab.«

Arnold sagte Barbara Ziem gute Nacht und ging.

Sie blickte Egon an. »Hat es Ärger gegeben?«

»Halb so wild!« behauptete er ausweichend und fuhr sich glättend über das Haar. Er schloß die Tür hinter ihr ab. »Wieviel sind’s denn?«

»Siebzehntausendfünfhundertfünfundvierzig«, antwortete sie, ohne nachdenken zu müssen.

»Ziemlich schwach.«

»Ja ja. An einem ganz gewöhnlichen Wochentag, noch dazu Ende des Monats.«

Egon holte einen Bankbehälter aus seinem Schreibtisch, Barbara Ziem schloß die Kassette auf, und er tat das Geld in den Stahlzylinder. Wie immer, seit damals, als er eine Tageseinnahme für seine kranke Frau unterschlagen hatte, zitterten seine Hände, während er die Scheine bündelte, und er verwünschte seine Schwäche. Zum tausendsten Mal bereute er das Abenteuer, auf das er sich eingelassen und das ihm nichts als Unglück gebracht hatte, wenn ihm auch durch Arnolds Eingreifen das Schlimmste erspart geblieben war. Dafür aber hatte er jetzt den Schwager auf dem Hals, und seiner Frau hatte er nicht helfen können; sie hatte das Schicksal ereilt, vor dem er sie hatte bewahren wollen. Rosy Kasparek saß in der Nervenheilanstalt Haar, und es war nicht abzusehen, wann und ob er sie je wieder nach Hause holen durfte.

Bei diesen düsteren Gedanken verlor Egons hübsches Gesicht allen jungenhaften Charme; er wirkte alt und verbraucht.

Barbara Ziem deutete es auf ihre Weise. »Herr Miller ist eine schwere Belastung für Sie. Wir bewundern Sie alle, daß Sie das auf sich genommen haben.«

»Er ist mein Schwager.«

»Ja. Aber so viel Familiensinn findet man selten. Wenn einer aus der Reihe tanzt, wird er gewöhnlich einfach abgeschrieben. Es ist doch so.« Sie blickte Egon erwartungsvoll an.

Aber der sagte nichts; er war ganz darauf konzentriert, seine Hände unter Kontrolle zu halten.

»Andererseits«, fuhr Barbara Ziem fort, »kann man natürlich auch verstehen, daß er verbittert ist. Früher Buchhalter, und jetzt das! Das ist schon ein Absturz. Ich möchte nicht wissen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich von heute auf morgen als Putzfrau arbeiten müßte. Und Männer sind in dem Punkt ja noch viel empfindlicher.«

»Es ist nett, daß Sie sich Gedanken über meinen Schwager machen.«

»Daran ist doch nichts«, wehrte sie ab, »ich bin nicht halb so gut wie Sie, Herr Kasparek. Nein, ehrlich, ich weiß nicht, ob ich mich für so jemanden einsetzen würde, der… na ja… sich an fremdem Geld vergriffen hat.«

Jetzt sah er sie an. »Doch, das täten Sie sicher, Barbara, wenn Ihnen derjenige etwas bedeuten würde!« Unter ihrem klaren Blick hatte er das Gefühl, eine Erklärung abgeben zu müssen. »Und dann… ich bin meinem Schwager ja sehr verpflichtet!« Einen Augenblick lang war er in Versuchung, ihf alles zu erzählen, hielt sidi dann aber doch zurück. »Meine Schwester versorgt meine beiden kleinen Söhne«, erklärte er nur.

Sie nahm das Stichwort auf. »Waren Sie wieder einmal bei Ihrer Frau?«

»Ja, und es geht ihr gut. Ich meine… sie ist ganz vernünftig. Gerade deshalb ist es schrecklich für sie … unter all diesen Irren.«

Er verschloß den Stahlbehälter und versenkte ihn in seiner großen Aktentasche.

»Sicher darf sie bald wieder raus«, meinte Barbara Ziem tröstend.

»Das ist schwierig, weil sie doch auf richterliche Anweisung hineingekommen ist. Und die Ärzte sind furchtbar umständlich.«

»Es wird schon wieder werden.«

Er zog sich seinen weißen Kittel aus. »Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme, Sie mit all meinen Sorgen zu belasten, Barbara!«

Sie lächelte und zeigte gesunde, ein wenig unregelmäßige Zähne. »Das kann ich Ihnen verraten. Ich habe Sie ausgefragt. Ich bin eine schrecklich neugierige Person.«

»Nein«, widersprach er ernsthaft, »machen Sie sich nicht schlechter als Sie sind. Sie haben ein mitfühlendes Herz.«

Plötzlich spürte er die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte, und sie tat ihm wohl. Er wäre gern noch mit ihr zusammengeblieben und war nahe daran, sie darum zu bitten. Aber dann verzichtete er doch.

Er wußte, sie würde ihm keine Absage erteilen. Doch er dachte an Sabine, die mit dem Abendessen auf ihn wartete, und an die Zwillinge, die er den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte. Vor allem wurde ihm klar, daß sein Leben kompliziert genug war, auch ohne daß er einer jungen Frau Anlaß gab, sich Hoffnungen zu machen, die er niemals würde erfüllen können.

Deshalb wandte er sich rasch ab und schloß die Tür auf. »Gute Nacht, Fräulein Ziem… bis morgen dann!«

Wenn sie enttäuscht war, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie verabschiedete sich mit einem leichten Nicken und einem unbefangenen Lächeln.

Als er, allein geblieben, seinen Regenmantel über den Arm nahm, schien es ihm, als hätte er es sich nur eingebildet, daß sie ihm mehr als flüchtige Sympathie entgegenbrachte.

Sabine war dabei, auf der Loggia den Tisch für das Abendessen zu decken, als ein Auto vorfuhr. Die Zwillinge, die ihr halfen, hörten es auch; sie ließen Messer und Gabeln fallen und jagte um die Ecke.

»Vati!« schrien sie. »Vati!«

Sabine verhielt in der Bewegung, einen Teller in der Hand, und lauschte. Die Garagentür öffnete sich quietschend. Sie begriff, daß Arnold nach Hause gekommen war, legte den Teller auf und eilte den Jungen nach.

Wie schon oft ärgerte sie sich darüber, daß ihr Mann sich von seinem Opel Kadett trotz der Zwangslage, in die sie geraten waren, nicht trennen mochte. Dabei brauchte er praktisch gar kein Auto. Egon würde sich, wenn man ihn darum bat, sicher gern bereit erklären, ihn morgens abzuholen, und abends konnten sie ohnedies zusammen fahren. Der Verzicht auf das Auto hätte eine Sparmaßnahme bedeutet, die Torsten, der sie großmütig unterstützte, entlastet hätte. Sie nahm das Geld ihres Sohnes nur ungern an.

Aber für Arnold bedeutete das Auto mehr als ein Beförderungsmittel. Es aufgeben zu müssen, hätte ihm den letzten Schlag versetzt. Sabine begriff das nicht nur, sondern konnte es auch nachfühlen. Dennoch fand sie seine Einstellung unrealistisch, ja, kindisch.

Als sie den Weg erreichte, der am Haus vorbeiführte und Vorund Hintergarten miteinander verband, kam Arnold ihr von der Garage her entgegen.

Die Jungen bremsten wie scheuende Füllen ihren Lauf, als würden sie ihn erst jetzt erkennen. Dabei war Sabine sicher, daß auch ihnen das Geräusch der Garagentür aufgefallen war; die Garage bot nur Raum für ein Auto, und Egon, ihr Vater, benutzte sie nie. Aber sie wollten sich die Gelegenheit, ihren Onkel zu ärgern, nicht entgehen lassen.

»Ist gar nicht Vati«, erklärte Andy mit übertriebener Enttäuschung.

»Nur Onkel Anno«, fügte Chris im gleichen Ton hinzu.

»Was ist das für eine Begrüßung?!« schimpfte Arnold. »Wollt ihr mir nicht anständig guten Abend sagen?!«

»Guten Abend, Onkel Anno«, sagte Chris steif, mit hoheitsvoller Miene.

»Guten Abend, Onkel Anno«, echote Andy und vollführte eine formvollendete Verbeugung.

Dann wandten sich die beiden kleinen Burschen um und verschwanden gemessenen Schrittes um die Ecke.

Sabine versuchte, sich ein Lächeln zu verbeißen. »Ach, Arnold, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich nicht immer provozieren lassen!«

»Erzieh sie besser!«

Sabine trat auf ihren Mann zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich geb’ mir alle Mühe, aber es ist nicht einfach.«

»Wir hätten sie uns nie aufhalsen lassen dürfen!«

Sabine machte große Augen. »Ist das dein Ernst?«

»Sieh mich nicht an, als wäre ich ein Ungeheuer, nur weil ich nicht daran denke, mich von dieser Rabenbrut noch länger schikanieren zu lassen!«

Sie hängte sich bei ihm ein. »Sie sind doch gar nicht so schlimm, Arnold!«

»Mir langt’s. Auch daß dein Bruder sich von dir verpäppeln läßt, paßt mir nicht. Ich werde ihm bei nächster Gelegenheit nahelegen, sich eine andere Lösung für seine persönlichen Probleme auszudenken.«

»Und wovon sollen wir dann leben?« rutschte es ihr heraus; als er zusammenzuckte, fügte sie rasch hinzu: »So habe ich es nicht gemeint, Arnold … nur, du weißt doch selber, daß du im Moment nicht genug verdienst, all unseren Verpflichtungen nachzukommen. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, bestimmt nicht, bloß müssen wir doch den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich könnte mich natürlich wieder nach einer Stellung als Sprechstundenhilfe umsehen, aber was würde dann aus Katja?«

»Bin ich für die etwa auch verantwortlich?«

»Ich weiß es nicht. In gewissem Sinne sicher doch. Sie ist Ilonas Baby. Und wir haben sie doch lieb, nicht wahr?«

Sie sah ihn so flehend an, daß er ihr nicht widersprechen mochte und nur etwas Unverständliches vor sich hin brummte. Sie nahm es als Zustimmung.

»Siehst du, ich wußte es ja!« rief sie und drückte seinen Arm. »Ich verstehe auch, daß dir die ganze Situation auf die Nerven geht. Aber es hat keinen Sinn, wenn wir uns jetzt auch noch gegenseitig fertigmachen. Wir müssen Zusammenhalten! Eines Tages werden wir wieder obenauf sein.«

»Wie den?« fragte er freudlos.

»Weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, daß es im Leben immer raufund runtergeht. Und momentan sind wir eben ziemlich unten. Wenn es auch noch viel schlimmer hätte kommen können. Irgendwie, das fühle ich einfach, wird sich alles wieder zum Guten wenden.«

»Wenn ich deinen Optimismus bloß teilen könnte.«

»Versuch’s wenigstens!«

Sie waren an der Seitenwand des Hauses entlanggegangen. Sabine blieb stehen und hielt auch ihren Mann zurück. »Ich habe auch so meine Kümmernisse«, sagte sie, »sieh dir nur mal meinen Garten an! Vor einem Jahr war das noch ein kleines Paradies! Und jetzt? Zwei Rosenstöcke sind eingegangen. Die anderen sind voll Blattläuse. Selbst an den Beerensträuchern habe ich nichts tun können. Es fehlt mir einfach die Zeit dazu. Und es wäre auch ziemlich sinnlos. Mit zwei wilden kleinen Buben im Haus läßt sich ein Garten nicht in Ordnung halten.« Sie fürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben, und fügte hastig hinzu: »Ich bin ihnen nicht böse deswegen. Man darf nicht vergessen, daß Rosy bestimmt schon lange Zeit sonderbar war, bevor die Krankheit richtig zum Ausbruch kam. Sie hat ja zum Schluß kaum noch gewagt, das Haus zu verlassen. So waren Chris und Andy mit ihr zusammen eingesperrt. In dieser Altbauwohnung mitten in der Stadt. Kein Wunder, daß sie jetzt ihre Freiheit genießen. Der ganze Garten ist für sie nur ein großer Spielplatz.« Sie seufzte leicht. »Blumen sind auch gar nicht so wichtig, nicht halb so wichtig wie Kinder jedenfalls. Trotzdem wäre ich froh, wenn sie endlich ihre Spielecke hätten. Dann könnte ich sie vielleicht doch davon abhalten, in den Beeten herumzubuddeln und Blumenzwiebeln auszugraben.« Sie sah ihn erwartungsvoll von der Seite an.

Doch er griff das Stichwort nicht auf, sondern zog sie nur ungeduldig zur Loggia hin; sein grüblerischer Gesichtsausdruck verriet ihr nicht einmal, ob er ihr überhaupt zugehört hatte.

Die Zwillinge verteilten auf dem Tisch die Servietten. Sie hatten dabei die Mienen verfolgter Unschuld aufgesetzt und sahen mit ihren blauen Augen und den dunkelblonden Pagenköpfen wie kleine Engel aus.

Obwohl Sabine sich nicht von ihnen täuschen ließ, empfand sie doch Rührung bei ihrem Anblick. Bei all ihrer Frechheit waren sie doch so hilflos und so verletzlich. Mehr als ein halbes Jahr war es her, daß man ihre Mutter fortgebracht hatte, und seitdem hatten sie sie nicht mehr gesehen. Sie fragten nie nach ihr, und gerade das schien Sabine bedenklich. Wie sehr mochten sie sie im tiefsten Inneren vermissen!

Als sie für sich und Arnold einen Aperitif aus dem Eisschrank in der Küche holte, mixte sie für jeden der Jungen ein hohes Glas mit Himbeersaft und tat zwei Kunststoffhalme dazu. Sie brachte ihnen die Erfrischung, und sie bedankten sich ernst und artig.

Arnold hatte die Jacke ausgezogen, den Hemdkragen gelockert und sich in einem der Liegestühle ausgestreckt.

Sabine setzte sich auf einen Korbstuhl neben ihn und wartete, bis er getrunken hatte und seine Züge sich entspannten. Dann wagte sie einen neuen Vorstoß. Diesmal ging sie direkter vor.

»Es ist ein schöner Abend, Arnold!« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Im Fernsehen ist auch nichts von Bedeutung. Könntest du nicht heute das Klettergestell einbetonieren?«

»Ich? Wieso ich?«

Sie lächelte ihn bittend an. »Weil du es am besten kannst, Lieber!«

»Das ist doch kein Grund, mich auszunutzen! Warum fragst du nicht Egon darum? Schließlich sind es seine Rangen. Oder wende dich an Sven. Der Junge könnte auch ruhig mal mit zupacken.«

»Er strengt sich furchtbar für die Schule an«, verteidigte Sabine ihren Sohn.

»So? Tut er das? Hoffentlich macht sich das auf seinem nächsten Zeugnis bemerkbar.«

»Er wird sicher versetzt!« behauptete sie mit einer Überzeugungskraft, die nicht ganz echt war. »Er gibt sich doch so viel Mühe!«

Er blickte sie zweifelnd an. »So? Findest du? Wenn du mich fragst, der Junge ist ein Waschlappen. Er hat von wirklicher Arbeit überhaupt keine Ahnung. Dumm ist er ja nicht, das wissen wir beide. Aber er hat keinen Mumm in den Knochen. Sobald er sich einmal wirklich anstrengen muß, klappt er zusammen.«

»Du übertreibst«, sagte Sabine und merkte selber, daß es schwächlich klang; sie wollte ihren Mann nicht reizen und andererseits auch nichts auf den Jungen kommen lassen.

Arnold nahm einen Schluck und setzte das Glas hart auf den mit bunten Steinfliesen ausgelegten Boden der Loggia. »Er ist ein Muttersöhnchen.«

»Das mußte ja kommen.« Sabine konnte und mochte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Jetzt sag bloß noch, daß ich an seinem Versagen schuld bin!«

Sie blickten sich an; beide sekundenlang erfüllt von kalter Feindseligkeit. Es war Arnold, der den Blick als erster senkte. Er war einsichtig genug, sich zuzugeben, daß die Betrugsaffäre, in die er selber verwickelt gewesen war, auch keinen guten Einfluß auf die Entwicklung seines jüngsten Sohnes hatte haben können, der noch mitten in den Pubertätsjahren steckte. Er schwieg aus Angst, sie könnte es ihm vorhalten, und litt darunter, daß er nicht auftrumpfen konnte.

Sabine ahnte, was in ihm vorging, und ihre Stimmung schlug um. »Ich glaube, es gibt gar keine Erziehung ohne Fehler«, meinte sie versöhnlich, »deshalb hat es keinen Zweck, einen Sündenbock zu suchen. Er hat sich ja auch schon gebessert, wirklich. Er geht abends überhaupt nicht mehr weg, ist dir das nicht aufgefallen? Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen!«

»Es würde ihm aber trotzdem nichts schaden, wenn er sich auch mal körperlich betätigen würde.«

»Du hast recht.« Sabine stand auf. »Ich werde ihn darum bitten.«

»Bitten? Seit wann werden Kinder um Gefälligkeiten gebeten?! Befiehl es ihm!«

Sie strich sich mit beiden Händen den Rock ihres hellblauen Hemdblusenkleides glatt. »Er ist kein Kind mehr, Arnold.« Sie seufzte.

Die Zwillinge, die schweigend und lauschend ihre Gläser geleert hatten, wurden lebendig.

»Nicht traurig sein, Tante Biene!« Chris schmiegte sich an sie. »Wir werden dir helfen!«

»Ja, wir werden das Gestell einbottenieren!« In seinem Eifer sprach Andy das fremde Wort falsch aus. »Wir machen das schon!«

»Das ist sehr lieb von euch.« Sabine strich ihnen über die Köpfe. »Aber dazu seid ihr noch ein bißchen zu klein. Und außerdem ist es auch schon zu spät. Ihr müßt gleich nach dem Essen in die Falle.«

»Dann machen wir es morgen!« erklärte Andy unerschüttert.

»Wenn ich niemand anderen finde, werde ich morgen vielleicht wirklich auf eure Hilfe angewiesen sein. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es selber zu machen.«

»Mit uns!« rief Andy begeistert.

»Au ja!« schrie Chris und hopste auf und nieder.

»Wann gibt’s endlich was zu essen?« fragte Arnold und schlug die Tageszeitung auf.

»Es ist alles fertig. Aber ich denke doch, wir warten, bis Egon kommt. Oder hat er dir gesagt, daß es bei ihm später wird?«

Arnold brummte etwas Unverständliches als Antwort.

Sabine stellte die leeren Gläser auf dem Tablett zusammen. Sie wollte gerade damit ins Haus hinein, als Sven auf der Schwelle erschien. Er hatte sich umgezogen, trug saubere Jeans und ein buntes Hemd. Sein Gesicht war frisch gewaschen, und er hatte sich das lange, schwarze Haar sorgfältig hinter die Ohren gekämmt.

Sie konnte sich mit seinem Anblick immer noch nicht befreunden, aber sie erkannte an, daß er wenigstens versucht hatte, seine Erscheinung den Wünschen der Eltern anzupassen.

»Hallo, da bist du ja!« Ihr Lächeln, das ermutigend wirken sollte, fiel etwas verkrampft aus. »Hunger?«

Sven lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen. »Nö. Eigentlich nicht.«

Arnold ließ die Zeitung sinken und sah ihn an. »Guten Abend!« sagte er in einem Ton, der wie ein Vorwurf klang.

Svens bräunliches Gesicht überzog sich mit Röte. »Guten Abend, Vater.«

»Mußt du dich denn so hinflegeln? Kannst du nicht einmal mehr auf zwei Beinen stehen?«

Sabine wollte schlichten. »Aber, Arnold …«

Sven winkte ab. »Schon gut, Biene.« Er ging an den Eltern vorbei zum Tisch und tat so, als wenn er die Gedecke überprüfen wollte; er wandte ihnen jetzt den Rücken zu, auf den seine schwarze Mähne, die er sich, um keinen Anstoß zu erregen, zurückgebürstet hatte, lang herunterhing.

»Da du dich anscheinend nicht entschließen kannst, dir das Haar schneiden zu lassen«, sagte sein Vater, »habe ich einen anderen Vorschlag: Mach dir einen Pferdeschwanz!«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, erwiderte Sven aufreizend gleichgültig, »aber vielleicht ist es gar keine schlechte Idee. Ich werd’s mir überlegen.«.

Arnold warf die Zeitung zu Boden und wollte aufspringen, doch er kam nicht so schnell aus dem Liegestuhl hoch, wie er es wollte. »Jetzt habe ich aber genug!« schrie er.

Andy und Chris bauten sich wie die Verteidiger einer Fußballmannschaft beim Elfmeter vor Sven auf. »Hau ihn nicht!« schrien sie. »Man darf Kinder nicht schlagen!« –»Svens Haare sind schön!« – »Wie bei ein’m Indianer!«

»Seid still!« wies Sabine sie zurecht. »Bleib sitzen, Arnold! Ihr seid schrecklich… alle zusammen schrecklich! Könnt ihr nicht einmal fünf Minuten Frieden halten?!«

Das Baby war von dem Lärm erwacht und fing an zu schreien. Sabine nahm es aus dem Kinderwagen und schaukelte es auf den Armen, um es zu beruhigen: »Weine nicht, Süße! Das sind nur die dummen Männer, die soviel Krach machen. Die sind nicht so schlimm wie sie tun. Du wirst dich daran gewöhnen müssen. Aber jetzt bringe ich dich ganz schnell ins Haus und stecke dich in dein Heiabettchen.« Sie sah auf. »Bringst du die Gläser in die Küche, Sven? Und nimmst den Auflauf aus dem Ofen?«

Arnold hatte sich wieder in seinen Liegestuhl sinken lassen. »Ich dachte, du wolltest Sven was fragen«, brummte er und hob die Zeitung auf.

Sabine hätte das Thema am liebsten nicht mehr zur Sprache gebracht, aber sie sah keine Möglichkeit auszuweichen. »Ach ja, Sven«, sagte sie, »sei so lieb und zementiere nachher das Klettergestell für die Jungens ein.«

Sven runzelte die Stirn. »Wieso ich?«

»Wieso du nicht? Es ist doch eine passende Beschäftigung für einen großen Jungen.«

»Aber was geht mich das Klettergestell für die Kröten an? Ich habe auch nie eins gehabt.«

»Aber, Sven, das ist doch kein Standpunkt!«

»Finde ich doch. Und außerdem kann ich gar nicht zementieren.«

»Dann wird es höchste Zeit, daß du es lernst«, ließ Arnold sich hinter seiner Zeitung her vernehmen, »denn wenn kein Wunder geschieht, dann wirst du ja wohl einen praktischen Beruf erlernen müssen, und da scheint mir Maurer durchaus das angemessene!«

»Stein auf Stein… Stein auf Stein«, sang Andy.

»Immer noch besser ein guter Maurer als ein…« Sven sprach nicht weiter. »Gescheiterter Buchhalter hatte er sagen wollen, aber das traute er sich denn doch nicht.

»… Häuschen wird bald fertig sein!«

Aber Arnold hatte auch so begriffen. »Werd überhaupt mal was!« brüllte er. »Vorläufig reicht es bei dir ja nicht einmal zum Straßenkehrer!«

Das Baby begann wieder zu plärren.

Plötzlich verlor Sabine die Geduld. »Wißt ihr, wie ich euch finde?« rief sie wild. »Zum Kotzen, daß ihr es nur wißt … einen wie den anderen… zum Kotzen!«

Sie stürmte ins Haus, und heiße Tränen fielen auf das schreiende Kind; sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte.

Nachher wurde es dann doch noch ein harmonischer Abend. Der hemmungslose Ausbruch hatte Sabine wohlgetan, und Vater und Sohn, die eine solche Reaktion von ihr nicht gewohnt waren, schockrtig zur Besinnung gebracht. Selbst die Zwillinge waren beeindruckt und zeigten sich beim Abendessen von ihrer besten Seite.

Auch Egon merkte an dem übervorsichtigen Ton, der am Familientisch herrschte, wie auch an Sabines geröteten Augen, daß es eine Szene gegeben hatte. Er erbot sich aus eigenem Antrieb, das Klettergestell in den Boden zu lassen. Sven zeigte guten Willen und versprach zu helfen. Die Zwillinge baten so herzzerreißend, wenigstens zusehen zu dürfen, daß Sabine ihnen ausnahmsweise erlaubte, eine Stunde länger aufzubleiben als gewöhnlich. Obwohl sie, um ihren Vater nicht nur am Wochenende zu Gesicht zu bekommen, ohnehin später ins Bett zu gehen pflegten, als es in ihrem Alter üblich war; zum Ausgleich hatten sie sich an einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf gewöhnt.

Als Sabine den Tisch abdeckte, machten sich Sven und Egon ans Werk. Arnold verschanzte sich wieder hinter die Zeitung und gab vor, die beiden nicht zu beachten. Aber sie stellten sich derart ungeschickt an, daß er es bald nicht mehr aushielt und ihnen erst, wie nebenbei, kurze Anweisungen zurief, dann aber doch aufsprang, ihnen zeigte, wie es zu machen war, und endlich selber zugriff.

Die Anerkennung Egons und Svens, die hingerissene Bewunderung der Zwillinge, ja, die Arbeit selber gab ihm Auftrieb. Dies war etwas, was er besser verstand als Egon, und seine echte Überlegenheit dem jüngeren Mann gegenüber erweckte Großmut in ihm. »So, das haut jetzt hin!« rief er, als die Halterungen in der noch nassen Masse standen. »Ich schlage vor, jetzt trinken wir eine Flasche Wein zusammen. Die haben wir uns redlich verdient, was, Egon? Du hast lange nicht mehr so geschuftet, möchte ich wetten!«

»Au ja!« riefen die Zwillinge. »Wir auch!« – »Wir auch!«

»Nichts da.« Sabine fing die beiden ein. »Für euch ist jetzt Zapfenstreich! Sagt gute Nacht!« Da die kleinen Jungen redlich müde waren, ließen sie sich widerstandslos abführen.

»Ich möchte auch lieber gehen«, sagte Sven sehr höflich, »wenn es euch recht ist. Ich muß noch lernen.«

»Lauf nur!« Arnold klopfte ihm auf die Schulter. »Vom Lernen wollen wir dich bestimmt nicht abhalten! Aber du bleibst doch noch, Egon?«

»Mit Vergnügen!«

»Wein ist im Eisschrank!« rief Sabine vom Gartenzimmer her, das zum Spiel- und Schlafraum für Andy und Christian eingerichtet worden war. »Ich hol’ ihn euch gleich!«

»Mach’ich schon selber!« gab Arnold gut gelaunt zurück.

Er gab Sabine im Vorbeigehen einen freundlichen kleinen Klaps.

Als er, die Flasche schon unter dem Arm, drei Gläser in der Hand, von der Küche her wieder in die Diele trat, hörte er den Schlüssel in der Haustür und blieb stehen.

»Du kommst gerade recht«, begrüßte er seine Schwester Ethel, »wir wollen ein Glas Wein zusammen trinken.«

Ethel, Redakteurin bei der Modezeitschrift »Der neue Stil«, wirkte, wie immer, ausgesprochen elegant, gepflegt und frisch, als hätte sie gerade erst das Haus verlassen und nicht bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Die große, rechteckige Brille verbarg die ersten, zarten Fältchen unter ihren Augen und ließ sie jünger erscheinen als sie war. Niemand hätte sie auf ihr wirkliches Alter, dreiunddreißig Jahre, geschätzt.

»Was ist los?« fragte sie und streifte ihre weißen Waschlederhandschuhe ab. »Gibt’s einen Grund zum Feiern?«

»Wir haben das Klettergestell für die Jungen fundamentiert.«

»Dolle Leistung. Herzlichen Glückwunsch.«

»Du kommst doch raus? Es ist ein so schöner Abend.«

»Klar. Wenn du mich so nett bittest, da kann ich nicht widerstehen. Obwohl mir ein Whisky, ehrlich gestanden, lieber wäre.«

Arnold zog die Flasche unter seinem Arm vor und ließ Ethel einen Blick auf das Etikett tun. »Ein erstklassiges Tröpfchen!«

»Aus dem Supermarkt?« fragte sie skeptisch.

»Was dachtest du? Aber der ist wirklich gut.«

»Ich glaub’s dir ja, Bruder.«

»Dann hol dir ein Glas und komm.« Er ging auf die Loggia zurück.

Ethel wurde im Gartenzimmer erst noch von den beiden Jungen aufgehalten, die Sabine gerade in die Betten gesteckt hatte.

»Onkel Anno hat botteniert«, erzählte Andy wichtig.

Chris fügte stolz hinzu: »Und wir haben gehelft!«

Ethel lachte. »Na, dann wundere ich mich, daß er trotzdem fertig geworden ist!« Sie richtete sich auf und hielt Andy, der im oberen der beiden Betten schlief, den Mund entgegen.

Der Junge gab ihr einen schmatzenden Kuß und hielt sie fest. »Zähl uns eine Geschichte!«

Ethel löste sich aus seinem Griff. »Kommt ja nicht in Frage. Wißt ihr, wie spät es ist? Jetzt wird geschlafen.« Sie bückte sich und küßte Christian. »Schlaft gut, ihr Schlingel! Wenn ich morgen früher nach Hause komm’, kriegt ihr eure Geschichte!«

Sabine umarmte die Schwägerin herzlich, und Arm in Arm traten sie in den Garten.

Arnold hatte die Flasche inzwischen entkorkt und die Gläser gefüllt. Egon zündete die Windlichter an und drehte sich, als Ethel ihn begrüßte, zu ihr um.

Ethel hielt Arnold ihr Glas hin. »Herrje, bin ich ab! Das war wieder mal eine Affenhitze in der Redaktion. Und geschuftet habe ich wie die Wahnsinnige.«

»Sieht man dir aber nicht an«, sagte Arnold.

»Nein, wirklich nicht«, fügte Sabine mit einer Bewunderung hinzu, die nicht ganz ohne Neid war, »du siehst fabelhaft aus. Wie machst du das bloß?«

»Ich kann dich immer bloß anstarren«, behauptete Egon.

»Ach, hört auf damit.« Ethel stellte ihr Glas auf den Tisch. »Ich werd’ ja ganz verlegen.« Sie legte ihre weiße Lederhandtasche ab und zog sich die Jacke ihres zartrosa Kostüms aus, zu dessen Rock sie einen rosa-weiß-grau geringelten ärmellosen Pulli trug – die beiden Rosas genau aufeinander abgestimmt.

»Soll ich dir nicht etwas zu essen machen?« fragte Sabine.

Ethel schüttelte sich mit einer Kopfbewegung ihr glänzendschwarzes, zu einer Pagenfrisur gelegtes Haar zurecht. »Nein, danke, Liebes, wirklich nicht! Vielleicht eß ich später oben noch was. Aber jetzt möchte ich mich erst mal entspannen.« Sie ließ sich in einem der Korbsessel nieder und streckte die schlanken Beine von sich. »Trinken wir?«

Sie nahmen alle einen Schluck.

»Ah, das tut gut!« rief Ethel. »Darauf habe ich mich den ganzen Tag gefreut … auf den Willkommenstrunk zu Hause!« Sie setzte das Glas noch einmal an und leerte es.

Arnold schenkte ihr nach.

Der Alkohol lockerte die Stimmung. Alle sprachen lebhaft miteinander, wenn auch mit gedämpfter Stimme, um die Zwillinge nicht zu stören und weil auch die Nachbarn sich in den Gärten hinter den Häusern aufhielten. Ein Radio dudelte, und immer wieder klang Gelächter herüber. Sie störten sich nicht daran, sondern genossen den schönen Abend, die laue Luft und das friedliche Beisammensein.

Sabine wedelte eine Mücke von sich. »Wenn wir erst wieder etwas Geld haben«, schlug sie vor, »sollten wir uns unbedingt den Kamin bauen, den wir mal geplant hatten. Das wäre genau das, was noch fehlt.«

»Daran ist in absehbarer Zeit gar nicht zu denken«, erwiderte ihr Mann.

»Ich weiß ja. Aber man wird doch wohl noch träumen dürfen!« Sabine lachte leise.

Er streichelte ihre Hand. »Natürlich darfst du! Nur zu! Solange dich deine Träume nicht von mir entfernen!«

Sie zuckte zusammen und bemühte sich, im ungewissen Licht der Kerzen seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Er wirkte durchaus gelassen. Sie begriff, daß er seine Bemerkung ohne Hintergedanken gemacht hatte. Es war ihr eigenes schlechtes Gewissen, das sie beunruhigte.

»Wenn ihr schon was bauen wollt«, ließ Ethel sich vernehmen, »dann wüßte ich was Wichtigeres! Ich möchte euch die gute Laune ja nicht verderben, aber mal muß es ja gesagt werden: Ich brauche dringend eine Garage!«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Du meinst, ich soll sie dir bauen?« fragte Arnold dann mit deutlichem Unbehagen.

»Es würde mir schon genügen, wenn ihr mir den Platz dazu abtreten würdet!« Ethel wandte sich Sabine zu. »Ich habe mich bisher immer zurückgehalten, weil ich dir deinen geliebten Garten nicht zerstören wollte. Aber nun, wo die Zwillinge hier einen Spielplatz kriegen …«

»Du hast ganz recht«, sagte Sabine rasch, »der Garten ist gar nicht so wichtig. Natürlich sollst du einen Platz für deine Garage haben! Nicht wahr, Arnold?«

»Ja, aber wo?« fragte er zögernd.

»Vielleicht könnte man die alte Garage nach hinten erweitern«, schlug Sabine vor, »seitwärts geht es ja nicht.«

»Daß die Autos hintereinander stehen? Das wäre aber umständlich. Man würde einander ständig behindern.«

»Nicht, wenn man den Eingang auf die Seite legt«, sagte Ethel, »ich habe mir, wie ihr euch denken könnt, alles gut überlegt. Morgen, bei Tag, werde ich euch zeigen, wie ich es mir vorstelle.«

»Du hast also fest mit unserem Entgegenkommen gerechnet?«

»Klar!« gab Ethel zu. »Ich weiß doch, daß ihr nette Menschen seid!« Sie stand auf.

»Hast du auch schon eine Firma, die es dir baut?«

»Nein. Ehrlich gestanden, ich wollte dir die Vorhand lassen. Ich dachte, vielleicht würde es dir Spaß machen. Selbstverständlich gegen Bezahlung. Du kannst doch so was. Bis zum Winter würdest du es sicher schaffen.«

»Das kommt darauf an, wie schnell wir die Baugenehmigung kriegen. Die brauchen wir nämlich auch.«

»Ach, das wird schon hinhauen!« Ethel gab ihrem Bruder einen raschen Kuß. »Wenn ich nur deine Genehmigung habe, die von der Behörde kriege ich bestimmt! Du bist ein Schatz.« Sie ergriff ihre Handtasche und ihre Jacke und schlug, um die Zwillinge nicht zu stören, den Weg zur Haustür ein.

Auch Egon nahm die Gelegenheit wahr, sich zu verabschieden.

Die Eheleute blieben allein zurück.

Arnold hob die Flasche Wein – es war die dritte – gegen das Windlicht. »Es ist gerade noch ein Tröpfchen für uns beide drin.« Er schenkte ihr und sich selber ein. Sie hatte eigentlich keine Lust mehr, noch etwas zu trinken, aber sie wollte seine gute Stimmung so lange wie möglich erhalten und verzichtete deshalb darauf, Einspruch zu erheben. »Du bist so lieb heute abend«, sagte sie.

»Zu deutsch: Normalerweise bin ich ein patentiertes Ekel!«

»So habe ich es nicht gemeint!« protestierte sie.

»Laß nur. Ich weiß selber, daß ich in letzter Zeit schwer zu ertragen bin.«

Sie wollte ihm widersprechen, überlegte es sich aber anders; vielleicht war dies die Stunde für ein offenes Gespräch, bei dem die Weichen neu gestellt werden konnten. »Wenn du es selber weißt«, sagte sie vorsichtig, »wäre es dann nicht möglich, dich ein bißchen zu ändern?«

»Meinst du, ich versuche es nicht? Wenn du dir nur vorstellen könntest, mit wieviel guten Vorsätzen ich aus der … der Haft gekommen bin!« Er sprach das Wort mit Überwindung aus. »Aber es hat nichts genutzt. Ich bin unglücklich, und ich mache dich unglücklich.«

»Das ist nicht wahr, wirklich nicht, Arnold!« behauptete sie. »Ich bin froh, daß du wieder zu Hause bist.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Aber es quält mich natürlich, daß du dich so … so wenig wohl in deiner Haut fühlst.«

Die nächtliche Stunde im Freien hatte ihren besonderen Zauber, den sie beide spürten. In den Nachbargärten war es still geworden, und auch von der Straße her kam nur noch hie und da das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos, das die gleich darauf eintretende Stille noch deutlicher machte. Grillen zirpten in den Büschen, und ein Spatz zwitscherte im Schlaf. Sonst war alles ruhig. Sie saßen im Schein des stetig brennenden Windlichts, rings eingehüllt von samtschwarzer Dunkelheit. Sie konnten sich gegenseitig kaum erkennen, und gerade das gab ihnen den Mut, Dinge auszusprechen, die sie gewöhnlich kaum zu denken wagten.

»Heute abend«, sagte sie langsam, »da war es seit langem wieder einmal fast wie früher. Früher bist du mit Egon doch immer gut zurechtgekommen. Kannst du ihm nicht verzeihen, daß er dich … reingerissen hat?«

»Ach was«, widersprach er impulsiv, »so verbohrt bin ich nun doch nicht! Es war schließlich meine eigene Schuld, daß ich …« Er unterbrach sich und fügte langsam hinzu: »Vielleicht ist doch was Wahres dran. Obwohl es idiotisch ist. Aber alles bringt mich gegen ihn auf.«

»Wenn du nur eine andere Stellung hättest finden können.«

»Ja, das wäre besser gewesen«, gab er müde zu.

»Willst du es nicht noch mal versuchen?« fragte sie zaghaft.

»Sinnlos. Fünfundvierzig und vorbestraft. Das ist wie ein Fluch. Höchstens beim Bau würde man mich nehmen. Aber das schaffe ich körperlich nicht mehr. Und mich in der Fabrik ans Fließband stellen … nee, danke.«

Sie nippte an ihrem Glas. »Als du damals geflohen bist, wie hast du dir deine Zukunft da eigentlich vorgestellt? Wie sollte es weitergehen, wenn sie dich nicht gefaßt hätten?«

»Darüber habe ich gar nicht nachgedacht, ich … ich wollte einfach weg.«

Sie spürte, daß das nicht die Wahrheit war und schwieg.

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll«, gestand er, »ich wollte ein neues Leben anfangen.«

»Ohne mich?«

»Ja.«

»Mit einer… anderen?«

»Mit vielen anderen. Ich wollte … frei sein, verstehst du?«

»Ja.«

»Bist du nun sehr enttäuscht?«

»Nein. So ähnlich hatte ich es mir vorgestellt.« Sie hatte den Wunsch, ihm endlich von ihrer Liebe zu Thomas Stratmann zu erzählen. Aber sie begriff, daß es nun weniger möglich war denn je. Er hätte glauben müssen, daß sie ihm weh tun wollte, um sich zu rächen. »Jetzt«, sagte sie statt dessen, »könntest du fort. Du hast deine Strafe abgesessen. Die Polizei würde dich nicht mehr hetzen.«

»Willst du mich los sein?«

»Du weißt, daß das nicht stimmt. Aber ich möchte, daß du glücklich bist – glücklich, was für ein dummes Wort! Als wenn irgendein Mensch glücklich sein könnte, wenigstens auf die Dauer! Daß du nicht ganz so unglücklich bist, meine ich.«

»Ich habe schon manchmal große Lust, alles hinzuschmeißen«, bekannte er.

Es gab ihr einen Stich, doch sie ließ es sich nicht anmerken. »Aber dann …«

»Nein, Biene, ich kann dich nicht mit dem Haus und den Schulden im Stich lassen. Das ist ausgeschlossen.«

»Die Schulden sind ja gar nicht mehr so arg, seit Ethel die eine Hälfte übernommen hat.«

»Aber du kämst allein nicht zurecht… bitte, laß mir wenigstens diese Illusion und sag mir nicht, daß ich zu gar nichts mehr nutze bin! Dann könnte ich die Rackerei nämlich wirklich nicht länger ertragen!«

»Natürlich bis du mir eine große Hilfe«, sagte sie rasch, »nicht nur finanziell.«

»Ich will’s dir glauben, wenn ich mich meist doch eher als eine Belastung empfinde. Aber das Ganze ist natürlich eine Wahnidee. Wo sollte ich denn hin? Wovon sollte ich leben? Es ist gut gemeint, Biene, aber es geht einfach nicht.«

Sie fröstelte. »Wir sollten hineingehen.«

Er verfolgte seinen Gedankengang. »Und außerdem will ich gar nicht fort, nicht von dir, Biene. Ohne dich wäre ich … verloren.«

»Damals hast du anders darüber gedacht.«

»Damals war ich total durcheinander. Dabei hätte ich es, das möchte ich wetten, keine drei Monate ohne dich ausgehalten!«

Sie begriff, daß sie das glauben konnte oder nicht, aber auch, daß es sinnlos war, darüber nachzugrübeln. »Dann«, sagte sie und lächelte in die Dunkelheit, »müßten wir eigentlich froh sein, daß sie dich erwischt haben, denn was wäre sonst aus dir geworden?«

»Ich hätte mich sicher über kurz oder lang freiwillig gestellt.«

»Mag sein. Aber so haben wir doch alle Aufregungen jetzt wenigstens hinter uns. Wir können neu anfangen, und wir sind zusammen!«

»Ja!« Er tastete nach ihrer Hand. »Und das ist gut so.«

»Willst du nicht gelegentlich daran denken? Wenn dir wieder mal der Ärger über den Kopf schlägt? Daß dein Leben doch auch gute Seiten hat?«

»Nur eine einzige: dich!«

Sie war aufgestanden. »Alter Übertreiber! Von der Seite kenne ich dich ja gar nicht!«

Er zog sie auf seinen Schoß und küßte sie zart hinter das Ohr. »Manchmal«, flüsterte er, »tut’s mir schon leid, daß du mich ausquartiert hast!«

Sie verzichtete darauf, ihm vorzuhalten, daß das eine lange Zeit sein sehnlicher Wunsch gewesen war. »Das Zimmer hat doch eine Tür!« flüsterte sie zurück.

»Aber das Baby …«

»Ach, herrje!« Sie rutschte von seinem Schoß. »Jetzt habe ich wahrhaftig vergessen, Katja zu versorgen!«

»Laß doch! Sie hätte sich schon gemeldet, wenn …«

»Nein, nein, ich muß sofort …«Sie griff nach den Gläsern. »Nimmst du die Flaschen?« Sie öffnete mit dem Ellbogen die Tür zum Gartenzimmer.

Sie hatte ein kleines Licht brennen lassen.

Die Zwillinge lagen mit geröteten Wangen und zerzaustem Haar in ihren Bettchen und wirkten engelhafter denn je.

Sabine blickte zu Arnold zurück. »Sind sie nicht süß?«

Er beantwortete ihre Frage nicht. »Kommst du nachher zu mir?«

»Aber es ist schon so spät!«

»Sabine, bitte …«

»Ja, ich komme«, versprach sie und schämte sich, weil sie sich dazu überwinden mußte.

Am Sonntagnachmittag fuhr Egon Kasparek nach Haar. Es war ein warmer Tag, und er trug Jeans und ein rotes Freizeithemd; beide Fenster seines hellblauen Volkswagens waren offen, und der Fahrtwind strich ihm durchs Haar.

Dennoch fühlte er sich beklommen.

Immer wieder sagte er sich, daß er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau freute, und das war die Wahrheit. Je länger die Trennung dauerte, desto stärker wurde seine Sehnsucht. Aber nie verließ ihn die Angst, daß eine böse Überraschung ihn erwarten könnte, die Angst, Rosy hätte einen Rückfall erlitten oder es wäre ihr etwas zugestoßen – was, hätte er selber nicht zu sagen gewußt. Aber er mißtraute zutiefst diesen Männern und Frauen in den weißen Kitteln, denen er sie so völlig hatte ausliefern müssen.

Er atmete auf, als er Rosy hinter dem hohen schwarzen Gitter entdeckte, dessen Stäbe sie mit beiden Händen festhielt wie ein Schulkind. Für dies eine Mal jedenfalls war seine Furcht unbegründet gewesen.

Sie hatte ihn jetzt auch erkannt, löste die rechte Hand und winkte ihm zu.

Er mußte erst sein Auto einparken, und in seiner Nervosität – es konnte ihm jetzt nicht mehr schnell genug gehen – gelang es ihm schlechter als gewöhnlich. Er stieß hinten gegen die Mauer, und es gab ein häßlich knirschendes Geräusch. Er nahm sich nicht die Zeit, den Schaden zu besehen, hoffte, daß keiner entstanden war, holte die Riesenschachtel Pralinen vom Nebensitz, schloß ab und jagte los.

Sie küßten sich durch die Gitterstäbe.

»Rosy, mein Liebling!«

»Endlich, endlich!«

»Du siehst gut aus!«

Rosy zupfte sich ein rotblondes Löckchen vor das Ohr. »Eine Pflegerin … Bertha, die nette, du weißt ja … hat mich gestern gebadet und mir das Haar gewaschen, damit ich schön für dich bin.«

»Du bist schön, Liebling! Da … ich habe dir was mitgebracht!« Er hielt die Pralinenpackung senkrecht und schob sie ihr zu.

»Wunderbar! Darf ich sie gleich aufmachen?«

»Sicher! Dafür sind sie ja da!« Er freute sich, denn sie schien ihre Angst, vergiftet zu werden, völlig überwunden zu haben.

»Bussi!«

Sie küßten sich noch einmal durch die Stäbe. Dann trennten sie sich, weil er die Anmeldung passieren mußte, bevor er zu ihr in den Park hinein durfte. Erst danach konnten sie sich umarmen.

Rosy trug wie die anderen Patienten die häßliche blaugraue Anstaltstracht, aber sie hatte sie mit einem gelben Seidentüchlein aufgehellt und lang baumelnde Ringe in den Ohren befestigt. So brachte sie es fertig, fast schick auszusehen; sie wirkte nicht wie eine Kranke, sondern eher wie eine Schauspielerin, die eine Kranke darstellte. Sicher trug ihr leuchtendes Haar zu diesem Eindruck bei und die hellgrünen Augen. Sie hatte in den letzten Monaten, seit es ihr besser ging, so sehr zugenommen, daß sie geradezu mollig geworden war. Seit vielen Jahren hatte sie nicht mehr so sehr wie heute dem Mädchen geglichen, in das Egon sich verliebt hatte.

»Du siehst wunderbar aus«, sagte er.

Sie lachte. »Wenn du das noch einmal sagst, muß ich es dir wohl glauben.« Sie hatte das Cellophan abgerissen und öffnete jetzt die Pralinenschachtel. »Dabei mache ich mir Sorgen um meine schlanke Linie.«

»Unsinn!«

Sie wählte mit Behagen, fischte sich mit spitzen Fingern eine Praline heraus und steckte sie sich in den Mund.

»Hm, gut!« erklärte sie mit vollem Mund. »Du darfst mich nicht anlügen, Egon! Ich weiß, daß ich schrecklich dick geworden bin. Kein Kleid wird mir mehr passen, wenn ich nach Hause komme.«

»Ich kaufe dir lauter neue!«

»Au fein! Dann kann ich ja noch eins nehmen!« Sie nahm sich eine zweite Praline heraus, bevor sie Egon anbot.

»Nein, danke, Liebling die sind ja für dich!«

Rosy leckte sich die Finger ab. »Du darfst nicht glauben, daß das Essen hier so gut ist, das ist es nämlich nicht!« Geheimnisvoll flüsternd fügte sie hinzu: »Ich glaube, die geben uns was, daß wir ständig hungrig sind!«

Er konnte nicht verbergen, wie sehr er erschrak.

»Nein, nein, du mußt nicht denken, ich habe mir das ausgedacht«, beruhigte sie ihn rasch, »alle sagen das! Du kannst fragen, wen du willst! Die sagen, das sind Tabletten zum Sedieren, aber es kommt alles mögliche dabei heraus … daß man einen Appetit wie ein Riese hat und überhaupt keine Lust auf Liebe .. na, du weißt schon, wie ich’s meine! Oder willst du etwa behaupten, das ist normal?«

»Ich habe wahnsinnige Lust darauf«, sagte er und legte den Arm um ihre sanft gerundete Hüfte.

»Das glaub’ ich dir! Du kriegst auch nicht solches Zeugs zu essen! Weißt du was? Das nächste Mal werfe ich es ins Klo! Sie passen schon nicht mehr so auf mich auf!«

»Das darfst du nicht!« Er zog sie noch enger an sich. »Liebling, versprich mir, daß du das nie tust! Alle Medikamente sind dazu da, daß du gesund wirst, und du willst doch gesund werden, nicht wahr?«

»Ich bin gesund! Mir fehlt gar nichts mehr!« Sie riß sich von ihm los und sah ihm gerade in die Augen. »Wann holst du mich endlich hier heraus?«

Er war durch die Heftigkeit ihrer Forderung bestürzt. »Aber, Rosy, das liegt doch nicht in meiner Macht! Ich habe wirklich alles versucht!«

»Egon!« Ihre Stimme hatte plötzlich einen anderen Ton. »Da vorne kommt Doktor Mayer! Was für ein Glück. Komm, wir laufen zu ihm, und dann kannst du ihn gleich fragen! Halt mal die Pralinen, damit ich …« Sie drückte ihm die Schachtel in die Hand, wischte sich mit den Fingern die Wangen trocken und tastete nach ihrer Frisur. »Er darf nicht merken, daß ich … er kann es nicht leiden, wenn man sich aufregt!«

Oberarzt Dr. Mayer war ein schwerer Mann, dessen großer Kopf auf einem so kurzen Hals saß, daß er direkt in den Schultern zu stecken schien. Das schwarze, glatte Haar trug er gerade gescheitelt und sehr kurz geschnitten. Er strebte in Begleitung einer Kollegin von der Aufnahme her dem Haupthaus zu und war so in das Gespräch vertieft, daß er Rosy und Egon erst bemerkte, als sie ihm den Weg abschnitten. Zweifellos paßte ihm die Störung nicht, aber er gab sich gelassen.

»Herr Doktor«, sagte Rosy hastig, »mein Mann möchte mit Ihnen sprechen!«

»Na, dann kommen Sie doch mal zur gegebenen Zeit zu mir in die Sprechstunde, Herr Kasparek, dafür ist die ja da!«

»Es tut mir leid, aber ich kann wochentags schlecht fort. Ich bin Geschäftsführer in einem Supermarkt, und ich kann den Betrieb nicht einfach sich selber überlassen.« Unter dem beschwörenden Blick seiner Frau fügte Egon hinzu: »Ich weiß, daß der Sonntagnachmittag eine schlechte. Zeit ist, Herr Doktor, aber ich bitte Sie dringend, einmal eine Ausnahme zu machen!«

Dr. Mayer blickte auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. »Dann erwarte ich Sie also in einer halben Stunde auf meinem Zimmer, Herr Kasparek, Sie wissen ja Bescheid. Aber nur, weil Sie’s sind, Rosy!«

Dr. Mayers Sprechzimmer war ein Eckraum im Erdgeschoß, sehr einfach, nahezu schäbig eingerichtet, bis auf den schweren eichenen Bücherschrank, die Couchgarnitur und den Perserteppich, die aus Privatbesitz stammen mochten, aber auch schon bessere Tage gesehen hatten. An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing ein abstraktes, grellfarbiges Ölgemälde, das sehr künstlerisch wirkte, tatsächlich aber, wie Dr. Mayer gerne erzählte, von einer ehemaligen Patientin stammte. Die beiden großen Fenster, das eine zum Park, das andere zur Straße hin, waren vergittert.

Als Egon an diesem Sonntagnachmittag eintreten wollte, war die Tür noch verschlossen. Er mußte auf dem Gang warten, bis Dr. Mayer kam – in wehendem weißen Kittel und feine Schweißperlen auf der Stim – und ihm öffnete.

Der Oberarzt tupfte sich mit einem blauen Baumwolltaschentuch das Gesicht ab, während er zielstrebig auf den Bücherschrank zuging, die linke Tür öffnete und eine Flasche Kognak und zwei Gläser herausholte.

»Sie trinken doch auch einen Schluck?« fragte er, während er, die bejahende Antwort voraussetzend, schon einschenkte.

»Gerne«, sagte Egon.

»Na, setzen wir uns.« Dr. Mayer drückte Egon das eine Glas in die Hand, stellte die Flasche zurück, schob die Schranktür mit dem Ellbogen zu und steuerte auf die Sitzecke zu. Mit einem tiefen Aufatmen ließ er sich in den durchgesessenen Klubsessel sinken, dessen Stahlfedern unter seinem Gewicht knarrten.

Egon war dankbar, daß er nicht vor dem Schreibtisch Platz nehmen mußte, und setzte sich in die Sofaecke, Dr. Mayer schräg gegenüber. Sein Glas stellte er auf dem niedrigen runden Tisch ab, dessen ehemals schöne Politur Kränze und stumpfe dunkle Flecken aufwies.

Dr. Mayer trank und leckte sich die Lippen ab. »So ist das also«, sagte er, »unsere Rosy will uns verlassen. Ich nehme an, sie hat Ihnen eine große Szene gemacht, Herr Kasparek. Aber Sie sollten das nicht so ernst nehmen.«

»Nicht ernst nehmen?« wiederholte Egon verständnislos und sah Dr. Mayer fragend an.

»Ja. Ihre Frau ist nicht harmlos, Herr Kasparek.«

»Weil sie einmal mit dem Messer auf mich losgegangen ist? Aber da war sie krank. Das habe ich nie geleugnet.«

Dr. Mayer lehnte sich zurück, schloß die Augen und legte Zeigefinger und Daumen der rechten Hand auf die Lider. »Sie ist nicht etwa im Streit auf Sie losgegangen, in einem Wutanfall, sondern sie hat Sie im Schlaf überfallen, getrieben von einer Wahnidee. Sie wollte sich nicht wehren oder Sie nur verletzen: sie wollte Sie töten. Würden Sie wirklich wieder mit dieser Frau unter einem Dach leben wollen? Das gleiche Zimmer mit ihr teilen?«

»Ich kann sie doch nicht, nur aus Angst, ein Leben lang in Haar lassen!«

»Damit haben Sie meine Frage nicht beantwortet, und das wissen Sie selber.« Dr. Mayer stand auf. »Von einem Leben lang kann übrigens keine Rede sein. Sondern nur, bis sie gesund ist.« Er nahm sein Glas und ging zum Bücherschrank.

»Und wie lange wird das dauern? Können Sie mir überhaupt versprechen, daß sie je wieder ganz gesund wird?«

»Nein, das kann ich nicht.« Dr. Mayer öffnete die angelehnte Schranktür, holte die Kognakflasche heraus und schenkte sich abermals ein. »Mögen Sie auch noch einen Schluck?«

»Nein, danke. Ich muß noch fahren.«

»Ein sehr vernünftiger Standpunkt»«

»Ich würde jahrelang warten, wenn ich nur hoffen könnte.«

»Hoffen, mein Lieber, können Sie immer.« Dr. Mayer kam zum Tisch zurück. »Aber Sie sind ein erwachsener Mann, und deshalb sollten Sie doch vor den Tatsachen nicht die Augen verschließen. Wir alle freuen uns darüber, daß Rosy momentan so wohlauf ist. Dieser Zustand kann Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre andauern. Es läßt sich aber nicht voraussehen, wann ein neuer Schub kommt, und niemand kann Ihnen auch garantieren, daß sie nie mehr in Geistesverwirrung verfallen wird.« Er leerte sein Glas.

Egon merkte wohl, daß der Arzt das Gespräch beenden wollte, war aber nicht bereit, sich so schnell abschieben zu lassen. »Aber wenn die Chance besteht, daß sie Jahre gesund bleibt, warum kann ich sie dann nicht mit nach Hause nehmen?«

»Weil ich Grund zur Annahme habe, daß ein Wechsel der äußeren Lebensumstände ihr nicht guttun würde.«

»Sie soll sich zu Hause schlechter fühlen als hier? So was gibt’s doch gar nicht.«

»O doch. Denn hier muß sie keine Verantwortung tragen. Man verlangt nichts als die einfachsten Handreichungen von ihr, und auch die nur dann, wenn sie in Stimmung ist. Sie braucht sich keine Sorgen und keine Gedanken zu machen. Ja, sie lebt in einem Käfig, aber dieser Käfig hält sie nicht nur gefangen, sondern er hält auch jede Gefahr von ihr ab.«

Jetzt stand auch Egon auf. »Selbst wenn alles, was Sie über meine Frau sagen, richtig ist, das ist doch nur die eine Seite der Medaille. Ich bin doch auch noch da. Ich liebe sie, und ich brauche sie. Und jetzt, wo ich weiß, wie es um sie steht, bin ich besser imstande sie zu behandeln als jeder Arzt.«

»Liebe ist gut, aber Fachverstand ist besser.« Dr. Mayer ging zur Tür.

»Helfen Sie uns doch! Und wenn es nur für ein paar Monate wäre! Bei dem geringsten Anzeichen einer neuen … Verwirrung würde ich sie persönlich zurückbringen!«

»Mein lieber Herr Kasparek«, sagte Dr. Mayer, »Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, daß ich es darauf anlege, auch nur einen einzigen Patienten länger dazubehalten, als unbedingt nötig ist! Wir sind ohnehin überfüllt und haben zuwenig Personal, also verlassen Sie sich darauf, wenn ich es nur irgend verantworten kann, werde ich Ihre Frau wenigstens versuchsweise entlassen.«

»Und … wann?«

»Tut mir leid, aber einen Termin kann ich Ihnen wahrhaftig nicht nennen.«

Ilona hatte sich nicht so rasch wieder in München eingelebt, wie sie erwartet hatte. Ihre Arbeit als Direktionssekretärin machte ihr zwar nach wie vor Freude, und sie war dankbar, daß ihr der Posten erhalten geblieben war. Natürlich hätte sie, dank dem Mutterschutzgesetz, nicht entlassen werden, aber doch im Rahmen des Kaufhausunternehmens an einen anderen Platz bei gleicher Bezahlung versetzt werden können. Daß dies nicht geschehen war, dafür hatte Direktor Schneller, ihr unmittelbarer Vorgesetzter, gesorgt, der sie, ohne je zudringlich zu werden, gerne um sich sah.

Auch ihr altes möbliertes Zimmer am Waldfriedhof war ihr erhalten geblieben; sie hatte während ihrer dreimonatigen Abwesenheit die Miete weiter gezahlt, weil sie aus Erfahrung wußte, wie schwer die Zimmersuche in München war, besonders, wenn man in der Innenstadt leben und nicht allzuviel Geld für Miete ausgeben wollte.

Jetzt fragte sie sich manchmal, ob sich das überhaupt gelohnt hatte, oder ob es nicht besser gewesen wäre, anderswo ganz neu anzufangen. Nachdem sie so lange mit ihrer Mutter zusammen gewohnt hatte – was ihr durchaus nicht nur angenehm gewesen, sondern oft genug auch auf die Nerven gefallen war –, schien ihr der große, geschmacklos eingerichtete Raum noch ungemütlicher. Die Kissen und Decken, die sie selber zur Einrichtung beigesteuert hatte, hatten nicht viel ändern können. Ihre Wirtsleute, ein Pensionistenehepaar, erlaubten ihr nicht, die Möbel umzustellen, geschweige denn, das eine oder andere Stück zu ersetzen oder zu entfernen. So mußte sie denn weiterhin mit einer Elfenwiese im Mondschein und einer Zimmerlinde auf wackligem hochbeinigem Podest leben.

Früher hatte das Ilona nicht so sehr gestört wie heute. Nach der Trennung von Oswald Zinner hatte sie geglaubt, daß es nun nur noch aufwärts gehen könnte. Sie war bereit gewesen, jede Unbequemlichkeit ihrer Freiheit zuliebe in Kauf zu nehmen. Jetzt schien ihr diese Ungebundenheit gar nicht mehr so beglückend. Sie fühlte sich einsam und hatte Sehnsucht nach der kleinen Katja.

Zudem hatte ihre Mutterschaft Veränderungen in ihrem Leben bewirkt, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie sich ganz bewußt von den jungen Männern zurückgezogen, die sich um sie bemüht hatten. Selbst der harmloseste Flirt war ihr in diesem Zustand unpassend erschienen. Jetzt mußte sie feststellen, daß sie nicht einfach an die Zeit davor anknüpfen konnte.

Jeder in ihrer Umgebung wußte, daß sie ein Kind bekommen hatte, und wer es noch nicht wußte, bekam es sehr schnell von einem lieben Kollegen oder einer Kollegin gesteckt, sobald er Interesse für sie zeigte.

Es war nicht so, daß man sie mied oder auf sie herabsah – die verheirateten Frauen, die selbst Kinder hatten, waren sogar netter zu ihr als früher –, aber sie war jetzt kein unbelastetes junges Mädchen mehr, und das ließ jeder sie, gewollt oder ungewollt, spüren. Man setzte voraus, daß es sie jedes Wochenende zu ihrem Kind zog, und niemand dachte mehr daran, sich mit ihr zu verabreden oder sie zum Essen oder einer Veranstaltung einzuladen. Tatsächlich war Ilona gar nicht darauf aus, neue Bekanntschaften zu schließen oder alte wieder aufzuwärmen; aber es irritierte sie, daß man ihr nicht einmal Gelegenheit gab, nein zu sagen.

Als Direktor Schneller ihr zwei Karten für ein Konzert der Münchner Philharmoniker schenkte, freute sie sich ehrlich.

»Sie werden sicher wissen, wen Sie mitnehmen können«, sagte er lächelnd.

Aber genau das wußte sie nicht.

Es gab einen Substituten, Otto Leer, einen eleganten jungen Mann, der sich einmal sehr für sie interessiert hatte. Inzwischen gab er sich, wie die anderen, wesentlich zurückhaltender, scherzte aber noch gern mit ihr und fand immer ein persönliches Wort. Vielleicht bildete er sich ein, dachte Ilona, daß sie es war, die sich jetzt nichts mehr aus einem Zusammensein machte. Früher waren sie manchmal miteinander ausgegangen, meist nach Schwabing, und hatten viel Spaß gehabt.

Sie entschloß sich, selber einen Vorstoß zu wagen.

Mittags in der Kantine hielt sie unauffällig nach ihm Ausschau und entdeckte ihn auch, als er sein Tablett von der Ausgabe her durch den großen künstlich beleuchteten Raum balancierte. Sie lächelte ihn an, er verstand den Wink sofort und steuerte auf den Tisch zu, an dem sie mit einer jungen Kollegin, der wuschelköpfigen Kiki, saß.

»Guten Appetit, die Damen!« wünschte er. »Ich darf doch wohl?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er schon Platz genommen. »Du strahlst ja so, Ilona! Hat’s eine Gehaltserhöhung gegeben?« Er säbelte ein tüchtiges Stüde von dem Wiener Schnitzel ab und steckte es in den Mund.

»Nein, aber ich habe zwei Konzertkarten bekommen. Vom Chef.«

»Gratuliere«, sagte Otto Leer mit vollem Mund. »Für den Zirkus Krone?«

Ilona lachte. »Ich habe Konzert gesagt, nicht Remidemi. Rudolf Kempe dirigiert die Münchner Philharmoniker.« Verheißungsvoll fügte sie hinzu: »Dvorak und Tschaikowski.«

Aber Otto Leer zuckte die Schultern und erwiderte kauend: »Muß ganz nett sein, für jemanden, der so etwas mag.«

»Für dich nicht?«

»Bin total unmusikalisch.«

Die Abfuhr war deutlich; Ilona ärgerte sich, weil sie errötete.

»Dann gelingt es mir also nicht, dich neidisch zu machen«, entgegnete sie, um ihr Gesicht zu wahren, »schade.«

Sie verzapfte noch ein bißchen Betriebsklatsch, bevor sie zusammen mit Kiki die Kantine verließ; die beiden Mädchen waren schon beim Kompott gewesen, als Otto Leer sich zu ihnen gesetzt hatte.

»Hast du gehofft, Otto würde dich begleiten?« fragte Kiki, als sie im Lift nach oben fuhren.

»Ach woher denn«, log Ilona.

»Es kam aber ganz so raus.«

»Wirklich? Na, dann habe ich ja noch Glück gehabt, daß er es nicht so aufgefaßt hat. Ich hätte ihm nämlich einen Korb geben müssen, und das hätte dann schon sehr dumm ausgesehen.«

Kiki sah sie prüfend an. »Also bist du schon verabredet?«

»Du sagst es.«

Damit hatte Ilona sich auch noch der Möglichkeit beraubt, Kiki oder eine andere Kollegin mit ins Konzert zu nehmen, und sie wußte das im gleichen Augenblick. Aber sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, die Blamage abzuwenden.

Kiki ließ immer noch nicht locker. »Mit wem gehst du denn?«

Ilona zwang sich zu lächeln. »Mit einem netten Jungen, den du nicht kennst und den ich dir auch nicht vorstellen werde, denn sonst schnappst du ihn mir am Ende noch weg.«

Die Schmeichelei gefiel Kiki und machte sie geneigt, Ilona Glauben zu schenken. »Er arbeitet also nicht im Haus?«

»Nein.« Ilona dachte sich rasch etwas aus. »Er ist Mediziner. Ich habe ihn durch meinen Bruder kennengelernt.«

»Ein Student!« sagte Kiki neidvoll. »Auf so einen würde ich keinen Wert legen. Die wollen ja nur ihren Spaß haben, und nachher heiraten sie ein Mädchen mit Geld. Wenn überhaupt.«

Ilona gab ihr einen Stups auf die Nasenspitze. » Wer spricht denn vom Heiraten, Kiki? Das ist das letzte, was ich möchte. Jedenfalls im Augenblick. Verheiratet ist man immer viel zu lang.«

»Du bist mir schon eine!« erklärte Kiki bewundernd.

Tatsächlich war Ilona weder so leichtsinnig, noch so frohgemut, wie sie vorgegeben hatte. Sie hatte mit ihrem Gerede nur verhindern wollen, von Kiki bemitleidet zu werden, denn das wäre ihr entsetzlich gewesen.

Aber während des Gesprächs war ihr eine Idee gekommen, die ihre Laune echt verbesserte: Warum sollte sie nicht einen ihrer beiden in München lebenden Brüder als Begleiter für den Konzertbesuch mobilisieren? Wenn die beiden für sie als Männer natürlicherweise auch uninteressant waren, so waren sie doch immerhin stattlich genug, daß man sich mit ihnen sehen lassen konnte.

Vom Büro aus anrufen wollte sie nicht, weil sie hier nie ungestört war. Also ging sie nach Arbeitsschluß – es war wieder mal acht Uhr geworden – zum Postamt am Bahnhof, fand keine freie Zelle und entschloß sich, ihnen einen Besuch abzustatten. Bis zur Tengstraße, wo die beiden bei einer Frau Anneliese Unterhuber wohnten, waren es nur ein paar Schritte, und falls sie keinen von ihnen zu Hause antraf, konnte sie ihnen immer noch eine Nachricht hinterlassen.

Schon der Gedanke, nach Feierabend etwas vorzuhaben, gab Ilona Auftrieb. Sie hatte Knut und Torsten noch nie in ihrem Münchner Domizil aufgesucht und war gespannt, wie sie hausten. Sicherlich ziemlich beengt und primitiv, dachte sie, denn ursprünglich hatte ja Knut allein dort gewohnt; Torsten hatte sich bei ihm einquartiert, als er sich entschlossen hatte, sein Schwabinger Gammlerleben aufzugeben und eine Stellung in der Werbebranche anzunehmen, um seine Mutter finanziell zu unterstützen. Das war inzwischen fast wieder ein Jahr her, und sie wohnten – aus Sparsamkeitsgründen – noch immer zusammen. Ilona, die sich erinnerte, daß die Brüder immer recht unterschiedlich gewesen waren – Knut, der Medizinstudent, ordentlich, zielstrebig und realistisch, Torsten, der Künstler, großzügig und großherzig, lässig und nachlässig –, wunderte sich, daß sie es so lange miteinander aushielten. Als Jungen hatten sie sich unentwegt gestritten. Aber inzwischen waren sie erwachsen geworden, und sie besaßen beide eine gute Portion Humor, die ihnen wahrscheinlich über einige Schwierigkeiten hinweghalf.

Das Mietshaus in der Tengstraße war ein offensichtlich bald nach der Währungsreform errichteter Bau mit schmuckloser, unpersönlicher Fassade, die jetzt schon erhebliche Schäden durch Wind, Wetter, Fahrbahnerschütterungen und Abgase aufwies. Der Anstrich von Tür und Fensterrahmen war – sicherlich oft erneuert – abgeblättert, die Gardinen jedoch waren duftig und gepflegt.

Ilona klingelte. Dann erst stellte sie fest, daß die Haustür nicht verschlossen war, und trat in das Treppenhaus. Es gab keinen Aufzug, und sie kletterte zu Fuß in den vierten Stock hinauf.

Frau Unterhuber erwartete sie schon in der Wohnungstür. Sie war eine große, kräftige, nicht mehr junge Frau mit kohlschwarz gefärbtem Haar und einem breiten Mund voll ebenmäßiger, sehr weißer falscher Zähne. Sie trug ein Sommerkleid mit Halbärmeln und hatte die starken, schon ein wenig schwammigen Arme übereinandergeschlagen.

»Sie wünschen, Fräulein?« fragte sie; ihre Stimme paßte zu ihr, sie war tief und sehr laut.

»Ich möchte bitte einen meiner Brüder sprechen!«

»Welchen?« Frau Unterhuber musterte Ilona abschätzend und ohne Sympathie.

»Knut oder Torsten. Wer gerade da ist.«

Frau Unterhuber gab die Tür immer noch nicht frei. »Niemand hat mir was von einem Besuch gesagt.«

»Ich komme ja auch überraschend.« Als sie sah, daß das Mißtrauen im Ausdruck der anderen noch deutlicher wurde, fügte sie rasch hinzu: »Ich bin wirklich die Schwester. Ilona Miller.«

»Na, dann werde ich mal nachfragen.« Frau Unterhuber zog sich zurück und knallte die Tür vor Ilonas Nase zu.

Die junge Frau wußte nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte.

Fast umgehend wurde die Tür wieder aufgerissen, und Knut erschien, blond, blauäugig und so muskulös, daß seine Größe – er überragte Ilona trotz ihrer hohen Absätze um einige Zentimeter – nicht richtig zur Geltung kam. Er trug weiße Hosen, ein am Hals offenes weißes Hemd und Tennisschuhe. »Du, Schwester?!« rief er und zog sie an der Hand in die Wohnung. »Das nenne ich aber eine Überraschung! Ich hoffe bloß, es ist nicht schon wieder was passiert.«

»Nein, nein, bestimmt nicht.«

»Da rollst du mir einen Stein vom Herzen! Frau Unterhuber, laufen Sie doch nicht weg, darf ich Ihnen mein Schwesterchen vorstellen? Das hätten Sie nicht gedacht, daß ich eine so schnuckelige Schwester habe, was?«

Frau Unterhuber verzog ihren breiten Mund zu der Andeutung eines Lächelns. »Nun, Ihre Kusinchen sind ja meist äußerlich auch sehr fesch.«

»Was für ein Kompliment aus Ihrem Mund! Und ich hatte immer gedacht, daß keine Gnade vor Ihren Augen fände!« Knut zog Ilona, deren Hand er nicht losgelassen hatte, zu einer offenen Tür am Ende des Flurs. »Wenn Torsten kommt, dann lassen Sie ihn ruhig herein!«

»Uih, das ist aber ein Dragoner!« flüsterte Ilona, als ihr Bruder die Tür geschlossen hatte und sie sich in seinem Zimmer gegenüberstanden.

»Halb so wild. Zu uns ist sie fabelhaft. Wie eine Mutter. Frag Torsten.«

»Mich hat sie behandelt, als wäre ich ein Flittchen.«

»Für sie sind alle Flittchen. Jedenfalls die, die uns besuchen.«

»Mich wundert, daß sie das überhaupt erlaubt.« Ilona sah sich in dem hellen großen Zimmer um, das modern und sachlich möbliert war und keinerlei Erinnerungsstücke der Eigentümerin aufwies; die Dekoration – zwei überkreuzte Hockeyschläger, eine Buschtrommel und phantasievolle Aquarelle – stammten zweifellos von ihren Brüdern.

»Ach, die Unterhuberin ist noch von der guten alten Art«, erklärte Knut, »sie ist überzeugt, daß Männer so was brauchen, aber sie verachtet die Mädchen, die sich dazu hergeben.«

»Und das gefällt dir?« Ilona streifte sich die Handschuhe ab.

»Wenn du wissen willst, ob ich diese Ansicht teile… nein!« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Oder jedenfalls nur bedingt.« Er zog sich einen Stuhl zwischen die Beine und legte die Arme auf die Lehne. »Aber, bitte, setz dich doch!«

Sabine nahm in einem der beiden leichten, mit dunkelgrünem Kordsamt bezogenen Sessel Platz; es fiel ihr schwer, mit ihrem Anliegen herauszurücken.

»Ich nehme aber nicht an, daß du gekommen bist, um Recherchen über das Liebesieben zweier Junggesellen zu betreiben«, versuchte Knut ihr zu helfen.

»Mein Chef hat mir Konzertkarten geschenkt…«

»Er sollte dir lieber deine Überstunden bezahlen!«

»Das steht hier doch gar nicht zur Debatte! Als Angestellte im gehobenen Dienst habe ich gar keinen Anspruch auf so etwas!« Sie ärgerte sich, weil es Knut schon gelungen war, ihr die Freude an der netten Geste Direktor Schnellers zu verderben.

Knut grinste. »Es steht dir, wenn du dich aufregst.«

»Knut«, sagte sie, »würdest du mich bitte zu diesem Konzert begleiten? Es findet am Donnerstag statt. Rudolf Kempe dirigiert die…«

Er fiel ihr ins Wort. »Nicht zu fassen! Meine schöne Schwester ist zur Zeit ohne Verehrer?!«

»Darum geht’s doch gar nicht. Ich brauche keinen Verehrer, sondern einfach einen netten Menschen, der mit mir ins Konzert geht.«

»Tut mir leid, Ilo, aber da bist du bei mir an die falsche Adresse geraten. Ich habe so viel zu tun, daß ich nur mit Mühe und Not hin und wieder ein bißchen Freizeit herausschinde. Und die will ich nicht mit Pflichtübungen verplempern.«

»Ein Konzertbesuch ist also für dich eine… Pflichtübung?«

»Mit dir zusammen schon. Entschuldige, daß ich so offen bin. Aber was kann man mit einer Schwester schon anfangen? Du bist ein schönes Mädchen, zugegeben. Aber was habe ich davon? Zum Glück sehe ich persönlich keinen Anlaß, mein Image durch Vorspiegelung falscher Tatsachen aufpolieren zu müssen.«

Tränen der Enttäuschung waren ihr in die Augen gestiegen, und sie wandte rasch den Kopf zur Seite, um sie vor ihm zu verbergen. »Du bist gemein.«

»Nur ehrlich, Ilo. Sei mir dankbar dafür. Du hast es doch genausowenig nötig wie ich, mit jemandem aus der Verwandtschaft auszugehen.«

»Anscheinend doch«, sagte sie mit erstickter Stimme.

»Quatsch. Wenn du schon niemanden hast, der dich begleitet, dann geh doch einfach allein.«

Es war ihr gelungen, die aufsteigenden Tränen zu bekämpfen. »Du weißt nicht, wie man sich vorkommt, wenn man in der Pause so dumm herumstehen muß. Man hat das Gefühl, daß alle Leuten einen anstarren. Alle halten einen für ein Mauerblümchen.«

»Dann geh eine halbe Stunde vorher hin. Versuch, die eine Karte an einen netten Menschen zu verkaufen, mit dem du dann in der Pause reden kannst. Und wenn du dir das nicht zutraust: verscherbele einfach alle beide.«

»Und wenn mein Chef mich fragt, wie’s mir gefallen hat?«

»Dann sag ihm, daß du die Karten verkloppt hast, weil dir Bargeld lieber gewesen wäre.«

»Knut, du bist unmöglich!« Sie stand auf.

»Hallo, wo willst du denn hin?« rief er. »Wieso hast du’s so eilig?«

»Ich will dir nicht deine kostbare Freizeit durch die Pflichtübung einer Unterhaltung mit deiner Schwester verkürzen!«

Er lachte. »Ganz schön giftig! Komm, setz dich wieder. Warte doch auf Torsten. Der ist schließlich der große Menschenfreund in der Familie.«

Ilona zögerte. Sie hätte wirklich gerne noch mit Torsten gesprochen. Deshalb ließ sie sich wieder in den Sessel sinken. »Du solltest nicht spotten, Knut! Das ist sehr unrecht von dir. Torsten hat sich doch wirklich ganz fabelhaft benommen. Sei ehrlich! Keiner von uns hätte ihm das zugetraut.«

»Na, was hat er denn schon getan? Sein süßes Nichtstun aufgegeben. Ich wette, er hatte das ohnehin längst über und war heilfroh, daß er einen Anlaß hatte, sich mit gutem Wind ins bürgerliche Leben hinüberzuretten.«

Sie sah ihn aus großen Augen an. »Wie zynisch du bist, Knut!«

Er lächelte schief. »Bloß realistisch.«

»Quatsch!« rief sie. »Selbst wenn wir mal unterstellen wollen, daß ein Körnchen Wahrheit in dem ist, was du sagst, das wäre doch keine Erklärung dafür, daß er mindestens die Hälfte seines Gehalts nach Riesberg schickt.«

»Ich tät’s auch, wenn ich schon was verdiente!« behauptete Knut, machte dann aber überraschend einen Rückzieher: »Entschuldige, Ilo, du hast natürlich recht. Torsten hat uns alle geschlagen. Ich komme mir ziemlich mies im Vergleich zu ihm vor, wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich versuche, ihn madig zu machen, vor allem vor mir selbst.«

»Kränk dich nicht, Knut«, sagte sie sogleich versöhnlich. »Da wir schon mal bei den Geständnissen sind: Ich finde mein Verhalten auch zum Kotzen. Natürlich blieb mir nichts anderes übrig, als Katja bei Biene zu lassen. Wo hätt’ ich sie denn sonst unterbringen sollen? Aber es steckt doch ein verdammter Egoismus dahinter. Daß Onkel Egon ihr die Zwillinge angedreht hat, ist auch keine Entschuldigung für mich. Wir nutzen Mutters Gutmütigkeit aus.«

»Aber sie läßt sich doch so gerne ausnutzen … wie Torsten auch!«

»Ja, damit reden wir uns heraus«, sagte Ilona, »oder wir versuchen es wenigstens.«

»Immerhin ist es für mich auch ein Opfer, daß ich Torsten hier aufgenommen habe!« verteidigte Knut sich. »Hätte ich’s nicht getan, könnte er Biene nicht unterstützen, jedenfalls nicht in dem Maße.«

Ilona schlug die langen, schlanken Beine übereinander. »Na, wie ich Torsten kenne, hat er dich nicht erst lange gefragt, sondern dich vor vollendete Tatsachen gestellt. Es wundert mich nur, wie er euren Drachen herumgekriegt hat.«

»Mit der Unterhuber hat er’s von Anfang an prächtig gekonnt.«

»Ich würde lebensmüde werden, wenn ich der ständig begegnen müßte.« Ilona sah sich um. »Aber euer Zimmer ist wirklich fabelhaft. Nicht zu vergleichen mit meiner Mottenkiste.«

Es entstand eine Pause.

Sie wußten sich nichts mehr zu sagen.

Ilona spürte es und erhob sich. »Du mußt lernen, Knut, ich will dich nicht länger aufhalten.«

Er wandte ihr den Kopf zu, ohne seine Stellung zum Schreibtisch hin zu ändern. »Aber deshalb brauchst du doch nicht zu gehen. Nimm dir ein Buch«, er wies mit den Augen auf ein niedriges Regal, »und mach’s dir gemütlich. Du kannst bleiben, so lange du willst, du störst mich wirklich nicht.«

Ilona kämpfte mit sich. Sie war gekränkt, hatte aber das Gefühl, daß diese Regung kindisch war. Warum sollte Knut mit ihr Konversation betreiben, wenn er zu arbeiten hatte? Sie hatte Gelegenheit genug gehabt zu lernen, daß sie von ihren Brüdern keine gesellschaftliche Höflichkeit erwarten durfte. Wenn sie sich jetzt beleidigt zeigte und ging, schadete sie nur sich selber, denn sie nahm sich damit die Gelegenheit, mit Torsten zu sprechen.

»Na schön«, sagte sie also, »das ist eine Vernünftige Lösung.« Sie trat an das Regal, bückte sich und zog ein Taschenbuch heraus. Dann setzte sie sich wieder in ihren Sessel, streifte die Pumps ab und zog sich den zweiten Sessel so heran, daß sie die Beine auf die Sitzfläche legen konnte.

Es wurde ganz still im Zimmer; Ilona versuchte sich in ihr Buch zu vertiefen, während Knut lernte.

Nach einer halben Stunde hielt sie es nicht mehr aus und fragte: »Aber wenn Torsten nun nicht kommt?«

»Der kommt bestimmt«, war die lakonische Antwort.

Ilona wollte den Bruder nicht ablenken und ließ es dabei bewenden.

Aber es ging dann doch schon auf zehn Uhr zu, als Torsten endlich erschien.

Er stieß die Tür auf, blieb auf der Schwelle stehen und rief atemlos: »Mensch, bin ich ab!«

Knut drehte sich zu ihm um. »Von den paar Treppen etwa? Junge, du solltest mehr Sport treiben!«

»Wenn ich das schon höre!« Torsten lächelte Ilona zu, als entdecke er sie erst jetzt. »Hallo, Ilo! Wunderbar, daß du uns auch mal besuchst!« Er war mager und von zartem Körperbau, wodurch er größer wirkte als sein Bruder, trug das blonde Haar schulterlang, aber sehr gepflegt, den Backenbart wohlgestutzt; seine Augen, blasser als die Knuts und eher grau, blickten Ilona mit echter Herzlichkeit an.

»Ermutige sie nicht zu sehr«, warnte Knut, »sie plant ein Attentat auf dich!«

»Wenn du Geld brauchst, Ilo, das kannst du haben!« Torsten wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du hast Glück, ich bin gerade in der richtigen Spenderlaune.« Er zog seinen dunklen Blazer aus, hängte ihn sorgfältig über einen Bügel in den Schrank, darunter trug er einen hellblauen Rollkragenpulli.

»Nein, darum handelt es sich gar nicht«, erklärte Ilona rasch, »im Gegenteil, ich möchte dich einladen, zu einem Konzert!«

»Wenn’s weiter nichts ist!« erwiderte Torsten ohne Zögern. »Wann soll denn das große Ereignis stattfinden?«

»Nächsten Donnerstag.«

»Schon geritzt. Und wo treffen wir uns?«

Ilona hätte ihn gern gebeten, sie abzuholen, aber sie mochte es, da er es ihr nicht von sich aus anbot, nicht von ihm verlangen.

»Es ist im Herkulessaal der Residenz.«

»Gut. Dann beim Eingang. Zehn vor acht. Einverstanden?« Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Ja, sehr.« Sie wollte aufstehen.

Er merkte es und drückte sie nieder, »Du willst doch nicht etwa schon abhauen? Ich bin ja gerade erst gekommen.«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Ein bißchen Zeit hast du schon noch«, erklärte Torsten und warf sich in den Sessel, von dem Ilona die Füße genommen hatte, »laßt euch was erzählen, Kinder: Ab nächsten Ersten hab’ ich eine eigene Wohnung!«

Jetzt sprang Knut auf. »Im Ernst? Du, das wär’ ja wunderbar!«

Torsten lächelte zu ihm auf. »An übertriebener Höflichkeit hast du ja nie gelitten!«

»Na hör mal! Verlangst du etwa jetzt auch noch von mir, daß ich Trauer mime, weil du mich verläßt?!«

»Na, immerhin hat dir meine Anwesenheit nicht nur Nachteile gebracht. Oder ist es mir etwa nicht gelungen, deine gute Frau Unterhuber umzufunktionieren?« Er wandte sich Ilona zu. »Bevor ich sie behandelt habe, wollte sie nämlich partout keine Damenbesuche dulden, ich habe ihr erst beigebracht, daß ein gesunder junger Mann so was einfach braucht.«

Ilona lachte. »Du hast sie also aufgeklärt? Prachtvoll.«

»Das war gar nicht so einfach. Könnt ihr mir schon glauben.«

»Ich bin dir ja auch dankbar«, räumte Knut ein, »trotzdem werde ich froh sein, wenn ich meine Bude wieder für mich allein habe.«

»Verdenkt dir ja niemand«, behauptete Torsten, »ich hab’ dich ja nur ein bißchen tratzen wollen.«

»Wo ziehst du denn hin?« erkundigte sich Ilona.

»Nur ein Stückchen weiter die Tengstraße rauf. Ins eigentliche Schwabing. Es ist mir gelungen, zwei Leerzimmer mit Küche und Bad zu ergattern. In einer Altbauwohnung.«

»Das ist genau das, was ich suche!« rief sie aus.

»Dann bleib am Ball. Bestimmt wirst du eines Tages auch Glück haben.« Torsten lehnte sich aufatmend zurück. »Ich habe übrigens zur Feier des Tages eine Flasche Sekt mitgebracht Sie steht im Eisschrank.«

Knut ging zur Tür. »Mal sehen, ob sie schon kalt ist.« Er blieb, die Klinke in der Hand, stehen. »Aber dann kannst du doch den Eltern nicht mehr soviel schicken.«

»Ist ja auch nicht nötig«, erwiderte Torsten, »Vater verdient ja inzwischen selber. Biene hat mir ein paarmal geschrieben, daß sie mit zweihundert Mark Zuschuß im Monat ganz gut zurechtkäme.«

Knut verließ das Zimmer.

»Und was ist mit der Einrichtung?« fragte Ilona.

»Kein Problem. Die besorg’ ich mir schon. Wozu gibt’s denn Apfelsinenkisten und Trödlerläden?«

»Ach, Torsten, ich beneide dich regelrecht um deine Geschicklichkeit in solchen Sachen.«

»Tu das nicht, Schwester. Du kannst ja immer auf mich zurückgreifen.«

»Das wird nicht nötig sein. Meine schönen Möbel stehen doch zu Hause auf dem Speicher und warten, daß ich sie hole. Was mir fehlt, sind Räumlichkeiten.«

»Werden sich auch noch finden.« Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Man braucht im Leben viel Geduld, Schwesterchen. Manchmal ist’s schon zum Verzweifeln. Aber schließlich und endlich klappt’s dann meist doch. Jedenfalls bin ich richtig froh, daß du heute abend gekommen bist. Da kannst du mein Glück gleich mitfeiern. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.«

»Für was?«

Er zeigte lächelnd seine starken, etwas gelblichen Zähne. »Für alles.«

Sie fühlte sich plötzlich ganz leicht. »Ich bin auch froh, Torsten«, sagte sie, und das war die Wahrheit.

Knut kam, die Sektflasche in der einen, drei Gläser in der anderen Hand, ein Küchentuch unter dem Arm, herein. Er stellte die Gläser auf den niedrigen Tisch, öffnete die Flasche sachgemäß mit einem gedämpften Knall und ließ die hellgoldene Flüssigkeit in die Gläser schäumen, die Ilona und Knut ihm eins nach dem anderen hinhielten.

Dann stießen die Geschwister lachend miteinander an und tranken. Für eine kleine Weile schienen alle Probleme gebannt.

Ilonas Musikalität war unausgebildet. Zwar hatte sie früher einmal gerne gesungen, aber später war es ihr kindisch erschienen. Zu Hause war nie musiziert worden, und wenn sie Radio hörte, blieb sie nie bei ernster Musik, sondern drehte gleich weiter, bis sie einen Sender mit Pop, Beat oder Folklore erwischte. Die Kammermusikabende, die in Riesberg regelmäßig veranstaltet wurden, hatten sie schon gar nicht gelockt. Während ihrer Freundschaft mit Oswald Zinner hatte sie einmal den Wunsch geäußert, ein Konzert zu besuchen – aber mehr, um mitreden zu können, als aus echtem Interesse. Deshalb hatte sie es auch gar nicht getroffen, als er entschieden abgewinkt und ihr zu verstehen gegeben hatte, daß er sich einen amüsanteren Zeitvertreib vorstellen könnte.

So kam es, daß sie jetzt, als sie neben ihrem Bruder im Konzertsaal saß, während die Philharmoniker ein letztes Mal ihre Instrumente stimmten, nicht nur die Erwartung des Augenblicks empfand, sondern gleichzeitig eine jähe Angst, es nicht durchhalten zu können.

»Warst du schon einmal hier?« flüsterte sie ihrem Bruder zu.

Torsten nickte.

»Und … wie war’s?«

Er legte, statt einer Antwort, den Zeigefinger auf den Mund.

Ein kleiner Herr im Smoking trat aus einer Tür links im Hintergrund und wurde mit zurückhaltendem Beifall empfangen. Er verbeugte sich kurz, nahm auf einem Stuhl nahe am Dirigentenpodium Platz und zog ein mächtiges Cello zwischen die Beine. Ilona, die im Programm geblättert hatte, schloß daraus, daß es sich um Paul Tortelier, den Solisten des Abends, handelte. Mit seiner weißen Mähne und der ausgeprägten Nase erinnerte er sie an Albert Einstein, wie sie ihn von Fotos her kannte.

Fast gleichzeitig, ebenfalls mit Applaus empfangen, war auch Rudolf Kempe, der Dirigent, aufgetreten. Er hob den Taktstock, und die Klarinetten setzten ein.

Vom ersten Ton an war Ilona gefangen. Als dann die warme Stimme des Violoncellos aufklang, mit seiner Trauer und Leidenschaft, fühlte sie sich geradezu persönlich betroffen. Die nachfolgende Zwiesprache zwischen dem Violoncello und der Soloflöte berührte sie so stark, daß sie ihren Bruder in den Arm kneifen mußte, um ihre Erregung abzureagieren. Bis zum jauchzenden Allegro-Vivo-Ausgang blieb sie vollkommen im Bann der Musik. Erst der stürmische Beifall brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie sprang auf, klatschte in die Hände und schrie »Bravo« wie die anderen

»War das nicht wunder-wundervoll, Torsten?« fragte sie strahlend.

Der Bruder lächelte auf sie herab. »Kann man wohl sagen.«

Die Welt schien ihr verwandelt. Sie begriff, daß der grau getönte Saal, der ihr zuerst eher langweilig erschienen war, mit den gedämpften Tönen seiner Gobelins, die die Taten des Herkules darstellen, nicht farbiger sein durfte, weil er nur Hintergrund und Rahmen für die Kraft und Herrlichkeit der Musik sein sollte. Sie stand und schrie und klatschte, bis der Dirigent und die Solisten sich endgültig zurückgezogen hatten.

Ein Mädchen mit leuchtendrotem Haar, das Programm und einen Kugelschreiber in der Hand, schoß hinter dem Künstler her. Sie kam von den Stehplätzen und hatte sich rücksichtslos gegen den Strom des nach draußen drängenden Publikums ihren Weg gebahnt.

»Brandy«, schoß es Torsten durch den Kopf, und plötzlich war die Erinnerung an die Gefährtin seiner wilden Jahre so stark, als wenn sie sich erst eben getrennt hätten.

»Was sagst du?« fragte Ilona, dicht hinter ihm.

»Nichts. Gar nichts!«

Er wehrte sich gegen den Wunsch zu warten, bis das rothaarige Mädchen zurückkam, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Selbst wenn sie es wirklich war, was er nicht für wahrscheinlich hielt, so hätte es doch keinen Sinn gehabt, an eine Vergangenheit anzuknüpfen, die er längst überwunden hatte.

»Soll ich dir was zu trinken besorgen?« fragte er über die Schulter zurück

»Das wäre schön«, erwiderte sie, »ich warte da vorne an der Glastür auf dich!«

Sie waren in dem Zwischenraum mit dem Buffet angekommen, und während Torsten sich in das Gedränge stürzte, nicht gerade grob, aber doch die Ellbogen brauchend, um nicht beiseite geschoben zu werden, zog seine Schwester sich in einen stillen Winkel zurück, der sich in der Ecke neben dem französischen Fenster gebildet hatte, das zum Hof hinaus führte, jetzt aber geschlossen war.

Ilona war noch ganz erfüllt von dem musikalischen Genuß, den sie nicht verarbeiten, sondern nur gefühlsmäßig nacherleben konnte. Er hatte sie in ein Stadium verschwommener Träumerei versetzt, das fast rauschartigen Charakter hatte.

Als sie einen jungen Mann entdeckte, den sie von früher her kannte, paßte das so ganz in ihre gehobene Stimmung, daß sie seinen Gruß nicht abwartete, sondern einen Schritt auf ihn zu tat. »Hans Hess!« rief sie. »Das ist aber eine Überraschung!«

»Kann man wohl sagen!« Er lachte sie an. »Ilona Miller! Und schöner denn je! Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt?«

Sie hatte keine Lust, ihm zwischen Tür und Angel von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. »Zu Hause«, sagte sie nur.

»Ein Jammer, daß wir uns so aus den Augen verloren haben!«

»Jetzt haben wir uns ja wiedergefunden!« rief sie. »Wie wär’s, wenn wir nach dem Konzert …«

»Wenn’s nach mir ginge …« Hans Hess griff an seine Brille. » …. aber, um die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht allein, und ich weiß nicht …«

Ilona hoffte nur, daß er ihr nicht ansah, wie maßlos enttäuscht sie war. »Aber Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen! Es war ja nur so eine Idee.«

»Also dann.« Der junge Mann zog sich einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie mich, Ilona. Ich werde erwartet. Aber ich lasse von mir hören.«

Ilona war heilfroh, daß in diesem Augenblick Torsten aus dem Gewühl auftauchte, in jeder Hand ein Glas mit Sekt.

»Ja, tun Sie das, Hans«, sagte sie freundlich, obwohl sie keinen Augenblick dran glaubte, daß er sein Versprechen wahrmachen würde. Sie blickte ihm nach und sah, wie ein junges Mädchen in schillerndem langen Abendkleid sich mit besitzergreifender Gebärde bei ihm einhängte.

»Was war denn das für ein komischer Vogel?« fragte Torsten.

»Wieso komisch?«

»Na ja, wer trägt denn heutzutage noch ’nen Smoking im Konzert?«

»So? Hat er einen Smoking angehabt?« Ilona nahm das eine Glas entgegen.

»Sag bloß, daß du das nicht gesehen hast.«

»Ich habe nicht darauf geachtet.« Sie nahm einen Schluck und lächelte zu ihm auf. »Ist ja auch reichlich unwichtig, nicht?«

»Das freut mich. Ich dachte schon, du hättest Bauchschmerzen wegen dem Knaben.«

»Habe ich so ausgesehen?« fragte sie erschrocken.

»Bißchen blaß um die Nase jedenfalls.«

Sie nahm einen Schluck und drehte das Glas nachdenklich zwischen den Fingern. »Nicht wegen Hans Hess, so heißt er nämlich, der hat mir nie etwas bedeutet. Aber ich habe plötzlich gemerkt, daß man die Zeit nicht stoppen kann, indem man aussteigt. Verstehst du, was ich meine?«

»So ungefähr.«

»Während ich zu Hause war, hat für mich die Zeit stillgestanden«, versuchte sie ihm zu erklären, »aber in München hat sich alles inzwischen weitergedreht.«

Er sah sie forschend an. »Und du glaubst, du hast den Anschluß verpaßt?«

»Nein … vielleicht doch … so ähnlich …«

»Dann nimm tüchtig Anlauf und spring nach!« riet er ihr gutmütig. »Du bist jung genug, du kannst es wagen.«

»Ich bin zwanzig.«

»Na und? Willst du etwa behaupten, daß das alt ist?«

»Ich komme mir jedenfalls alt vor, uralt. So, als wenn alles Schöne schon hinter mir läge.«

Er legte ihr die Hand unter das Kinn und sah, daß ihre Augen voller Tränen standen. »Nur nicht sentimental werden, Schwesterchen, ja?« mahnte er. »In einem halben Jahr sprechen wir uns wieder, ich wette, dann sieht die Welt schon anders für dich aus.«

Sie glaubte ihm nicht, aber sie verzichtete doch darauf, ihm zu widersprechen, denn sie wußte, daß Männer es nicht lieben, mit traurigen Gedanken belastet zu werden, und Brüder schon gar nicht.

Wäre Torsten Miller nicht bei jenem Konzertbesuch an Brandy erinnert worden, so hätte sie eine knappe Woche später, als sie ihm zufällig über den Weg lief, wohl kaum seine Aufmerksamkeit erregt; denn er hatte vorher monatelang nicht mehr an sie gedacht.

Er hatte an jenem Tag mit einigen Kollegen von der Modem Advertising und einem wichtigen Kunden im Hochhausrestaurant des Arabella-Hauses zu Mittag gegessen. Es war lebhaft gefachsimpelt und nicht wenig getrunken worden, so daß die Herren, als sie am frühen Nachmittag in einem Lift nach unten fuhren, reichlich aufgekratzt waren.

Als sie sich zum Essen niederließen, hatten sie noch den Fernblick bis zu den Alpen hin genießen können, und der Himmel war leuchtend blau, nur hie und da von zarten Föhnwölkchen verschleiert gewesen; inzwischen hatte sich der Wind gedreht, er kam jetzt aus Westen und hatte einen warmen, stetigen Frühsommerregen mitgebracht.

Während Herbert Kramer, Prokurist der Advertising, den firmeneigenen Mercedes 300 vom Parkplatz holte, blieben die anderen Herren unter dem Vordach stehen und versuchten sich gegenseitig mit der Erzählung von deftigen Witzen zu übertreffen.

Torsten sah das junge Mädchen wieder nur von hinten. Sie war schon an der Gruppe vorbei und eilte auf ein Taxi zu, das soeben vorgefahren war. Regen fiel auf ihre unbedeckten roten Locken. Auch ihr weißes ärmelloses Kleid bot keinen Schutz vor dem niederprasselnden Wasser.

Einem Impuls folgend ließ Torsten seinen Regenschirm aufspringen und war mit wenigen Schritten an ihrer Seite.

Sie blickte zu ihm auf, und es war Brandy. Er war überrascht, wie sehr er sich darüber freute.

Sie strahlte ihn an und blieb stehen: »Torro!« Ihre Haut, die sie früher immer mit einer dicken Schicht Schminke bedeckt hatte, war klar, die grünen Augen waren nicht mehr mit dicken schwarzen Balken umrahmt, und sie hatte den Mund zwar kräftig nachgezogen, ihn aber nicht übermalt.

»Du siehst verdammt zivil aus!« sagte er lächelnd.

Sie legte sich unwillkürlich die Hand an die Wange. »Ich hab’ mich an mein Gesicht gewöhnt.«

»Das dürfte dir ja wohl nicht allzu schwer gefallen sein.«

»Hast du eine Ahnung!«

»Es ist ein sehr hübsches Gesicht, wollte ich nur sagen.«

Sie standen unter seinem Regenschirm, während der Regen eine lebendige Wand um sie bildete, und sahen sich an. Beide waren bemüht, die richtigen Worte zu finden.

»Was hast du all die Zeit gemacht?« fragte er.

»Dies und das. Inzwischen besuche ich das Konservatorium.«

»Du hast dich mit deinen Eltern ausgesöhnt?«

Sie verzog das Gesicht. »Die verlorene Tochter ist heimgekehrt. Nur bildlich gesprochen. Sie haben mir ein Apartment eingerichtet.«

»Klasse. Ich hätte nie gedacht, daß du in den Schoß der Bürgerlichkeit zurückkéhren würdest.«

»Was blieb mir denn anders übrig?« Sie zuckte die schmalen Schultern. »Ohne dich hat es keinen Spaß mehr gemacht.«

»Als wenn’s nicht genügend Männer auf der Welt gäbe!«

»Ich habe keinen wie dich gefunden!«

Ihre aufrichtige Bewunderung schmeichelte seiner männlichen Eitelkeit. »Soll das heißen, daß du momentan solo bist?«

Sie legte den Kopf in den Nacken. »Würdest du mir glauben, wenn ich jetzt ja sagte?«

»Nein.«

»Dann brauche ich auch nicht zu lügen.«

Die Enttäuschung war wie ein kurzer, scharfer Schmerz, aber er maß ihm keine Bedeutung zu. »Verzeih mir, ich bin ein Esel!« sagte er, nahm den Schirm in die linke und reichte ihr die rechte Hand. »Mach’s gut, Mädchen.«

Der Taxifahrer hupte.

»Warte. Ich geb’ dir eben noch meine Adresse.«

»Wozu?«

Sie hatte schon eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche gezogen und gab sie ihm. »Damit du mich mal besuchst, Torro. Wir könnten von alten Zeiten reden … und von neuen.«

»Willst du mich etwa deinem Kerl vorführen?« fragte er mißtrauisch.

Sie lächelte ihn an. »Im Gegenteil, Den schmeiß ich raus, wenn du kommst. Du brauchst mich nur anzurufen. Oder besser noch, wir machen gleich was Festes aus! Wie wär’s mit morgen abend?«

»Einverstanden«, stimmte er rascher zu, als er beabsichtigt hatte.

»Gegen acht?«

»Ich kann nicht versprechen, daß ich pünktlich bin.«

»Macht nichts. Ich werde warten.«

Ihre Freude war so offensichtlich, daß sie ihn anrührte. Er legte den freien Arm fest um ihre Schultern, als er sie zum Taxi führte.

»Wie geht’s deinen Eltern?« fragte sie.

»Die haben sich wieder aufgerappelt.«

»Na, Gott sei Dank.«

Der Fahrer stieß die Tür zum Fond von innen auf. »Ich will ja nicht drängeln, aber die Uhr läuft!«

Sie sahen sich in die Augen, und es wurde ihnen schwer, sich zu trennen.

»Bis morgen!« sagte er.

»Bis morgen!« wiederholte sie, stellte sich auf die Zehen und drückte ihm einen raschen Kuß auf den Mund.

Ihre Lippen schmeckten frisch und regennaß.

Er wendete sich erst ab, als das Taxi davonfuhr, und kehrte zu der kleinen Gesellschaft zurück.

»Donnerwetter, Sie haben ein Tempo, Miller!« rief einer der Kollegen. »Das ist ja atemberaubend! Sie bieten einer Dame Ihren Schirm an, und schon kassieren Sie ’nen Kuß!«

Torsten dachte nicht daran, ihm den wahren Sachverhalt auf die Nase zu binden. »Ja, der Umgang mit Frauen muß eben gelernt sein«, behauptete er und ließ auch die nachfolgenden Neckereien gut gelaunt über sich ergehen.

Es war lange her, seit er ein Mädchen getroffen hatte, das sein Herz höher schlagen ließ. Er hatte schon geglaubt, aus dem Alter der Verliebtheit heraus zu sein. Jetzt wußte er, daß es nicht an ihm, sondern an den zu rasch gewählten, zu rasch bereiten Partnerinnen gelegen hatte.

Mit Brandy war es etwas anderes gewesen und würde es immer etwas anderes sein.

In dem Maße, wie Arnold Miller sich im Supermarkt einarbeitete, änderten sich die Beziehungen zwischen ihm und seinem Schwager Egon Kasparek.

Arnold, der Überblick gewonnen hatte, konnte sich nicht damit zufriedengeben, nur Befehlsempfänger zu sein und sonst gar nichts. Er begann mitzudenken und stellte fest, daß manches hätte besser gemacht werden können.

Aber auf seine entsprechenden Vorschläge reagierte Egon mit Empfindlichkeit. Selbst wenn er sich innerlich zugeben mußte, daß Arnold in der Sache recht hatte – und da er nicht dumm war, begriff er das wohl –, so wollte er sich doch von niemandem seine Position als Chef schmälern lassen.

Daß er keine Anerkennung fand, machte für Arnold die Tätigkeit im Supermarkt noch unbefriedigender. Er war es von früher her gewohnt, jeden Arbeitsgang so gut durchzuorganisieren wie irgend möglich, und es ging ihm gegen den Strich, daß so viele überflüssige Handgriffe getan werden mußten, und manches geschah, was dem Geschäftsgang geradezu schädlich war.

Egon kam vorbei, als er zusammen mit einem alten Mann einen Ständer in der Mitte des Verkaufsraums mit Schokoladentafeln zu Sonderpreisen bestückte.

Wieder einmal konnte Arnold sich nicht zurückhalten. »Moment, Egon!« bat er.

Der Schwager blieb stehen. »Was ist?«

»Ich hab’ mir nur überlegt, es wäre besser, wenn wir den Ständer ein paar Meter weiter rückwärts placierten.«

»Genau hier steht er richtig.«

»Nein, Egon«, fuhr Arnold hartnäckig fort, »das stimmt eben nicht. Ich habe die Kundinnen beobachtet. Sie kommen bis hierher, nehmen sich ein paar von den billigen Tafeln, drehen um und gehen zur Kasse zurück. Aber unsere Sonderangebote sollen sie doch eigentlich durch den ganzen Verkaufsraum locken.«

»Wenn hier nichts wäre, würden sie auch nicht weitergehen.«

»O doch«, erklärte Arnold eifrig, wir könnten hier etwa ein Schild aufstellen mit einem Hinweis darauf, daß es heute Schokolade zu besonders günstigen Preisen gibt! Die Kundinnen würden danach suchen!«

Egon fiel ihm ins Wort. » … und wir würden Platz verschwenden! Nein, nein, das können wir uns nicht erlauben!«

»Aber wenn wir an Stelle des Schokoladenständers …«

Egon brach das Gespräch ab. »Tut mir leid, Arnold! Ich habe keine Zeit, mich mit dir zu unterhalten.« Er enteilte mit wehendem weißen Kittel.

Arnold biß sich auf die Unterlippe.

Der alte Knollmann, den es als Berliner nach Riesberg verschlagen hatte, hob den Kopf: »Wat regst du dir auf, Kumpel? Jlobste, die zahlen dir fünf Fennich mehr für deine juten Ideen? Neese!«

»Aber es wäre doch wirklich besser, wenn …«

»Wenn det Wörtchen wenn nich wäre! Wat jeht det dich an, Kumpel? Tu, wat se dich sagen, und halt die Klappe. Für mehr wirste nich bezahlt.«

Arnold sah ein, daß der Alte recht hatte, und doch war dies eine Einstellung, die seinem Charakter und seinem bisherigen Leben völlig widersprach. Er wünschte, er könnte sich dazu überwinden.

Später füllte er zusammen mit Knollmann Zucker, Mehl und Butter in den Regalen der Lebensmittelabteilung nach. Diese Nahrungsmittel wurden ganz unten aufgestellt, denn da die Hausfraufen sie brauchten, konnte man ihnen auch zumuten, sich danach zu bücken.

Sie wollten den großen leeren Wagen gerade zum Warenlager zurückschieben, als Arnold eine Nachbarin aus der Schleiermacherstraße entdeckte, Frau Zibalsky, die dabei war, ihre Einkäufe zu erledigen. Es war ihm immer noch unangenehm, bei seiner untergeordneten Tätigkeit und im blauen Kittel überrascht zu werden, und Frau Zibalsky gegenüber, deren Verhältnis zu den Millers seit langer Zeit gespannt war, empfand er es als doppelt peinlich.

»Moment!« sagte er und hielt den Wagen zurück. Seinem Kollegen, der gerne eine Pause einlegte, war das nur recht.

Sie standen verborgen hinter dem hoch gefüllten Regal, bis Arnold zwischen zwei Kartons mit backfertigem Marmorkuchen einen Blick riskierte, um festzustellen, ob Frau Zibalsky sich inzwischen entfernt hatte. Aber sie war noch da, sah die Verkaufsgasse hinauf und hinunter, glaubte offensichtlich, allein zu sein, griff blitzschnell nach einem Päckchen Bohnenkaffee und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden.

Impulsiv, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, rannte Arnold um die Ecke und vertrat Frau Zibalsky den Weg.

Die Frau wich einen erschrockenen Schritt zurück. »Sie?«

Arnold holte tief Atem und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Entschuldigen Sie, bitte, Frau Zibalsky, aber Sie haben da gerade eben aus Versehen ein Päckchen Kaffee eingesteckt!«

Eine ungesunde Röte schoß in das spitze, zerknitterte Gesicht.

»Sie! Ausgerechnet! Wie können Sie wagen … wie können Sie behaupten …«

»Ich habe es gesehen!«

»Sie lügen!«

»Knollmann!« rief Arnold, ohne Frau Zibalsky aus den Augen zu lassen. »Haben Sie nicht auch beobachtet …«

»Ick weeß von nischt«, behauptete der Alte.

Arnold begriff, daß er log, um nicht in die Sache hineingezogen zu werden. »Nun seien Sie doch vernünftig, Frau Zibalsky«, mahnte er leise, »stellen Sie den Kaffee einfach zurück, und die Sache ist erledigt. Ein Irrtum von Ihnen. So was kann doch mal vorkommen.«

»Bei Ihnen vielleicht! Sie … Sie Verbrecher, Sie! Jeder weiß ja, was Sie für einer sind! Sie haben es gerade nötig!« Frau Zibalsky schrie es laut heraus.

Arnold begriff, daß sie ihn unsicher machen wollte, und er zwang sich zur Ruhe. »Wenn Sie den Kaffee nicht freiwillig rausgeben wollen, dann müssen Sie mich leider ins Büro begleiten!«

»Ich denke ja gar nicht daran! Was fällt Ihnen ein?! Eine Unverschämtheit! Da.. behalten Sie Ihren Krempel! Sie werden mich hier nie wiedersehen!« Sie begann, die Sachen aus ihrem Wägelchen blindlings in die Gegend zu werfen.

Knollmann bückte sich hastig und sammelte alles auf.

Kunden und Angestellte waren herbeigeströmt und bildeten einen Kreis um die tobende Frau.

Arnold war erleichtert, als Egon erschien und sich einen Weg durch die gaffende Menge bahnte.

»Die Frau hat ein Päckchen Bohnenkaffee in ihre Handtasche gesteckt«, berichtete er rasch, »und jetzt spielt sie verrückt!«

»Ich bin eine anständige Frau!« kreischte die Zibalsky. »Und ich lasse mich von einem hergelaufenen Lumpen nicht verdächtigen …« Dabei ließ sie ihren Blick im Kreis huschen, wie eine gefangene Maus, die nach einem Loch Ausschau hält, durch das sie entwischen kann.

Egon packte sie beim Oberarm. »Jetzt werden wir beide uns mal in aller Ruhe …«

»Lassen Sie mich los!« Frau Zibalsky versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

»Soll ich die Polizei holen?« drohte Egon.

Frau Zibalskys Empörung sank in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Sie protestierte zwar noch: »Ich werde mich beschweren!« – Doch es klang schwächlich.

Die Zuschauer bildeten eine Gasse, um Egon und Frau Zibalsky durchzulassen, und verteilten sich dann wieder im Raum.

Arnold sah den beiden nach.

»Det hättste nich machen solln, Kumpel!« sagte Knollmann.

Arnold fuhr herum. »Und warum nicht?« – er war darauf gefaßt, daß der Alte die Frau verteidigen würde.

Aber der sagte nur: »Det bringt nichts ein, weeste!«

Arnold hatte keine Lust, über den Fall zu diskutieren, und verbiß sich eine Antwort.

Eine Stunde später wurde die Musik, die aus zahlreichen Lautsprechern in jeden Winkel der riesigen Verkaufshalle und der Lagerräume drang, unterbrochen.

»Herr Miller … ins Büro, bitte!« verkündete die Stimme des jungen Mannes an der Plattentheke, dessen Hauptaufgabe darin bestand, für die richtige Musikberieselung zu sorgen und das Publikum zwischendurch auf Sonderangebote und Ladenhüter aufmerksam zu machen.

Die Aufforderung erfolgte ganz kurz und ohne Wiederholung, so daß die Kunden gar nicht aufmerksam wurden. Aber Arnold, an den sie gerichtet war, nahm sie sofort auf.

Knollmann hätte gar nicht zu mahnen brauchen: »Det jeht dir an, Kumpel!«

»Bin gleich wieder da!« sagte er, eilte in Richtung des Büros davon und ärgerte sich gleichzeitig über seine Diensteifrigkeit; aber er wußte aus Erfahrung, daß er seine Situation nicht verbesserte, indem er Egon warten ließ.

Nach kurzem Anklopfen betrat er das Chefzimmer, das wie ein gläserner Käfig über der Verkaufshalle hing. »Du willst mich sprechen?« fragte er überflüssigerweise.

»Ja. Bitte, setz dich.« Egon ordnete nervös einen Stapel von Geschäftspapieren auf seinem Schreibtisch und erweckte den Eindruck, als fände er nicht gleich die richtigen Worte, um das Gespräch zu beginnen.

»Falls du mir Vorwürfe wegen der Zibalsky machen willst.. sagte Arnold herausfordernd.

»Aber nein, wieso denn?«

Arnold ließ sich nicht stoppen. »Ich habe gesehen, wie sie den Kaffee geklaut hat, und ich konnte wirklich nicht dafür, daß sie sofort hysterisch wurde.«

»Du hast dich völlig korrekt verhalten.« Egon sah seinen Schwager nicht an. »Die Frau hatte den Kaffee, und nachdem ich ihr beweisen konnte, daß er aus meinem Geschäft stammt, hat sie sich sogar herabgelassen, alles zuzugeben.«

»Gott sei Dank! Und ich dachte schon …«

Jetzt hob Egon den Blick. »Du denkst zuviel, Arnold!«

»Soll das ein Fehler sein?!«

»Dein Fehler, Arnold.«

Arnold begriff. »Bist du mir etwa böse, weil ich dich vorhin darauf aufmerksam gemacht habe, daß …«

»In Gegenwart Knollmanns. Reichlich taktlos von dir.«

»Entschuldige«, bat Arnold mit Überwindung, »ich werde dir in Zukunft Ratschläge nur noch dann geben, wenn wir allein sind. Das verspreche ich dir.«

»Besser würde es sein«, sagte Egon langsam und jedes Wort betonend, »du würdest ganz darauf verzichten.«

Arnold war bestürzt. »Aber … warum denn das, Egon? Ich meine es doch nur gut …«

»Weil ich der Chef hier bin und weil ich sehr gut weiß, wie ich den Laden zu führen habe! Bevor du hierher kamst, hat jedenfalls alles immer glänzend geklappt.«

»Das bezweifle ich ja gar nicht, Egon! Es ist nur so, daß es gewisse Dinge gibt, die …«

» … dich nichts angehen, Arnold! Unterstellen wir mal, daß ich nicht perfekt bin, wer ist denn das schon? Aber es ist ermüdend und unerträglich für mich, jede einzelne meiner Anordnungen vor dir verteidigen zu müssen!«

»Jetzt übertreibst du aber!« Arnold rang sich ein Lächeln ab.

»Mag sein, aber du siehst, wie unangenehm mir deine Dreinrederei ist, daß es mir schon ganz so vorkommt.«

Arnolds Lächeln gefror. »Entschuldige, Egon, das habe ich nicht gewußt … ich wollte nicht …«

»Bitte, sei jetzt nicht beleidigt. Es ist mir schwer genug gefallen, dir das zu sagen. Aber es schien mir besser, ein für allemal reinen Tisch zu machen, als …« Er erhob sich halb, um Arnold zu verstehen zu geben, daß die Unterredung beendet war.

Arnold stand auf. »Du hast wahrscheinlich recht«, gab er zu und bemühte sich, seiner Bitterkeit Herr zu werden.

Egon streckte ihm die Hand über den Schreibtisch entgegen. »Im Fall Zibalsky habe ich dir zu danken. Du weißt, daß du als Zeuge vor Gericht wirst aussagen müssen?«

»Als Zeuge? Ich?« wiederholte Arnold konsterniert. »Aber du hast die Frau doch nicht etwa … angezeigt?«

»Was denn sonst? Ich weiß, es gibt Unternehmer, die ertappte Diebe mit Geldstrafen belegen, aber wir lehnen jede Art von Selbstjustiz strikt ab, und du wirst zugeben …«

»Eine Gerichtsverhandlung … wegen eines Päckchens Kaffee!«

»Wobei wir sie erwischt haben, Arnold! Es wird nicht das einzige gewesen sein, was sie im Lauf der Zeit hat mitgehen lassen.«

»Ich habe sie heute zum erstenmal hier gesehen!«

Egon schüttelte den Kopf. »Arnold, Arnold, du wirst dich doch nicht wieder mit mir streiten wollen?!«

»Keineswegs. Aber ich finde es einfach zu hart, wegen einer solchen Kleinigkeit soviel Aufhebens zu machen. Erst bemühen wir uns, die Waren so verlockend wie möglich aufzubauen, und wenn dann jemand zugreift …«

»Trotzdem sind wir keine Jahrmarktsbude, und die Frau ist kein Kind, das sich eingebildet haben kann, die freie Wahl zu haben!«

»Nein. Das weiß ich. Aber du hast kein Recht, so hart zu sein.«

Sekundenlang starrten die beiden Männer sich schweigend an.

»Soll das heißen, du wirfst mir wieder einmal vor, daß ich seinerzeit in die Ladenkasse gegriffen habe?« fragte Egon langsam.

»Daran habe ich nicht einmal im Traum gedacht«, entgegnete Arnold.

»Das will ich hoffen. Denn sonst könnte ich dir vorhalten, daß es dir sehr schlecht steht, eine Diebin zu entlarven, noch dazu eine Frau, die alles über dich weiß!«

Arnold war so weiß geworden, daß die Lippen sich hart in seinem blutleeren Gesicht abzeichneten. »Alles, Egon?« fragte er. »Wirklich alles?«

Egon sah beiseite und lachte trocken auf. »Entschuldige, Arnold. Ich weiß selber nicht, was in mich gefahren ist, warum ich diesen alten Kohl aufwärmen mußte.«

Arnold war sehr ruhig geworden. »Wir werden uns wohl nie mehr in die Augen sehen können, ohne daran zu denken. Ich möchte kündigen, Egon.«

Egon war drauf und dran, es ihm auszureden, unterließ aber dann doch den Versuch. »Hast du dir das auch reiflich überlegt?« fragte er nur.

»Ich denke schon. Schlimmeres als dies hier kann es für mich nirgends geben.«

Arnold drehte sich um und ließ Egon stehen.

Torsten hatte sich am Donnerstag früher als gewöhnlich bei der Modem Advertising freimachen können und war noch auf einen Sprung in die Tengstraße gefahren.

Knut, der schon da war, machte keinen Hehl daraus, daß ihm das Auftauchen des Bruders durchaus nicht paßte. »Ich dachte, du hättest für heute was vor!«

»Eben drum!« Torsten hing sein Jackett in den Schrank. »Ich will mich ein bißchen frisch machen.«

»Von mir aus. Aber beeil dich.«

»Nur keine Bange. Bevor dein Flamingo kommt, bin ich längst auf und davon.«

»Uschi ist kein Flamingo«, erklärte Knut mit Nachdruck.

»Na, entschuldige schon, ich wußte ja nicht …« Torsten pellte sich aus Hemd und Krawatte. »Uschi … ist das dieses braungelockte Wesen, mit dem ich dich neulich im P 1 gesehen habe?«

»Genau die.«

»Dann nehme ich alles zurück. Die ist ein Klassemädchen.« Torsten griff sich seinen Bademantel. »Wie lange läuft das?«

»Ziemlich«, antwortete Knut zurückhaltend.

Torsten stopfte seine schmutzige Wäsche in einen Beutel, klemmte die graue Flanellhose in einen Halter und holte sich die Freizeithose und den leichten Sommerpulli aus dem Schrank, die er nach dem Brausen anziehen wollte.

Knut hatte eine bunt bestickte Tischdecke aufgelegt – ein Weihnachtsgeschenk der Mutter –, stellte einen Leuchter darauf und zündete die Kerze an, um sie gleich darauf wieder auszublasen. »Reichst du mir mal den Recorder?« bat er.

Torsten sah sich um. »Wo ist er denn?«

»Auf dem Schrank. Da hast du ihn selber hingetan.«

Der flache moderne Schrank reichte fast bis an die Decke. Knut hätte sich einen Stuhl nehmen müssen, um hinaufzulangen. Torsten mußte sich immerhin gewaltig recken.

Mitten in der Bewegung taumelte er und zog die Hand leer zurück. Er drehte sich zu Knut hin um, versuchte zu reden, brachte aber kein Wort hervor.

»Mensch, laß den Quatsch!« rief Knut, der im ersten Moment glaubte, der Bruder wolle eine Schau abziehen. Aber dann, als er Torstens von Angst und Schmerz verzerrtes Gesicht sah, war er alarmiert.

Torsten blickte ihn flehend an. Seine Augen waren unnatürlich weit geöffnet und zeigten sehr viel Weiß, sein Mund stand offen, mit gebogenen Winkeln, und die Stirn war auffällig gerunzelt. Er rang verzweifelt nach Luft.

»Setz dich, um Gottes willen, setz dich!« Knut führte Torsten zum Tisch und drückte ihn auf die Kante. Der Leuchter fiel polternd herunter. Torsten saß so, daß seine Beine den Boden nicht berührten – Knut erinnerte sich, daß Professor Klinner diese Stellung als unblutigen Aderlaß in einer seiner Vorlesungen empfohlen hatte.

Aber Torstens Befinden besserte sich nicht. Er atmete so mühsam, daß die Muskulatur im Halsbereich in Strängen hervortrat. Knut hörte, ohne das Stethoskop anlegen zu müssen, wie es in seinen Lungen brodelte. Er fühlte den Puls; er war kaum zu ertasten. Torstens Hände waren eiskalt, und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Knuts Gedanken rasten. Was war zu tun? Namen von Medikamenter! schossen ihm durch den Kopf: Strophantin, Morphium! Aber er hatte nichts dergleichen zur Hand. Torsten hustete. Schaumiger, blutiger Schleim trat auf seine Lippen.

Der Anfall hatte erst wenige Sekunden gedauert, aber den beiden jungen Männern kam es wie eine Ewigkeit vor.

»Frau Unterhuber!« schrie Knut. »Schnell! Kommen Sie!« Er hätte gern die Tür aufgerissen, um sich deutlicher vernehmbar zu machen, aber er wagte Torsten nicht allein zu lassen.

Frau Unterhuber erschien. »Na, was soll das Gebrüll?«

»Mein Bruder ist krank, bitte, bleiben Sie bei ihm! Ich muß den Notarzt anrufen!«

Als Frau Unterhuber den Ernst der Situation erkannte, war sie sofort bereit zuzupacken. »Wär’s nicht besser, ihn hinzulegen?«

»Nein, nein, es ist schon richtig so, passen Sie bloß auf, daß er nicht fällt! Möglich, daß er ohnmächtig wird!«

Knut stürzte aus dem Zimmer und zum Telefon. Als er den kurzen Bericht durchgegeben hatte, rannte er in die Küche, riß eine große Plastikschüssel aus einem Regal, füllte sie mit heißem Wasser, klemmte sich einen Stoß Trockentücher unter den Arm und lief, so schnell es möglich war, ohne daß das Wasser überschwappte, zu seinem Bruder zurück.

Mit einem Blick sah er, daß es Torsten nicht besser ging. Sein Gesicht war weißlich-fahl, und sogar die Ohren wirkten völlig blutleer. Er kämpfte um jeden Atemzug.

»Jetzt kann es sich nur noch um Minuten handeln!« rief Knut mit verzweifelter Munterkeit. »Gleich kommt Hilfe! Halt durch, alter Junge! Gleich hast du’s überstanden!« Er kniete nieder und berührte Torstens nackte Füße; sie waren eiskalt.

»Was machen Sie denn da?« fragte Frau Unterhuber, die Torstens Rücken stützte – sehr vorsichtig, um ihn nicht noch mehr zu beengen.

»Wadenwickel! Ach was, ich stecke seine Füße einfach in das heiße Wasser!« Knut hielt die Plastikschüssel hoch.

»Und zu was soll das gut sein?«

»Vermindert den Blutrückstrom zum Herzen und entlastet es!«

»Das Herz? Wieso das Herz? Ich denk’, er hat’s an der Lunge!«

»Liebe Frau Unterhuber …« Knut unterbrach sich. »Da! Es hat geklingelt!« Er stellte die Schüssel hin und raste zur Tür. Der Notarzt war ein verhältnismäßig junger Mann, den die Glatze ein paar Jahre älter erscheinen ließ. Durch sein bloßes Auftreten brachte er es fertig, die Situation zu versachlichen.

Ohne Zeit mit einer Untersuchung zu verlieren, befahl er nach einem einzigen Blick auf Torstens schmerzentstelltes Gesicht und seine verkrampfte Haltung: »Ein Viertel Strophantin!«

Der Sanitäter, der ihm gefolgt war, öffnete den Bereitschaftskoffer, wählte das Medikament und zog die Spritze auf, während der Arzt den Arm des Bademantels herunterzog und Torstens Arm so abband, daß die Venen in der Ellenbeuge deutlich wurden.

»Zur Behebung der kardinalen Muskelschwäche«, sagte Knut, der wieder vor seinem Bruder kniete und heiße Wickel machte, »das hätte ich auch gegeben.«

»Sie sind Mediziner?« fragte der Arzt; er nahm die Spritze, die der Sanitäter ihm gab, und stach sie in die Vene.

»Student«, sagte Knut.

Der Notarzt ließ die Flüssigkeit langsam in den Blutkreislauf. »Und was würden Sie sonst noch vorschlagen?«

»Morphium?«

»Sehr gut.« Ohne sich dem Sanitäter zuzuwenden, forderte er: »Morphium null null eins.«

»Hat eine sedierende Wirkung, hemmt die anomale Atemarbeit und kupiert den Anfall«, zählte Knut auf, als befände er sich in einer Prüfung.

Der Notarzt ließ die Spritzen durch den Sanitäter austauschen. »Ich injiziere das subcutan«, erklärte er, »und was noch?«

Knut dachte nach. »Ich weiß nicht«, mußte er zugeben.

»Lasix«, erklärte der Arzt, »ein harntreibendes Medikament, das die Flüssigkeit aus der Lunge ausschwemmt.«

»Daran habe ich nicht gedacht!«

»Aber sonst haben Sie alles sehr gut gemacht! Auch die Wadenwickel waren richtig,«

»Torsten, mein Junge«, fragte Frau Unterhuber, »fühlen Sie sich besser?« Und als er immer noch nicht sprechen konnte: »Was hat er denn, Herr Doktor? Warum sagen Sie nicht endlich, was er hat?«

Der Notarzt war dabei, diedritte Spritze zu setzen, diesmal wieder in die Vene, wenn auch in eine andere Stelle. »Das ließe sich erst nach einer gründlichen Untersuchung feststellen. Auf alle Fälle handelt es sich um ein Versagen der Herzaktion. Eine endgültige Diagnose ist jetzt nicht nötig. Hauptsache, daß wir den Patienten aus der akuten Notfallsituation bringen.«

»Und dann? Muß er im Bett bleiben?«

»Meine liebe Frau …«, begann der Arzt.

»Unterhuber!« warf Knut ein.

»Meine liebe Frau Unterhuber … sind Sie die Mutter?«

»Die Hausfrau.«

»Dann ist es besonders nett, wenn Sie die Pflege des jungen Mannes übernehmen wollen. Aber in diesem Fall erübrigt es sich. Ich nehme ihn mit in die Intensivabteilung der Klinik. Sein Zustand muß ständig überwacht werden.«

»Ein so junger Mensch!« jammerte Frau Unterhuber. »Wie kann so etwas bloß passieren?«

Niemand antwortete ihr.

»Kann ich ihn in die Klinik begleiten?« fragte Knut. »Er ist mein Bruder!«

»Lieber nicht.« Der Notarzt fühlte Torstens Puls. »Als Mediziner werden Sie wissen, daß Verwandte immer nur im Weg stehen.«

»Aber sicher wird es ihn beruhigen, wenn ich …«

»Im Gegenteil. Wenn niemand in seine Nähe kommt, den er kennt, kann er um so besser abschalten.« Der Notarzt faßte mit der linken Hand in die Tasche seines weißen Mantels und zog eine Visitenkarte heraus. »Sie können mich anrufen und sich nach ihm erkundigen, aber bitte nicht zu oft. Wenn eine Verschlechterung eintreten sollte, werde ich Sie sowieso sofort benachrichtigen. Aber ich hoffe, daß Sie ihn in ein paar Tagen besuchen können.« Er hatte Torsten nicht aus den Augen gelassen und sah, daß sein Gesicht Farbe bekommen hatte und sein Atmen nicht mehr ganz so angestrengt war. »Geht es Ihnen besser?«

»Ja«, brachte Torsten heraus.

»Na, wunderbar.« Er wandte sich an den Fahrer des Notfallwagens, der auf dem Flur gestanden hatte. »Bringen Sie die Trage runter und kommen Sie dann wieder, Gerstner! Wir wollen ihn in sitzender Haltung transportieren.« Er hatte die Einstichstelle desinfiziert und zog Torsten nun behutsam wieder den Ärmel des Bademantels über.

»Soll ich was einpacken?« fragte Knut.

»Zahnpasta, Rasierapparat, Pantoffeln, Seife … das genügt vorerst.«

Als die beiden Sanitäter Torsten die Treppe hinuntertrugen, sitzend auf ihren überkreuzten Armen, folgte Knut ihnen mit der Tasche. Auf der Straße hatten sich schon Schaulustige gesammelt. Ein paar Kinder hüpften aufgeregt hoch, um besser sehen zu können.

Der Notarzt öffnete die Hintertüren des weißen Wagens, kletterte hinauf, klappte das Fahrbrett herunter und ließ einen Rollstuhl hinausgleiten. Die Sanitäter setzten Torsten hinein und schoben ihn hoch. Knut reichte dem Arzt die Tasche hin.

»Mach’s gut, alter Junge!« rief er. »Jetzt bist du über den Berg! Sobald es geht, besuche ich dich!«

Der eine Sanitäter stieg hinten in den Wagen, der andere setzte sich ans Steuer, das Brett wurde hochgezogen, die Türen klappten zu, und schon brauste der Notfallwagen los und schaffte sich mit gellendem Martinshorn freie Bahn.

Der Himmel über Riesberg hatte sich zwar aufgeklärt, aber im Garten war es noch naß, und so hatte Sabine die Zwillinge die meiste Zeit im Haus halten müssen. Das war anstrengend gewesen, denn wenn die Jungens sich nicht austoben konnten, kamen sie auf noch mehr dumme Ideen als gewönhlich. Nach Tisch hatten sie kein Auge zugetan und so rumort, daß Sabine sie hatte aufstehen lassen und mit ihnen und Katja im Kinderwagen einen langen Spaziergang durch den Stadtwald unternommen hatte.

Jetzt, am Abend, war sie rechtschaffen müde, und als Sven mit seinem Mathematikheft ankam, hatte sie Andy und Christian, nur damit sie Ruhe gaben, vor den Fernseher gesetzt.

Sie hielt sich mit den drei Jungen in dem ehemaligen Familienwohnzimmer auf, das sie für ihren Mann umgeräumt hatte. Eine Schlafcouch hatte darin Platz finden müssen und ein großer Kleiderschrank. Zwei Sessel waren in das Gartenzimmer gewandert, aber Fernseher und Radio waren geblieben, und auch Arnolds bequemer Fernsehsessel, in dem man sich weit nach hinten lehnen und die Füße hochlagern konnte.

Jetzt hockten die Zwillinge darin. Es machte ihnen nichts aus, daß das Zimmer nicht verdunkelt war und Sabine sich mit Sven unterhielt. Sie saß am Rauchtisch, er stand hinter ihr.

Während Cowboys über den Bildschirm jagten, Hufe klapperten und Schüsse knallten, versuchte sie sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Sven ihr vorlegte.

»Ein Garten ist neunzehn Meter lang. In einem Abstand von fünfzig Zentimetern von der Außenmauer ist eine Rabatte angelegt, deren Schmalseite drei Meter breit …« Sabine hob den Kopf. »Sag mal, was soll denn das?«

»Das ist eine Gleichung! Du mußt den Ansatz finden!«

»Wieso ich? Ich denke, du hast das gelernt!«

»Ich dachte nur, weil du doch etwas vom Gärtnern verstehst!«

»Du lieber Himmel! Willst du mich auf den Arm nehmen?!«

»Nein, ehrlich nicht. Ich blicke da nämlich nicht durch.«

Sabine seufzte und versuchte es noch einmal »Der Garten ist neunzehn Meter lang, und die Schmalseite der Rabatte ist drei Meter …« Sie unterbrach sich. »Ein blödes Format!«

»Aber Mutti, darum geht es doch gar nicht!« Sven blickte über Sabines Kopf hinweg auf den Bildschirm.

»Wie wär’s, wenn du das Ganze mal aufzeichnen würdest? Dann können wir es ausmessen.« Sven antwortete nicht.

Sabine blickte zu ihm auf. »He, hörst du mir eigentlich zu?«

»Klar.«

»Was hab’ ich denn eben gesagt?«

»Daß ich es aufzeichnen soll. Aber das nutzt mir nichts. Ich brauche nicht die Lösung; sondern den Ansatz.«

Es war zu lange her, seit Sabine dergleichen gelernt hatte; sie fühlte sich überfordert und sprang auf. »Herrgott, müßt ihr denn so einen Krach machen!« Sie stellte den Apparat leiser.

»Aber so können wir doch nichts verstehn!« protestierte Andy.

»Das ist gemein!« schrie Christian.

Fast gleichzeitig liefen die Jungen vor, und Andy drehte den Lautsprecher noch weiter auf als vorher.

In diesem Augenblick trat Arnold ein; niemand hatte ihn kommen hören. »Guten Abend miteinander!«

Andy stellte den Apparat sofort leiser, denn er wußte aus Erfahrung, daß der Onkel keine langen Geschichten machte, sondern den Fernseher einfach ganz abschaltete, wenn er sich gestört fühlte.

Aber heute war er gnädig. »Na, was seht ihr denn da?« fragte er.

»Abenteuer im Gran Cañon!« schrien die Jungen.

»Versteht ihr das denn überhaupt?« fragte Arnold.

Sabine war aufgestanden und kam ihrem Mann entgegen. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich wußte nicht, wie ich sie sonst noch beschäftigen konnte.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Wir können gleich verschwinden, wenn du lieber allein sein willst.«

»Aber wieso denn? Ich will euch doch nicht vertreiben.«

»Na, schließlich ist es jetzt dein Zimmer.«

»Guten Abend, Vater«, sagte Sven.

»Er hat eine Mathematikaufgabe, mit der er nicht zu Rande kommt«, erklärte Sabine.

»Na, die werd’ ich mir gleich mal vornehmen, sobald die Sendung vorbei ist.« Arnold ließ sich in seinen Fernsehsessel fallen. »Dann werden die beiden jungen Herren wohl noch Zeit haben, mich zu begrüßen.«

Andy und Christian hockten sich auf den Teppich.

Sabine setzte sich zu ihm auf die Sessellehne. »Was ist los mit dir? Du bist ja heute so gut gelaunt?«

»Das liegt an dem herrlich weichen Hemd«, sagte er, »und es riecht auch so frisch … aprilfrisch!«

Sie lachte herzlich; es war lange her, seit er Humor gezeigt hatte. »So gefällst du mir«, sagte sie, »soll ich dir was zu trinken bringen?«

»Am besten eine Flasche Sekt.«

»Gibt es denn etwas zu feiern?«

»Ja, Biene.« Er hielt sie fest. »Ich habe im Supermarkt Schluß gemacht. Ich habe Egon gekündigt.«

Sabine war froh, daß er nicht zu ihr aufblickte; es fiel ihr schwer, ihre Betroffenheit zu verbergen, und sie war im ersten Moment außerstande, etwas zu sagen.

»Das hast du doch immer gewollt«, erinnerte er sie.

»Ja, aber du hattest immer tausend Argumente dagegen.«

»Stimmt. Inzwischen habe ich eingesehen, daß sie falsch waren. Schlimmer als dort kann es gar nicht mehr kommen. Und wenn ich als Hilfsarbeiter beim Bau anfangen müßte.«

Sie schmiegte ihre Wange an seinen Kopf. »Ach, du wirst schon was Besseres finden«, beruhigte sie ihn, während sie krampfhaft überlegte, wie sie ohne seinen Lohn auskommen sollten, und ob er, da er selber gekündigt hatte, überhaupt eine Arbeitslosenunterstützung bekam.

»Bestimmt werde ich mich auch wieder besser mit Egon verstehen, wenn er keine Gelegenheit mehr hat, sich als Vorgesetzter aufzuspielen.«

»Ganz bestimmt, Arnold!«

»Sehr erfreut klingt das aber nicht!«

»Doch, ich freue mich, Arnold«, behauptete sie, »schon allein wenn du dich jetzt besser fühlst, ist das die Sache wert gewesen.«

Auf dem Bildschirm ritt eine Indianerschar mit donnernden Hufen der untergehenden Sonne entgegen, eine riesige Sandwolke aufwirbelnd, damit war der Film zu Ende.

»Soll ich ausschalten?« fragte Sabine.

»Nein, bitte, bitte, nicht!« rief Andreas.

»Es kommt noch was!« schrie Christian.

»Laß nur an«, sagte Arnold, »es ist ganz entspannend.«

»Aber du wolltest dir doch Svens Mathematikaufgabe …«

»Nicht nötig.« Sven hatte sich rittlings, die Arme auf der Lehne, das Kinn auf den gefalteten Händen, auf einem Stuhl niedergelassen. »Die schau ich mir nach dem Essen selber noch mal genau an.«

»Das ist auch besser so«, erklärte sein Vater, »denn was nutzt es dir schon, wenn ich sie vorrechne. Dabei lernst du ja nichts.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Sabine das Zimmer.

Gleich nach dem Abendessen verzog sich Sven unter dem Vorwand, noch arbeiten zu müssen, in sein Zimmer unter dem Dach. Dort breitete er seine Bücher und Hefte in malerischer Unordnung auf dem Schreibtisch aus, aber nur um ein Alibi zu haben, falls jemand aus dem Haus bei ihm nach dem Rechten schauen würde. Tatsächlich aber dachte er nicht daran, auch nur einen einzigen Blick hineinzutun, nicht nur, weil er etwas anderes vorhatte, sondern auch, weil er es für vollkommen sinnlos hielt. Angesichts seiner miserablen Noten besaß er, das war ihm völlig klar, nicht mehr die geringste Chance, versetzt zu werden.

Das Wissen um sein Versagen lag ihm wie ein ständiger Druck auf der Brust. Obwohl er nicht ehrgeizig war, litt er doch darunter, in der Schule als Esel behandelt zu werden. Er war sich sicher, daß auch seine Kameraden ihn verachteten, wenn sie es auch nicht zu zeigen wagten. Wie sie über ihn hinter seinem Rücken sprachen, wagte er sich nicht einmal auszumalen.

Auch zu Hause galt er nichts, schien ihm, weniger als nichts. Er war ja immer nur der »Kleine« gewesen. Mit Knut hatte er sich nie messen können. Seit aber auch noch Torsten zum Ernährer der Familie avanciert war, war es ganz aus. Früher hatte die Mutter ihn immer noch in Schutz genommen. Doch jetzt nahmen die Zwillinge sie voll und ganz in Anspruch. Er konnte sehen, wo er blieb.

Wenn er an das Theater dachte, das sie bei seinem letzten Zeugnis aufgeführt hatten, konnte ihm noch nachträglich schlecht werden. Sie hatten sich aufgeführt, als handelte es sich um eine nationale Katastrophe.

Dabei – was hatte es in Wirklichkeit mit einem schlechten Zeugnis schon auf sich? Gar nichts. Man brauchte ja nur die Zeitungen zu lesen. Ein Drittel aller Gymnasiasten, die das Abitur schafften, waren auf dem Weg dahin ein- oder mehrmals hängengeblieben. Na also. Nur einem Miller durfte so was natürlich nicht passieren. Als wenn er überhaupt Wert auf das Abitur legte! Scheiße! Was verdiente so ein Akademiker schon nach all den Studienjahren?

Während Sven noch so mit seinem Schicksal grollte, spürte er doch schon, wie der Druck ganz sachte von ihm wich. Den ganzen Tag hatte er sich auf diese Stunde gefreut, und das Bewußtsein, daß niemand sie ihm zerstören konnte, war es, das ihn überhaupt aufrecht erhielt.

Bei jedem Ärger, jeder Schwierigkeit und jedem Mißverständnis pflegte er zu denken: ›Ach, ihr könnt mich doch mal! Hackt nur auf mir rum. Heute abend liege ich geborgen in meinem Bett und bin mit meinen Träumen allein!‹

Im Vorgefühl der kommenden Erlösung hatte er es jetzt gar nicht mehr eilig. Er stellte den Topf mit dem Wasser, das er sich in Ethels Küche geholt hatte, auf die elektrische Platte. Seine Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, als er ihr erklärt hatte, daß er sich hin und wieder mal eine Tasse Tee machen wollte, um bei den Schularbeiten wach zu bleiben.

Es war Tee, den der Junge sich bereitete, aber ein Tee besonderer Art. Er ließ das Wasser aufkochen, warf einige Teeblätter hinein, zog den Stecker heraus, wartete, bis es nur noch siedete, und gab dann Hasch dazu.

Er war seit langem darauf gekommen, daß diese Art, Hasch zu nehmen, einige wesentliche Vorteile gegenüber dem Rauchen hatte: Er konnte das Maß der Wirkung, das er erreichen wollte, durch die Dosierung selbst bestimmen, vor allem aber, der Tee war ohne verräterischen Geruch, und selbst wenn ein unerfahrener Erwachsener auf die Idee gekommen wäre, ihn zu kosten, hätte er den Haschzusatz nicht herausgeschmeckt.

Sven war kein Junge, der die Gefahr und das Abenteuer liebte. Aufregungen gab es für ihn im Alltag genug. Es freute ihn, daß er vor Entdeckungen sicher war.

Er schüttete die Hälfte des Gebräus in eine Tasse, zog sich aus, während es ein wenig abkühlte, und den Schlafanzug an. Sich zuwaschen oder die Zähne zu putzen hatte er jetzt keine Geduld mehr.

Im Stehen trank er die erste Tasse leer, schenkte sich noch einmal ein und stellte die Tasse auf die kleine Seemannskiste, die ihm als Nachttisch diente. Dann knipste er das große Licht aus, die Stehlampe an, suchte Musik in seinem Transistorradio und streckte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf seinem Bett aus.

In der schwachen Beleuchtung, die die Ecken nicht aufhellte, glich das Zimmer mehr denn je einer Schiffskoje. Torsten war es, der sich diese Einrichtung gebastelt hatte, bevor er das Elternhaus verließ. Sven liebte sie; sie gehörte zu den wenigen Dingen, an denen sein Herz hing.

Er brauchte nur eine Weile auf das Bullauge über seinem Bett zu blicken, hinter dem Fische im blauen Meer zu schwimmen schienen, und schon fühlte er das Schwanken des Schiffs. Es war alles noch da: Ärger in der Schule, die Verständnislosigkeit der Eltern und das Wissen um die eigene Unfähigkeit, aber es schien jetzt nur noch halb so schlimm, hatte an Bedeutung verloren.

Der Druck auf seiner Brust hatte sich völlig gelöst, und ein süßes Ziehen war an seine Stelle getreten. Sven war glücklich. Er flüchtete in Träume, die er von Anfang bis Ende kannte und immer wieder liebte: Er war Kapitän eines Piratenschiffs, er war ein wissenschaftlicher Weltumsegler, er war ein Kaufmann, der mit dem Orient reichen Handel trieb, und schließlich war er er selber, Sven Miller, der verlorene Sohn, der aus der Fremde zurückkehrte und seine Eltern damit überraschte, daß er reich geworden war, reich und angesehen.

Sven wußte, daß er nur träumte, und er genoß es. Er wehrte sich so lange wie möglich gegen den Schlaf, der schwer und tief sein würde, und versuchte das Traumstadium auszudehnen.

Am Morgen würde er sich schwer und taumelig fühlen und ein paar Weckamine brauchen, um auf die Beine zu kommen. Aber er dachte jetzt nicht an morgen. Es war ihm unsagbar wohl.

Er erschrak auch kein bißchen, als die Tür leise geöffnet wurde und seine Mutter hereinschaute, sondern blickte lächelnd zu ihr hoch.

»Oh, Sven, was ist los mit dir?« fragte sie. »Wir wollten zu Bett gehen, und da sah ich, daß du noch Licht hast … und dein Radio läuft auch noch!«

»Ich schlafe ja auch noch nicht, Biene!«

»Wird aber höchste Zeit! Weißt du, wie spät es ist?«

»Ich hab’ bis gerade eben gearbeitet.«

»Du Armer! Sie verlangen reichlich viel von dir, was?« Sie strich ihm über das Haar – fast scheu, denn sie wußte, daß Jungen in seinem Alter gegen Zärtlichkeiten nahezu allergisch sind.

Aber er reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte, faßte ihre Hand und sagte: »Ach bitte, setz dich doch einen Augenblick zu mir.«

Sie tat es und fragte ein wenig beunruhigt: »Willst du mir etwas sagen?«

»Ach nein. Ich möchte dich nur ansehn. Du bist so wunderschön.«

»Aber, Sven, was soll denn das!« wehrte sie ab und freute sich doch, ja, sie wurde sogar ein wenig rot.

»Du bist wirklich schön, Biene! Keiner von den anderen Jungen hat eine so schöne Mutter! Und so lieb bist du!« Er schlang seine Arme um ihren Hals und küßte sie zärtlich auf die Wange. »Du bist die liebste Mutti auf der ganzen Welt! Und Vati ist auch prima, sag ihm das, ja?«

»Wird gemacht.« Sabine löste sich lachend von ihm. »Aber jetzt mußt du schlafen, du kleiner Spinner, sonst kommst du morgen früh wieder nicht aus den Federn.«

Sie gab ihm noch einen raschen Kuß auf die Stirn, stellte das Radio ab, löschte das Licht aus, bevor sie das Zimmer verließ.

»Alles in Ordnung?« fragte Ethel, als Sabine die Treppe herunter kam.

Ethel war schon im Schlafanzug und barfuß auf dem Weg in ihr Badezimmer.

Sabine blieb bei ihr stehen. »Er ist richtig süß!« Sie lächelte, als sie an Svens ungewohnten Zärtlichkeitsausbruch dachte.

»Manchmal kann er wie ein ganz kleiner Junge sein.«

»Tatsächlich?« Ethels Frage klang ungläubig.

»Ja«, behauptete Sabine, »vielleicht gibt er sich überhaupt deshalb so ruppig, weil er inerlich eben sehr empfindlich ist.«

»Es ist komisch …«Ethel schwankte leicht und lehnte sich gegen das Treppengeländer, » … wenn Männer sich schlecht benehmen, finden wir immer gleich ein Dutzend Entschuldigungen.«

Sabine merkte, daß die Schwägerin getrunken hatte. »Ärger mit Ralf?«

»Nicht mehr als üblich.«

»Sei froh, daß du nicht mit ihm verheiratet bist.«

»Soll das ein Trost sein?«

»Du kannst dich jederzeit von ihm trennen, sobald die Schattenseiten eures … eurer Freundschaft die angenehmen überwiegen.«

»Und was kommt dann?«

»Das ist eben das Schöne, daß für dich noch alles offensteht.«

»Ich bin zu alt, um mich an einen neuen Partner zu gewöhnen.«

»Du mit deinen knapp dreißig Jahren?« Sabine lachte. »Das glaubst du ja selber nicht.«

»O doch.«

»Na, ich jedenfalls finde das falsch. Ich finde es einfach hirnrissig, bei einem Mann zu bleiben, wenn man ihn nicht mehr wirklich liebt.«

»Und was tust du anderes?«

Sabine empfand diese Frage wie eine Ohrfeige. Verschiedene Antworten schossen ihr durch den Kopf, aber sie brachte keine heraus. Sie wollte weder Theater spielen noch zugeben, daß ihre Gefühle für Arnold zumindest zwiespältig waren.

»Der Whisky macht dich mal wieder aggressiv, mein Schatz!« erklärte sie leichthin. »Unterhalten wir uns morgen weiter, wenn du nüchtern bist.«

»Aber ich bin nicht betrunken!« protestierte Ethel.

Sabine ging nicht mehr darauf ein. »Gute Nacht!« sagte sie nur noch. »Schlaf gut!«

Sie huschte die Treppe hinunter und wollte in ihrem Schlafzimmer verschwinden. Aber Arnold hatte seine Tür offengelassen und hörte sie. »Sabine!« rief er.

»Psst!« mahnte sie. »Die Kinder schlafen!«

Er lag schon im Bett, hatte das Buch sinken lassen, in dem er beim Schein der Stehlampe geblättert hatte, und blickte sie über seine Lesebrille hinweg an. »Hast du dich mal wieder ausgejammert?«

»Ach, Unsinn.« Sie ärgerte sich, weil ihr Lachen nicht ganz echt klang. »Wir haben bloß über Ralf gesprochen.«

»Und?«

»Immer dasselbe. Ethel ist unglücklich.«

»Wie du mit mir.«

»Aber Arnold, das stimmt doch gar nicht!«

»Wirklich nicht!?« Er klappte sein Buch zu, legte es fort und nahm die Brille ab.

Sie spürte, wie sehr er hoffte, daß sie zu ihm kam; aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. »Ich bin todmüde«, wich sie aus, »schlaf gut.« Sie wollte die Tür schließen.

»Laß auf!« befahl er.

»Warum das?«

»Ich will hören, was im Haus vorgeht.«

Sie stutzte. Wußte er mehr, als er sich anmerken ließ? Ahnte er, daß sie ihm nicht treu gewesen war? Hatte er etwas von der schlimmen Geschichte erfahren, in die Sven während seiner Haft verwickelt gewesen war? Vielleicht war jetzt die Gelegenheit, reinen Tisch zu machen.

»Wenn du noch mit mir reden möchtest …«, sagte sie zögernd, »soll ich uns eine Tasse Kaffee machen?«

»Ich dachte, du wärst todmüde.«

»Das schon.«

»Dann geh ins Bett. Ich verlange nicht, daß du dich für mich aufopferst.«

»Aber, Arnold …«

»Geh schon!«

»Gute Nacht!«

Die ersten Tage in der Intensivstation verbrachte Torsten zwischen Schlafen und Wachen. Zugleich mit dem Schmerz war auch die entsetzliche Angst vergangen, die ihn bei seinem Anfall gepackt hatte. Er fühlte sich nicht einmal mehr krank, sondern nur sehr schwach, und ließ alles widerstandslos und ohne zu fragen mit sich geschehen. Ständig war eine Schwester um ihn, und jede Stunde kam ein Arzt und kontrollierte Puls, Blutdruck, Temperatur und Herzaktion. Torsten empfand es als angenehm, so umsorgt zu werden und vor allem jeder Verantwortung enthoben zu sein.

Am Morgen des vierten Tages hatte er das Gefühl, völlig ausgeruht zu sein, und fragte Schwester Gerda, eine intelligente, energische und nicht mehr ganz junge Frau: »Darf ich heute aufstehen?«

Sie zeigte sich nicht überrascht. »Das kann ich Ihnen nicht erlauben, Herr Miller! Da müssen Sie schon den Herrn Doktor fragen.«

Der behandelnde Arzt, Dr. Kleemann, erschien noch vor der eigentlichen Visite, um Torstens Zustand zu kontrollieren. Er war ein magerer kleiner Mann mit Spitzbart und grauen Augen hinter randlosen Brillengläsern. »Na, gut geschlafen?« fragte er mit berufsmäßiger Freundlichkeit. »Heute morgen sehen wir ja prachtvoll aus.« Er las die Temperatur von der Tafel über dem Bett ab, während er den Puls fühlte.

»Mir geht’s so gut, daß ich am liebsten aufstehen möchte.«

»Glaube ich Ihnen gern, mein Lieber«, behauptete Dr. Kleemann ein wenig gedankenabwesend.

»Also darf ich aufstehen?« stieß Torsten nach.

»Auf einmal so ungeduldig? Sie sind doch erst drei Tage bei uns.«

»Wenn ich wenigstens wüßte, wann ich wieder gesund sein werde!«

Dr. Kleemann zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Mein lieber junger Freund! Warum haben Sie es denn so eilig? Glauben Sie, daß Sie draußen etwas versäumen? Es ist doch ganz schön, sich mal um nichts kümmern zu müssen und sich ein bißchen verwöhnen zu lassen.«

»Das schon.«

»Aber?«

»Aber ich muß doch wissen, woran ich bin! Was habe ich überhaupt für eine Krankheit?«

Dr. Kleemann zog sich ein Zigarettenpäckchen aus der Kitteltasche, steckte es dann aber gleich wieder, ohne sich zu bedienen, fort. »Ich weiß es nicht«, sagte er und verzog die Lippen, »irgend etwas mit Ihrem Herzen ist nicht Ordnung. Aber ich bin kein Herzspezialist. Ich kann Ihnen nur sagen, um was es sich nicht handelt: Sie haben keinen Herzinfarkt!«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Können Sie sich unter einem Herzinfarkt was Gutes vorstellen? Na also.«

»Und woher sind Sie so sicher, daß es kein Infarkt war?«

Dr. Kleemann wies auf einen grauen Apparat, der einem Fernsehapparat nicht unähnlich war. »Weil wir, wenn Sie sich erinnern, ein Elektrokardiogramm gemacht haben.«

»Aber wenn es kein Infarkt war …«, wollte Torsten weiterbohren.

Dr. Kleemann schnitt ihm das Wort ab. »Fragen Sie mich nicht. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich weiß. Und jetzt werde ich Ihnen zuerst mal ein kleines Spritzchen verpassen.«

»Schon wieder?«

»Nur in den Potsch. Wenn Sie sich bitte freimachen wollen … Schwester!«

»Wofür diese ewigen Spritzen bloß gut sein sollen!«

Die Schwester reichte Dr. Kleemann das aufgezogene Instrument.

»Diese hier zum Beispiel«, erklärte er und hielt sie gegen das Licht, »enthält Cephalotin, ein Antibiotikum, mit dem wir einer Lungenentzündung vorbeugen wollen. Sie wissen, diese Gefahr besteht immer, wenn ein Mensch längere Zeit liegen muß, besonders dann, wenn das Herz nicht zufriedenstellend arbeitet.«

Die Schwester hatte eine Stelle an Torstens Oberschenkel abgerieben, jetzt stach Dr. Kleemann die Injektionsnadel hinein und drückte sachte auf den Kolben. Danach massierte er die Einstichstelle.

»So, das hätten wir. Schön ruhig bleiben, junger Freund, und nur ja nicht aufregen. Sie denken, daß Sie’s nicht mehr aushalten können, aber dann machen Sie sich mal klar, daß Sie dem Tod gerade von der Schippe gesprungen sind, und in einem langweiligen Krankenzimmer liegt man immer noch besser als unter der Erde.«

Dem war nichts entgegenzusetzen.

Seit seiner Kinderzeit hatte Torsten nicht mehr nach Tisch geschlafen; hier im Wachzimmer gewöhnte er es sich ganz zwangsläufig wieder an. Kaum war das Essen hinausgetragen und Schwester Gerda hatte ihm noch einmal das Laken glattgezogen und die Kissen aufgeschüttelt, duselte er schon. Aber es war kein erquickender Schlummer, sondern ein alptraumhaftes unruhiges Entgleiten aus der Gegenwart.

Als die Tür geöffnet wurde, schreckte er hoch. »Nein! Nicht!« stöhnte er laut. »Bitte nicht!« Dann erkannte er den Bruder.

»Entschuldige«, sagte Knut, »aber ich wäre gar nicht reingekommen, wenn sie nicht auf den Gängen schon mit dem Kaffeegeschirr klappern würden.«

Torsten fuhr sich durch die Haare. »Gut, daß du mich geweckt hast! Ich habe was Schreckliches geträumt!«

»Was denn?«

»Ich weiß nicht mehr.« Torsten lächelte schief. »Jemand war hinter mir her. Ich hatte was ausgefressen … irgendwas versiebt, ich weiß selber nicht was. Dieser Traum verfolgt mich, seit ich hier liege.«

Knut, stämmig, blond, braun gebrannt und vor Gesundheit strotzend, brachte einen Hauch von Leben und Freiheit in das sehr sterile, sehr abgeschirmte Wachzimmer. »Du bist ein bißchen plötzlich aus deinem gewohnten Leben gerissen worden«, meinte er, »vielleicht liegt’s daran. Vielleicht hast du irgendeine Arbeit nicht mehr erledigen können. Aber mach dir keine Gedanken deshalb. Ich habe dich in der Modern Advertising entschuldigt.«

»Und was haben denn die gesagt?«

»Was schon?! Sie lassen dir gute Besserung wünschen. Was auch immer du hast unerledigt liegenlassen, inzwischen ist es aufgearbeitet, verlaß dich drauf.« Knut blickte sich um. »Wo ist denn eigentlich deine Krankenschwester?«

»Anscheinend weggegangen.«

Knut zog sich den Stuhl zum Bett. »Ein Zeichen, daß es dir besser geht. Du siehst auch sehr gut aus.«

Torsten versuchte sich aufzurichten. »Weißt du, was ich habe?«

Knut beugte sich zu ihm und stellte sein Kopfteil höher. »Nein. Aber ich kann natürlich mal mit Doktor Kleemann sprechen.«

»Das wäre sehr gut. Mir gegenüber tut er so, als wenn er von nichts wüßte.«

Knut setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Das wäre schon möglich, weißt du. Du bist ja hier vorerst nur auf der Wachstation. Die passen auf dich auf, bis du aus der akuten Gefahr bist. Eine eigentliche Untersuchung hat sicher noch gar nicht stattgefunden. Oder doch?«

»Sie haben ein Elektrodingsda gemacht …«

»Und?«

»Es soll sich herausgestellt haben, daß es kein Infarkt gewesen ist.«

»Das ist doch schon etwas.«

Ein Schweigen trat ein; plötzlich wußte keiner der beiden jungen Männer mehr etwas zu sagen.

»Jedenfalls ist es nett, daß du gekommen bist«, äußerte Torsten endlich.

»Ich war jeden Tag hier. Die haben mich bloß heute erst zu dir reingelassen.«

»Noch netter.«

»Kann ich irgendwas für dich tun? Brauchst du dein Radio?«

»Nein, danke.« Torsten zog einen Kopfhörer unter seinem Kissen hervor. »Ich habe das hier.«

Schwester Gerda trat ein. »Sie haben Besuch? Entschuldigen Sie, bitte, Herr Miller, ich war …«

»Wo auch immer Sie waren«, erklärte Knut, »Sie sollten meinen Bruder keinesfalls allein lassen, ohne für eine Vertretung zu sorgen, auch wenn es nur für fünf Minuten ist.«

»Aber Knut, nun übertreibe mal nicht! Mir geht es doch wieder sehr gut.«

»Nicht genug, um allein zu bleiben. Ich nehme an, daß Sie das wissen, Schwester?«

»Ich war wirklich nur für ein paar Minuten …«

»Das soll trotzdem nicht wieder vorkommen«, verlangte Knut energisch. »Jetzt können Sie für eine Weile gehen, ich werde nach Ihnen klingeln, wenn ich fortgehe.«

Schwester Gerda zog sich mit rotem Kopf zurück.

»Du solltest nicht so grob zu ihr sein, Knut«, meinte Torsten, »sie ist sehr nett.«

»Was heißt hier nett? Ihre Pflicht soll sie tun. Für ihre Nettigkeit kannst du dir nichts kaufen!«

»Steht es denn wirklich so schlecht um mich?« fragte Torsten beunruhigt.

»Jedenfalls hast du uns neulich einen ganz schönen Schreck eingejagt. Aber nicht deshalb habe ich die Schwester zurechtgewiesen. Sondern aus erzieherischen Gründen. Sie sollte doch gelernt haben, daß man ärztliche Anordnungen aufs Wort befolgt. Und ich wette, daß Doktor Kleemann ihr befohlen hat, ständig bei dir zu sein.«

Eine andere Schwester kam herein. Sie war sehr jung und hatte das gestärkte Häubchen so kokett auf dem Hinterkopf festgesteckt, daß es seinen Zweck, die Haare zusammenzuhalten, völlig verfehlte. Eine blonde Locke fiel ihr in die Stirn. »Ich bringe eine kleine Stärkung«, verkündete sie lächelnd.

»Oha!« Knut schnupperte. »Ich hoffe, Sie haben auch ein Stück Kuchen für einen armen Verwandten übrig, Schwester?«

»Ich werde sehn, Herr Doktor …«

»Du kannst meinen haben«, sagte Torsten rasch, »ich esse ihn sowieso nicht.«

»Er ist aber sehr gut!« behauptete die Schwester.

»Das glaube ich Ihnen gerne. Aber ich bin es nicht gewohnt, zwei Stunden nach dem Mittag schon wieder was zu essen, und ich will mich hier auch nicht mästen lassen.«

Die Schwester stellte das Tablett aus der Hand, drehte den Betttisch vor Torsten hin und schob das Tablett darauf. »Ich kann gerne versuchen, Herr Doktor …«, erbot sie sich.

Knut protestierte nicht gegen den Titel, der ihm in Wahrheit noch längst nicht zustand; er fügte sich der alten Münchner Sitte, Studenten im vorhinein mit dem angestrebten akademischen Prädikat zu bedenken. »Sehr lieb von Ihnen, Schwesterchen!« Er nahm das dicke Stück Marmorkuchen hoch. »Aber dies hier genügt mir voll und ganz.« Er biß hinein.

»Woher weiß die, daß du Student bist?« fragte Torsten, als die Schwester gegangen war.

»Ich habe mich jeden Tag nach dir erkundigt, wie ich schon sagte!« Knut sprach mit vollem Mund. »Und bei der Gelegenheit jeden wissen lassen, daß ich selber Mediziner bin, in deinem Interesse, Brüderchen! Nicht, daß ich meine Standesgenossen schlechtmachen möchte, aber es ist doch immer ganz nützlich, wenn jemand in der Familie was von der Sache versteht. Und du wirst doch sicher auch genau wissen wollen, was mit dir los ist. Dafür werd’ ich sorgen, wenn du den Ärzten erlaubst, ihr Amtsgeheimnis mir gegenüber zu lüften.«

»Das werde ich selbstverständlich tun.« Torsten hatte sich Pfefferminztee eingeschenkt und drei Stück Zucker dazu getan; jetzt führte er die Tasse an die Lippen und stellte fest, daß das ohnehin fade Getränk durch den dicken Tassenrand noch an Aroma verlor. Unwillkürlich verzog er das Gesicht.

»Schmeckt nicht?« fragte Knut.

»Nach Jugendherberge.«

Knut lachte. »Ich könnte mir Schlimmeres denken.«

Torsten rührte, um den Zucker aufzulösen. »Wissen es die Eltern?«

»Nein. Ich wollte mich erst mit ihnen in Verbindung setzen, wenn die Diagnose feststeht. Oder bist du da anderer Meinung?«

»Nein, nein. Das ist sehr gut so. Wozu sie beunruhigen.«

»Du darfst ihnen natürlich jetzt kein Geld mehr schicken.«

»Und warum nicht?«

»Weil du deine Penunzen möglicherweise selber brauchen wirst: Natürlich zahlt die Krankenkasse … du kannst übrigens von Glück sagen, daß das erst jetzt gekommen ist, wo du angemeldet bist, und nicht …«

Torsten fiel ihm ins Wort. »Ich finde nicht, daß das Glück ist. Hätte ich mein altes Leben nicht aufgegeben, wäre es sicher nie passiert. Aber der dauernde Streß, die ständig verqualmten Räume in der Advertising!«

Knut steckte sich den Rest des Kuchenstücks in den Mund und wischte sich die Finger mit Torstens Serviette ab. »Du erlaubst doch?« fragte er, während er sie schon benutzte. »Was dir von jeher gefehlt hat, ist die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken … also, bitte, ich will dich nicht beleidigen, du hast das ja auch gar nicht nötig, du bist Künstler! Aber wenn du nur mal einen Augenblick versuchen würdest, ernsthaft nachzudenken, würdest du drauf kommen, daß es unmöglich ist, die Ursachen einer Krankheit festzustellen, noch bevor man sie überhaupt kennt.«

»Du wirst schon sehn, Knut …«

Der Bruder ließ Torsten nicht aussprechen. »Bleiben wir doch mal bei der Sache, ja? Die Krankenkasse wird zahlen, aber das schließt doch nicht aus, daß du Extraausgaben haben wirst, und es ist auch vorläufig ja nicht abzusehen, wann du wieder wirst arbeiten, sprich verdienen können. Deshalb kann ich dir nur dringend raten, dein Geld von nun an zusammenzuhalten.«

»Ich werd’s mir überlegen«, versprach Torsten und begann den Tee in kleinen Schlucken zu trinken.

Knut stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Na schön. Das wär’s also. Spätestens übermorgen schau ich wieder bei dir rein. Eine genaue Zeit kann ich dir nicht sagen, ich muß das irgendwie mit meinen Vorlesungen ausbalancieren. Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Wenn du mir was zu lesen mitbringen würdest.«

»Hier im Haus gibt es einen Stand mit Zeitungen und Taschenbüchern. Ich schicke dir gleich was rauf. Das ist übrigens auch so was, was Geld kostet, jeweils nur ein paar Mark, aber summieren sich.« Er nickte dem Bruder lächelnd zu. »Also, mach’s gut, alter Junge!«

Er war schon bei der Tür, als Torsten ihn zurückrief. »Knut!«

»Ja?«

Torsten lächelte verlegen. »Ich weiß nicht, es ist mir nur wieder so, als wenn ich etwas vergessen hätte … etwas Wichtiges!«

Knut klopfte sich nachdenklich gegen das Kinn. »Gibt es vielleicht noch jemanden, den ich benachrichtigen soll? Ilona?«

»Die würde es den Eltern sagen.«

»Eins von deinen Mädchen?«

»Was soll ich jetzt mit einem Mädchen?«

»So ’ne Krankheit weckt bei mancher den Mutterinstinkt!«

»Bei denen, die ich kenne, nicht.«

»Übrigens, das Mäuschen, mit dem du verabredest warst, hat nichts von sich hören lassen.« Als Torsten ihn mit großen Augen ansah, fügte er hinzu: »Du erinnerst dich noch, daß du verabredest warst? Du warst gerade dabei, dich frisch zu machen, als …«

»Brandy!« rief Torsten laut, und er begriff nicht, wie es möglich war, daß er jetzt erst wieder an sie dachte.

»Deine Gammelbraut?«

»Ja, ich hatte sie zufällig wieder getroffen und … na, die wird sich was gedacht haben!«

»Gib mir die Adresse, damit ich …«

Torsten schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, daß das gut ist. Nein, wirklich nicht.«

»Ganz wie du meinst.« Knut zuckte die breiten Schultern. »Inzwischen wird sie sich ja auch schon mit dem Verlust abgefunden haben.« Er öffnete die Tür. »Ich schick’ dir dann was zu lesen …«

»Lieb von dir«, sagte Torsten gedankenabwesend.

Plötzlich war die Erinnerung an sie wieder da. War es möglich, daß er sie hatte vergessen wollen, um sich nicht nach ihr sehnen zu müssen? Er sah sie so deutlich vor sich wie an jenem Regentag, ihr helles Gesicht, die klaren grünen Augen und das leuchtende Haar. Er hätte sie gerne bei sich gehabt. Ihre Gegenwart hätte ihm Mut gegeben. Schon bedauerte er, daß er Knut nicht gebeten hatte, sie zu benachrichtigen.

Gleichzeitig wußte er, daß sein Entschluß richtig gewesen war. Sie hatte einen Freund, und sie brauchte ihn nicht. Wenn er gesund geblieben wäre, hätte er um sie gekämpft – vielleicht. Jetzt aber konnte er ihr nichts geben, und auf Mitleid zu spekulieren kam nicht in Frage.

Das Inserat stand im ›Oberbayerischen Volksblatt‹.

Unter der fettgedruckten Überschrift: ›3000,– DM und mehr‹ hieß es weiter: ›können Sie monatlich verdienen, wenn Sie eigenen Pkw und Führerschein besitzen, jung und unternehmungslustig sind! Bewerber melden sich Sonntag, den 18. Juni, im ›Goldenen Löwen‹, Hinterzimmer, bei Herrn Engelbrecht.«

Arnold Miller, der es am Freitag las, war sicher, daß es sich dabei um eine Vertretertätigkeit handelte, möglicherweise nur auf Provisionsbasis. Aber er wußte, daß er nicht wählerisch sein durfte. Wenn es ihm gelang, im Anschluß an seine Arbeit im Supermarkt, irgendwo – gleichgültig wo – unterzukommen, konnte er von Glück sagen.

Etwas anderes störte ihn weit mehr: die Tatsache, daß er sich ausgerechnet im ›Goldenen Löwen‹, Sitz seines ehemaligen Stammtisches, hätte vorstellen müssen. Zwar war das Hinterzimmer geradewegs vom Hausflur aus, ohne daß man die eigentliche Wirtsstube durchqueren mußte, zu erreichen. Dennoch schreckte er bei dem Gedanken, einen seiner früheren Freunde dort zu treffen, innerlich zurück.

Gleichzeitig ärgerte er sich über seine eigenen Hemmungen. Er konnte sich doch nicht bis an sein Lebensende vor allen alten Bekannten verstecken, nur weil er einmal eine Dummheit gemacht hatte. Schließlich hatte er seine Strafe abgesessen, und das, was er danach hatte durchstehen müssen, stand in keinem Verhältnis zu seiner Schuld.

Tage kämpfte er mit sich. Schließlich, am Sonntagmorgen, faßte er den Entschluß, sich im ›Goldenen Löwen‹ zu melden. Er hatte sich, fand er, bisher viel zu sehr geduckt, nun war es Zeit, dem Schicksal die Stirn zu bieten.

Um nur ja nicht altmodisch und somit alt zu wirken, zog er für die Vorstellung nicht seinen guten grauen Flanellanzug an und verzichtete auch auf die Krawatte, sondern wählte statt dessen eine hellbeige Gabardinehose, geflochtete Lederschuhe und ein blaues Hemd.

»Nanu«, sagte Sabine, die ihm im Flur begegnete, »du siehst ja so unternehmungslustig aus! Hast du was vor?«

»Will mal ein bißchen in die Stadt fahren.«

Sie verbarg ihre Besorgnis, die Besorgnis einer mütterlichen Frau, die befürchtete, daß einem ihrer Schützlinge eine Kränkung zugefügt werden könnte. »Das ist eine gute Idee, Arnold. Du hast in letzter Zeit auch wirklich viel zuviel zu Hause herumgehockt.«

Er setzte seinen Hut auf, betrachtet sich damit im Spiegel, fand, daß er nicht zu dem angestrebten Image paßte, und legte ihn wieder ab. Ihm kam der Einfall, ob er nicht seine weißen Schläfenhaare hätte färben sollen, tat den Gedanken aber sofort wieder als lächerlich ab.

Sabine beobachtete ihn. »Kommst du zum Essen nach Hause?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach.« Er hätte sie gern geküßt, aber es erschien ihm unpassend. »Halt mir Däumchen, ja?« bat er und ging zur Tür.

»Wofür?« rief sie ihm nach.

Er antwortete ihr nicht, sondern schritt rasch zur Garage, um seinen Kadett herauszuholen.

Sie winkte ihm nach. »Viel Glück!«

Das Baby begann zu schreien, und sie eilte ins Haus.

Als er die Garagentür geöffnet hatte und sich noch einmal nach ihr umsah, war sie im Inneren verschwunden.

Länger als ein Jahr war Arnold jetzt nicht mehr im »Goldenen Löwen« gewesen, doch während er sicher war, sich in der Zwischenzeit gewandelt zu haben, hatte sich hier nichts geändert. Die schwere Wirtshaustür wurde immer noch durch den abgewetzten Lederbalg am Zuschlagen gehindert, der rote Fliesenboden im Hausflur war immer noch so wellig, daß sich die Feuchtigkeit des Putzwassers an den tiefen Stellen sammelte, und die Schwelle zum Schankraum war genauso ausgetreten wie früher. Es roch nach Schweinebraten, Rauch und schalen Bierresten.

Das sogenannte Hinterzimmer, ein kleiner Raum neben der Küche, war Arnold ebenfalls wohlvertraut, denn hier hatten die Herren vom Stammtisch gefeiert, wenn sie aus gegebenem Anlaß einmal ganz unter sich sein wollten. Es gab hier einen langgestreckten Tisch aus dunklem Holz, an der Wand eine lange und eine kurze Bank übers Eck gestellt, davor ein paar alte Stühle.

An diesem Sonntagmorgen wirkte das Zimmer geradezu trostlos. Da die Fenster nach Norden hinausgingen, drang kein Schimmer des frühsommerlichen Glanzes herein. Arnold schauderte es in seinem leichten Hemd.

Am Kopfende des Tisches saß ein kleiner, rundlicher, sehr adrett angezogener Herr, der erwartungsvoll aufblickte, als Arnold hereinkam. Er schüttelte die gestärkte Manschette hinunter, um auf das eckige Zifferblatt seiner goldenen Armbanduhr zu sehen, sprang dann mit der Elastizität eines Gummiballs auf und kam Arnold entgegen.

»Engelbrecht mein Name«, erklärte er mit einer zweifachen Verbeugung, bei der sich Arnold Einblick auf eine schüttere Stelle mitten auf dem Hinterhaupt bot.

»Miller … Arnold Miller …« Er überlegte, ob er die Hand reichen sollte oder nicht, und unterließ es dann; aus den Augenwinkeln nahm er wahr, daß sich außer ihm und Herrn Engelbrecht noch drei junge Burschen im Raum befanden, die sich unsicher am anderen Ende des Tisches lümmelten.

»Herr Miller, Sie sind von der Konkurrenz!« knallte ihm Herr Engelbrecht entgegen.

»Aber nein … wieso denn?« Arnold war verwirrt. »Ich weiß ja nicht mal, um was es bei Ihrem Unternehmen geht!«

»Ja, eben das wollen Sie erfahren!«

»Ich suche Arbeit, das ist alles. Eine möglichst lukrative Beschäftigung.«

»Hm. Ja. So. Naja.« Wieder schüttelte Herr Engelbrecht seine Manschette zurück, um festzustellen, wie spät es war. »Wir haben noch ein paar Minuten … ich werde Ihnen erklären …« Er begab sich zum Kopfende des Tisches zurück.

Arnold folgte ihm. »Nur keine Angst. Ich habe nicht vor, in Ihre Geheimnisse zu dringen«, erklärte er mit einem Anflug von Ironie.

Herr Engelbrecht nahm ihn ernst. »Wenn Sie wirklich Arbeit suchen, sind die für Sie auch ganz uninteressant. Es handelt sich um die Einführung eines neuen Artikels … die Erschließung eines neuen Kundenkreises …«

»Das klingt doch verlockend.«

»Ja, es liegen große Chancen drin …« Herr Engelbrecht hob die Stimme, »große Chancen für junge Leute! Aber … um Ihnen jede Enttäuschung zu ersparen, Herr Miller … klipp und klar von vornherein: Sie sind nicht der richtige Mann für diesen Job!«

Arnold war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. »Wie können Sie das denn beurteilen, Sie wissen ja noch nichts von mir!«

Herr Engelbrecht lächelte mit schmalen Lippen. »Genug … ich weiß genug. Sie sind nicht mehr jung. Über Vierzig. In einem Alter also … bitte, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten … in dem es zumindest ungünstig ist, ganz von vorne anzufangen. Sie haben noch nie als Reisender gearbeitet, denn sonst müßten Sie heute längst Kolonnenführer, wenn nicht Generalvertreter sein.«

»Gut und schön. Ich will das alles nicht leugnen. Aber das besagt doch nicht, daß ich nicht imstande wäre, mich einzuarbeiten. Oder wollen Sie etwa behaupten, ich kann weniger als die da?« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der jungen Burschen.

»Einarbeiten! Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund! Sie müßten sich einarbeiten … und sehen Sie, das eben käme meiner Firma zu teuer. Wir sind ein seriöses Unternehmen, zahlen von Anfang an ein volles Gehalt … und bei einem Mann Ihres Alters kommen uns die Abgaben einfach zu hoch! Erzählen Sie mir jetzt nicht, Sie wollen sich mit einem Minimum begnügen! Wir nutzen niemanden aus, leisten die vollen Sozialabgaben … nein, es geht nicht!«

»Und wenn ich mein Glück erst mal auf Provisionsbasis versuchen würde?« schlug Arnold vor.

»Kämen Sie nicht zurecht«, erwiderte Herr Engelbrecht prompt, »wie gesagt, es handelt sich um einen Artikel, der erst eingeführt werden muß. Ich bedaure es außerordentlich, lieber Herr Miller, aber jetzt muß ich Sie bitten, mich nicht länger aufzuhalten. Leben Sie wohl!«

Er ließ Arnold stehen, umging ihn geschickt und eilte einem schlaksigen Jungen entgegen, der gerade hereingekommen war. »Engelbrecht mein Name! Bitte, kommen Sie gleich mit hoch, Sie auch, meine Herren, rücken wir näher zusammen, dann verstehen wir uns besser!«

Arnold sah sich ausgeschaltet. Ihm blieb jetzt nur noch die Wahl, aggressiv zu werden – aber was hätte ihm das genutzt? – oder das Zimmer zu verlassen.

Bleibt uns die Hoffnung

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