Читать книгу Glückliche Zukunft für Bettina - Marie Louise Fischer - Страница 4
Ursel ist eifersüchtig
ОглавлениеIn der mit bunten Girlanden und Papierbändern geschmückten Aula der Handelsschule von Dortlingen, einer kleinen Schule in Westfalen, ging es hoch her; die Schüler und Schülerinnen feierten hier zusammen mit ihren Eltern den glücklichen Abschluß ihrer Schulzeit.
Von einem Tonband erklangen – zu Ehren der älteren Anwesenden – Wiener Walzermelodien, und die Herren wirbelten ihre Damen, so gut es der Platz erlaubte, über die Tanzfläche. Ringsum sah man nur lachende und vergnügte Gesichter, und auch Bettina Bürger strahlte. Jürgen Holbach, ihrem Partner, gelang es, sie trotz des Gedränges mit elegantem Schwung zu drehen.
Doch plötzlich verhielt sie mitten im Tanz und blickte über die Schulter zurück zu dem Platz, an dem eben noch ihre Schwester gesessen hatte. „Wo ist Ursel?“
Jürgen geriet durch diese unerwartete Störung ins Stolpern. „Bitte, Bettina, was hast du gesagt?“
Sie wandte ihm ihr helles, herzförmiges Gesicht mit dem vollen, schön geschwungenen Mund und den klaren, weit auseinanderstehenden Augen zu. „Ob du Ursel irgendwo gesehen hast!“
„Bestimmt!“ sagte er, bemüht, wieder in den Rhythmus des Tanzes zurückzufinden. „Noch vor ein paar Minuten, warum?“
„Ich sehe sie nirgends!“ Bettina blickte über Jürgens Schulter suchend in das Gewühl.
„Und wenn schon? Was soll’s?“ sagte Jürgen. „Sie kann sich ja nicht verflüchtigt haben!“
Die Musik klang aus; die Paare blieben stehen. Bettina wollte die Gelegenheit benutzen, sich auf die Suche nach Ursel zu machen.
Jürgen hielt sie fest. „Hör mal, Bettina“, sagte er bittend, „sei doch nicht so. Du kannst dich doch jetzt nicht einfach verkrümeln!“
„Bloß auf einen Sprung! Ich will sehen, wo sie steckt. Ich bin gleich wieder zurück.“
„Das kenne ich. Sobald man dich aus den Augen läßt, hat dich ein anderer geschnappt. Wenigstens den nächsten Tanz noch, Bettina!“
Es fiel Bettina schwer, der Versuchung zu widerstehen. Sie tanzte gut und leidenschaftlich gerne. Aber ihre Sorge um die Schwester war stärker. Geschickt löste sie sich aus Jürgens Armen, bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden.
Jürgen versuchte ihr zu folgen, aber ehe er die Tür erreichte, war Bettinas blonder Schopf schon verschwunden.
Er stellte sich in die Nähe der Wand, zündete sich eine Zigarette an. Er war enttäuscht und verärgert, dennoch konnte er Bettina nicht böse sein.
Bettina begriff selber nicht, warum sie die Abwesenheit ihrer Schwester so beunruhigt hatte. Vielleicht kam es einfach daher, daß sie und Ursel, im Gegensatz zu den anderen, ohne ihre Eltern zur Abschlußfeier gekommen waren. Der Vater war verreist, und die Mutter hatte den kleinen Heiner, der mit einer Grippe im Bett lag, nicht allein lassen wollen. Bettina fühlte sich für die Schwester verantwortlich, obwohl sie sehr gut wußte, daß das eigentlich unsinnig war. Schließlich war Ursel fast ein Jahr älter als sie und durchaus imstande, auf sich aufzupassen. Trotzdem stieg Bettinas Unruhe von Sekunde zu Sekunde, während sie die Nebenräume absuchte, jeden, der ihr begegnete, nach Ursel fragte, ohne sie jedoch zu finden.
Möglicherweise war sie schon nach Hause gegangen. Aber ohne ihr etwas zu sagen? Auch das war unwahrscheinlich.
Auf gut Glück öffnete Bettina eine Tür, von der sie nicht ahnte, wohin sie führte – und sah ihre Schwester Ursel. Sie hockte auf einer kleinen Treppenleiter in einem Abstellraum. Bettina erkannte in dem schwachen Licht, das vom Flur in das dunkle kleine Zimmer schien, nur undeutlich ihren weißen Spitzenkragen und die dazu passenden großen Manschetten.
„Sag mal … bist du wahnsinnig geworden?“ fragte sie verblüfft.
„Laß mich in Ruhe!“ Ursels Stimme klang wütend und verzweifelt.
Bettina zog die Türe hinter sich ins Schloß, knipste das Licht an. Eine winzige Glühbirne an der sehr hohen Dekke der Kammer warf ihr Licht auf Ursels verweintes Gesicht.
„Ursel“, fragte Bettina, „ist was los?“
„Das fragst du mich?“
Bettina hob hilflos die Hände. „Aber, aber … habe ich dir was getan?“
„Nein. Du nicht. Du bist ja immer der reinste Unschuldsengel!“
„Ich weiß wirklich nicht, Ursel …“
„Nein, dir ist es bestimmt nicht aufgefallen, daß du mir alle Tänzer weggeschnappt hast, wie? Wie solltest du auch was dabei finden! Du bist es ja so gewohnt! Du bist die schöne, die begabte, die kluge Bettina! Du kannst verlangen, daß alles sich um dich dreht! Was interessiert es dich denn, wenn du mir mein ganzes Leben kaputtmachst?! Du, du bist so gemein … so gemein!“
Bettina holte tief Luft. „Ursel“, sagte sie eindringlich, „du weißt sehr gut, daß alles, was du jetzt redest, Unsinn ist. Ich habe dir nicht einen einzigen Tänzer weggeschnappt, das redest du dir ja bloß ein! Du hast genausoviel getanzt wie ich …“
„Ja, das habe ich. Das stimmt haargenau. Weil du jedesmal nur mit einem tanzen konntest. Und wer bei dir zu spät kam, hat sich dann gnädig meiner erbarmt. Glaubst du, das macht Spaß?“
Bettina wurde blaß. Sie spürte, daß die Vorwürfe ihrer Schwester nicht ganz unberechtigt waren. „Ursel!“ sagte sie. „Du weißt genau … ich kann doch nichts dafür!“
„Was interessiert es mich, ob du etwas dafür kannst! Ich habe es satt, verstehst du!“ Ursel griff sich mit der Hand an die Kehle. „Satt bis hierhin, immer nur in deinem Schatten zu stehen. Weißt du, wie sie in der Stadt von mir reden? Weißt du das? Für niemanden bin ich Ursel Bürger, nein! Bettinas Schwester nennen sie mich! Das ist nicht mehr zu ertragen.“
„Bildest du dir das nicht alles nur ein, Ursel?“ sagte Bettina. „Das ist doch furchtbar übertrieben. Du bist doch mindestens so hübsch wie ich …“
„Ich? Mit meiner Figur?“
Bettina versuchte zu lachen. „Da haben wir’s. Du hast Minderwertigkeitskomplexe, das ist es. Bloß weil du ein bißchen dicker bist. Jeder Mensch weiß, daß sich so etwas wieder gibt. Das liegt einfach, du weißt schon woran. Wie kann man nur daraus eine Tragödie machen?“
Ursel sprang auf und trat dicht an Bettina heran. „Ich übertreibe also. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten! Ja? Dann beantworte mir jetzt mal ganz ehrlich eine Frage: Wie kommt es, daß dein Zeugnis besser ist als meines?“
„Herrgott, Ursel! Als wenn das nicht ganz gleichgültig wäre, ob man …“
„Für dich vielleicht, aber für mich nicht. Mir ist es ganz und gar nicht gleichgültig, wenn ich ungerecht behandelt werde. Ich weiß genau, daß ich mindestens soviel gelernt habe wie du. Nein, noch viel mehr. Und trotzdem … bin ich etwa dümmer als du?“
„Bestimmt nicht!“ sagte Bettina prompt.
„Na also. Trotzdem hast du das bessere Zeugnis bekommen. Also warum? Ja, guck mich nur so an mit deinem Unschuldsblick. Bei mir zieht der nicht. Damit hast du die Lehrer eingewickelt, aber …“
Jetzt riß Bettina die Geduld. „Ursel!“ sagte sie aufgebracht. „Wie kannst du so etwas behaupten. Das geht nun wirklich zu weit. Noch nie habe ich versucht, mich irgendwo lieb Kind zu machen … noch nie!“
„Aber du bist es eben. Von Natur aus. Ich mache dir auch gar keinen Vorwurf. Ich sage dir nur klipp und klar. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich halte das einfach nicht mehr aus. Immer und immer nur in deinem Schatten zu stehen. So, und nun weißt du Bescheid. Verschwinde und laß mich gefälligst in Ruh!“
„Willst du etwa hier bleiben?“ fragte Bettina. „Was versprichst du dir davon?“
„Hier habe ich wenigstens meine Ruhe. Niemand kann mich hier demütigen. Weiter will ich ja schon gar nichts mehr.“
„Du wirst dir dein Kleid schmutzig machen, Ursel.“
„Das ist mir egal!“ behauptete Ursel, aber dennoch blickte sie unwillkürlich besorgt an dem Rock ihres braunen kurzen Kleides hinunter.
„Du siehst so süß heute abend aus, wirklich! Bitte, bitte, komm doch mit zurück! Ohne dich ist es einfach langweilig!“
„Für dich etwa? Daß ich nicht lache! Du amüsierst dich prächtig, auch ohne mich.“
„Aber ich will mich nicht amüsieren, ohne daß du dabei bist, Ursel! Begreifst du das denn nicht? Glaubst du wirklich, ich könnte vergnügt sein … lachen und tanzen, wenn ich weiß, daß du hier in diesem stickigen Kämmerchen hockst? Für wie kalt hältst du mich eigentlich? Komm mit!“ bat Bettina noch einmal.
Ursel schüttelte den Kopf. „Nein! Ich habe genug.“
Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Bettina sah den Trotz um Ursels Lippen, sah ihre verdüsterte Stirn und wußte, daß die Schwester sich zu sehr verbissen hatte, um von sich aus noch zurückzukönnen.
„Glaubst du“, fragte Bettina ruhig, „wenn du heute abend allein gekommen wärst, glaubst du, daß es dann besser gewesen wäre?“
„Was fragst du mich? Bin ich schon einmal ohne dich irgendwo gewesen? Kannst du dich an irgendeine Gelegenheit erinnern? Na, siehst du. Nie. Selbst im Kindergarten waren wir immer zusammen. Woher soll ich dann wissen, ob …“
Bettina schnitt ihrer Schwester das Wort ab. „Na schön. Dann probiere es aus. Ich gebe dir die Gelegenheit dazu. Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Du? Aber warum? Du brauchst doch nicht …“
Ehe Ursel ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war Bettina auf den Flur zurückgegangen und lief mit raschen Schritten zur Garderobe. Sie ließ sich ihren Mantel geben und verließ dann fluchtartig die Schule. Sie wollte nicht, daß Ursel sie einholte, sie wollte mit ihren Gedanken allein sein.
Als Bettina nach Hause kam, sah sie, daß im Wohnzimmer noch Licht brannte. Ein heller Strahl fiel durch die Spalte des nicht völlig geschlossenen Vorhanges in den Garten hinaus. Die Mutter war noch wach.
Ganz leise und vorsichtig schloß Bettina die Haustür auf, schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, bei jedem Schritt ängstlich lauschend. Aber nichts rührte sich im Haus. Aufatmend öffnete sie die Tür des niedrigen, geräumigen Zimmers im Dachgeschoß, das sie mit der Schwester zusammen bewohnte. Rasch zog sie sich im Dunkeln aus, schlüpfte unter die Bettdecke. Sie war froh und erleichtert, daß die Mutter nichts von ihrem frühen Heimkommen gemerkt hatte.
Ursel war eifersüchtig auf sie, so viel stand fest. Aber warum nur? Weil ihr Zeugnis ein wenig besser ausgefallen war als das der Schwester? Weil mehr Jungen sie zum Tanz aufgefordert hatten als Ursel? Was bedeutete das schon? Nichts. Gar nichts. Unter all den Jungen war keiner, für den sich Bettina wirklich interessierte. Sie wußte, daß das bei Ursel genausowenig der Fall war. Sie waren ja alle gleichaltrig, die meisten kannten sie von klein auf. War es nicht völlig gleichgültig, ob diese Jünglinge einen nett oder weniger nett fanden?
Warum war Ursel so verzweifelt gewesen? Bettina verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Problem zu lösen. Es gelang ihr nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, daß der Fehler bei ihr liegen mußte. Aber sie begriff nicht, was sie wirklich falsch machte. Sie wußte nur, daß sie Ursel von Herzen lieb hatte, und dennoch hatte aus der Stimme der Schwester beinahe Haß geklungen.
Bettina schauderte zusammen, als sie daran dachte. Wenn sie nur einen Menschen gehabt hätte, mit dem sie darüber sprechen konnte. Aber es gab niemanden. Ihr Bruder Bernd war ein Flegel und hatte bestimmt kein Verständnis für ihre Probleme. Heiner war noch viel zu klein. Und die Mutter? Plötzlich wurde Bettina klar, daß die Mutter, solange sie denken konnte, immer auf Ursels Seite gestanden hatte.
Der Vater, ja, der Vater war immer gerecht gewesen. Ob er sie lieb hatte? Wenigstens er?
Bettina konnte diese Frage nicht beantworten. Sie fühlte sich einsam, fast ausgestoßen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie übermüdet war, noch immer aufgeregt durch den Streit, verletzt durch Ursels Vorwürfe. Sie versuchte sich einzureden, daß jetzt in der Nacht alle Dinge anders und verzerrt aussahen. Aber dennoch krampfte sich ihr Herz zusammen vor Traurigkeit. Es war ihr, als wenn eine Zentnerlast auf ihre Brust drückte.
Bettina lag noch wach, als die Zimmertür vorsichtig geöffnet wurde und Ursel hereinhuschte. Auch sie zog sich aus, ohne Licht anzuknipsen. „Bettina“, rief sie leise, „schläfst du schon?“
Bettina schwieg. Sie hörte, wie Ursel sich auf nackten Sohlen ihrem Bett näherte, schloß die Augen.
Sie spürte den Atem der Schwester an ihrer Wange. „Bist du mir noch böse?“ fragte Ursel. „Du schläfst ja noch nicht. Ich weiß, daß du noch nicht schläfst! Bitte, sag doch ein Wort!“
Bettina öffnete die Augen nicht. Sie bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen, wie eine Schlafende. Ganz nahe an ihrem Ohr hörte sie die Stimme ihrer Schwester: „Bettina, ich war gräßlich zu dir! Es tut mir wirklich leid!“
Bettina hob die Arme, legte sie im Dunkeln zart um Ursels Hals, küßte die Schwester zärtlich auf beide Wangen. „Wir wollen uns nicht mehr zanken, Ursel, ja?“ bat sie. „Es ist so dumm, und es tut so weh!“