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Die bunten Schuhe

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Als Gundula an diesem Morgen in die Schule kam, hatte die zweite Stunde schon begonnen. Einen Augenblick blieb sie vor der Tür ihres Klassenzimmers stehen und lauschte auf die Stimmen, die von drinnen kamen. Fräulein Zimmermann gab Geschichtsunterricht. Sie sprach scharf und energisch wie immer.

Gundula zog eine Grimasse. War es nicht eigentlich dumm von ihr, ausgerechnet jetzt hineinzugehen? Niemand würde es merken, wenn sie sich bis zum Schluß der Geschichtsstunde irgendwo versteckte. Gundula zögerte. Aber dann siegte der Wunsch, ihren Freundinnen so schnell wie möglich das große Ereignis mitzuteilen. Entschlossen pochte sie an die Tür, trat ein.

Zweiunddreißig Mädchenköpfe flogen zu ihr herum. Gundula blieb in der Tür stehen und genoß das Aufsehen, das ihr verspätetes Eintreffen erregte.

„Guten Morgen“, grüßte sie laut und unbekümmert.

Fräulein Zimmermann schüttelte ihren grauhaarigen Kopf. „Gundula Berendt!“ sagte sie mit Nachdruck. „Wer anders könnte sich erlauben, in der Mitte der zweiten Stunde zum Unterricht zu erscheinen!? Gundula … hast du wenigstens eine Erklärung für dein Zuspätkommen?“

Gundula ging vor bis zum Katheder. „Jawohl, Fräulein Zimmermann“, trompetete sie, „ich habe ein Brüderchen bekommen!“ Sie strahlte die Lehrerin aus ihren blauen Augen an. Ein Raunen und Geflüster ging durch die Klasse.

„Ach, wirklich?“ sagte Fräulein Zimmermann, und Gundula schien es, als wenn ihr Gesicht auf einmal viel wärmer und gütiger geworden wäre. „Dann gratuliere ich dir aber von ganzem Herzen!”

Gundula öffnete ihre Schulmappe und zog einen Brief heraus. „Mein Vater hat mir eine Entschuldigung geschrieben, Fräulein Zimmermann.“

„Nein, danke, Kind, ich glaube dir auch so“, sagte Fräulein Zimmermann freundlich. „Ein Brüderchen hast du also bekommen … wie soll es denn heißen?“

„Michael Sebastian“, antwortete Gundula wie aus der Pistole geschossen.

„Ein schöner Name“, lobte Fräulein Zimmermann. „Aber nun setz dich bitte, Gundula … vergiß für eine Weile das große Ereignis und versuche, dich auf den Unterricht zu konzentrieren!“

Gundula ging strahlend vor Stolz und hocherhobenen Kopfes durch die Reihe zwischen den Bänken auf ihren Platz zu, als plötzlich ein brausendes Gelächter durch die Klasse ging. Gundula stutzte, sie blieb stehen, blickte um sich. Selbst Fräulein Zimmermann lachte.

Gundula war so verwirrt, daß sie gar nichts begriff. Dann sah sie, wie die Mädchen, die etwas weiter von ihr entfernt saßen, sich über die Bänke beugten und auf den Boden blickten. Sie schaute an sich herunter und – also so etwas war ja wirklich noch nie dagewesen! Gundula stellte fest, daß sie zweierlei Schuhe anhatte, einen roten und einen schwarzen. In der Eile hatte sie wahrhaftig nicht darauf geachtet. Mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Bank, setzte sich auf ihren Platz und schob die Beine nach hinten, um sie den Blicken der anderen zu entziehen.

„Gratuliere, Gundel!“ flüsterte ihr Leni Brinkmann, ihre Banknachbarin und beste Freundin, zu. „Mach dir nichts draus, verkehrte Schuhe bringen Glück!“

„So? Woher weißt du das?“

„So was weiß man eben!“ behauptete Leni von oben herab. „Das ist genauso, als wenn man einen Pullover verkehrt herum anzieht oder so etwas. Alles, was schief oder verkehrt ist, hat etwas Gutes zu bedeuten!“

Gundula hatte keine Zeit mehr, über diese kühne Behauptung nachzudenken, denn Fräulein Zimmermann hatte inzwischen die Ruhe in der Klasse wiederhergestellt. Sie nahm den Unterricht dort wieder auf, wo sie ihn bei Gundulas Eintritt in die Klasse unterbrochen hatte. Noch eine gute halbe Stunde mußten die Mädchen sich mit den bemerkenswerten Taten der Karolinger beschäftigen.

Dann endlich war große Pause. Auf dem Hof wurde Gundula von ihren gesamten Klassenkameradinnen umringt. Sie mußte den neugierigen Mädchen Rede und Antwort stehen. Dabei stellte sich heraus, daß sie selber leider sehr wenig darüber wußte, wie das Brüderchen angekommen war. Sie hatte ja nicht einmal gehört, daß die Eltern das Haus verlassen hatten.

„Was? Du hast dein Brüderchen noch nicht einmal gesehen?“ rief Olly Hahn frech. „Ja, woher willst du denn dann überhaupt wissen, ob es wirklich da ist?“

„Nun mach aber mal ’nen Punkt!“ sagte Gundula ärgerlich. „Mein Vater lügt doch nicht. Er hat’s mir erzählt … und überhaupt, heute nachmittag gehe ich ins Krankenhaus und schau mir das Brüderchen selber an. Morgen früh kann ich euch dann alles ganz genau erzählen!“

Damit gaben sich die anderen glücklicherweise zufrieden, aber Gundula behielt ein ungutes Gefühl zurück. Sie wußte aus Erfahrung, daß Lügen meistens kurze Beine haben, und pflegte deshalb, wenn es irgendwie ging, sich an die Wahrheit zu halten. Warum bloß war ihr herausgerutscht, daß sie sich ihr Brüderchen heute nachmittag ansehen wollte? Der Vater hatte ihr doch ausdrücklich erklärt, daß das nicht ging. Wenn die anderen drauf kamen, daß sie geschwindelt hatte, würde sie schön blamiert dastehen.

Als die Schule aus war, wollte Leni sie nach Hause begleiten.

„Nein, danke“, wehrte Gundula ab, „ich muß heute in die andere Richtung. Ich esse mit meinem Vater zu Mittag!“

„Prima!“ sagte Leni neidvoll. „Was wirst du dir bestellen? Kartoffelsalat mit Würstchen?“

„Was viel Besseres … mindestens Wiener Schnitzel!“

„Ich esse am liebsten Kartoffelsalat mit Würstchen“, beharrte Leni. „Aber an deiner Stelle würde ich doch erst nach Hause laufen und mir andere Schuhe anziehen!“

„Auch wieder wahr!“ Gundula drehte sich auf dem Absatz um und folgte ihr.

„Du, Gundula … kannst du mir nicht einen Gefallen tun?“ fragte sie. „Schließlich … ich meine, ich bin doch deine beste Freundin, oder?“

„Doch, schon“, sagte Gundula etwas zögernd, denn wenn Leni so anfing, dann wollte sie meistens etwas geliehen haben. „Weshalb fragst du?“

„Ich habe eine große Bitte“, sagte Leni, „wann willst du eigentlich ins Krankenhaus gehen? Gleich nach dem Essen?“

„Wahrscheinlich“, murmelte Gundula.

„Könntest du nicht ein bißchen später gehen … ich würde dich so gern begleiten.“

„Warum?“ Gundula fragte es, um Zeit zu gewinnen. Sie wußte die Antwort schon im voraus.

„Weil ich dein Brüderchen auch so gern sehen möchte, Gundel … kannst du das nicht begreifen? Du weißt genau, wie lange ich mir selber schon eins wünsche. Es könnte von mir aus auch ein Schwesterchen sein, es käme mir gar nicht drauf an … es ist doch nicht zuviel verlangt, wenn ich deines mal sehen möchte.“

„Nö”, sagte Gundula, „eigentlich nicht.“

„Du nimmst mich also mit? Hand drauf!?“

Gundula sah Leni prüfend an. „Jetzt muß ich dir eine Frage stellen, Leni … du bist doch meine beste Freundin, nicht wahr?“

„Ehrensache.”

„Versprichst du mir, mich nicht zu verraten, wenn ich dir jetzt ein Geheimnis sage?“

„Ein Geheimnis? Oh, los! Sag’s mir bitte! Bitte!“ Es war Leni anzusehen, daß sie vor Neugier schon fast platzte.

„Dann halt dich fest! Was ich dir jetzt sagen muß … es ist ein bißchen peinlich für mich, weißt du!“

„Was?!“ schrie Leni. „Jetzt sag bloß nicht, du hast es erfunden! Gundel! Sieh mich an! Hast du am Ende gar kein Brüderchen bekommen?!“

„Doch. Natürlich!“ sagte Gundula. „So was erfindet man doch nicht.“

„Kannst du mir deine Hand drauf geben?“

„Na klar. Das mit dem Brüderchen stimmt schon, nur keine Bange …“

„Aber irgendwas ist doch nicht in Ordnung! Gib es zu!“

„Also … wenn du’s genau wissen willst!“ Gundula holte tief Luft. „Mein Vater hat gesagt, Kinder dürfen nicht ins Krankenhaus!“

„Quatsch“, sagte Leni sofort. „Als mein Onkel sich das Bein gebrochen hatte …“

„Das ist etwas anderes. Mein Vater sagt, die … jetzt habe ich den Ausdruck vergessen … aber eben, man darf die Mütter mit den ganz kleinen Kindern nicht besuchen, weil die Babys eben so furchtbar empfindlich sind. Sie können sich schrecklich leicht anstecken oder so etwas, sagt mein Vater.“

„Schade!“ Leni machte ein bekümmertes Gesicht. „Und ich hatte mich schon so drauf gefreut.“

„Ja. Verflixtes Pech! Weißt du, Leni, ich überlege mir schon die ganze Zeit, ob man nicht versuchen könnte … verstehst du … ob es nicht irgendeinen Weg gibt, doch ins Krankenhaus hineinzukommen, ohne daß es jemand merkt. Willst du mir helfen?“

„Na klar.“ Leni blieb stehen. „Also, wo treffen wir uns? Um wieviel Uhr?“

Gundula legte den Finger an die Nase. „Sagen wir … Punkt drei am Schillerdenkmal!“

„Gut“, sagte Leni, „aber … wie immer … wer zuerst da ist, muß warten!“

Sie liefen auseinander, blieben nach ein paar Metern noch einmal stehen, winkten sich zu, um dann endgültig davonzujagen.

Gundula schloß die Haustür auf, rannte die Treppe hinauf, öffnete die Wohnungstür, stürzte in ihr Zimmer und wechselte rasch den linken Schuh. Befriedigt sah sie auf ihre Füße. Sie hatte jetzt zwei gleiche, zwei rote Schuhe an. Der Vater würde nichts von ihrem Mißgeschick merken.

Sie wollte die Wohnung schon wieder verlassen, als ihr noch etwas einfiel. Sie lief zu ihrem Pult, öffnete es, fand den kleinen Pappkasten mit ihrem Geld in der hinteren Ecke. Ohne es zu zählen – sie wußte auswendig, daß es sieben Mark und fünfundachtzig Pfennig sein mußten –, schüttete sie den ganzen Inhalt in ihre Manteltasche, warf die leere PappSchachtel achtlos in das Pult zurück und jagte davon.

Herr Berendt erwartete sie schon vor dem Eingang des großen Bankhauses, in dem er arbeitete. „Na endlich“, sagte er, als Gundula angelaufen kam. „Wieso kommst du jetzt erst? Die Schule ist doch schon seit fast einer Stunde aus!“

„Verstehe ich auch nicht, Pappi“, versicherte Gundula mit unschuldsvollem Augenaufschlag. „Ich habe mich schrecklich beeilt.“

Sie gingen zusammen in ein kleines Lokal ganz in der Nähe, und Gundula bekam das Wiener Schnitzel, das sie sich gewünscht hatte. Es schmeckte ihr großartig.

Sie war kaum fertig mit dem Essen, als der Vater schon zahlte und zum Aufbruch drängte. „Ich komme heute abend ein bißchen später, Gundula“, sagte er, „du kannst inzwischen schon den Tisch decken, ja? Was soll ich Mutter und dem Brüderchen von dir bestellen?“

Gundula stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Vater einen Kuß auf die Wange. „Gib ihnen einen Kuß von mir“, sagte sie, „und einen schönen Gruß – sie sollen recht bald nach Hause kommen.“

„Wird gemacht!“ Herr Berendt gab seiner Tochter einen Klaps auf die Schulter.

Er hatte es schon sehr eilig, denn er mußte Punkt zwei Uhr wieder in der Bank sein.

Jetzt schlägt's dreizehn, Gundula

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