Читать книгу Ulrike kommt ins Internat - Marie Louise Fischer - Страница 6
Der Ärger reißt nicht ab
ОглавлениеZum Mittagessen erschien Ulrike mit blanken Augen und gleichmütiger Miene — sie hatte ihr verweintes Gesicht lange in kaltem Wasser gekühlt, bevor sie hinunterging. Niemand, am allerwenigsten der Vater, sollte es merken, wie gekränkt sie sich fühlte.
Moellers aßen in der Wohnküche.
Nach der Suppe gab es Hähnchen am Grill, Salat und Reis. Ulrike stand auf und half Tante Emmy den Tisch umdecken. Sie räumte die Suppenteller ab, setzte die große Salatschüssel in die Mitte. Vor ihren eigenen Platz setzte sie eine andere, viel kleinere.
Die Mutter teilte den Salat aus. „Gib mir deinen Teller, Uli”, sagte sie, als sie den Vater und die Tanten versorgt hatte.
„Nein, danke, ich habe schon!” sagte Ulrike und wies auf ihre kleine Schüssel.
Tante Sonja sah, daß Herr Moeller schon wieder die Stirn runzelte, und erklärte rasch: „Sie hat genau dasselbe wie wir . . . grünen Salat. Nur machen wir ihn ihr mit Sahne, Zucker und Zitrone an und nicht scharf.”
Ulrike sah ihre Mutter an. „Du weißt doch, ich habe Zwiebeln nie vertragen können.”
„Sagen wir lieber . . . du hast sie nie gemocht!” sagte Herr Moeller.
„Ich sehe da keinen Unterschied”, behauptete Ulrike, „ich weiß aus Erfahrung, daß Dinge, die mir widerstehen, mir auch nicht bekommen.”
Herr Moeller schwieg eine Sekunde, dann sagte er: „Unser Urlaub ist begrenzt, Uli. Ich habe nicht vor, ihn mir durch Streitereien mit dir zu verderben. Ich begreife nur nicht, wie ein Kind sich in kurzer Zeit so völlig zu seinem Nachteil verändern kann . . .”
Ulrike konnte sich nicht länger beherrschen: „Was habe ich dir eigentlich getan?” rief sie hitzig. „Den ganzen Tag beschimpfst du mich.” Dann begriff sie plötzlich, daß sie aus der Rolle gefallen war, und setzte rasch hinzu, indem sie so tief und nasal wie irgend möglich sprach: „Entschuldige bitte, Vater, aber mir sind die Nerven gerissen.”
„Nerven!? Was redest du daher? In deinem Alter hat man doch Nerven wie Drahtseile.”
Ulrike zuckte die Achseln und wandte sich an Tante Sonja. „Kann ich ein bißchen Reis haben, Tante Sonja?” Sie betonte das Wort „Tante” auf herausfordernde Weise. „Das Hähnchen schmeckt wirklich köstlich, Tante Emmy!” Sie wandte sich an ihre Mutter. „Ich hoffe, es schmeckt dir auch, Mutti!”
„Oh ja . . . danke, sehr gut”, sagte Frau Moeller, ein wenig verwirrt durch die altkluge Art, in der Ulrike die Unterhaltung zu lenken versuchte.
„Das freut mich”, sagte Ulrike gönnerhaft. „Du sollst dich recht wohl bei uns zu Hause fühlen!”
Man sah Herrn Moeller an, daß er gerne etwas gesagt hätte. Aber er tat es nicht. Er aß schweigend und hastig, war der erste, der vom Tisch aufstand. „Entschuldigt mich”, sagte er, „ich bin müde. Ich werde mich hinlegen.”
Ulrike atmete auf, als der Vater nach oben gegangen war. Sie begann das gebrauchte Geschirr abzuräumen, stellte alles fein säuberlich neben dem Spültisch auf, während Mutter und die Tanten noch eine Zigarette rauchten. Dann ließ sie heißes Wasser in das große Becken laufen.
„Fang noch nicht an, Uli”, sagte Tante Emmy, „warte, bis ich ausgeraucht habe . . . überhaupt, heute mittag solltest du lieber mal gar nichts tun. Geh mit deiner Mutter hinaus in den Garten. Ihr beiden habt euch sicher viel zu erzählen.”
Ulrike warf einen zögernden Blick auf die Stöße von Tellern. „Aber zu zweit sind wir viel schneller fertig, Tante Emmy . . .”
„Die zweite Kraft bin diesmal ich”, erbot sich Tante Sonja. „Geht ruhig schon hinaus. Wir kommen in zehn Minuten nach.”
Uli folgte der Mutter ein wenig befangen auf die Terrasse hinaus.
„Tust du das immer?” fragte Frau Moeller. „In der Küche helfen, meine ich?”
„Nicht nur in der Küche”, sagte Ulrike. „Wir helfen alle drei zusammen, die Tanten und ich, denn so ein Haus macht doch viel Arbeit.”
„Mir ist das früher nie so vorgekommen.”
„Natürlich nicht. Weil du nicht berufstätig warst. Aber die Tanten und ich, wir machen das Haus ja bloß so nebenbei.”
Frau Moeller hatte den Arm um die Schulter ihrer Tochter gelegt und sie in den kleinen Garten hinuntergeführt. Jetzt blieb sie stehen und sah Ulrike mit einem seltsamen Blick an. „Eigentlich müßte ich ja wohl sehr stolz auf dich sein”, sagte sie, „so tüchtig, wie du bist . . . hilfst im Haushalt und bist die Beste in deiner Klasse. Aber tatsächlich . . . sieh mich nicht so an, Uli . . . mache ich mir Gedanken über dich. Genau wie Vater. Du bist so gewachsen . . .”
Ulrike versuchte zu lachen. „Wäre es dir lieber, wenn ich zusammengeschrumpft wäre?”
„Du verstehst mich sehr genau, Uli, du wirst schon wissen, was ich meine! So lang und so dünn bist du . . . und ganz blaß! Kommst du denn nie in die Sonne?”
„Ich kann keine Hitze vertragen”, sagte Ulrike und begann ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Hast du das ganz vergessen?”
Frau Moeller seufzte. „Du darfst nicht das Gefühl haben, daß ich dich verhören will, Uli. Es interessiert mich einfach alles, was dich betrifft. Du hast mir ja immer sehr schöne lange Briefe geschrieben . . . aber wie es dir wirklich geht und wie du lebst, das habe ich nirgends herauslesen können.”
„Mir geht es gut”, sagte Ulrike, „merkst du das denn nicht? Es könnte mir gar nicht besser gehen!”
„Anscheinend fühlst du dich so großartig, daß du dich gar nicht mal richtig freust, deine Eltern wiederzusehen.”
„Doch”, sagte Ulrike, „ich habe mich sehr gefreut.”
„Aber . . .?”
„Gar kein Aber. Ich habe mich gefreut.”
„Das hast du dir aber nicht anmerken lassen. Vater ist sehr enttäuscht. Du hast ihn schrecklich gekränkt.”
„Ich . . . Vater!?”
„Ja, du warst sehr wenig nett zu ihm. Überhaupt nicht herzlich. Du behandelst ihn wie einen Störenfried . . .”
„Ja, aber wie behandelt er mich denn?! Dauernd hat er etwas an mir auszusetzen! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ich mich benehmen soll!”
„Er ist dein Vater”, sagte Frau Moeller ernst, „und er ist durchaus im Recht, wenn er versucht, dich zu erziehen.”
Ulrike schwieg, Sie bückte sich und pflückte eine welke Rose ab.
„Oder bildest du dir tatsächlich ein, du hast es nicht mehr nötig, erzogen zu werden?” fragte die Mutter.
„Alle waren mit mir zufrieden . . . bevor ihr kamt.”
„Wenn man dich so hört, könnte man glauben . . . möchtest du etwa, daß wir bald abfahren?”
Ulrike stand ganz still und sah ihre Mutter an. „Nein”, sagte sie, „nein, ich wünsche mir nur, daß ihr mich lieb habt . . . so, wie ich bin.”
Frau Moeller nahm ihre große Tochter in die Arme. „Mein dummes kleines Mädchen”, sagte sie, „wir haben dich doch lieb. Mehr als alles andere auf der Welt! Ja, glaubst du denn, der Vater würde sich so über dein Benehmen kränken, wenn er dich nicht lieb hätte! Dann könnte es ihm doch ganz gleichgültig sein, wie du dich aufführst!”
Ulrike stiegen die Tränen in die Augen, sie wußte selber nicht recht, warum. „Ich habe mir immer so viel Mühe gegeben, vernünftig zu sein!” schluchzte sie.
Frau Moeller streichelte sie zärtlich. „Vielleicht ein bißchen zuviel. Du hast, scheint mir, ganz vergessen, daß du noch ein kleines Mädchen bist. Niemand verlangt von dir, daß du dich wie ein Erwachsener benimmst.”
„Aber ich möchte doch gerne . . .”
„Erwachsen sein kannst du noch ein ganzes Leben lang. Komm, putz dir die Nase . . .” Frau Moeller gab Ulrike ein frisches Batisttüchlein. „Sonst denken die Tanten am Ende noch, ich habe ihren Liebling verhauen.”
Ulrike mußte unter Tränen lächen, und die Mutter beobachtete sie zärtlich.
„So ist‘s schon besser”, sagte sie, „und jetzt wollen wir lieber von angenehmeren Dingen sprechen. Gehen wir auf die Terrasse zurück, ja?” Sie schob ihre Hand unter Ulrikes Arm. „Erzähl mir mal von deinen Freundinnen, Uli . . . wir waren ja schon in Persien, als du auf die höhere Schule gekommen bist. Sicher hast du nette Klassenkameradinnen, nicht wahr?”
Ulrike zögerte mit der Antwort. „Es geht”, sagte sie dann.
„Komm, sei nicht so einsilbig. Mit wem bist du denn näher befreundet?”
„Näher befreundet?”
„Na, ich meine einfach . . . mit wem spielst du?”
„Aber, Mutti”, sagte Ulrike, „ich spiele doch nicht mehr!”
„Nicht? Was tust du dann in deiner Freizeit?”
„Lesen.”
„Ja natürlich. Eine kleine Leseratte warst du ja immer schon. Aber trotzdem . . . wen lädst du denn zu deinem Geburtstag ein? Und von wem wirst du eingeladen?”
Sie hatten die Terrasse erreicht. Ulrike streckte sich auf der Rohrliege aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ach weißt du, Mutti”, sagte sie, „das ist heute alles nicht mehr so, wie es war, als du noch in die Schule gingst. Wir verkehren privat überhaupt nicht miteinander. Außerde . . . die meisten wohnen ja am anderen Ende der Stadt.”
„Soll das heißen . . . du hast überhaupt keine Freundin?”
„Wozu? Ich wüßte gar nicht, was ich mit einer Freundin machen sollte. Ich habe doch die Tanten.”
Frau Moeller zündete sich eine Zigarette an. „Jetzt sag mir mal etwas ganz ehrlich, Ulrike . . . ich will dir nicht weh tun, aber ich glaube, ich muß dich das fragen . . . bist du vielleicht . . . nicht sehr beliebt in deiner Klasse? Ich meine . . . weil du so gute Noten hast?”
„Ach so! Du glaubst, daß niemand mit mir zusammen sein will? Ach wo. Du hast komische Vorstellungen, Mutti. Ich will nichts mit den anderen zu tun haben. Sie sind mir viel zu blöd.” Als sie sah, daß ihre Mutter ganz erschrokkene Augen bekam, fügte sie rasch hinzu: „Und außerdem, ich habe dir ja schon gesagt . . . keines von den Mädchen, die ich kenne, wohnt hier draußen. Ehe eine bei mir wäre oder ich bei ihr, wäre bestimmt der halbe Nachmittag vertrödelt.”
„Sind Doktor Reitmanns denn weggezogen?”
„Wieso?”
„Aber, Uli, das weißt du doch ganz genau! Gabriele Reitmann ist genau in deinem Alter. Ihr habt früher mal so nett zusammen gespielt.”
„Ja, im Kindergarten!” Ulrike setzte sich auf. „Mutti”, sagte sie, „ich weiß ja, daß du es gut meinst . . . aber bitte, gib es auf. Es ist zwecklos. Warum willst du mir einreden, daß ich eine Freundin haben müßte? Ich brauche keine.”
Tante Emmy kam auf die Terrasse, um den Kaffeetisch zu decken. Ulrike stand sofort auf, um zu helfen. Frau Moeller konnte nicht mehr weiterreden. Wenig später kam der Vater herunter, Tante Sonja brachte die Kaffeekanne aus dem Haus und schenkte ein.
Ulrike war sehr froh, daß sie nicht mehr Rede und Antwort stehen mußte. Sie gab sich sehr viel Mühe, nichts zu tun, was den Vater ärgerte, und Herr Moeller seinerseits zwang sich, Ulrikes Angewohnheiten, die ihm nicht paßten, stillschweigend zu übersehen.
Es wurde ein gemütlicher Nachmittag, Die Eltern hatten viel aus Persien zu erzählen. Sie hatten auch ein ganzes Album mit Fotografien mitgebracht.
„Um eines beneide ich euch auf alle Fälle”, sagte Tante Sonja im Gespräch, „ihr seid alle beide so wundervoll braun. Hier kann man den ganzen Sommer in der Sonne liegen, ohne auch nur halbwegs eure Farbe zu erreichen.”
Die Mutter strich sich das blonde Haar aus der Stirn, „Findet ihr wirklich, daß mir das steht?”
„Doch, unbedingt!” erklärte Ulrike, ehe die Tanten noch antworten konnten. „Nur ein ganz klein bißchen mußt du aufpassen, Mutti . . .”
Frau Moeller sah ihre Tochter erstaunt an. „Aufpassen? Wie meinst du das?”
„Bloß wegen der Falten. Vielleicht solltest du mal eine gute Nährcreme benutzen . . . wie du, Tante Emmy!”
Herrn Moellers Stirn krauste sich bedrohlich. Er öffnete schon den Mund, um Ulrike zurechtzuweisen, da legte die Mutter begütigend ihre Hand auf seinen Arm. „Nicht, bitte nicht! Du hattest mir doch versprochen . . .”
Der Vater schwieg. Diesmal ging das Unwetter noch an Ulrike vorüber. Aber es war ihm anzusehen, daß er sich seine Gedanken machte.
Bis zum Schlafengehen fiel kein böses Wort mehr.
Dann, als Ulrike schon frisch gewaschen und mit sich und der Welt zufrieden in ihrem Bett lag, kam die Mutter noch einmal zu ihr hinein.
„Ich habe eine Überraschung für dich, Uli”, sagte sie vorsichtig.
„Was ist es?” Ulrike richtete sich in ihren Kissen auf.
„Du bekommst morgen Besuch. Ich habe eben mit Frau Doktor Reitmann gesprochen. Sie schickt Gaby und Klaus herüber.”
Das Blut schoß Ulrike in das helle Gesicht. „Mutter!” sagte sie entsetzt. „Wie konntest du!”
„Na, na, na!” Frau Moeller versuchte zu lachen. „Du tust grade so, als ob dieser harmlose Besuch eine Katastrophe wäre!”
„Stimmt genau. Eine Katastrophe. Du weißt nicht, wie Gaby und Klaus sind! Bitte, Mutti, bitte . . . mach diese Einladung rückgängig!”
„Das kann ich nicht.”
Ulrike sah die Mutter schweigend an, dann ließ sie sich auf ihr Kopfkissen zurücksinken, schloß die Augen und rollte sich zur Seite.
„Uli”, sagte die Mutter, „Uli, was ist mit dir? Willst du mir nicht wenigstens einen Gute-Nacht-Kuß geben?”
Aber Ulrike rührte sich nicht. Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören.
Frau Moeller wartete noch eine ganze Weile. Dann endlich verließ sie sehr langsam und sehr nachdenklich das Zimmer.