Читать книгу Krach im Ferienlager - Marie Louise Fischer - Страница 5
Wir wollen eine Demokratie!
ОглавлениеDiesen Mittag gab es nur eine sehr dünne Suppe, da erst die Hälfte der Kartoffeln geschält worden war, und daß es überhaupt etwas zu essen gab, war nur dem uneigennützigen Pflichteifer Liebknecht Müllers zu verdanken. Die Stimmung im Lager war gedrückt, wenn möglich noch gedrückter als am Morgen, denn selbst die Freiheitsdurstigsten waren sich darüber klar, daß dieser unverhoffte Sieg keineswegs ein Schritt voran bedeutete, sondern daß man nur eben wieder dahin gekommen war, wo man vor gut einer Woche angefangen hatte.
Hans und seine vier Trabanten nahmen am Mittagessen nicht teil. Sie hatten fast eine Stunde damit zu tun, ihr Zelt zu flicken und wieder aufzurichten, dann begaben sie sich ins Dorf und besorgten sich Kuchen beim Bäcker, und anschließend gingen sie an den See.
Hans war sehr schweigsam. Er grollte. Seine Trabanten respektierten diesen Gemütszustand und belästigten ihn weder mit Fragen noch mit unerwünschten Ratschlägen. Bis es kühl wurde, aalten sie sich in der Sonne, dann trabten sie ins Lager zurück.
Ohne links und rechts zu schauen, erreichten sie ihr Zelt. Hans holte die Stahlkassette aus ihrem Versteck und begann, die Lagerkasse zu zählen.
Bei dieser Beschäftigung war er noch, als Helmuth mit einem munteren ›Guten Abend zusammen!« ins Zelt geschlüpft kam.
Niemand antwortete ihm.
»Ich störe doch nicht?« fragte er, scheinbar arglos.
Wieder bekam er keine Antwort.
»Ich wollte dir nur einen Vorschlag machen, Hans!«
Hans brummte etwas Unverständliches, und Helmuth nahm es als eine Aufforderung, Platz zu nehmen.
»Na, wie stehen die Finanzen?« fragte er. »Reicht’s noch für die nächsten fünf Wochen?«
Hans warf das weiche braune Haar aus der Stirn und sah Helmuth an. »Ich bin dabei, die Kasse aufzuteilen«, sagte er.
»Wieso!«
»Jeder bekommt seinen Anteil ausbezahlt, und damit hat sich’s!«
»Hm«, meinte Helmuth, »gar nicht so dumm, nur …«
»S-s-soll ich d-d-dies-s-ses B-leichgesicht«, stotterte Eberhard Brecht, der zu seinem Leidwesen mit einem Sprachfehler behaftet war und aus diesem Grunde niemals dazu kam, einen Satz zu Ende zu sprechen.
»… rauswerfen?« ergänzte auch diesmal Günther Furnickel.
»Laßt nur!« wehrte Hans ab.
Helmuth hatte sich mit untergeschlagenen Beinen niedergehockt. Jetzt nahm er seine Brille von der Nase und begann sie umständlich zu putzen. Er war ein schmächtiger, unsportlicher Junge, Klassenbester zudem, und weit mehr an wissenschaftlichen Dingen als an Fußballwettkämpfen und Raufereien interessiert. Aus diesem Grunde war er den anderen Jungen oft eine willkommene Zielscheibe für Spott und Hänseleien, was er sich mit leicht überheblicher Gutmütigkeit gefallen ließ. Daß er in Wahrheit aber durchaus nicht unbeliebt war, lag daran, daß er kein wirklicher Streber war, sich nie bei den Lehrern Liebkind zu machen suchte, jedem half und erklärte, der es wollte, und auch seine Arbeiten ohne weiteres zum Abschreiben hergab, falls es sich einrichten ließ.
»Was wolltest du sagen, Helmuth?«
»Och, nichts Besonderes … ich wollte dich nur dran erinnern, daß Sonntag in einer Woche die Eltern zu Besuch kommen!«
»Von mir aus!« Hansens blaue Augen verfinsterten sich.
»So? Was glaubst du, was passiert, wenn sie hier einen Sauhaufen vorfinden?! Wir sind bis auf die Knochen blamiert! Mit Schimpf und Schande müssen wir nach Hause, das ist sicher!«
»Na, wenn schon«, erklärte Hans trotzig.
»Möchtest du das?«
»Ich werde nicht mehr dabeisein. Meine Freunde und ich werden uns einen anderen Lagerplatz suchen … wo die Luft reiner ist!«
»Und deine Mutter?«
»Ich werde ihr schreiben … alles! Und ich glaube, sie wird’s schon verstehen!«
Helmuth hatte seine Brille wieder aufgesetzt und schaute Hans nachdenklich durch die funkelnden Gläser an. »Ich kann’s dir nicht verdenken, Hans … aber meinst du nicht, daß du auch einen Fehler gemacht hast?«
»Ich?« Hans fuhr auf. »Ich habe nur das Beste gewollt … für alle!«
»Undankbare Bande!« knurrte Klaus.
»Ihr seht das so, und ich kann’s schon verstehen«, erwiderte Helmuth, »aber … wenn du’s dir richtig überlegst, Hans … würdest du denn so einfach irgend jemandem gehorchen … nur weil er stärker ist und bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen?«
»In der Schule und zu Hause müssen alle gehorchen!«
»Das ist was ganz anderes, Hans! Die Erwachsenen sind uns eben … na, übergeordnet, möchte ich sagen! Ich könnte dir jetzt lang und breit erklären, wieso und warum …«
»Kannst du dir sparen!«
»Danke. Aber du bist den anderen gleichgestellt, das mußt du doch einsehen! Du hast dich von dir aus über die anderen gesetzt, und das konnten sie eben nicht ertragen!«
»I-d-d-dio-t-t-ten!« stotterte Eberhard.
»Jetzt will ich dir mal was sagen!« Hans warf den Kopf zurück. »Wenn du mir hier im Lager einen sagen kannst, der alles besser kann … besser organisieren, und so weiter …«
»Kann ich nicht, Hans, ist doch klar! Und grade deshalb will ich dir ja einen Vorschlag machen!«
Hans ging nicht darauf ein, er starrte Helmuth mißtrauisch an.
»Wir müssen eine Demokratie gründen«, erklärte Helmuth, als wäre das das Selbstverständlichste und Naheliegendste auf der Welt.
»Eine … was?« Karl blieb fast der Mund offen.
»Erklär das bitte näher!« forderte Hans argwöhnisch.
»Ganz einfach … eine Demokratie! Bitte, fragt mich jetzt nicht, was das ist … sonst seid ihr wahrhaftig dümmer, als die Polizei erlaubt! Demos ist griechisch und heißt Volk, und Demokratie ist die Staatsform, in der das Volk regiert!«
»Mensch, meinst du, wir sind blöd!« schrie Günther Furnickel beleidigt.
»Das wissen wir doch auch!« behauptete Klaus.
»Entschuldigt, bitte … ich dachte nur, ihr hättet es im Augenblick vergessen.«
»Du meinst also … alle sollen mitzureden haben?« fragte Hans, nicht gerade begeistert.
»Die Mehrheit soll entscheiden!«
»Mensch, hör mir auf mit der Mehrheit, die ist doch meistens dämlich! Guck dir doch bloß mal unsere Klasse an, Helmuth … das solltest du doch am besten wissen!«
»Trotzdem, Hans! Die Klügeren müssen den anderen eben immer wieder und ganz genau erklären, was geschehen muß und was geschehen kann … was sie wollen, und was ihrer Meinung nach jetzt richtig ist! Und weil sie sich immer wieder vor dem Volk rechtfertigen müssen, weil sie einfach nicht wiedergewählt werden, wenn das Volk ihnen nicht mehr traut, deshalb können sie ihre Macht in einer Demokratie auch nicht mißbrauchen. Darin liegt der Witz! In einer Demokratie kann ja auch nicht einfach eine Gruppe von Leuten oder ein einzelner Mann die Macht an sich reißen … wie du es getan hast, Hans … sondern die Macht muß ihnen von der Mehrheit des Volkes gegeben werden.«
»Na schön«, sagte Hans, »aber ich sehe nicht ein …«
»Jetzt hör aber auf! Über den Wert einer Demokratie brauchen wir uns doch wirklich nicht zu streiten! Nicht nur in Deutschland haben wir eine Demokratie … in allen freien Ländern der Erde überhaupt! Glaubst du, was für die gut ist, sollte für unser lachhaftes Zeltlager nicht richtig sein?«
Hans war jetzt sichtlich beeindruckt. »Von mir aus«, sagte er nach einer nachdenklichen Pause, »aber wie stellst du dir das praktisch vor? Die Lagerdemokratie, meine ich.«
»Anfangen müssen wir natürlich mit Wahlen, mit freien und geheimen Wahlen … wie in der Bundesrepublik! Überhaupt brauchen wir ja alles nur einfach so zu machen, wie es im großen auch gemacht wird! Wir bilden ein Parlament oder einen Bundestag, wie wir es nennen wollen … die stärkste Partei übernimmt die Regierung …«
»Wir haben doch gar keine Parteien!«
»Nicht? Ich meine doch! In den Ansätzen sind sie jedenfalls da … sie müssen nur noch regulär gebildet werden, das ist alles! Du zum Beispiel hast doch trotz allem immer noch eine starke Partei hinter dir, Hans …«
»Meinst du?«
»Aber bestimmt! Wenn du dich ordentlich ranhältst … Wahlreden und so weiter … dann gewinnst du den Wahlkampf todsicher! Dann wirst du Bundeskanzler … oder Lagerkanzler … den Namen müssen wir uns noch überlegen … und dann bist du an der Macht, aber richtig! Von der Mehrheit des Volkes gewählt, verstehst du? Eine ganz große Sache!«
Hans hatte heiße Wangen bekommen, seine blauen Augen strahlten. »Du, das leuchtet mir ein!« rief er. »Bloß … praktisch! Ich weiß nicht, wie das alles praktisch geht. Du sagst, wir machen das einfach so wie in der Bundesrepublik, aber wie das da geht, davon habe ich nicht viel Ahnung … und die anderen bestimmt auch nicht!«
»Deshalb mach dir man keine Sorgen! Da braucht ihr euch doch nur an meine Wenigkeit zu halten, ich hab’ mich nämlich spaßeshalber mit diesen Dingen befaßt …«
»Tatsächlich?«
»Kunststück! Mein Vater ist doch Abgeordneter, da schnappt man eben ’ne Menge auf … und du weißt doch, ich gehe den Dingen immer gerne ein bißchen auf den Grund!« erklärte Helmuth, nicht ohne Selbstgefälligkeit.
Hans war mit seinen Gedanken wieder woanders. »Und du meinst … ich kann durchkommen? Als Lagerkanzler?«
»Na klar! Wenn es dich beruhigt …, ich melde mich hiermit als erstes Mitglied deiner Partei!«
Hans sah Helmuth ein wenig mißtrauisch an. »Na, grade du … du warst bisher doch immer so eine Art …«
»… faules Ei!« ergänzte Karl rasch, duckte sich aber gleich darauf unter dem strafenden Blick von Hans.
»Richtig«, gab Helmuth unumwunden zu, »aber das hat an dir gelegen! Weil du bisher alles andere als ein Demokrat warst, Hans!«
»Muß ich zugeben!«
»Na also! Und nun paß auf … auf eines muß ich dich natürlich aufmerksam machen! Es kann auch trotz allem schiefgehen – nicht mit der Demokratie, das nicht! Aber es ist immerhin nicht ausgeschlossen, daß du den Wahlkampf nicht gewinnst, verstehst du? Daß du in die Opposition gehen mußt! Du mußt mir jetzt versprechen, daß du dich auch dann nicht drückst und dich in den Schmollwinkel zurückziehst. Das wäre ganz und gar undemokratisch, ganz abscheulich wäre das!«
»Ich habe mich noch nie gedrückt, Helmuth, das solltest du wissen!« erklärte Hans heftig. »Und wenn ich einmal etwas angefangen habe, dann führe ich es auch zu Ende – so oder so!«
»Bravo! Ich wußte es ja! Dann können wir wohl anfangen, was?«
Noch am selben Abend versammelten sich alle Lagerteilnehmer, Jungen und Mädchen, in der großen Mulde seitlich des Lagers. Hans hatte seine Trabanten herumgeschickt mit sehr höflichen Einladungen, die Helmuth ihnen einstudiert hatte, und die allgemeine Ratlosigkeit war so groß, daß jeder mit Freuden der Aufforderung zu einer Zusammenkunft Folge leistete – der augenblickliche Zustand war so völlig verworren, daß eine offene Aussprache keinesfalls eine Wendung zum Schlimmeren, höchstens zum Besseren bringen konnte.
Als alle sich niedergelassen hatten, stand als erster Helmuth auf und ergriff das Wort. »Liebe Lagergemeinschaft«, sagte er, »Hans hat euch hier zusammengerufen, um euch einen Vorschlag zu machen, den ich persönlich für ausgezeichnet halte. Ich möchte euch bitten, Hans in Ruhe anzuhören und in Ruhe aussprechen zu lassen. Ihr alle wißt, daß ein Lager nicht bestehen kann ohne eine gewisse Ordnung. Keine menschliche Gemeinschaft kann ohne Ordnung bestehen. Die Arbeiten, die getan werden müssen, müssen vernünftig eingeteilt werden, und einer muß auf den anderen Rücksicht nehmen, sonst kann man nicht von einem Lager, sondern nur von einem Sauhaufen reden. Ihr alle wißt auch, daß Sonntag in vierzehn Tagen verschiedene Eltern zu Besuch kommen, und ich nehme an, ihr seid euch alle darüber klar, was passieren wird, wenn dann hier im Lager alles drunter und drüber geht. Als wir ohne Herrn Doktor Kirst und ohne Fräulein Widemann losfuhren, haben wir alle – jeder einzelne von uns – eine gewisse Verantwortung auf uns genommen, die Verantwortung dafür, daß alles hier klappt … auch ohne Lehrer! Und ich finde, es wäre doch einfach lachhaft, wenn wir das nicht fertigbringen würden!« – Beifallsgemurmel erhob sich. – »So, und jetzt übergebe ich das Wort Hans Helbig!« Helmuth setzte sich und putzte seine Brille.
»Liebe Lagergemeinschaft«, begann Hans. »Ich möchte zuerst betonen, daß der Vorschlag, den ich euch jetzt machen will, nicht von mir stammt. Er kommt von Helmuth! Ich gebe das sofort zu, weil ihr bestimmt auch von selber draufkommen würdet!« – Es wurde wohlwollend gelacht. – »Es handelt sich um folgendes: Helmuth meint, wir sollten versuchen, eine Demokratie zu gründen. Ich für meinen Teil halte das für eine prima Idee! Ich verstehe, ehrlich gestanden, nicht sehr viel von der Sache, aber Helmuth sagt, daß er darüber Bescheid weiß. Wenn Helmuth so was sagt, wissen wir alle, daß es auch stimmt. Unsere Demokratie soll ganz ähnlich aufgebaut werden wie die Bundesrepublik, meint Helmuth. Wir sollen uns in allem die Bundesrepublik zum Beispiel nehmen. Praktisch sieht das so aus, daß wir als erstes aus unseren Reihen Kandidaten für ein Lagerparlament aufstellen wollen. In freien und geheimen Wahlen sollen dann von allen Lagerteilnehmern die Kandidaten gewählt werden, die unser Vertrauen haben. Aus dem Parlament muß dann natürlich immer eine Regierung gebildet werden, und Regierung und Parlament sollen dann zusammen Gesetze und Verordnungen aufstellen, nach denen wir uns richten wollen. Das Parlament ist und bleibt natürlich immer seinen Wählern verantwortlich, und die Regierung immer dem Parlament, so daß keiner Angst haben muß, es geschieht etwas, was er, oder besser gesagt, die Mehrheit der Lagergemeinschaft nicht billigt. Sehr wichtig ist es natürlich, daß sich von Anfang an keiner ausschließt, denn wer nicht mitmacht, ist nur nachher selber der Dumme. In einer Demokratie entscheidet immer die Mehrheit, das heißt, die Minderheit muß sich der Mehrheit fügen. Mir scheint, eine Demokratie ist die beste Regierungsform, die wir uns geben können, denn irgendeine Art von Ordnung muß ja jedenfalls sein, sonst geht es einfach nicht. Das ist der Vorschlag, den ich euch machen wollte!«
Keiner der Lagerteilnehmer außer Helmuth hatte sich bisher jemals ernsthafte Gedanken über das Wesen einer Demokratie gemacht, und niemand wäre von sich aus auf den Gedanken gekommen, die Lagergemeinschaft demokratisch aufzuziehen. So waren alle über den unerwarteten Vorschlag einigermaßen verblüfft. Zwar waren die meisten froh, daß überhaupt ein positiver Vorschlag gemacht wurde, er schien ihnen auch durchaus annehmbar, aber immerhin gab es auch einige, die vermuteten, daß dies nichts weiter als ein neuer Trick von Hans war, die Macht nicht aus den Händen zu geben. Der Beifall fiel dementsprechend lahm aus.
»Wenn ihr damit nicht einverstanden seid«, fuhr Hans kampfeslustig fort, »so kann ich euch noch einen anderen Vorschlag machen, und der stammt wirklich von mir: wir teilen das Geld aus der Lagerkasse gleichmäßig an alle auf, und jeder kann damit selig werden, wie er will! Ich für mein Teil haue dann ab. Und vielleicht ist es das, was ihr alle euch wünscht!«
Tiefe Stille herrschte. Die Jungen und Mädchen sahen sich betroffen an.
Jetzt stand Helmuth wieder auf. »Also, Freunde, ihr habt gehört, um was es sich handelt. Weder Hans noch ich haben versucht, euch die Sache besonders schmackhaft zu machen, das müßt ihr zugeben. Wir wollen euch zu nichts überreden, ihr sollt euch alles gut überlegen und dann frei entscheiden. Ich gebe euch eine Viertelstunde, um euch alles durch den Kopf gehen zu lassen und mit euren Freunden zu besprechen, und dann wird abgestimmt. Auf eines möchte ich euch aufmerksam machen: für was die Mehrheit entscheidet, das geschieht – in jedem Fall! Es hilft euch also gar nichts, euch einfach draus zu halten und nicht mitzuwählen. Wenn jemand gegen unsere Demokratie ist, dann kann ich ihm nur raten, auch seine Freunde zur Wahl dagegen zu bestimmen. Eines aber ist sicher: ein Mensch, der nur Wert auf seine persönliche Freiheit und nicht auf Ordnung legt, der ist ein Taugenichts! Ein Mensch, der nur Wert auf Ordnung und keinen auf Freiheit legt, ist ein Feigling! Wer Wert auf Ordnung und auf Freiheit legt, ist ein Demokrat!«
Die Lagerteilnehmer begannen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, es wurde heftig und anhaltend geklatscht.
»Hans und ich haben uns für die Gründung einer Demokratie ausgesprochen – wer dagegen ist, kann jetzt das Wort ergreifen und versuchen, die anderen von seiner Meinung zu überzeugen!«
Helmuth sah sich im Kreise um, aber niemand meldete sich. Sicher gab es den einen oder anderen, der gerne etwas zu diesem Thema gesagt hätte, aber niemand traute sich recht! Man hatte sich noch nicht daran gewöhnt, öffentliche Reden zu schwingen.
Helmuth schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Also, ab jetzt … eine Viertelstunde!«
»Kann ich mal was sagen?« Hertha war es, die sich ganz aus dem Hintergrund meldete.
»Klar«, rief Helmuth ihr zu, »aber besser, du kommst nach vorne, damit alle dich verstehen!«
Hertha bahnte sich durch die hockenden Jungen und Mädchen einen Weg, bis sie neben Helmuth stand.
»Hertha hat das Wort«, erklärte er formell. Er tauschte einen Blick mit Hans. Sie hatten beide nicht damit gerechnet, daß wirklich einer von der Aufforderung, zu reden, Gebrauch machen würde, und sie sahen Herthas Meinungsäußerungen mit recht gemischten Gefühlen entgegen. Hertha war, nach dem Krawall heute mittag, so ziemlich alles zuzutrauen.
Hertha räusperte sich, aber trotzdem klang ihre Stimme recht heiser, als sie begann: »Liebe Lagerfreunde, ich möchte nur sagen … ich finde, das mit der Demokratie ist eine großartige Idee! Und ich finde es prima von Hans, daß er selber uns das vorschlägt! Ich weiß, es ist euch wahrscheinlich ganz wurscht, was ich davon denke, aber ich mußte mich einfach zu Wort melden, ich mußte sagen, wie gut ich diesen Vorschlag finde. Genauso, meine ich, müßten wir unsere Lagergemeinschaft aufbauen! Das ist richtig und vernünftig und gerecht, und darauf kommt es doch an!«
Hertha hatte sich immer mehr freigesprochen, ihre Stimme war ganz klar geworden, und sie erntete, gegen ihr eigenes Erwarten, großen Beifall.
»Abstimmen! Wir wollen abstimmen!« riefen einige, aber Helmuth hielt eisern die festgesetzte Viertelstunde ein.
»So«, sagte er dann, »nun los! Dies ist zwar eine öffentliche Abstimmung, aber bitte, stört euch nicht dran! Die Wahl zum Lagerparlament wird geheim sein, geheim, gleich, allgemein, unmittelbar und frei, wie es im Wahlgesetz für die Bundesrepublik heißt!« Er mußte tief Luft holen und sich die Brille zurechtrücken; es war doch recht anstrengend gewesen, nichts durcheinanderzubringen.
»Wer ist dafür, daß wir unsere Lagergemeinschaft zu einer Demokratie entwickeln?« – Zahlreiche Finger gingen hoch. – »Aufstehen, bitte!« – Helmuth sah sich im Kreise um, es schien, als wenn nicht einer sitzen geblieben wäre.
»Die Gegenprobe, bitte!« forderte er laut. – Alle sahen sich an, niemand wußte so recht, wie das gemeint war. – »Diesmal sollen die aufstehen, die dagegen sind, alle anderen müssen sich wieder setzen!« erklärte Helmuth.
Die Gegenprobe fiel eindeutig aus, niemand war aufgestanden.