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Fast eine Katastrophe

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Das wurde eine schlimme Woche für Klaudia. Durch ihr Bekenntnis zu Ben Simon hatte sie sich von ihren Freunden und Freundinnen isoliert. Man sprach jetzt in jeder Pause über die bevorstehende Party bei Heide, und Klaudia wurde das Herz schwer, weil sie sich selber ausgeschlossen hatte.

Wenn sie trotzdem einmal einen Rat gab oder einen Vorschlag machte, bekam sie zu hören: „Halt du dich raus. Du kommst ja doch nicht. Also was geht’s dich an?“

Aber auch wenn Klaudia ihre Absage hätte rückgängig machen können, sie hätte es nicht getan, denn Ben Simon ging ihr über alles. Sie fühlte sich sogar innerlich erhoben, weil sie ihm dieses Opfer bringen konnte. Gerne hätte sie mehr, viel mehr für ihn getan.

Ben Simon galten ihre letzten Gedanken, wenn sie abends schlafen ging, und Ben Simon fiel ihr ein, wenn sie morgens aufwachte. Sie mußte sich Sehr zusammennehmen, um wenigstens im Schulunterricht nicht dauernd an ihn zu denken. Ben Simon verfolgte sie bis in ihre Träume.

Am Samstagnachmittag saß sie – schon in Erwartung, in wenigen Stunden ihr Idol zu sehen – gemütlich mit ihren Eltern und ihrer zehnjährigen Schwester Sylvie, die noch die Volksschule besuchte, im Garten des Arzthauses bei Kaffee und Kuchen. Da fragte Dr. May: „Klaudia … Sylvie! Wer von euch beiden bringt mir wohl ganz rasch das Fernsehprogramm?“

Die Schwestern sprangen gleichzeitig auf und rannten um die Wette ins Haus – Klaudia hatte die längeren Beine, aber Sylvie war die Sportlichere von beiden. Im gleichen Augenblick griffen beide nach der Programmzeitschrift, die auf dem Fernseher lag – und in schöner Eintracht zogen beide die Hand wieder zurück.

„Wir wollen sie doch nicht zerreißen“, sagte Sylvie.

„Sehr wahr gesprochen“, stimmte Klaudia zu, „knobeln wir lieber.“

„Ach was, wir können die Zeitschrift doch genauso gut gemeinsam Vati bringen … jeder hält einen Zipfel!“

„Ein bißchen albern, Kleine“, sagte Klaudia gönnerhaft, „aber … na ja … ich will keine Spaßverderberin sein!“

Sie probierten ein bißchen herum, dann kamen sie überein, die Zeitschrift auf den flach ausgestreckten Händen in den Garten hinauszutragen, und so knieten sie vor ihren Vater nieder wie zwei diensteifrige kleine Pagen.

„Brav gemacht“, lobte Dr. May.

Er nahm ihnen die Zeitschrift ab und schlug sie auf. „Also, was hätten wir denn da? Sehr gut, ein richtiges Familienprogramm … ‚Don Carlos’ von Schiller, übertragen aus dem Residenztheater München! Was sagst du, Mariechen? Da können die Mädchen doch mitsehn.“

Seine Frau lächelte. „Weil heute Samstag ist.“

Klaudia hatte sich langsam erhoben; sie traute ihren Ohren nicht. „Das kann doch nicht euer Ernst sein“, sagte sie tonlos.

Dr. May blickte von der Zeitschrift auf. „He, was ist los mit dir? Du machst ja ein Gesicht, als wäre dir die Petersilie verhagelt.“

Klaudia holte tief Atem. „Vati, bitte … müssen wir denn ‚Don Carlos’ sehen?“

„Müssen? Nein, davon kann gar keine Rede sein. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du zu Bett gehst.“

„Aber ich will nicht … ich will …“ Klaudia kämpfte darrum, ihre Stimme in der Gewalt zu halten.

„Sie möchte lieber Ben Simon sehen!“ platzte Sylvie heraus.

„Ben Simon? Wer ist denn das?“

„Aber, Klaus“, sagte seine Frau, „nun tu doch nicht so! Ich weiß, du interessierst dich nicht für Schlager und so etwas. Aber Ben Simon müßtest du doch kennen. Wenigstens dem Namen nach. Er ist ein neuer Stern am deutschen Schlagerhimmel.“

„Aha! So ein junger Heuler!“

Klaudia legte den Arm um die Schultern ihres Vaters und schmiegte sich an ihn. „Er ist kein Heuler, Vati, ganz bestimmt nicht! Er singt wunderbar. Hör ihn dir nur einmal an … ich bin ganz sicher, er wird dir gefallen!“

„Er singt ‚If I don’t love you so much’ und ‚Werd’ ich dir jemals begegnen‘“, fügte Sylvie hinzu.

„Na, das klingt ja umwerfend“, sagte Dr. May.

„Bitte, Vati, laß uns die Schlagerparade sehen, ja?“ schmeichelte Klaudia.

„Ich bin wirklich kein Haustyrann …“

„Hurra! Hurra! Vati ist einverstanden!“ schrie Sylvie begeistert dazwischen.

Er streckte die Hand aus und zog sie zu sich. „Im Ernst, Sylvie, liegt dir auch so viel daran, diesen Burschen zu sehen?“

Sylvie wußte nicht sogleich eine Antwort.

„Denk jetzt einmal nicht an Klaudia, denk nur an dich: Welches Programm würdest du vorziehen?“

„Ich …“ Sylvie warf Klaudia einen abbittenden Blick zu. „Ich würde mich der Mehrheit anschließen.“

„Sehr brav. Und da unsere liebe Mutti sich bestimmt auch nicht für einen jungen Heuler entscheiden würde … oder irre ich mich da, Marie?“

Frau May schüttelte lächelnd den Kopf.

„Ist das Problem also gelöst. Wir sehen uns ‚Don Carlos’ an.“

Klaudia war ganz blaß geworden. „Das könnt ihr mir doch nicht antun!“

„Komm, komm, Klaudia“, mahnte die Mutter, „nun mach kein Drama daraus!“

„Aber versteht ihr denn nicht!?“ rief Klaudia und stampfte mit dem Fuß auf. „Es ist für mich ein Drama … ach was, viel schlimmer … eine wahre Tragödie! Die ganze Woche habe ich mich auf Ben Simon gefreut … eine Einladung zu einer Party habe ich seinetwegen ausgeschlagen! Und nun macht ihr mir alles kaputt mit eurem blöden ‚Don Carlos’!“

Dr. Mays Gesicht verdüsterte sich. „Das geht nun doch entschieden zu weit, Klaudia! Du wirst unverschämt!“

„Das wollte ich nicht, bitte, verzeih mir, Vati … ach, versuch doch zu begreifen, daß es lebenswichtig für mich ist, Ben Simon zu sehen!“

„Tut mir leid, ich begreife es nicht.“ Dr. May schlug die Programmzeitschrift zu und knallte sie auf den Kaffeetisch. „Ich finde dein Verhalten einfach hirnrissig. Wie kannst du eine gehaltlose Schlagersendung einem großartigen Theaterstück vorziehen?“

„Aber es geht mir doch gar nicht um die Schlager, Vati … es geht mir um Ben Simon!“

„Was ist denn dein Ben Simon anders als ein Interpret geistloser Schnulzen?! Ja, ja, zugegeben, ich habe diesen Burschen bisher weder gesehen und gehört, aber ich weiß genug über das Niveau des Schlagers von heute, um da mitreden zu können. Ich bin enttäuscht von dir, tief enttäuscht, Klaudia. Wenn du schon ein Idol brauchst, hätte ich von dir erwartet, daß du einen bedeutenden Mann wählen würdest … einen Erfinder, Gelehrten, wirklichen Künstler, kurzum einen Mann von Geist und keine hirnlose Nulpe.“

„Du bist enttäuscht von mir, das tut mir leid“, erwiderte Klaudia eisig, „aber du ahnst ja nicht, wie enttäuscht ich von dir bin, Vater! Ich habe immer geglaubt, du hättest Verständnis für mich, und jetzt, wo ich dich zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft um etwas bitte, da schaltest du einfach auf stur. Du gibst Urteile über einen Menschen ab, von dem du bis heute nicht einmal den Namen gehört hast. Wenn du nur ein bißchen Vertrauen in mich hättest, so würdest du dir sagen: An dem jungen Mann muß doch etwas dran sein, sonst könnte er meiner Tochter nicht so gefallen!“

„Mein liebes Kind, du benimmst dich wirklich nicht so, daß man auf deinen Geschmack bauen möchte.“

Klaudia versuchte es noch einmal:

„Ach, Vati, bitte, bitte, sieh ihn dir doch nur ein einziges Mal an!“

„Genug, Klaudia“, mischte sich die Mutter ein, „die Ent-Scheidung ist gefallen, und damit basta. Du verdirbst uns noch den ganzen schönen Samstagnachmittag mit deinem dummen Theater. Wie wäre es, wenn wir das Krokett aufstellen?“

„Au ja, fein!“ rief Sylvie und puffte die Schwester aufmunternd mit dem Ellbogen an.

Aber Klaudia warf den Kopf in den Nacken. „Auf mich müßt ihr diesmal verzichten.“

„Das wird uns leichter fallen, als du glaubst“, parierte ihr Vater, „verschwinde auf dein Zimmer und laß dich erst wieder blicken, wenn du zur Vernunft gekommen bist!“

Klaudia hatte eine rasche Antwort schon auf der Zunge, aber dann hielt sie es doch für besser, den Vater nicht noch mehr zu reizen. Sie drehte sich nur stumm auf dem Absatz um und ging ins Haus zurück.

Erst als sie ihr kleines Zimmer hoch unter dem Dach erreicht hatte, kamen die Tränen. Sie warf sich quer über ihre Bettcouch und weinte bitterlich.

Natürlich war sie wütend, weil niemand in der Familie Verständnis für sie zeigte. Aber tiefer noch saß ihre Enttäuschung darüber, daß sie ihren geliebten Ben Simon nun nicht sehen durfte. Sie hätte ihrem Vater sofort alles verziehen, wenn er nur jetzt nachträglich seinen Entschluß noch geändert hätte. Aber sie kannte ihn zu gut; sie wußte, er würde das nie und nimmer tun. Sie mußte sich heute abend die Übertragung aus dem Residenztheater ansehen oder ganz auf das Fernsehen verzichten. Das war schrecklich.

Vom Garten her tönten die fröhlichen Stimmen von Vater, Mutter und Schwester Sylvie herauf, das Klacken der Schläger gegen die Holzkugeln, und Klaudia, einsam und allein in ihrem Zimmer, fühlte sich unendlich verlassen.

Sie hatte nur den einen Trost: Ben Simon.

Während ihr noch die Tränen über die Wangen strömten, begann ein bunter Traum sie von der bösen Wirklichkeit zu erlösen. Sie träumte, wie ihre erste Begegnung mit Ben Simon ihr ganzes Leben verändern würde.

Sie sah sich, wie sie inmitten einer Schar von Fans vor ihm stand und ihn um ein Autogramm bat. Ganz kurz blickte er auf, nachdem er seinen Namen auf sein Foto geschrieben hatte – und dieser eine Blick war entscheidend. Sie lächelte ihm zärtlich zu verschwand in der Menge.

Aber von dieser Sekunde an war Ben Simon verändert. Er wandte sich an seinen Manager: „Wer war dieses zauberhafte blonde Mädchen? Laßt sie nicht gehn, um Himmels willen, haltet sie fest, ich muß sie kennenlernen!“

Der Manager rannte zum Ausgang und erreichte Klaudia gerade noch – nein, besser, er erreichte sie nicht mehr. Es war schöner, diese Suche noch hinauszuziehen.

Ben Simon bricht fast zusammen, als er erfährt, daß Klaudia verschwunden ist. Von nun an sucht er sie überall, sieht jedem blonden Mädchen ins Gesicht – aber keine, nicht eine, ist wie sie, Klaudia!

Doch dann, eines Tages – An dieser Stelle riß der Traum, denn Klaudia schlief, ohne es selber zu merken, sachte ein.

Sie wurde erst wach, als eine Hand sie sanft an der Schulter rüttelte. „Klaudia, du schläfst!“ rief die Mutter. „Am hellen Tag! Na so was!“

Klaudia drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. „Es ist ja schon dunkel.“

Die Mutter lachte. „Ja, inzwischen ist es dämmrig geworden, aber immer noch erst sieben Uhr. Bestimmt keine Zeit zu schlafen, falls man nicht zufällig ein Baby ist.“

Erst ganz allmählich fiel Klaudia wieder ein, was passiert war, und mit einem Ruck setzte sie sich auf. „Hat Vati es sich anders überlegt?“

Frau May verstand sofort. „Nein, Klaudia. Aber wir essen jetzt zu Abend. Willst du nicht herunterkommen?“

„Nein, danke.“ Schon wieder war Klaudias Stimme von Tränen umflort.

„Sei doch nicht dumm! Ich verstehe ja, daß dein Schwarm dich mehr interessiert als das Theaterstück. Aber wenn du jetzt bockst, schadest du doch nur dir selber.“

„Ich habe einfach keinen Hunger.“

Frau May setzte sich auf die Kante von Klaudias Couch. „Du hast da vorhin was von einer Party erzählt … ist dir das bloß so eingefallen, oder findet die wirklich statt?“

„Glaubst du, ich lüge? Heide hat ein paar aus unserer Klasse eingeladen. Aber ich mußte doch absagen.“ Klaudia schluckte. „Wegen Ben Simon.“

„Hör mal, warum stehst du dann jetzt nicht schnell auf, ziehst dich an und gehst doch noch hin? Da du deinen Ben Simon nicht sehen kannst, wäre es schön dumm, zu Hause herumzuhängen.“

„Keine Lust.“

„Was willst du denn?“

„Einen eigenen Fernseher.“

Frau May lachte. „Den kriegst du bei uns bestimmt nicht, bevor du erwachsen bist und selber Geld verdienst. Komm, steh auf. Diese Party wäre doch ein guter Anlaß, dein neues Maxi-Kleid anzuziehen. Findest du nicht?“

„Doch … schon …“

„Na also.“ Frau May ging zur Tür und knipste das Licht an. „Ich werde dich bei Vati entschuldigen. Aber sieh zu, daß du fortkommst … wie lange soll das Ganze denn dauern?“

„Weiß nicht.“

„Auf jeden Fall erwarten wir dich Punkt zehn zu Hause. Keine Minute später, hörst du? Sonst wirst du nicht so bald abends wieder fort dürfen.“

„Ja, Mutti.“

„Nun freu dich doch ein bißchen!“

Klaudia verzog den Mund. „Worauf? Etwa auf die Jungen aus meiner Klasse? Die interessieren mich doch keinen Fitz!“

„Das war aber einmal ganz anders.“

„Du sagst es. Aber der Mensch wird eben unaufhaltsam älter und reifer.“

Frau May lachte und ließ ihre Tochter allein.

Klaudia holte ihr Schminktäschchen hinter den Büchern hervor, wo sie es vorsorglich verborgen hielt. Sie setzte sich vor ihren kleinen Toilettenspiegel, klappte ihn schräg und blickte sich lange an. Ja, sie war hübsch, daran war kein Zweifel. Ihre leicht gebräunte Haut war glatt, ohne Mitesser und Pickel, die blauen Augen hatten Glanz, der Mund war gut geschnitten, nicht zu schmal und nicht zu üppig, und das blonde Haar, das sie alle paar Tage zu waschen pflegte, fiel weich und locker auf ihre Schultern.

Sie war hübsch, aber was nutzte es ihr, wenn der einzige, dem sie gefallen wollte, sie nie zu sehen bekommen würde? Nie würde Ben Simon in der Kleinstadt Rosenberg auftreten, und genauso wenig durfte sie ja in die nächste Großstadt fahren und eines seiner Konzerte besuchen. Jedenfalls nicht, bevor sie grau und schimmelig geworden war.

Klaudia zog sich ihr Kleid über den Kopf, warf es achtlos auf den nächsten Sessel und begann sich Lidschatten aufzulegen. Sie machte das sorgfältig und geschickt, doch ohne Lust und Liebe. Was hatte es schon für einen Sinn, wenn sie höchstens Heide damit ärgern konnte?

Sie zog sich gerade ihr Festkleid an, das sie sich aus dunkelrotem Seidenstoff selbst genäht hatte, als Sylvie in das Zimmer stürmte.

„Du gehst fort? Ich dachte, du wolltest die Schlagerparade sehn!“

„Du bist gut! Verrat mir mal, wie und wo!“

„Hier bei uns. Vati ist zu einem Patienten gerufen worden, und Mutti begleitet ihn.“

Vor Freude machte Klaudia einen kleinen Luftsprung, aber gleich darauf kamen ihr wieder Bedenken. „Fragt sich bloß, wie lange sie wegbleiben.“

„Lange genug. Sie haben mir gesagt, daß ich nicht auf sie warten, sondern Türen und Fenster schließen und zu Bett gehen soll.“

„Oh, Sylvie! Das ist zu schön, um wahr zu sein!“

„Du gehst also nicht weg?“

„Wie könnte ich denn, wenn Ben Simon gleich ins Haus kommt! Sylvie, du ahnst ja nicht, wie glücklich ich bin.“

„Dann zieh dich um und komm runter.“

„Umziehen? Wozu? Nein, ich bleibe so, damit Ben mich auch mal in meiner ganzen Pracht sehen kann.“

Sylvie seufzte leicht. „Du bist ja noch verrückter, als ich gedacht hatte!“

Wenig später sahen die Schwestern zusammen die Tagesschau, wobei Klaudia, die inzwischen doch Hunger bekommen hatte, ein Stück Kuchen vom Nachmittag und ein belegtes Brot aß. Noch bevor die Wetterkarte gezeigt wurde, schalteten sie auf das Zweite Deutsche Fernsehen um und kamen gerade rechtzeitig für die Schlagerparade. Sie schwatzten und lachten, während das Programm ablief. Klaudia mochte nicht zugeben, wie sehr ihr Herz vor Erwartung pochte.

Aber dann, als Ben Simon auftrat, befahl sie in verändertem Ton: „Sei still, Sylvie! Jetzt kein Wort mehr!“

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich zurück und hatte nur noch Augen für den schlanken jungen Mann mit den großen dunklen Augen und dem lockigen schwarzen Haar, der in seinen eng anliegenden Hosen und dem Wams aus Goldbrokat wie ein junger Romeo wirkte. Seine Stimme, rauh und nicht sehr stark, aber von großer Musikalität, schlug Klaudia in ihren Bann. In diesen Minuten, während sie ihn mit den Augen und Ohren verschlang, war sie wunschlos glücklich.

Sylvie riß sie aus ihrer Seligkeit. „Du, der hat sich falsche Wimpern angepappt!“

„Ach was!“

„Bestimmt! Sieh doch mal genau hin …“

„Sei still!“ zischte Klaudia.

„Werd ich dir jemals begegnen …“, sang Ben Simon, und Klaudia hatte das Gefühl, daß sie es war, die er dabei so eindringlich anblickte, daß sie es war, nach der er sich sehnte.

„Und ’ne Dauerwelle hat er auch“, behauptete Sylvie.

„Bist du ruhig!“

Sylvie maulte: „Man wird doch wohl noch was sagen dürfen!“

„Nicht jetzt! Oder ich bring dich um!“

Diese Drohung wirkte. Sylvie schwieg, bis Ben Simon von Peggy March auf dem Bildschirm abgelöst wurde.

Dann aber erklärte sie: „Also geschminkt ist er ganz bestimmt! Das hat doch ein Blinder aus zehn Meter Entfernung gesehen!“

Mühsam fand Klaudia wieder in die Wirklichkeit zurück. „Sind sie doch alle für Television!“

„Na ja, kann schon sein“, gab Sylvie zu, „aber woher weißt du dann, wie er in Wirklichkeit aussieht? Wenn er abgewaschen ist, meine ich.“

„Bestimmt noch viel schöner.“

„Wie kommst du darauf?“ fragte Sylvie erstaunt.

„Weil ich es fühle.“

„Kannst du wirklich fühlen, wie jemand aussieht? Ich nicht.“

„Du natürlich nicht, weil du noch ein Baby bist. Er ist wundervoll, glaub mir! Wie gerne würde ich ihm schreiben!“

„So tu’s doch. Seine Adresse kannst du doch bestimmt leicht herauskriegen.“

„Die habe ich. München, Arabellahaus.“

„Auf was wartest du dann noch?“

Klaudia griff neben sich und hob ein Glas mit Limonade vom Boden. „Ich muß mir erst noch ganz genau überlegen, was ich ihm schreibe.“ Sie sog durch den Kunststoffhalm.

„Mach’s nicht so feierlich. Schreib ihm irgend was. Daß du ihn bewunderst, daß du ein Autogramm von ihm möchtest …“

„Solche Briefe“, sagte Klaudia ohne die Augen vom Bildschirm zu lassen, „kriegt er doch jeden Tag. Nein, ich muß mir etwas Besonderes ausdenken.“

„Schick ihm ein Foto von dir“, riet Sylvie.

„Quatsch“, sagte Klaudia spontan.

„Gar nicht“, widersprach die kleine Schwester, „dann weiß er wenigstens schon mal, wie du aussiehst.“

Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel Klaudia diese Idee; aber sie wollte es nicht zugeben, und so sagte sie lieber gar nichts.

„Du kannst ihm natürlich auch gleich eine regelrechte Liebeserklärung machen“, schlug Sylvie vor.

Klaudia warf ihr nur einen Seitenblick zu. „Vielleicht bin ich komisch“, sagte sie, „aber so komisch, daß du dich über mich lustig machen dürftest, bestimmt nicht.“

„Das wollte ich doch gar nicht!“ behauptete Sylvie, konnte aber ein Kichern nicht unterdrücken. „Bestimmt nicht …“

In diesem Augenblick kam die Absage der Sendung. Klaudia stand auf und stellte den Apparat ab. „Das wär’s für heute“, erklärte sie von oben herab, „räumen wir auf und gehn wir schlafen.“

„Schon? Es ist doch noch gar nicht spät.“

„Für dich schon. Und ich habe noch etwas zu erledigen.“

Sie schob, mit Sylvies Hilfe, die Sessel wieder zurecht, zog den Teppich gerade, pustete die Krümel vom Tisch, brachte Gläser und Teller in die Küche und stellte sie in die Spülmaschine. Dabei hörte sie nicht mehr auf das Geplauder ihrer Schwester, sondern war im Geist schon ganz damit beschäftigt, den längst fälligen Verehrerbrief an Ben Simon zu schreiben.

Aber erst während sie mit wiegenden Hüften vor Sylvie her die Treppe hinaufging, kam ihr die Erleuchtung: Sie wollte Ben Simon vorschlagen, daß sie hier in Rosenberg einen Fan-Klub für ihn gründen wollte. Darauf mußte er doch eingehen.

Rasch zog sie sich um.

Jetzt, da sie wußte, was sie schreiben sollte, ging es ganz einfach; sie brauchte den Brief nicht einmal erst aufzusetzen.

„Lieber verehrter Ben Simon“, schrieb sie, „sicher bekommen Sie so viele Briefe von Ihren Fans, daß ich gar nicht zu betonen brauche, wie sehr ich Sie bewundere. Heute habe ich Sie in der ‚Schlagerparade’ gesehen und war ganz weg. Sie sind der Größte! Sicher denken und fühlen viele Mädchen …“ Nach einigem Zögern fügte sie hinzu: „… und auch Jungen hier in Rosenberg genau so wie ich. Deshalb möchte ich gerne einen Ben-Simon-Fan-Klub gründen, falls es hier nicht schon einen gibt. Aber das müßte ich eigentlich wissen, denn ich interessiere mich schon ziemlich lange für Sie. Bitte, schreiben Sie, ob Sie damit einverstanden sind. Damit Sie wissen, wie ich aussehe, lege ich ein Foto von mir bei. Es ist in unserem Garten aufgenommen, und ich blinzle darauf, weil mich die Sonne blendet. In Wirklichkeit habe ich ziemlich große blaue Augen. Jetzt wartet auf Ihre Nachricht …“

Nun brauchte sie nur noch einen Abschluß. Aber was sollte sie schreiben? „Hochachtungsvoll“ klang zu steif und „herzlichst“ zu familiär. Schließlich entschied sie sich, beides zu verbinden.

Hochachtungsvoll und herzlichst

Ihre Klaudia May, 13 Jahre.“

Sie las den Brief noch einmal durch, verbesserte Flüchtigkeitsfehler und setzte zwei Kommas ein, die sie vergessen hatte. Dann steckte sie das Schreiben in einen Umschlag und adressierte ihn.

Ihre Eltern waren noch nicht nach Hause gekommen.

Sie lief in die Küche, holte sich eine Briefmarke aus der Porzellandose, in der die Mutter Kleingeld und Marken aufzubewahren pflegte, nahm den Hausschlüssel und rannte zum nächsten Briefkasten.

Wenn sie den Brief jetzt nicht gleich einwarf, würde sie vielleicht nicht mehr den Mut dazu finden. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß die Dinge morgens manchmal anders aussahen als am Abend zuvor.

Als der Brief in den Kasten plumpste, atmete sie tief durch. Sie hatte den ersten Schritt getan. Jetzt mußte das Schicksal sprechen.

Klaudias großer Schwarm

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