Читать книгу Leonore setzt sich durch - Marie Louise Fischer - Страница 6
Zwischen zwei Feuern
ОглавлениеEin paar Tage später kam Leonore zu spät zur Schule.
Das passierte ihr nicht eben selten. Zwar pflegte sie abends immer ihre Schultasche zu packen und die Kleider für den nächsten Tag zurechtzulegen, stand morgens auch stets pünktlich, eher überpünktlich auf, aber immer wieder machte ihr jemand aus ihrer großen Familie einen Strich durch die Rechnung. Mal bekleckerte Andy sich von oben bis unten und mußte in Windeseile umgezogen werden, mal brauchte einer der großen Brüder sie unbedingt, und mal hatte die Mutter noch einen dringenden Auftrag für sie.
Wenn sie dann klagte: „Aber jetzt doch nicht … Ich komme zu spät zur Schule!“ hieß es immer nur: „Ach was, du schaffst das schon noch!“
Und Leonore schaffte es auch meistens, wenn auch mit hängender Zunge und auf den letzten Drücker.
An diesem Morgen war ihrem Bruder Paul das Schnürband gerissen, und während er versuchte, es zu knoten, war Leonore davongestoben und hatte ein neues gesucht. Als sie damit ankam, war Paul das alte zum zweitenmal geknackst; er wollte es rasch aus den Ösen ziehen, aber er war so nervös, daß er damit nicht zurechtkam.
„So was Idiotisches!“ schimpfte Zwilling Peter. „Augerechnet jetzt muß dir das passieren! Du hättest doch längst merken müssen, daß das Ding morsch ist!“
„Schrei nicht rum, hilf mir lieber!“ parierte Paul.
Aber dann war es natürlich doch wieder Leonore, die einsprang. „Los, zieh den Schuh aus!“ befahl sie.
„Zieh doch einfach deine Sandalen an!“ schlug Peter vor.
„Bei dem Wetter?“ gab Paul zurück. „Es gibt Regen.“
„Ist doch egal. Hauptsache, wir kommen pünktlich.“
„Wieso wir? Tu doch nicht so, als wenn du auf mich warten müßtest!“
Während die Brüder sich noch zankten, hatte Leonore den alten Schnürsenkel entfernt und den neuen eingezogen. „Da hast du!“ sagte sie, half Paul in den Schuh und band ihm eine Schleife.
Die Brüder verloren kein Wort des Dankes, sondern stoben davon.
Leonore stellte entsetzt fest, daß der Schuh schmutzig gewesen war; sie mußte sich erst noch die Hände waschen, bevor sie das Haus verlassen konnte.
„Beeil dich!“ drängte die Mutter – aber dadurch ging es auch nicht schneller.
Es hatte schon zum zweitenmal geklingelt, als sie die Parkschule erreichte. Sie keuchte die Treppe hinauf. Die meisten Türen waren schon geschlossen. Sie jagte den langen lichten Gang entlang und sah gerade noch, wie auch die Türe zu dem eigenen Klassenzimmer ins Schloß fiel. Das bedeutete für sie so klar und deutlich, als wenn es ihr jemand ins Ohr geflüstert hätte, daß Herr Alte, der die erste Stunde hatte, schon drinnen war und mit dem Unterricht begonnen hatte. Nur noch eine winzige Chance bestand, sich vielleicht doch noch im letzten Augenblick auf seinen Platz drücken zu können.
Leonore wollte die Türe aufreißen und – hielt die Klinke in der Hand.
Auch das noch! Ohne Aufsehen konnte sie nun keinesfalls mehr in das Schulzimmer. Sie holte tief Atem und dachte sich eine artige kleine Entschuldigung aus. Drinnen war es ganz still. Zaghaft klopfte Leonore an. Nichts rührte sich. Noch einmal klopfte sie, kräftiger.
Jetzt wurde die Türe so ruckartig geöffnet, daß sie beinahe in das Klassenzimmer gepurzelt wäre. Gleichzeitig schallte ihr brausendes Gelächter entgegen.
Leonore stand, wie vom Donner gerührt, und sah nur Katrin vor sich, die, die Arme in die Hüften gestemmt, den Oberkörper zurückgebogen und den Mund von einem Ohr bis zum anderen geöffnet, sich ausschüttete vor Lachen.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, daß dieser Krach nur ein gutes Zeichen sein konnte: in Herrn Altes Gegenwart wäre die Klasse bestimmt nicht so übermütig und ausgelassen gewesen.
Sie blickte zum Lehrertisch und fand ihren Gedanken bestätigt.
„Da hast du einen schönen Schreck bekommen, was?“ rief Katrin Vergnügt.
„Reingefallen, ätsch, fit, fit!“ piepste Ruth.
„Jetzt dachtest du, wir hätten schon angefangen!“ triumphierte Silvy.
Leonore hatte sich schon wieder gefaßt. „Wenn das ein Witz sein sollte“, sagte sie verärgert, „war es ein sehr doofer.“
„Seit wann kannst du keinen Spaß mehr verstehen?“ fragte Olga.
Leonore zwang sich zu einem Lächeln. „Sehr komisch!“
„Du kannst ruhig richtig lachen“, forderte Katrin auf, „schließlich hast du ja noch mal Glück gehabt!“
„Du sagst es.“
Leonore drückte Katrin die Klinke in die Hand und wollte auf ihren Platz.
Das Gelächter war inzwischen verebbt. Die Aufmerksamkeit der anderen Schülerinnen richtete sich nicht mehr auf sie; einige redeten oder verglichen ihre Hausaufgaben, andere lasen.
Katrin starrte auf die Klinke. „Was soll ich damit?“
„Wieder einsetzen, du Dumme!“ Silvy gab ihr einen Rippenstoß.
Katrin betrachtete die Klinke von allen Seiten. „Ich wüßte was Besseres!“
„Alles herhören!“ quietschte Ruth. „Katrin hat eine Idee!“
„Mach erst mal die Türe zu!“ befahl Katrin.
Ruth tat es.
„Aber dann kann doch der Alte nicht herein!“ gab Silvy zu bedenken.
Katrin grinste. „Junge, Junge, du bist aber unter die Schnelldenker gegangen … Genau das ist ja der Witz an der Sache!“
„Daß der Rauschebart nicht herein kann?“ fragte Ruth, die großen grünen Augen weit aufgerissen.
„Genau!“
„Das ist aber doch ziemlich gemein“, sagte Silvy.
„Ach was, sei nicht so zimperlich! Schließlich ist es seine eigene Schuld … Er brauchte ja nicht zu spät zu kommen!“
„Abstimmen!“ rief Ruth und kletterte auf den Tisch. „Hört mal alle her …“
Aber Olga war aus Erfahrung klug geworden; sie ließ sich die Initiative nicht aus der Hand reißen, sondern lief nach vorne und überschrie Ruth, was ihr nicht schwerfiel, weil sie eine wesentlich kräftigere Stimme hatte. „Katrin will den Rübezahl aussperren! Wer ist dafür?“
Alle Hände außer Leonores fuhren hoch.
„Wer ist dagegen?“
Es fiel Leonore nicht leicht, sich gegen die ganze Klasse zu stellen, aber sie versuchte es tapfer. „Also ich finde, das können wir nicht machen. Wenn wir Herrn Alte nicht hereinlassen, werden wir jede Menge Ärger bekommen.“
„Feigling!“ rief Silvy verächtlich, und einige Mitschülerinnen stimmten ihr bei.
Leonore sprang auf. „Das ist gar nicht wahr! Ich habe keine Angst, ich finde bloß, das Ganze ist lächerlich! Ihr solltet wirklich zu groß für solche blöden Streiche sein!“
„Du hast eben keinen Humor“, stellte Katrin freundlich fest, „das ist dein Fehler!“
In diesem Augenblick wurde von draußen gegen die Türe gepocht. „Aufmachen“, befahl Herr Alte, „aber ein bißchen plötzlich!“
Die Mädchen blickten sich an.
„Na, tu’s doch, Leonore!“ sagte Katrin. „Worauf wartest du noch?“
Leonore fühlte alle Augen auf sich gerichtet. Das war eine schwere Entscheidung. Herrn Alte auszusperren ging ihr ganz und gar gegen den Strich, denn sie haßte Ungezogenheiten. Aber andererseits wagte sie es auch nicht, sich gegen die ganze Klasse zu stellen und sich dadurch Unbeliebt zu machen.
So stand sie schweigend da und zerbiß sich die Lippen.
„Du machst also mit?“ fragte Olga.
„Ich beuge mich der Mehrheit“.
„Bravo!“ schrie Katrin. „Also weiter im Text!“
Herr Alte hatte inzwischen noch mehrfach gegen die Türe gedonnert und danach voller Wut verlangt, daß ihm geöffnet wurde.
Katrin trat jetzt dicht heran und beteuerte: „Tut uns furchtbar leid, Herr Alte, aber das geht nicht. Die Klinke ist ab!“
„Das habe ich gemerkt … Deshalb könnt ihr aber doch von innen öffnen!“
„Auch nicht“, behauptete Katrin und zog jetzt auch die inseitige Klinke mit einem Ruck heraus.
Ihre Mitschülerinnen jubelten ob dieser Heldentat.
„Ich befehle euch zum letztenmal …“, donnerte Herr Alte.
„Aber wenn wir doch nicht können!“ schrie Silvy, die nicht wollte, daß Katrin allein sich mit dem Ruhm der Unverfrorenheit bekleckerte.
„Gebt die Klinke heraus!“ donnerte Herr Alte.
„Moment, ich werde es versuchen“, erklärte Katrin scheinheilig und fuhrwerkte mit der Klinke unter komischen Verrenkungen am Boden herum. „Bedaure sehr!“ Sie richtete sich wieder auf. „Sie ist zu dick … Sie geht nicht durch die Ritze.“
Die Klasse tobte vor Vergnügen.
„Diese Unverschämtheit“, schimpfte Herr Alte, „werdet ihr mir büßen müssen!“
Aber diese Drohung verpuffte wirkungslos; der Übermut der Schülerinnen kannte jetzt keine Grenzen mehr.
„Wissen Sie, was?“ rief Silvy und entriß Katrin eine der Klinken. „Ich habe eine Idee … Ich werfe das gute Stück in den Hof hinunter, da können Sie es sich holen!“ Wie gesagt, so getan; sie rannte zum Fenster, öffnete einen Flügel und schleuderte die Klinke mit Schwung hinaus.
Die anderen stürzten ihr nach, rissen auch das andere Fenster auf und starrten in den Hof hinunter, wo die Klinke mitten auf dem Kiesweg gelandet war. Sie stupsten sich gegenseitig, machten Witze und fanden das Ganze einfach großartig.
Nur Ruth lief noch einmal zur Türe. „Herr Alte“, rief sie, „die Klinke liegt jetzt wirklich unten …, direkt vor der Eingangstür!“ Sie lauschte und wandte sich dann zu Katrin.
„Du, der brüllt gar nicht mehr … Ich glaube, der ist nicht mehr da“, berichtete sie.
„Kunststück“, gab Katrin zurück, „der ist bestimmt runtergestürzt. Warte nur, gleich erscheint er und klaubt das Ding auf!“ Sie beugte sich gefährlich weit zum Fenster hinaus.
Leonore näherte sich ihr von der anderen Seite. „Gib her!“
„Was?“
„Die andere Klinke!“
„Zu was?“ Katrin machte ein Gesicht, als wenn es ihr erst jetzt bewußt würde, daß sie die Klinke immer noch in der Hand hielt; sie machte eine Bewegung, als wenn sie sie ebenfalls hinunterwerfen wollte.
„Bitte nicht!“ Leonore fiel ihr in den Arm.
„Na denn … Weil du es bist!“ Katrin händigte ihr das kostbare Stück aus und lehnte sich dann wieder über das Fensterbrett.
Leonore eilte mit ihrer Beute zur Tür.
Ruth lief ihr nach. „Was hast du vor?“
„Vielleicht ist er doch noch da!“ Leonore steckte die Klinke ein und öffnete die Tür einen Spalt breit.
Der Gang war leer – bis auf einen weißhaarigen, hochgewachsenen Herrn, der genau auf das Klassenzimmer zugesegelt kam.
Leonore fiel vor Schreck fast in Ohnmacht. „Der Herr Direktor!“ keuchte sie, griff, ohne es zu merken, nach der Klinke und hatte sie auch schon wieder lose in der Hand.
Ruth übersah blitzschnell die Situation. „Der Direx kommt!“ quietschte sie, so laut sie konnte, und huschte auf ihren Platz.
Aber nur wenige der Mädchen reagierten richtig und taten es ihr nach; die meisten hatten die Warnung einfach überhört, andere nahmen sie nicht ernst oder warteten viel zu gespannt auf das Auftauchen Herrn Altes, um sich auf Kommando vom Fenster losreißen zu können.
So sah der Herr Direktor, als er höchstpersönlich das Klassenzimmer betrat, eine Reihe buntberockter und behoster Rückseiten vor sich, deren dazugehörige Oberteile tief auf den Hof hinuntergebeugt waren. „Was geht hier vor?“ fragte er.
Obwohl er nicht einmal sehr laut gesprochen hatte, scheuchte der Klang seiner männlichen Stimme die Schülerinnen sofort auf. In Windeseile drehten sie sich um, verstreuten sich über das Zimmer und suchten ihre Plätze auf.
Nur Leonore stand wie einzementiert.
Der Direktor starrte sie an.
„Die … die Klinke ist abgegangen“, stammelte sie.
„Wer hat das gemacht?“
Olga erhob sich. „Es ist aus Versehen passiert!“
„Und warum habt ihr sie nicht wieder eingesteckt?“
Olga wurde über und über rot unter ihrem flammenden Haar, aber sie erklärte mit fester Stimme: „Wir wollten einen Spaß machen.“
„Wer … wir?“
„Die ganze Klasse.“
Leonore atmete auf; das war die Rettung in letzter Minute gewesen.
Aber sie hatte sich zu früh gefreut.
„Und das hast du zugelassen?“ pfiff der Direktor sie an.
Was sollte sie darauf sagen? Sich verteidigen? Das hätte sie nur auf Kosten der anderen tun können, es kam also nicht in Frage. Sich zu dem Streich bekennen? Nein, das war zuviel verlangt.
So blieb ihr nichts übrig, als zu schweigen und dem Blick des Direktors standzuhalten. Sie hatte sich noch nie so elend gefühlt. Jetzt mußte der Direx glauben, daß sie bei einer solchen blöden Kinderei mitgemacht hatte, ja, vielleicht sogar die Anstifterin gewesen war – die Klinke in ihrer Hand sprach ja Bände. Ausgerechnet ihr, die sich immer so sehr bemühte, vernünftig zu sein, mußte das passieren!
„Steck die Klinke wieder ein!“ befahl der Direktor. „Worauf wartest du noch?“
Aber bevor Leonore diesen Befehl ausführen konnte, erschien Herr Alte auf der Stelle. „Na, endlich“, sagte er, „da hätte ich mein Werkzeug ja gar nicht zu holen brauchen.“ Erst jetzt erkannte er den Direktor und verbeugte sich leicht. „Guten Morgen, Herr Direktor … wenn ich Ihnen erklären darf …“
„Danke, nicht nötig. Ich hoffe nur, daß jetzt endlich Ruhe eintritt. Der Lärm ihrer Klasse hat den ganzen Schulbetrieb gestört.“ Er rauschte an Herrn Alte vorbei durch die Türe.
Herr Alte ging nach vorne und legte seine Autowerkzeugtasche auf den Lehrertisch. „Das habt ihr also erreicht“, stellte er fest, „ich bin in Ungnade gefallen.“
Leonore senkte betroffen den Kopf.
Aber Katrin konterte keck: „Halb so schlimm! Dann erleben Sie wenigstens mal, wie uns zumute ist, wenn wir was ausgefressen haben.“
Ihre Mitschülerinnen kicherten verstohlen.
Leonore erwartete eine gesalzene Strafpredigt.
Aber Herr Alte war klüger; er ließ sich auf keine Machtkämpfe ein. „Beginnen wir mit dem Unterricht“, sagte, er, „wir haben schon genug Zeit verloren. Du, Olga, wirst in der Pause Herrn Schwabe verständigen, daß er die Türe richtet. Wir hatten begonnen, Schillers ‚Wilhelm Tell’ zu lesen …“
Damit schien der Zwischenfall erledigt – für alle, außer für Leonore. Sie konnte immer noch nicht begreifen, wie sie in eine solche Situation geraten war, und fühlte sich hereingelegt. Sie tat den geheimen Schwur, sich nie mehr von den anderen verführen zu lassen oder gegen ihren Willen bei einem Streich mitzumachen.